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Sie wusste nicht, an welchen Fäden Kent gezogen hatte, aber letzten Endes brauchte er nur einen Tag, um alles zu arrangieren. Er hinterlegte in einem der toten Briefkästen einen Speicherstick für sie – in der zentralen Waterstones-Buchhandlung am Piccadilly. Ein bisschen altmodisch im Vergleich zu einer sicheren Seite im Internet; andererseits hinterließ der freie Raum hinter den Buchreihen der Krimiabteilung einer Buchhandlung keine elektronischen Spuren, die jemand verfolgen konnte.

Sie nahm den USB-Stick mit in ihre Wohnung und entschlüsselte ihn. Erfreut stellte sie fest, dass sie und Fatima tatsächlich nach Bora Bora reisten. Und noch besser: Sie würden im Four Island Resort der Insel wohnen. Es war ein Fotoshooting für ein neues Reisemagazin. Delilah hatte davon gehört, aber noch nie dafür gearbeitet. Die Audio-Keylogger-App war mitsamt Instruktionen ebenfalls enthalten. Sie lud sie auf ihr Telefon und testete sie mit ihrem Laptop, indem sie tippte: Dunkel war’s, der Mond schien helle, 123456789. Das Programm entzifferte die Tastenanschläge perfekt, sogar die Großbuchstaben. Aber funktionierte es auch unter Einsatzbedingungen? Sie würde es herausfinden.

Sie rief Fatima an und teilte ihr die gute Nachricht mit. Konnte sie in zwei Tagen fahren? Ja? Wunderbar! Und perfektes Timing – bis dahin konnte Delilah ihre Gespräche und die Fotos zu dem Artikel zusammensetzen, der schließlich der angebliche Grund ihrer Anwesenheit in London war.

Sie brauchte einen Tag, um die wichtigen Teile aus der Erinnerung herauszufiltern. Sie arrangierte sie zu einer unverhohlen wohlwollenden Story über Fatimas Engagement für Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und die Prinzipien Martin Luther Kings. Sie wählte ein halbes Dutzend Fotos aus, auf denen sie abwechselnd glamourös und ernsthaft aussah – während der Rede bei der Demonstration, nach der Arbeit im Notes, umgeben von anderen Muslimen im Momtaz. Sie lud den Artikel hoch und lächelte, als er auf die Reise ging. Den MI6, Kent, den Direktor und seine Helferlinge würde der Schlag treffen. Sie konnte sich die Reaktionen vorstellen: »Sympathisiert mit einer Terroristin!«, »Macht Propaganda für den Feind!«, »Auf wessen Seite steht sie eigentlich?!«

Es war ihr gleichgültig. So etwas hörte sie nicht zum ersten Mal, sie hatte schon alle Anschuldigungen über sich ergehen lassen, das Misstrauen, die versteckten Anspielungen. Sie konnten sie samt und sonders am Arsch lecken. Wenn sie ihre Art von Resultaten wollten, mussten sie auch ihre Methoden akzeptieren. Das gefällt euch nicht, Jungs?, dachte sie. Dann tut mir den Gefallen und feuert mich. Aber dazu kommt es nicht. Ihr seid zu sehr auf mich angewiesen. Und das wisst ihr.

Am nächsten Tag reisten sie ab. Sie hatten einen Nonstop-Flug nach Los Angeles und stiegen dort nach Papeete auf Tahiti um, von wo aus der letzte, kurze Flug nach Bora Bora ging. Delilahs Angebot mit den Vielfliegermeilen war kein Scherz gewesen, und sie organisierte ihnen beiden damit ein Upgrade für die Businessclass. Fatima schlief den größten Teil der Strecke nach Los Angeles durch, was Delilah ermutigend fand. Ja, es gab in London etwas, das diese Frau nachts um den Schlaf brachte. Und ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es richtig gewesen war, sie dort herauszuholen. Veränderung erzeugt Bewegung. Bewegung schafft Gelegenheiten.

Am winzigen Flughafen von Bora Bora wurden sie von einer ziemlich jungen Vertreterin des Four Seasons abgeholt, die ihnen Blumenketten um den Hals hängte und sie zum letzten Abschnitt der Reise auf ein Boot begleitete. Sie setzten die Sonnenbrillen auf, während ein Träger ihr Gepäck an Bord brachte. Fatima schüttelte sprachlos vor Begeisterung den Kopf. Sie stellten sich in den Bug, um die Aussicht zu genießen, und ein Kabinenjunge brachte ihnen eisgekühlte Tücher und eine Flasche Wasser. Unter einem strahlend blauen Himmel war die Luft gesättigt vom salzigen Duft des Meeres, und ihre Haare flatterten im Fahrtwind. Als die beiden Reihen der auf Pfählen über dem Wasser errichteten schilfgedeckten Bungalows der Ferienanlage in Sicht kamen, warf Fatima die Arme um Delilah und kreischte vor Entzücken.

»O mein Gott«, sagte sie, während sie zurücktrat und die Selbstbeherrschung wiedererlangte. »Tut mir leid. Es ist nur … ich habe das Gefühl, als wäre ich in einem Traum. Ich hatte das so dringend nötig, und ich wusste es nicht einmal. Ich bin überwältigt. Vielen Dank. Ehrlich, vielen Dank.«

Delilah schüttelte den Kopf, gerührt von der Begeisterung und Dankbarkeit der Frau. Und dann spürte sie ein seltsames Gefühl der Schuld in sich aufwallen. Schließlich war Dankbarkeit das Letzte, was sie unter den gegebenen Umständen verdiente. Die Empfindung verwirrte sie. Sie war Dankbarkeit seitens ihrer Zielpersonen gewohnt, sogar Erklärungen von unsterblicher Liebe. Doch über einer gewissen Befriedigung über den Erfolg hinaus gestattete sie sich nie, außerhalb ihrer Rolle etwas zu empfinden, bis die Operation beendet war.

»Ich bin diejenige, die sich bedanken muss«, sagte sie und verdrängte das Gefühl. »Wenn du nicht mitgekommen wärst, hätte ich niemanden, mit dem ich das hier genießen kann. Ich bin wirklich froh, dass du hier bist.«

Am Strand vor der Anlage gingen sie von Bord. Das Wasser war so klar und blau, der Sand so weiß und der grüne Rücken des Mount Otemanu so majestätisch, dass Delilah einen Augenblick lang Kents Zögern verstand, dem Plan zuzustimmen. Die Insel und ihre Lagune wirkten wie der Archetypus eines Paradieses, geschaffen aus dem kollektiven Unbewussten der Menschheit, und es erschien fast ungerecht, dass irgendjemand hier seine Zeit verbringen durfte, vor allem auf Kosten des Steuerzahlers.

In einem schilfgedeckten offenen Pavillon erledigten sie rasch die Formalitäten. Der Manager der Anlage, ein sympathisch wirkender Gentleman namens Rajiv, begrüßte sie persönlich. Falls er überrascht war, dass Delilah eine Freundin mitgebracht hatte, zeigte er es nicht. Er verlieh seiner Begeisterung darüber Ausdruck, dass Delilah einen Teil ihrer Aufnahmen auf dem Gelände der Anlage machen würde, informierte sie, dass er ihnen ein Upgrade zu einer Otemanu-Suite in einem der Bungalows über dem Wasser mit Tauchbecken gegeben hatte, und bot seine persönliche Hilfe bei allen Fragen oder Wünschen an, die sie oder ihre Freundin hätten. Kents Legende war offensichtlich wasserdicht, und der schlaue Rajiv hoffte, der Artikel über Bora Bora würde, mit entsprechenden Anreizen, seine eigene Hotelanlage in den Mittelpunkt stellen.

Ein untersetzter polynesischer Angestellter lud ihre Koffer in einen Golfwagen und fuhr sie hinaus bis zum Ende eines Piers, von dem aus man die schilfgedeckten Holzbungalows über dem glitzernden Blau der Lagune erreichte. Während er sie zu ihrer Unterkunft geleitete, verkündete er: »Der beste Bungalow der ganzen Anlage, Sie werden sehen!« Delilah hatte solche Sprüche schon oft genug gehört, um zu wissen, wie wenig sie bedeuteten, aber beim Eintreten verflogen ihre Zweifel. Es war wirklich spektakulär – geräumig, luftig, und von Wohn- und Schlafzimmer aus hatte man einen unglaublichen Blick auf die Lagune und den Mount Otemanu, selbst aus der riesigen Badewanne. Es gab sogar eine Glasplatte im Boden, durch die man die bunten Fische im sich kräuselnden kristallklaren Wasser beobachten konnte. Es war nur ein Bett da, ein Kingsize-Bett, und Delilah hoffte, dass das kein Problem sein würde. Okay, falls doch, würde ihnen schon etwas einfallen.

Sie gingen hinaus auf die Veranda – ein Tisch mit Stühlen, ein paar Chaiselongues, eine Außendusche, eine Badeleiter direkt in die Lagune und, wie angekündigt, ein eigenes Tauchbecken, in das man vom Schlafzimmer aus gelangte. Selbst Delilah, die schon von etlichen reichen, weit gereisten Männern an ziemlich exotische Orte eingeladen worden war, war überwältigt. Fatima stockte der Atem. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund sah sie sich um.

»Gefällt es Ihnen?«, fragte der Angestellte.

»Das ist einfach … Wahnsinn«, erwiderte Delilah.

Sein Gesicht leuchtete auf, und er präsentierte ein gigantisches Lächeln. »Ich habe es Ihnen ja gesagt.«

Delilah gab ihm ein reichliches Trinkgeld. Als er ging, meinte er: »Mah-roo-roo. Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich bitte wissen. Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt.«

Einen Augenblick lang starrten Delilah und Fatima sich wortlos an. Dann brachen sie gleichzeitig in Gelächter aus und fielen sich in die Arme. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte Fatima. »Ist das alles echt?«

»Lass es uns herausfinden. Ich will sofort in diese Lagune springen.«

»O ja. Ich … ich ziehe mich nur schnell im Badezimmer um.«

Ihre Schamhaftigkeit überraschte Delilah nicht. Sie war verwestlicht, aber immer noch Muslimin. Als Israelin oder gar Französin hätte sie bestimmt nackt gebadet. »Natürlich, lass dir Zeit. Wir sehen uns auf der Veranda.«

Delilah schlüpfte in einen kobaltblauen Bikini und trat durch die Schiebetüren ins Freie. Die Temperatur war ideal – warm genug für einen Badeanzug, aber nicht schwül oder drückend. Die Farben waren atemberaubend. Die Szenerie sah aus wie ein Bildschirmschoner, nicht wie ein Ort, an dem man tatsächlich sein konnte. Und dennoch, hier war sie.

Fatima gesellte sich eine Minute später zu ihr. Sie trug einen zinnoberroten Einteiler – nicht so freizügig wie Delilahs Bikini, aber sehr rassig geschnitten. Sie hatte einen schönen Körper, und mit diesen langen schwarzen Haaren, die ihr über den Rücken flossen, dieser Haut, diesem Lächeln … mein Gott, die Frau war wirklich umwerfend. Und das fast ohne Make-up und nach einer vierundzwanzigstündigen Reise.

»Was ist denn?«, fragte Fatima lächelnd.

»Du bist einfach … überirdisch schön, meine Liebe. Und wenn du versuchst, es zu leugnen, schubse ich dich in die Lagune.«

Fatima lachte. »Was für eine schreckliche Drohung. Aber danke. Ich dachte gerade dasselbe von dir.«

Sie sprangen von der Veranda. Das Wasser war herrlich kühl und angenehm, und sie planschten eine himmlische halbe Stunde lang herum, tauchten und ließen sich treiben, bis sich die Strapazen der Reise verflüchtigt hatten.

Als sie genug hatten und sich auf der Veranda abtrockneten, beschloss Delilah, das Schlafarrangement zur Sprache zu bringen. Überrascht bemerkte sie, dass sie das Thema ein wenig heikel fand, und erkannte, dass Fatimas Schönheit die Ursache war. Würde sie denken, dass Delilah sich an sie heranmachen wollte?

Der Gedanke war seltsam, und sie schüttelte ihn ab. Sie war im Einsatz. Sie wusste nicht, was Fatima erwartete oder was ihr unangenehm sein würde. Sie wollte nichts verderben, wenn es gerade so schön lief. Das war alles.

»Ich hätte schon früher dran denken sollen«, sagte sie, »aber wir haben nur ein Bett …«

»Das habe ich schon gesehen. Es macht nichts. Ich nehme die Couch.«

»O nein! Ich meine, wenn du willst, natürlich, aber … aber schau mal, es ist ein großes Bett, und ich käme mir komisch vor, wenn ich es ganz für mich hätte, während du dich auf der Couch herumwälzt.« Wieder schob sie die Bedenken weg, dass Fatima denken könnte, sie wolle sich an sie heranmachen. Sie würde wissen, dass Delilah nur höflich sein wollte. Sie machte sich zu viele Gedanken. Was merkwürdig war. Normalerweise zweifelte sie nicht an sich.

»Das ist sehr nett von dir. Aber ich schlafe sowieso nicht besonders gut. Das Bett wäre an mich verschwendet. Und am Ende würde ich auch noch dich wachhalten.«

»Das bezweifle ich. Und wenn du nicht gut schläfst, ist eine Couch nicht gerade das Richtige, oder? Hör zu, es macht mir gar nichts aus, das Bett mit dir zu teilen, das ist mir überhaupt nicht lästig. Und ich möchte natürlich, dass du es bequem hast. Such es dir aus.«

Fatima lächelte ein Lächeln, das Delilah nicht enträtseln konnte. »Vielen Dank«, sagte sie. »Das ist schon jetzt die schönste Reise, die ich je gemacht habe. Warum überlegen wir uns das mit dem Bett nicht heute Nacht?«

Delilah erwiderte das Lächeln, fühlte sich aber immer noch unsicher. »Natürlich. Wie du willst.«

Sie verbrachten den Nachmittag damit, die Anlage zu erkunden, aßen geruhsam in einem der Restaurants und entspannten sich am Pool. Ihre Unterhaltung plätscherte so leicht und unbeschwert dahin, dass Delilah manchmal fast hätte glauben können, ihr Auftrag wäre echt, und sie hätte eine Freundin mitgebracht. Aber zu anderen Zeiten spürte sie den Druck der Operation auf sich lasten, die Ungewissheit, wie sie an Fatimas Laptop herankommen sollte. Im Einsatz hatte sie tief drinnen immer Angst davor, enttarnt zu werden, aufzufliegen. Aber jetzt lag sie dichter unter der Oberfläche und fühlte sich anders an. Es war nicht die übliche Furcht vor physischer Gewalt – vor Schlägen, Folter, Tod. Solche Gedanken klangen in diesem Paradies absurd. Wenn Fatima Delilah dabei erwischte, wie sie sich Zugang zu ihrem Laptop verschaffen wollte, hätte Delilah schnell eine Ausrede parat, und das wäre es dann. Es drohte keine echte Gefahr. Und doch hatte sie Angst, wovor, wusste sie nicht.

Sie waren beide müde und litten unter Jetlag, daher gingen sie früh zu Bett. Fatima beschloss, auf der Couch zu schlafen, und Delilah stimmte zu, aber erst, nachdem sie sie hatte versprechen lassen, dass sie die andere Hälfte des Bettes nehmen würde, wenn ihr unbequem war, egal, ob sie Delilah dabei weckte oder nicht.

Die nächsten zwei Tage verliefen unbeschwert. Sie schnorchelten, segelten um die Insel und fütterten Haie und Rochen. Sie probierten Parasailing aus. Delilah fotografierte pflichtbewusst alle Aktivitäten, machte Bilder von sich sonnenden Seeschildkröten und azurblauen Wellen und was sonst noch zu einem Urlaub im Paradies gehört. Einmal versuchte sie, Fatima in ihrem fantastischen roten Badeanzug aufzunehmen, doch sie sträubte sich und meinte, aus denselben Bedenken, warum sie nicht zu modebewusst erscheinen wollte, lasse sie sich ungern in einem Aufzug fotografieren, der für gewisse muslimische Befindlichkeiten schockierend wirken musste. Delilah erklärte Fatima, dass sie die Fotos haben könne, aber trotzdem zierte sich Fatima. Das legte den Gedanken nahe, dass sie entweder befürchtete, es würde Kopien geben, oder zu schüchtern war, um für die Kamera zu posieren, vielleicht auch beides. Diese Frau war so schön und fotogen, dass Delilah nur zu gern ein paar glamouröse Bilder von ihr geschossen hätte, aber sie wollte nicht drängen.

Mehrmals – wenn sie zwischen den Mahlzeiten, Unternehmungen und Besuchen am Strand oder am Pool wieder in ihrer Suite waren – benutzte Fatima ihren Laptop. Aber irgendwie gelang es ihr immer, geschickt darauf zu warten, bis Delilah es sich irgendwo bequem gemacht hatte, um dann ihren Computer mitzunehmen – entweder in den gerade freien Raum der Suite oder auf die Veranda –, sodass Delilah Kents App nicht einsetzen konnte, um die Tastenanschläge aufzunehmen. Immerhin war es ermutigend, dass Fatima den Laptop offensichtlich als etwas sehr Privates betrachtete. Das legte den Gedanken nahe, dass sich darauf etwas befand, was der Mühe wert war. Das Problem war, dass ihr Aufenthalt nur vier Tage dauerte und die Zeit knapp wurde.

Am vierten und letzten Tag aßen sie früh zu Abend und schlenderten anschließend zur Open Air Bar über der Lagune, um etwas zu trinken. Sie trugen Sarongs, Bustiers mit Nackenträgern und Sandalen, die sie in einem Laden der Anlage erstanden hatten, die perfekte Aufmachung für einen Abend im Paradies. Delilah war sich bewusst, dass die Uhr lief und was ihr Versagen für Fatima bedeuten würde, doch sie schob diese Gedanken beiseite. Irgendetwas würde ihr schon noch einfallen. Sie spürte, dass sich in ihrem Kopf bereits etwas zu formen begonnen hatte, eine Idee, eine Strategie, aber sie entglitt ihr immer wieder. Sie musste sich einfach entspannen und ihren Geist öffnen.

Sie setzten sich auf eine Couch mit Blick auf den Sonnenuntergang, und Delilah bestellte eine Flasche Bordeaux. Fatima war schweigsamer als sonst. Delilah, angenehm beschwipst von dem Wein, den sie zum Abendessen getrunken hatten, und verzaubert von den Gelb- und Rosatönen des Himmels, fiel es zunächst nicht auf. Erst als die Sonne hinter dem Horizont versank, fragte sie sich, was Fatima beschäftigte. Sie stieß sie sachte mit der Schulter an und fragte: »Was ist los?«

Fatima sah sie an. In der Glut des schwindenden Sonnenlichts war ihr Ausdruck ernst und geheimnisvoll. Delilah wünschte sich, sie hätte ihre Kamera dabei.

»Tut mir leid«, meinte Fatima. »Manchmal werde ich in den unpassendsten Momenten traurig. Es ist eine schlechte Angewohnheit, die ich irgendwann abzulegen hoffe.«

Delilah war neugierig. »Nein, kein Grund, dich zu entschuldigen. Und ich finde, es ist keine Angewohnheit, jedenfalls ist sie mir bis jetzt nicht aufgefallen. Warum sagst du das?«

Ein langer Augenblick verstrich, dann erwiderte Fatima: »Seit dem, was meiner Familie angetan wurde, kann ich ein ziemlich launisches Miststück sein. Traurig. Deprimiert. Voller Schuldgefühle. Zornig. Manchmal, wenn es mir richtig gut geht wie jetzt, dann wird mir plötzlich besonders intensiv bewusst, was uns zugestoßen ist. Oder was uns genommen wurde.«

»Ja. So ging es mir auch lange Zeit nach dem Tod meines Bruders. Und meine Eltern … für meine Eltern hat es nie aufgehört.« Wie bei allen guten Lügen handelte es sich um neu arrangierte Fakten. Der emotionale Kern entsprach der Wahrheit.

»Wie lange blieb es bei dir so?«

»Das erste Jahr war das schlimmste. Danach ging es sicher noch etwa vier Jahre so weiter. Jetzt passiert es nur noch gelegentlich. Und es stört mich eigentlich nicht mehr wirklich. Ich fühle mich dann, als wäre ich … ich weiß nicht … immer noch verbunden mit ihm. Es ist wie eine ganz besondere Erinnerung, die ich an einem sicheren Ort aufbewahren, aber zu bestimmten Anlässen hervorholen und hegen und pflegen muss, selbst wenn mich das traurig macht.«

Einen Moment lang war Fatimas Ausdruck so wehrlos, dass Delilah tief berührt war. Ihre Augen waren groß, die Lippen leicht geöffnet … selbst ihre Pupillen waren geweitet. »Ja«, sagte sie. »Genauso ist es.«

»Ich weiß nicht. Vielleicht ist es für dich ganz anders. Dein Verlust ist noch so frisch.« Sie spürte, dass sie hier ansetzen konnte. »Was ist mit deinem anderen Bruder? Steht ihr euch nahe?«

»Wir … früher schon. Ich habe ihn eine ganze Weile nicht gesehen.«

»Aber steht ihr nicht in Kontakt?«

»Manchmal.«

Die Antworten klangen verhalten. Sie fragte sich, ob das nicht eine Form der Ehrlichkeit war. Wenn Fatima ihren Bruder wirklich schützen wollte, hätte sie ihr eine nichtssagende Deckgeschichte aufgetischt, die keine Fragen offen ließ. Es war nicht leicht zu entscheiden, ob sie weiter nachhaken sollte, aber Delilah beschloss, es bleiben zu lassen. Die beste Chance bot der Laptop. Wenn sie Fatima misstrauisch machte, indem sie zu viele Fragen nach ihrem Bruder stellte – wobei ihre Neugier sich höchstwahrscheinlich ohnehin als fruchtlos erweisen würde –, verbaute sie sich vielleicht die Möglichkeit, ihr Hauptziel zu erreichen.

Ihr wurde klar, dass es jetzt nur noch um den Laptop ging. Fatima konnte ihr sonst etwas über ihren Bruder erzählen, aber wenn Delilah dieses Passwort nicht bekam …

Sie wollte gar nicht darüber nachdenken.

Abermals wünschte sie sich, sie hätte ihre Kamera dabei. Das Licht war so erlesen, und Fatima mit ihrem traurigen Ausdruck wirkte darin unglaublich anmutig. Dann hatte sie eine Idee – eine Idee, von der sie noch im Entstehen begriff, dass sie schon eine ganze Weile in ihrem Unterbewusstsein geschlummert hatte.

»Merde«, sagte sie, »ich wollte, ich hätte meine Kamera hier.«

»Der Sonnenuntergang?«

Delilah lachte. »Nein, meine Liebe. Du.«

Fatima nippte an ihrem Wein. »Du bist viel zu nett zu mir.«

»Lass uns ins Zimmer zurückgehen. Den Wein können wir mitnehmen. Der Himmel wird atemberaubend sein, Lavendel und Indigo, und dann die aufsteigende Mondsichel – perfekt für das Magazin. Und dich möchte ich auch fotografieren. Ich verspreche dir, bei diesem Licht wirst du traurig und feierlich und überhaupt nicht modebewusst aussehen. Nichts wird von deinem wohlverdienten Image als Aktivistin ablenken, ja? Damit kein Verdacht aufkommen kann, dass du noch eine andere Seite hast.«

Fatima lächelte – eine Spur nervös? »Du glaubst, ich würde etwas verbergen?«

»Ich glaube, du hast vor etwas Angst, ja. Ich weiß nicht, was es ist, nicht einmal, ob es dir selbst bewusst ist. Ich weiß nur, dass du dich seit unserer Ankunft nicht hast fotografieren lassen.«

Fatima seufzte theatralisch. »Also gut, lass uns zurückgehen. Ich weiß nicht, warum du so wild darauf bist, mich zu fotografieren, aber wenigstens kann ich dir bei der Arbeit Gesellschaft leisten.«

Interessant. Keine Zustimmung, aber auch keine Ablehnung.

Sie nahmen den Wein und gingen zu ihrem Bungalow zurück. Delilah sah den Laptop auf dem Kaffeetisch vor der Couch stehen. Gut. Sie holte ihre Ausrüstung auf die Veranda und begann, sie einzurichten.

Fatima kam an die Schiebetür und sagte: »Mach nur deine Aufnahmen – ich gehe inzwischen unter die Dusche.«

Delilah lächelte. »Glaub nicht, dass du mir so einfach davonkommst.«

Fatima lachte. »Nur keine Sorge.«

Delilah benutzte ein Stativ und eine lange Belichtungszeit, um ein paar dramatische Aufnahmen der Silhouette des Mount Otemanu vor dem violetten Himmel zu machen, mit dem Mond als Akzent. Das Magazin würde zufrieden sein. Als das Licht zu schlecht wurde, ging sie nach drinnen. Fatima kam in einem hoteleigenen Frotteebademantel aus dem Badezimmer, ein Handtuch um die Haare geschlungen.

»Wenn das dein Plan ist, mich daran zu hindern, dich zu fotografieren«, meinte Delilah, »dann funktioniert er nicht.«

Fatima lächelte. »Wie war der restliche Sonnenuntergang?«

»Zauberhaft. Wenn auch nicht so zauberhaft wie du.«

Sie setzte die Kamera auf dem Kaffeetisch neben der Flasche Wein und Fatimas Laptop ab. Es war inzwischen ziemlich dunkel geworden, und Delilah zündete ein paar der Kerzen an, die das Hotel fürsorglich auf dem Beistelltisch neben der Couch bereitgelegt hatte. Sie setzte sich hin, schenkte zwei Gläser Wein ein, ergriff sie und hielt Fatima eines hin. »Kommst du zu mir?«

Fatima setzte sich. Sie stießen an und tranken.

Delilah stellte ihr Glas ab und nahm die Kamera. »Schau einfach geradeaus.«

Fatima beäugte sie mit gespieltem Misstrauen. »Warum?«

»Vertrau mir.«

Fatima drehte den Kopf. Delilah hob die Kamera und schoss ein Foto. Fatima sah sie wieder an und sagte: »Du lässt dich wirklich nicht aufhalten, oder?«

Delilah lächelte. »Wenn wir fertig sind, kannst du die Speicherkarte nehmen und damit tun, was du möchtest.« Sie schenkte ihnen Wein nach. »Hier, entspann dich.«

Fatima lachte. »Wirke ich denn nicht entspannt?«

»Vielleicht ein winziges bisschen verkrampft.«

»Und das wollen wir doch nicht.«

»Nein. Ich möchte, dass du Spaß hast.«

Lag darin eine gewisse Doppeldeutigkeit? Sie war nicht sicher. Sie merkte, dass sie ein wenig beschwipster war, als ihr lieb war.

Aber … sie hatte immer noch die Befürchtung, Fatima könnte denken, dass sie sich an sie heranmachen wollte. Delilah wurde klar, dass ihr Unterbewusstsein ihr auch hier etwas mitzuteilen versuchte. Wenn Fatima auch nur den geringsten Argwohn hegte, einen vagen Ansatz von Hintergedanken spürte, dann lieferte die Möglichkeit, dass Delilah sich von ihr angezogen fühlte, ihr eine naheliegende Erklärung. Daran konnte sich ihr Verstand festklammern und einen aufkeimenden Verdacht beschwichtigen.

Oder war das eine Rationalisierung? Delilah fand, dass es keine Rolle spielte – die Methode würde so oder so funktionieren.

Sie betrachtete das Bild, das sie gerade geschossen hatte, im Sucher der Kamera. »Hm, hübsch, aber ein bisschen dunkel. Warte kurz.«

Sie stand auf, nahm ihr iPhone und startete rasch Kents App. Dann schaltete sie um zu einer Belichtungsmesser-App. Fatima konnte nicht wissen, dass sie sie eigentlich gar nicht brauchte. Theatralisch stellte sie die Kamera damit ein und positionierte die zwei Kerzen. Sie legte das iPhone neben Fatimas Laptop und machte noch ein paar Aufnahmen.

»Ja, so ist es besser«, kommentierte sie, knipste weiter und kontrollierte durch den Sucher. »Ich liebe dieses Licht. Nimmst du mal das Handtuch vom Kopf? Ja, so ist es gut. Und jetzt schüttele dein Haar aus. Ah, oui, sehr schön.«

Sie stand auf, schob den Kaffeetisch beiseite und umkreiste Fatima, um Aufnahmen aus den verschiedensten Winkeln zu machen. »Setz das Glas an die Lippen. Ja. Jetzt denkst du über etwas nach. Freust dich auf etwas. Wartest auf deinen Liebhaber. Ja, genau so. Und jetzt trink. Nein, nicht den Kopf bewegen, nur das Glas. Ja. Setz das Glas ab. Jetzt sieh mich an. Kopf nach unten, die Augen nach oben. Oui, das gefällt mir. Mein Gott, Mädchen, du bist éblouissant. Atemberaubend.«

Und es stimmte. Sie funkelte und strahlte für die Kamera, wie es keines der professionellen Models, die Delilah kannte, hätte besser machen können.

Sie senkte die Kamera und sah Fatima einen intensiven Augenblick lang an. Fatima erwiderte den Blick mit selbstbewusstem, beinahe heiterem Ausdruck. Jede Spur ihrer vorherigen Zurückhaltung war verschwunden. Ob es am Wein lag, der Umgebung, der Gesellschaft … Delilah wusste es nicht. Aber Fatima war über den Punkt hinaus, wo sie sich einfach widerstrebend fotografieren ließ. Jetzt wirkte sie fast wie berauscht davon.

Delilah fühlte ihr Herz schneller schlagen. Was machte sie da? Sie hatte genug getan. Weiter musste sie nicht gehen. Kents App war aktiv. Wenn sie mit dem Fotografieren fertig war, wollte sie Fatima die Speicherkarte der Kamera geben, damit sie die Bilder auf ihrem Laptop ansehen konnte. Dann würde sie ihr Passwort eingeben, die App registrierte es, die Operation wäre beendet.

Delilah sagte: »Zieh den Bademantel über die Schulter herunter.«

Fatima machte den Mund auf, als wollte sie Einwände erheben, aber sie tat es nicht. Sie schüttelte den Kopf, einmal, wortlos, und ihre Miene war plötzlich verwirrt.

»Oui, ja, ich möchte, dass du es tust. Während du in die Kamera siehst. Tu es langsam. Bewusst. Als wolltest du einen Liebhaber verführen.«

Fatimas Lippen waren geöffnet. Atmete sie schwerer? Delilah schon.

Langsam, unsicher legte Fatima den linken Arm schräg vor den Körper und zog den Kragen des Morgenmantels mit der rechten Hand bis halb zum Ellbogen herunter. Dann hielt sie inne. Der Anblick ihrer honigfarbenen Haut vor dem Weiß des Bademantels war unglaublich verlockend.

»Oui, ja, genau so«, sagte Delilah, knipste weiter und ging in einem Bogen zurück zur Couch. Sie kniete sich auf eines der Kissen. »Jetzt zieh den Stoff eng um dich. Nicht, weil du mich nichts sehen lassen möchtest. Gerade weil du es mich sehen lassen möchtest. Weil du mich mit deiner Schönheit folterst. Ja, genauso. Ja, ja.«

Sie senkte die Kamera. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie war so erregt, dass sie feucht war. Was war bloß mit ihr los? Sie hatte zahllose Männer verführt. Das war ihr Job, sie war gut darin, sie genoss es, es machte sie nicht nervös. Und doch zitterten ihr jetzt die Hände so sehr, dass sie nicht sicher war, ob sie die Kamera ruhig halten konnte.

»Fatima. Lass die andere Schulter des Bademantels für mich herunter.«

Wieder sagte Fatima nichts. Immer noch Delilah ansehend, griff sie mit dem anderen Arm zur gegenüberliegenden Seite des Bademantels und zog ihn genau wie beim ersten Mal herab. Sie kreuzte die Arme unterhalb der Rundung ihre Brüste, deren obere Hälfte jetzt verführerisch entblößt lag.

Delilah senkte die Kamera. »Weiter«, sagte sie.

Sie sah, dass Fatima zitterte. Ihre Lippen waren geöffnet, ihr Blick senkte sich in Delilahs Augen. Sie zog den Bademantel weiter herunter.

»Weiter«, wiederholte Delilah. Sie atmete rau, ihre Stimme klang heiser.

Langsam, ganz langsam ließ Fatima die Hände in den Schoß sinken. Der Bademantel fiel von ihr ab.

Delilahs Blick glitt zu Fatimas Brüsten, die sich mit ihren Atemzügen hoben und senkten. Gott, waren sie schön. Ein winziger Aufschrei entkam Delilahs Lippen.

Sie stellte die Kamera auf den Boden. Fatima beobachtete sie stumm.

Delilah schob sich näher zu Fatima, beugte sich vor und hielt ein paar Zentimeter vor ihrem Gesicht inne. Sie blickte in ihre dunklen Augen, erregt von der Nervosität und dem Begehren, das sie in ihnen erkannte. Dann neigte sie sich näher, immer näher, bis ihre Lippen sich berührten. Fatima kam ihr nicht entgegen, wich aber auch nicht zurück.

»Ich möchte, dass du mich küsst«, flüsterte Delilah.

»Ich … ich weiß nicht«, sagte Fatima, während ihr Mund auf Delilahs Lippen lag. »Delilah, bist du … lesbisch?«

Die Bewegung ihrer Lippen, während sie sprach, fühlte sich erstaunlich sinnlich an, und Delilah wurde sich eines Ziehens zwischen den Beinen bewusst. Sie lachte leise. »Nein. Nicht, bevor ich dir begegnet bin.«

»Ich … ich kenne mich damit nicht aus.«

»Küss mich«, flüsterte Delilah.

Nach kurzem Zögern bewegten Fatimas Lippen sich sanft und tastend. Sie waren so voll und weich und scheu … ganz anders als die eines Mannes. Delilah konnte Fatimas Atem auf ihrem Gesicht spüren und merkte, dass die Frau ebenso erregt war wie sie, und noch viel erschrockener. Der Gedanke stimulierte sie noch mehr. Sie wollte nach unten greifen und sich selbst berühren, hatte aber Angst, es wäre zu viel für sie.

Fatima öffnete den Mund und küsste sie fester. Delilah fühlte Überraschung und Entzücken in sich explodieren. Sie öffnete ebenfalls die Lippen, und ihre Zungen trafen sich, tastend, spielerisch, kostend. Sie legte den Kopf schräg und drängte näher, öffnete den Mund noch weiter und ließ Fatimas Zunge ganz eindringen. Mein Gott, sie konnte sich nicht daran erinnern, dass jemals ein Kuss so köstlich geschmeckt hätte. Sie hörte Fatima stöhnen … oder war sie es selbst? Sie bewegte den Kopf nach unten und küsste Fatimas Hals, die Halsbeuge. Sie setzt ein Knie auf den Boden, zog den Bademantel weiter auf und küsste sie weiter unten, glitt immer tiefer, schob die Hände unter den Mantel und umfasste Fatimas Hüften. Ihr Mund entdeckte eine Brustwarze und saugte daran. Fatima keuchte, und ihre Hände schlossen sich hinter Delilahs Kopf und zogen sie an sich.

Plötzlich hingen Delilahs Oberteil und der Sarong schwer wie eine Taucherglocke an ihr. Sie zog sich ein Stück zurück, kreuzte die Arme und streifte das Oberteil ab. Noch bevor sie es sich über den Kopf gezogen hatte, beugte Fatima sich vor, und ihre Hände fanden Delilahs Brüste, erforschten sie liebkosend, neugierig. Sie nahm Delilahs Brustwarze zwischen die Finger und drückte sie sanft. Das Gefühl fuhr Delilah wie ein Schock bis in die Zehenspitzen. Sie nahm Fatimas Gesicht in beide Hände, und diesmal wollte ihr Kuss gar nicht mehr enden, brennend, leidenschaftlich, rückhaltlos. Es war außergewöhnlich, elektrisierend, fühlte sich an, als würden sie sich nur mit ihren beiden Mündern lieben.

Irgendwie gelang es ihr, den Sarong abzustreifen und den Slip auszuziehen. Sie glaubte, noch nie so feucht gewesen zu sein. Immer noch mit einem Knie auf dem Boden und dem anderen Bein auf der Couch, unterbrach sie den Kuss und nahm Fatimas Hand. Sie lenkte sie näher, immer näher zu sich, ohne den Blick von ihren Augen zu lösen, und als ihre Finger sie berührten, keuchte Delilah vor Lust. Sie bewegte Fatimas Hand, zeigte ihr, wie sie es mochte, und stöhnte »oui, oui« im Rhythmus ihrer Liebkosungen. Sie spürte, wie einer von Fatimas Fingern langsam in sie hineinglitt, hinein, hinaus, verschwand, dann wieder da war, mit ihr spielte, sie erregte, auf die Folter spannte. Es trieb sie zum Wahnsinn. Sie hielt es nicht mehr aus, und sie ertrug den Gedanken nicht, dass es aufhören könnte. Sie lehnte sich zurück und zog Fatima mit sich. »Ich möchte, dass du mich kostest«, bat sie. »Bitte. Bitte koste mich.«

Fatima legte Delilah die freie Hand vor die Brust und drückte sie zurück, bis sie ganz auf dem Rücken lag. Delilahs Kopf ruhte auf der Armlehne, und sie sah zu, wie Fatima sich vorbeugte und an ihrem Körper nach unten bewegte, immer weiter nach unten, während ihre Finger sie tastend erforschten. Sie küsste Delilahs Bauch, ohne mit dem Spiel ihrer Finger aufzuhören, ging dann tiefer, und endlich, endlich spürte Delilah ihre Zunge, ihre Zähne, den Druck ihrer Lippen. O Gott, hatte sie je etwas empfunden, das gleichzeitig so sanft und intensiv war? Sie wölbte ihr die Hüften entgegen, legte eine Hand hinter Fatimas Kopf und stöhnte »oui, oui«, leitete sie mit ihrer Hand und Stimme an, zeigte ihr, was ihr gefiel, wonach sie sich sehnte, was sie brauchte. Und Fatima kam ihren Wünschen begierig nach, mit zuckender Zunge und neugierigen Fingern. Sie streckte die Hand nach Delilahs Brustwarzen aus, drückte sie, rollte sie zwischen den Fingern, machte sie wahnsinnig. Delilah spürte, wie ihr Orgasmus sich aufbaute, und flüsterte: »Oui. Ma chérie, oui, genau so … genau so, hör bloß nicht auf, lass mich kommen.« Und Fatimas Zunge bewegte sich schneller, während sie Delilahs Hand festhielt. Delilah packte ihren Hinterkopf und zog sie enger an sich, rieb sich an ihrem Gesicht, und dann kam sie so intensiv, dass der Orgasmus sie mit der Gewalt einer Schockwelle traf, die ihre Kraft verdoppelte, während sie durch ihren Körper rollte. Sie wölbte den Rücken, ergriff Fatimas Hand und hörte sich selbst aufschreien: »Oui, pour l’amour de Dieu, oui, oui!«

Der Orgasmus schien nicht enden zu wollen. Endlich brach sie auf der Couch zusammen, während die Kontraktionen abebbten und ihr Kopf immer noch schwindelte vor Überraschung, von der Gewalt, mit der es sie gepackt hatte.

Fatima schob sich langsam höher, küsste Delilahs Bauch, ihren Hals, und hielt sie dann in den Armen.

»Mein Gott«, hauchte Delilah. »Du bist wundervoll.«

Fatima vergrub das Gesicht an Delilahs Hals. »Ich kann nicht glauben, dass ich das getan habe.«

»Es war wunderschön.«

»Das macht mich glücklich.«

Delilah nahm sie bei den Schultern und drückte sie zur Seite. Sie glitt unter Fatima hervor und setzte sich rittlings auf ihre Hüften. »Jetzt bist du dran.«

Fatimas bernsteingoldene Haut verdunkelte sich. »Nein, du musst nicht …«

Delilah lachte. »Müssen? Ich sehne mich danach.« Sie drückte Fatima an den Schultern zurück, beugte sich vor und gab ihr einen langen Kuss. Dann streckte sie sich neben ihr aus, und während sie sich weiter küssten, griff sie nach unten und begann sie zu streicheln. Sie spürte, dass sie eine Bikinie-Enthaarung hatte, die heiße Haut fühlte sich weich und glatt an unter ihren Fingerspitzen. Ihre Finger glitten widerstandslos in Fatimas Feuchte, und das Gefühl, wie sie in Delilahs Mund keuchte, während diese sie berührte, reichte aus, um ihre Lust neu zu entfachen. Sie bedeckte Fatimas Hals, ihre Brüste, ihren Bauch mit Küssen, während sie sie weiter streichelte, tief, aber langsam, so langsam, sie auf die Folter spannte, nach mehr hungern ließ. Mit der Hand drückte sie Fatimas Beine weiter auseinander, küsste die Innenseite ihrer Oberschenkel, ihren Venushügel, ihre Schamlippen, während ihr Finger hinein und hinaus glitt. Fatima wimmerte und wand sich und wölbte die Hüften, aber das reichte Delilah nicht, sie wollte, dass Fatima darum bat, darum bettelte, sich genau wie sie bis zum Wahnsinn danach verzehrte. Sie küsste und leckte sie, zuckte mit der Zunge um den Punkt herum, wo Fatima sie unbedingt haben wollte. Endlich stieß Fatima schwer atmend hervor: »Bitte, lass mich kommen, bitte«, und Delilah ließ ihre Zunge über ihre Klitoris tanzen. Fatima erzitterte und keuchte auf, und Delilah leckte sie immer weiter, während ihre Hand zu Fatimas Brüsten hinaufglitt, um ihre Brustwarzen zu liebkosen, während sie sie mit den Fingern der anderen Hand weiter befriedigte. Fatima stöhnte: »Ja, o Gott, o ja«, und Delilah leckte sie fester, und als Fatimas Atem immer heftiger ging und ihre Hüften zu wippen begannen, saugte Delilah ihre Klitoris in den Mund und ließ die Zunge darum kreisen. Fatima keuchte und schrie auf: »Oh, oh, ohhhhh …«, ihr Rücken bog sich durch, und ihre Finger gruben sich in Delilahs Haare. Sie saugte und leckte und streichelte die zuckende und sich windende Fatima immer weiter. Erst als sie auf die Couch zurücksank und heftig atmend sagte: »Bitte, genug, genug«, erlöste Delilah sie.

Sie schob sich hoch und streckte sich neben ihr aus. Fatima drehte den Kopf und sah ihr in die Augen. Delilah erblickte einen köstlichen Ausdruck von … ja, was? Staunen? Ungläubigkeit? Vertrauen?

»Gar nicht so schlecht, was?«, lächelte sie.

Und dann löste sich eine Träne aus Fatimas Augenwinkel.

Delilah war überrascht und ein wenig besorgt. »Warum weinst du?«, fragte sie.

»Es war so schön. Aber ich … ich weiß nicht. Ich schäme mich.«

»Weil es sich so schön angefühlt hat?«

»Weil … weil ich es mit einer Frau getan habe. Manchmal habe ich mich schon gefragt, wie es wohl wäre, aber ich hätte nie gedacht … hast du das schon einmal gemacht? Ich bin nicht die Erste, oder?«

Eine Lüge wäre sicherer und glaubhafter gewesen. Aber Delilah sagte ihr die Wahrheit. »Du bist die Erste.«

»Das kann ich kaum glauben.«

»Tut mir leid. Es ist wahr.«

»Warum ich?«

»Ich weiß nicht. Da ist etwas … etwas, das mich wünschen lässt, alles über dich zu erfahren. Dich auf jede erdenkliche Art kennen zu lernen. Auch im Bett. Besonders im Bett. Ich weiß nicht, warum, aber es ist wahr! Ich habe noch nie so für eine Frau empfunden – ›Wie wäre sie wohl im Bett?‹. Bei Männern schon, ja, ständig, und meistens habe ich recht, und es ist nicht mehr als eine Gymnastikübung. Aber bei dir … ich wusste es nicht. Du bist so schön, so selbstbewusst und kultiviert, aber du bist auch Muslimin, also dachte ich, du würdest vielleicht … sittsam sein? Schüchtern? Gehemmt? Verschämt? Ich konnte es nicht sagen. Und ich … Gott, ich wollte es wirklich wissen.«

»Ich hoffe, du warst nicht enttäuscht.«

»Warst du es denn?«

Fatima schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein.«

»Mir geht es genauso.«

»Wirklich?«

Delilah lachte. »Hast du das nicht gemerkt?«

Fatima lächelte. »Ich dachte schon, aber …«

»Wenn du irgendwelche Zweifel hast, können wir es nachher gerne noch einmal machen.«

Fatima lachte, doch dann wurde ihre Miene ernst. »Ich will es. Es später noch einmal tun, meine ich. Wir hätten nicht bis zu unserem letzten Abend damit warten sollen.«

»Ich weiß. Dann hätten wir noch entspannter wieder abreisen können.« Sie hob den Kopf und küsste Fatima sanft. »Gott, bist du entzückend.«

»Danke.«

Die Zeit lief davon. Es hieß jetzt oder nie.

»Willst du die Fotos sehen, die ich von dir aufgenommen habe?«

Fatima zog die Augenbrauen hoch. »Jetzt?«

»Ja, jetzt. Willst du nicht sehen, was mich so hingerissen hat?«

Statt auf eine Antwort zu warten und ein Nein zu riskieren, setzte Delilah sich auf, griff nach der Kamera und zog die Speicherkarte heraus. »Hier, sie gehört dir. Du kannst die Bilder auf deinem Laptop ansehen und damit machen, was du willst.«

Fatima lächelte unentschlossen, setzte sich aber auf und zog den Bademantel zu. Selbst jetzt war sie noch schamhaft, stellte Delilah fest, aber das war ihrer Erfahrung nach gar nicht so ungewöhnlich. Sie hatte viele Männer kennengelernt, die nur bei gelöschtem Licht mit ihr schlafen konnten und sich selbst danach noch ihres Körpers schämten.

Fatima nahm die Karte und klappte den Laptop auf. Sie drehte ihn von Delilah weg und tippte ein ziemlich lang klingendes Passwort. Dann schob sie die Karte ein.

Delilah warf einen Blick auf ihr iPhone. Es war im Wi-Fi-Netz des Hotels eingeloggt. Also wurde Fatimas Code bereits hochgeladen. Die Operation war abgeschlossen.

Normalerweise fühlte sie in diesem Moment einen Rausch unterdrückten Hochgefühls. Aber heute … ein Durcheinander von Empfindungen, die sie nicht verstand. Erleichterung, ja, weil der grauenvolle Plan B des MI6 damit obsolet war. Aber auch eine seltsame Traurigkeit. Und Schuld. Es ergab keinen Sinn. Sie musste sich zusammenreißen.

Fatima stellte den Laptop so, dass sie beide den Bildschirm sehen konnten. Sie fing an, die Bilder durchzuscrollen, die Delilah aufgenommen hatte. »Ich muss zugeben«, lächelte sie, »du lässt mich gut aussehen.«

Sie verbrachten eine Weile mit den Fotos. Es waren großartige Aufnahmen, und Delilah tat so, als würde sie sich darüber freuen. Aber in Wahrheit fühlte sie sich dabei immer schlechter.

Als die Kerzen heruntergebrannt waren, gingen sie ins Bett. Sie liebten sich wieder, und danach lagen sie einander noch lange in den Armen. Aber Delilah konnte nicht schlafen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Die Natur des Vergehens entzog sich ihr – was sie hier erreicht hatte, würde Menschen das Leben retten, das wusste sie, so genau wie immer. Und wahrscheinlich hatte sie Fatima vor Gräueln bewahrt, die sie sich nicht einmal vorstellen wollte.

Und dann traf sie die Erkenntnis mit solcher Wucht und Deutlichkeit, dass ihr klar wurde, warum sie sie bis jetzt nicht hatte wahrhaben wollen. Ja, vielleicht hatte sie Fatima den einen Schrecken erspart, aber nur, um sie einem anderen auszuliefern. Denn die unmittelbarste, direkteste Konsequenz der Information, die sie gerade erlangt hatte, würde der gewaltsame Tod von Imran sein, Fatimas letztem Bruder. Der Frau war bereits durch den Tod ihrer anderen Brüder übel mitgespielt worden, und jetzt würde ihre in Stücke gegangene Welt, die sie in qualvoller Mühe wieder zusammenzusetzen versucht hatte, erneut zerschmettert werden. Und auch die Welt ihrer Eltern.

Die Ironie entging Delilah nicht. Fatima hatte gesagt, dass die Tragödie ihrer Familie sie noch bis in ihre glücklichsten Momente hinein verfolgte, besonders in ihre glücklichsten Momente. Und nun, in der Nachglut einer so schönen, aufwühlenden und unerwarteten Begegnung, war auch Delilah zur Gehetzten geworden. Aber nicht durch eine Tragödie der Vergangenheit. Sondern durch eine, die sich erst noch ereignen würde. Eine, die sie selbst in Gang gesetzt hatte. In der sie all ihre Hinterlist, all ihre Fertigkeiten dazu benutzt hatte, Fatima zur Komplizin zu machen.

Sie wusste, das war die falsche Betrachtungsweise. Was zählte, waren nur die geretteten Menschenleben. Und was hätte sie denn tun sollen? Etwa durch Nichtstun zulassen, dass Fatima verschleppt und gefoltert wurde? Doch gleichgültig, wie sehr sie sich selbst zu überzeugen versuchte, die grausame Schuld blieb bestehen. Und mit ihr die unheilvolle Vorahnung, die Strafe würde auf dem Fuß folgen.

star

Die Rückreise war lang und anstrengend. Delilah konnte sich vorstellen, was Fatima dachte – eine Variante der Fragen, mit denen sie sich selbst herumschlug. Wie sollte es weitergehen? War es eine einmalige Sache gewesen, die sie auf zu viel Wein zurückführen und im Paradies zurücklassen konnten? Würden sie in Kontakt bleiben? Sich gegenseitig in ihren Heimatstädten besuchen? Waren sie jetzt Freundinnen? Oder mehr?

Für Delilah wurde das ganze Durcheinander noch verschlimmert durch das Wissen, worum es bei ihrer »Beziehung« wirklich gegangen war. Und durch das Furchtbare, das Fatima und ihrer Familie nun bevorstand und das Delilah unausweichlich in Gang gesetzt hatte.

Sie wusste, dass sie die Angelegenheit jetzt besser hinter sich lassen sollte, ohne die Ergebnisse abzuwarten. Sich auf die geretteten Menschenleben konzentrieren, all die verhinderten Traumata.

Aber das wollte sie nicht. Sie wollte nicht, dass es vorbei war. Es war eigenartig. Bisher hatte sie es immer geschafft, gleich nach Erreichen der Ziele einer Operation die richtigen Ausreden zu finden, um die »Beziehung« zu beenden. Und jetzt suchte sie stattdessen nach einer Möglichkeit, sie zu verlängern. Das war schlimmer als dumm. Es war gefährlich. Sie musste einen Schlusspunkt setzen. Sie hatte bekommen, was sie wollte, und ihre Tarnung gab ihr die perfekte Entschuldigung, den Kontakt abzubrechen. Sie versuchte sich einzureden, es schnell und sauber zu beenden. Damit es vorbei war. Und nicht zurückzublicken.

Sie landeten an einem grauen, regnerischen Morgen in Heathrow. Der Expresszug brachte sie zur Paddington Station, und endlich standen sie verlegen vor den Drehkreuzen zur U-Bahn-Station. Fatima brach das Schweigen.

»Wann fährst du nach Paris zurück?«

Es war das perfekte Stichwort. Delilah sagte: »Bald, vermutlich. Unser Interview habe ich bereits abgeschickt. Es gibt keinen Grund, noch sehr viel länger zu bleiben. Keinen beruflichen Grund, meine ich.«

Scheiße. Es hatte vor allem keinen guten Grund gegeben, den letzten Satz hinzuzufügen.

Fatima nickte. »Ich weiß. Das war ziemlich … verrückt, oder nicht?«

Delilah nickte und dachte: Du hast ja keine Ahnung.

Fatima sagte: »Es tut dir nicht … leid?«

Delilah schüttelte schnell den Kopf. »Überhaupt nicht. Dir?«

Was zum Teufel war mit ihr los? Es sollte ihr leidtun. Es tat ihr leid, wenn auch nicht auf die Art, die Fatima angedeutet hatte. Und unabhängig davon war es sicher kein kluger Schritt, Fatima Hoffnungen zu machen.

Es entstand eine lange Pause, dann fragte Fatima, während sie Delilah direkt in die Augen sah: »Bleibst du heute Nacht bei mir?«

Sag nein, dachte Delilah. Du musst nach Paris zurück. Zur Arbeit. Sei keine Idiotin.

Stattdessen sagte sie: »Das möchte ich gern.«

Fatimas Gesicht rötete sich vor Erleichterung – und Erregung? Sie lächelte und sagte: »Irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit. Ich texte dir die Adresse.«

Delilah nickte wortlos, und plötzlich lagen sie sich in den Armen. Die Umarmung fühlte sich an wie ein köstliches Geheimnis – für die Passanten ein harmloser Abschied, für sie aber die Erinnerung an geteilte Intimität und die Verheißung zukünftiger Freuden, die nur sie beide kannten.

Sie duschte in ihrer gemieteten Wohnung und zog sich um, dann ging sie aus dem Haus, führte einen Gegenaufklärungsgang durch und rief Kent von einem öffentlichen Fernsprecher aus an, um ihm mittels des vereinbarten Codes einen Treffpunkt mitzuteilen.

Zwei Stunden später saßen sie in einer hinteren Ecke des The Wolseley, eines Nobelrestaurants in der Nähe des Ritz am Piccadilly, mit Gewölbedecken und atemberaubenden Säulen und riesigen Kronleuchtern. Bei einem englischen Frühstück wie in alten Zeiten – mit Tee und einem Korb Croissants, bei denen einem so das Wasser im Mund zusammenlief, dass jeder Boulanger mit einem Funken Selbstachtung vor Neid erblasst wäre – setzte Delilah Kent über Bora Bora ins Bild. Er hatte den Upload von der App bereits empfangen und war begeistert über ihren Erfolg.

»Die Techniker sind optimistisch«, teilte er ihr vor der gedämpften Geräuschkulisse des Restaurants mit, das bevölkert war von Börsenmaklern und den Schönen und Reichen und denen, die es gern gewesen wären. »Natürlich können wir nicht sicher sein, bevor wir in ihren Laptop eindringen, aber wie ich höre, war die Aufzeichnung außergewöhnlich klar. Sie müssen sehr nahe dran gewesen sein, an einem sehr ruhigen Ort. War es Ihr Zimmer?«

Kein Wort davon, dass Plan B abgeblasen war. Sie dachte, dass sie das nicht besonders interessieren musste. Vielleicht hatte er ihn ja tatsächlich nur erfunden, um sie zu motivieren, und erinnerte sich jetzt nicht mehr daran.

»Ja. Mein Telefon lag direkt neben ihrem Laptop.«

»Aber es ist Ihnen erst in der letzten Nacht gelungen. War sie bis dahin zu misstrauisch?«

»Ja. Es war das erste Mal, dass sie sich einloggte, wenn ich in der Nähe war.«

»Und, wie haben Sie das geschafft? Angesichts ihrer Vorsicht?«

»Ich habe ein paar Fotos von ihr geschossen und ihr die Speicherkarte gegeben. Sie hat sie auf ihren Laptop heruntergeladen.«

»Aber erst letzte Nacht.«

Sie war nicht sicher, worauf er hinauswollte. »Wie schon gesagt.«

»Bis dahin hat sie sich nicht fotografieren lassen? Denn in London haben Sie das auch schon getan. Warum war sie plötzlich so … zurückhaltend?«

»Sie macht sich Sorgen um ihr Image. Sie wollte nicht in Badeanzug und Sarong aufgenommen werden. Das ist alles.«

»Und trotzdem ist es Ihnen gelungen, sie zu überreden.«

Langsam wurde sie wütend, ohne genau zu wissen, warum. »Ja. Indem ich ihr versprach, sie könnte die Karte haben, sobald wir mit der Sitzung fertig seien. Warum interessiert Sie das so?«

Er lächelte und trank einen Schluck Tee. »Nun, ich würde Ihnen ja gerne weismachen, dass ich nur neugierig auf Ihre Arbeitsmethoden bin. Aber ganz ehrlich? Ich finde den Gedanken ziemlich erfreulich, wie Sie beide sich da kaum bekleidet fotografieren. Erinnert mich an einige meiner … Schulerlebnisse. Abscheulich unprofessionell, ich weiß. Ich sollte mich wirklich entschuldigen. Haben Sie die Fotos noch?«

Sie verdrehte die Augen. »Nein, Sie cochon, wie ich Ihnen bereits sagte, sie hat die Karte behalten. Und Ihnen würde ich sie auch dann nicht zeigen, wenn ich sie noch hätte.«

Seine Augen verengten sich um eine Winzigkeit. »Sie schützen sie, nicht wahr?«

Sie fragte sich, ob er sie absichtlich reizte. Er kannte das wohlwollende Interview, das sie eingereicht hatte. War er besorgt, was ihre Loyalität betraf? Ihr Ärger wuchs.

»Ich schütze Sie, Kent. Vor unprofessionellen Neigungen.«

Er lächelte. »Ich glaube, Sie unterschätzen mich.«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Was ich meine, ist Folgendes: Was glauben Sie, wer nach Riad geschickt wurde, um dort ein paar lose Enden zu vernähen?«

Sie warf ihm einen langen Blick zu. Ja, das konnte sie sich vorstellen. Sie hatte die Härte unter dem charmanten, weltläufigen Äußeren gespürt. Sie bezweifelte nicht, dass er ohne Reue töten würde, wenn der Job es verlangte.

Sie biss ein Stück Croissant ab, kaute langsam und ließ sich mit bewusster Nonchalance Zeit. »Und warum erzählen Sie mir das jetzt? Wollen Sie, dass ich aus Dankbarkeit mit Ihnen schlafe?«

Er runzelte die Stirn und sagte: »Es tut mir leid, dass Sie so wenig von mir halten.« Er unterbrach sich für einen Schluck aus seiner Teetasse, dann fügte er lächelnd hinzu: »Ich meine, ich würde nie erwarten, dass Sie mir Ihre Gründe dafür mitteilen.«

Es stimmte, vielleicht hätte sie dankbar sein sollen. Farid war ein grausamer, perverser Mann gewesen. Besessen von ihr, entschlossen, ihr wehzutun. Jetzt würde er nie mehr Gelegenheit dazu haben. Wegen Kent.

Und doch konnte sie nicht einfach vergessen, was zu Farids Ermordung geführt hatte.

»Und außerdem«, sagte er nach einem Augenblick, »ist die Operation beendet. Ich schätze, wir sind keine Kollegen mehr.«

»Wir waren nie Kollegen, Kent.«

»Nein? Was dann?«

Sie dachte daran, was mit Fatimas Bruder geschehen würde. »Kollaborateure. Und die Kollaboration ist beendet.«

»Genau, was ich sage. Wenn all die langweiligen professionellen Verpflichtungen hinter uns liegen, darf ich Sie dann vielleicht zum Essen ausführen? Nur, um den Erfolg zu feiern. Morgen Abend, einverstanden?«

Sie fragte sich, welche Art von dringenden Geschäften ihn heute Abend rief, wenn er bereit war, seine erhoffte Eroberung aufzuschieben. Sie hatte nicht das Gefühl, dass es zu Kents Stärken gehörte, auf eine Belohnung zu warten.

»Unter anderen Umständen, vielleicht. Und selbst dann wider bessere Einsicht. Aber ich fürchte, ich bin in London fertig. Es wird Zeit für mich zu gehen.«

»Soviel ich weiß, haben Sie die Wohnung in Notting Hill noch für den Rest der Woche.«

Es irritierte sie, dass er Zugang zu derartigen Detailinformationen hatte, aber sie zeigte es nicht. »Ja, und sobald ich weg bin, dürfen Sie sie gern nutzen, solange der Vertrag läuft. Ich schicke Ihnen den Schlüssel.«

Er verzog das Gesicht in übertriebenem Schmerz. »Warum sind Sie so unbarmherzig? Ich finde, vernünftigerweise können Sie mir nicht vorwerfen, dass ich mich von Ihnen angezogen fühle, wissen Sie?«

Eigentlich war es eine faire Frage, verbunden mit einem hübschen, geradlinigen Kompliment, aber sie fand keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, dass Kent, der Direktor und all diese Männer … sie in ein Chaos gestürzt hatten, von dem sie sich nicht so schnell erholen würde. Falls überhaupt. Und sie hatte die schlimme Vorahnung, dass sie an der Last, die sie wegen ihrer Handlungsweise empfand, bald noch schwerer tragen würde, vielleicht schwerer, als sie sich vorstellen konnte. Unter diesen Umständen hörte sich seine Annahme, dass sie vielleicht zu irgendeiner persönlichen Beziehung mit ihm bereit sein könnte, fast wie eine kalkulierte Beleidigung an. Aber sie bezweifelte, dass das in seiner Absicht gelegen hatte oder er es auch nur verstehen würde, wenn sie es ihm zu erklären versuchte.

»Ich bin nicht unbarmherzig. Ich versuche, zartfühlend zu sein. Es wäre grausam, Ihnen Hoffnung zu machen.«

»Versuchen Sie es.«

Sie trank ihren Tee aus und stand auf. »Ich freue mich, dass die Operation ein Erfolg war, Kent. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir uns nie wiedersehen werden.«

Er erhob sich und streckte ihr die Hand hin. »Ich weiß, Sie werden mich nicht ernst nehmen, aber das macht mich wirklich sehr … traurig.«

Die Aufrichtigkeit in seiner Miene brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie fand sie anziehend. Doch sie schwieg. Sie gab ihm die Hand und wollte sie wieder zurückziehen. Aber er neigte sich vor und küsste sie auf beide Wangen. »Ich hoffe, Sie irren sich«, sagte er. »Damit, dass Sie mich nie wiedersehen werden.«

star

Delilah erreichte Fatimas Wohnung, die in einem oberen Stockwerk eines Hauses am Covent Garden lag, unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit. Sie ergriff die üblichen Vorsichtsmaßnahmen, um sicherzugehen, dass ihr niemand folgte, und obwohl sie zuversichtlich war, dass die Bitte, erst bei Dunkelheit zu kommen, dem Wunsch nach Diskretion und nichts anderem entsprang, war sie auf der letzten Strecke besonders vorsichtig. Sie bemerkte nichts Ungewöhnliches. Wenn jemand Fatimas Wohnung beobachtete, dann aus der Distanz.

Natürlich musste sie sich nicht nur draußen Sorgen machen. John hätte ihr gesagt, dass das Ganze ein Hinterhalt sein konnte und die Männer sie möglicherweise in der Wohnung selbst erwarteten, sodass sie direkt in die Falle lief. Sie hatte genügend Respekt vor seiner professionellen Paranoia, um wachsam zu bleiben, als sie an die Tür klopfte. Aber ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass diese Vorsicht übertrieben war. Außerdem wäre sie dieses Risiko jederzeit eingegangen, als die Operation noch lief. Warum sollte es jetzt inakzeptabel sein, nachdem sie vorbei war? Wenn es einen Grund zur Sorge gab, dann höchstens den, dass der MI6 Fatimas Wohnung beschattete oder sogar verwanzt hatte. Laut Kent hatten sie die Wohnung ja bereits einmal durchsucht. Darum trug sie in ihrer Handtasche neben einer Flasche Montée de Tonnerre, den idealen Wein für einen Sommerabend, auch Boaz’ Wanzendetektor bei sich. Wenn es drinnen ein Problem gab, würde sie es wissen.

Fatima kam sofort an die Tür, öffnete sie weit und trat zur Seite, damit Delilah eintreten konnte. Sie warf einen schnellen Blick nach links und rechts und sah sonst niemanden in der winzigen Wohnung. Fatima verriegelte sofort die Tür hinter ihr. »Tut mir leid«, sagte sie rasch. »Ich bekomme nicht oft Besuch, und wenn doch, sind die Nachbarn neugierig.«

Mag sein, dachte Delilah. Oder du hast das ungemütliche – und richtige – Gefühl entwickelt, dass du ein wenig mehr unter Beobachtung stehst, als du wahrhaben möchtest.

Fatima war barfuß, trug ausgeblichene Jeans und einen schwarzen baumwollenen Rollkragenpullover. Ihre Haare fielen ihr offen auf die Schultern, und sie trug kein Make-up, nicht einmal eine Grundierung über den dunklen Augenringen. Sie gab sich ganz ungezwungen, ohne glamouröses Drumherum und die Fassade, die sie der Welt präsentierte. Delilah gefiel es, dass sie ihr erlaubte, sie so zu sehen. Und sie genoss es, dass Fatima genauso aufgeregt wirkte, wie sie sich fühlte.

»Das macht nichts«, sagte Delilah. Sie sah sich in der Wohnung um. Es war ein Eckstudio, recht einfach, mit einem einzelnen Bucharateppich in der Mitte, einem Schreibtisch mit Stuhl, einer Couch unter dem einen Fenster und einem kleinen Bett mit Nachttisch unter dem anderen. Ein iPod war an eine kleine Stereoanlage auf dem Schreibtisch angestöpselt, und aus den Lautsprechern drang Sigur Rós’ Song Samskeyti, den Delilah liebte. Der Laptop stand ebenfalls auf dem Schreibtisch. Seltsam, das Objekt der Begierde wiederzusehen, das jetzt völlig irrelevant für sie war. Von ihrem Standpunkt aus hatte sie alles im Blick, selbst das Badezimmer und einen einzelnen Schrank, dessen Tür offen stand. Nirgendwo gab es eine Versteckmöglichkeit. Und der Wanzendetektor in ihrer Handtasche blieb stumm.

»Das gefällt mir«, sagte Delilah. »Es ist gemütlich.«

Fatima lächelte. »Du meinst klein.«

Sie sahen sich für eine lange Sekunde an. Delilah dachte: Ach, was soll’s. Sie trat auf Fatima zu und küsste sie sanft auf die Lippen. »Hey«, sagte sie.

Fatima lächelte. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich war nicht sicher, ob du es möchtest, als ich gefragt habe.«

»Ich wollte es.«

»Hast du Hunger?«

»Nicht besonders. Ich habe den ganzen Nachmittag geschlafen und dann nach dem Aufstehen etwas gegessen.«

»Jetlag. Mir ging es genauso.«

»Aber … ich habe Wein mitgebracht. Wenn du Lust hast.«

Sie tranken den Wein und unterhielten sich entspannt über das Leben in Covent Garden, wann Delilah vielleicht wieder nach London kommen würde oder Fatima nach Paris. Delilah hatte sich noch nie so durcheinander gefühlt, nicht einmal in den frühen Stadien ihrer Beziehung zu John, als sie beide dasselbe Ziel umkreist hatten und die Anziehung, die sie für ihn zu empfinden vorgab, damit er ihr bei dem Job nicht zuvorkam, zunehmend real geworden war. Was tat sie hier? Sie mochte diese Frau, mochte sie wirklich. Bewunderte sie. Verstand sie. Und fühlte sich wider alle Vernunft zu ihr hingezogen. Aber konnte es je eine echte Beziehung zwischen ihnen geben? Delilah hatte so etwas noch nie mit einer Frau in Betracht gezogen. Und natürlich war allein schon der Gedanke Irrsinn, alle Bedenken über Bord zu werfen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Fatima sehr bald niederschmetternde Nachrichten über ihren Bruder erhalten. Was dann? Sollte Delilah sie trösten? Sie anwerben? Schon bei dem Gedanken wurde ihr schlecht, und mit großer Mühe gelang es ihr, ihn zu unterdrücken.

Sie sprachen über Bora Bora. Delilah genoss es, zu hören, wie Fatima alles erlebt, welche Erwartungen sie gehabt hatte. Ja, sie hatte sich gefragt, ob Delilah einen Annäherungsversuch machen würde. Ja, sie hatte gehofft, sie würde es tun, ein Wunsch, den sie gleichermaßen als verwirrend, beglückend und furchterregend empfand. Über all das zu reden, sich an die Zweifel zu erinnern, die Nervosität, war ausgesprochen erregend. Es endete damit, dass sie sich auf Fatimas kleinem Bett liebten, lustvoller als zuvor, sich Zeit lassend, den Körper der anderen zu erforschen, während sie redeten, Zärtlichkeiten austauschten, miteinander lachten. Lange nach Mitternacht schliefen sie eng umschlungen ein.

Irgendetwas weckte Delilah. Sie wusste nicht, was es gewesen war – nicht direkt ein Laut; eher das Fehlen von Geräuschen. Die Musik, dachte sie. Die iPod-Stereoanlage auf dem Schreibtisch – bis sie einschliefen, hatte sie die ganze Zeit eine Art Playlistschleife abgespielt. Und jetzt war sie verstummt.

Sie warf einen Blick auf die Digitaluhr auf dem Nachttisch. Sie konnte nichts erkennen. Aber sie erinnerte sich, dass die Anzeige sanft geglüht hatte.

Sie blickte sich um. In der ganzen Wohnung war es stockdunkel – kein leiser Schein kam vom Display der Mikrowelle in der Küche, keiner von der Stereoanlage auf dem Schreibtisch.

Die einzige schwache Lichtquelle war die Straßenlaterne vor dem Fenster. Das bedeutete, dass der Strom in der Wohnung ausgefallen war, aber nicht im ganzen Viertel.

Augenblicklich war sie hellwach, und eine Welle von Adrenalin durchströmte ihre Adern. Sie warf einen Blick zu Fatima, die nackt neben ihr lag. Sie atmete tief und schien zu schlafen.

Sie richtete sich auf und blickte hinab auf die Straße. Noch keine Spur von Tageslicht. Wie spät war es eigentlich? Ihrem Gefühl nach irgendwann nach drei, doch ihre innere Uhr war nach der Reise noch durcheinander, und sie wusste es nicht sicher. Zwei dunkel gekleidete Männer mit Baseballkappen stiegen aus einem geparkten Auto. Sie sah keine Innenbeleuchtung, obwohl die Türen offen standen.

Ihr Herz begann zu hämmern. Wer waren sie? Fatimas Leute oder der MI6?

Es spielte keine Rolle. Die Augen nicht von den näher kommenden Männern wendend, griff sie nach Fatimas Schulter und schüttelte sie. »Fatima«, flüsterte sie. »Wach auf.«

Fatima seufzte leise, die Stimme belegt von Wein und Sex und Schläfrigkeit.

»Fatima«, wiederholte Delilah, diesmal etwas schärfer. »Wach auf, sofort.«

Fatima stöhnte wieder, dann sagte sie: »Was ist denn los?«

Delilah suchte mit Blicken die Straße ab, sah dann wieder auf die beiden Männer. »Da stimmt etwas nicht. Es gibt Schwierigkeiten.«

»Was? Was meinst du?«

Eine weitere dunkle Gestalt trat aus dem Schatten hinter einem geparkten Auto. Sie folgte den anderen Männern. Der Gang, die Haltung und die vorsichtigen Schritte des dritten Mannes sagten ihr sofort, dass er nicht zu den ersten beiden gehörte. Nein, im Gegenteil – er hatte ihnen aufgelauert. Einer der ersten beiden Männer musste bei seinem Näherkommen etwas gehört haben. Er wollte sich umdrehen. Der dritte Mann hob den Arm, und eine Pistole mit langem Schalldämpfer tauchte an seinem Ende auf. Die Pistole ruckte, und ein Anflug von Mündungsfeuer drang aus der Öffnung des Schalldämpfers. In der Wohnung war kein Laut zu hören. Der Mann sackte auf der Straße zusammen. Jetzt hatte auch der andere etwas bemerkt und fuhr herum. Die Pistole ruckte und blitzte abermals. Auch der zweite Mann fiel. Der Neuankömmling trat einen Schritt näher und schoss jedem Mann zur Sicherheit noch einmal in den Kopf. Dann blickte er gelassen nach links und rechts. Delilah sah sein Gesicht.

Kent.

Was er gerade getan hatte, erhöhte ihr Vertrauen in ihn nicht gerade. Überhaupt nicht. »Wir müssen hier weg«, sagte sie zu Fatima. »Sofort.«

»Was?«

Sie sprang aus dem Bett und packte Fatima am Arm. »Jemand ist hinter dir her. Keine Zeit. Komm schon!«

»Aber ich bin nicht angezogen …«

Sie zerrte so fest, dass Fatima aus dem Bett fiel. »Vergiss es! Sofort!«

Fatima riss sich los und starrte Delilah vom Boden aus an. »Was redest du da?«

Es war keine Zeit für Erklärungen. Fatima reagierte nicht schnell genug. Sie musste sich etwas einfallen lassen.

Eine Chance gab es – sich neben der Tür auf die Lauer zu legen. Als Erstes würde dieser lange Schalldämpfer hindurchkommen. Sie sprang zu der Stelle, wo sie ihre Hose gelassen hatte, und riss das Hideaway-Messer heraus. »Fatima!«, zischte sie. »Weg vom Bett, darauf konzentrieren sie sich zuerst!«

Im schwachen Schein der Straßenlaterne waren Fatimas Augen weit aufgerissen und voller Furcht. »Sie sind nicht meinetwegen hier!«, sagte sie mit beginnender Hysterie.

Delilah verstand ihre Reaktion nicht. Nicht ihretwegen? Warum …

Es gab einen lauten Knall, und die Tür schwang gewaltsam auf – eine spezielle Ladung, um das Schloss herauszusprengen.

Die Entfernung war zu groß für einen Angriff. Delilah sprang zurück zum Bett und warf sich schützend über Fatima. Wenn Kent gewusst hatte, dass sie hier bei Fatima war, waren sie tot. Falls nicht, gab es noch eine Chance. »Erschießen Sie sie nicht!«, gellte sie. »Wenn Sie es tun, müssen Sie uns beide umbringen!«

Fatima versuchte mit aller Kraft, sie abzuwerfen, und schrie etwas in Urdu. Delilah blickte auf und sah im schwachen Licht, dass Kent eine Nachtsichtbrille trug, genau, wie sie erwartet hatte. Das ist der Sinn der Sache, wenn man den Strom abstellt.

Nach einer kurzen Pause fragte Kent: »Was zum Teufel …?«

Fatima erstarrte und verstummte plötzlich.

Delilah sagte: »Nehmen Sie einfach den Laptop und gehen Sie. Gehen Sie!«

Aber er war nicht nur wegen des Laptops hier. Das war ihr klar. Dann wäre er zu einem Zeitpunkt gekommen, wenn Fatima nicht zu Hause war. Oder er hätte das Schloss geknackt, statt es für ein überfallartiges Eindringen wegzusprengen, was länger gedauert hätte.

»Was zum Teufel machen Sie hier?«, fragte er. Angesichts ihrer Nacktheit und der späten Stunde war die Frage weitgehend rhetorisch, aber auch eine große Erleichterung. Er hatte nicht mit Delilah gerechnet.

Sie besaß ein Druckmittel. Sie hatte eine Chance. »Er steht auf dem Schreibtisch. Nehmen Sie ihn und gehen Sie!«

Er zog die Tür hinter sich zu. »Ich fürchte, das kann ich nicht tun. Ziehen Sie sich an und kommen Sie mit.«

»Nein. Sie werden uns beide töten müssen.«

»Ich werde Sie nicht töten. Aber ich fürchte, mit ihr ist das eine andere Geschichte.«

Delilah spürte, wie Fatima vor Angst zitterte. »Nein, das ist es nicht. Es sei denn, Sie wollten meinen Kollegen erklären, warum Sie mich auch umgebracht haben. Vielleicht könnte das Management Ihrer Organisation die Wogen bei meiner wieder glätten, das kann ich nicht beurteilen. Aber ich versichere Ihnen, meine Kollegen werden nicht so verständnisvoll sein.«

»Ich möchte nicht unfreundlich wirken, aber Sie sind kaum in der Position, mir zu drohen.«

»Das war keine Drohung. Es war eine Feststellung.«

»Ich glaube, Sie verstehen nicht. Wissen Sie, dass zwei Ihrer Agenten gerade auf dem Weg hierher waren, als ich eintraf? Was glauben Sie, was die wollten? Was meinen Sie, was sie mit Ihnen angestellt hätten?«

Plötzlich war sie verwirrt. Es ergab keinen Sinn. Aber … wer waren diese Männer? Sie waren direkt auf die Wohnung zugekommen. Das hatte sie deutlich gesehen.

Und plötzlich verstand sie, warum Fatima gesagt hatte: »Sie sind nicht meinetwegen hier.« Warum sie in Urdu geschrien hatte.

Ein langes Schweigen breitete sich aus. »Fatima«, sagte Delilah. »Ist das … wahr?«

Fatima erschlaffte unter ihr. »Nicht so, wie er es sagt.«

Delilah hatte das Gefühl, dass alles um sie herum sich drehte. »Woher wusstest du es?«

»Das Momtaz«, sagte Kent. »Es war ein Test. Sie haben ihn nicht bestanden. Ein bisschen zu cool für Ihr eigenes Interesse, fürchte ich. Zu geschickt mit diesem Messer. Wie ich sehe, haben Sie es gerade in der Hand.«

»Ein Test … aber diese Männer. Einer von ihnen wurde so hart getroffen, dass er hätte sterben können.«

»Wie sagte Cecil B. DeMille gleich wieder auf die Frage, wozu er all diese Stuntmen brauche? Ich glaube, es war: ›Wir benutzen echte Kugeln.‹ Erhöht zweifellos den Realismus, nicht wahr, Fatima?«

Ein weiterer langer Augenblick verstrich. Fatima sagte: »Es tut mir leid, Delilah. Ich wusste es nicht.«

Kent sagte: »Gehen Sie mir aus dem Weg.«

Sie musste sich etwas einfallen lassen. »Aber Sie brauchen sie nicht. Es ist ihr Bruder, den Sie haben wollen, und der Laptop führt Sie zu ihm.«

Fatima bäumte sich auf. »Nein!«

»Sie wird ihn warnen«, sagte Kent.

»Und wenn schon? Er wird fliehen müssen. Er muss aus seinem Loch kommen. Sie können ihn aufspüren.«

»Nein!«, rief Fatima abermals. Sie versuchte, sich zu befreien, doch Delilah klammerte sich an sie und drückte sie zu Boden. Wenn sie sich losriss, würde Kent sie in der nächsten Sekunde umlegen.

»Die Frau stellt die Verbindung her«, sagte Kent. »Ihr Bruder bildet die Leute aus, das ist wahr, aber die Frau ist praktisch die Zulassungskommission. Also, wenn Sie jetzt bitte so freundlich wären.«

Es war kein gutes Zeichen, dass er sie als »die Frau« bezeichnete. Das distanzierte, objektivierte. Viele Agenten brauchen das, bevor sie den Abzug drücken können.

»Tun sie es nicht«, sagte Delilah. »Ihre Eltern haben bereits zwei Kinder begraben müssen. Zwingen Sie sie nicht, noch eines zu beerdigen. Werden Sie nicht zu dem, was Sie hassen.«

»Gehen Sie mir aus dem Weg«, wiederholte er.

Er war zu clever, um ihr nahe zu kommen. Solange er Distanz hielt, hatte sie keine Chance, ihn zu entwaffnen.

Sie dachte an die Hotelbars, sein »Unsichtbar-in-der-Masse-Prinzip«, seine Überheblichkeit und mangelnde Sorgfalt im Allgemeinen. Es war nur ein Strohhalm, aber etwas anderes blieb ihr nicht mehr.

»Haben Sie etwa die Überwachungskamera auf dem Weg herein übersehen? Sie haben den Strom abgeschaltet, aber sind Sie sicher, dass es keine Notstromversorgung gibt?«

Eine Pause entstand. »Sie bluffen.«

»Ach ja? Dann nur zu, erschießen Sie uns. Aber Sie sollten besser hoffen, dass Ihre Leute diese Aufzeichnung sicherstellen können, wo immer der Back-up hingeht, bevor jemand unsere Leichen findet. Natürlich werden Sie auch erklären müssen, warum Sie das Problem selbst geschaffen haben, in dem Sie etwas so Offensichtliches übersahen.«

»Ich glaube wirklich nicht …«

»Und selbst wenn Sie die Aufzeichnung in die Hand bekommen, sind die Londoner Polizisten wirklich nur Schoßhündchen Ihrer Organisation? Das hoffe ich für Sie. Denn zwei nackte Frauen mit Schusswunden könnten das Gewissen des ein oder anderen Detective wachrütteln. Oder eines Staatsanwalts. Glauben Sie, dass Ihre Leute Ihnen dann immer noch den Rücken decken? Oder werden sie Sie nicht vielmehr zum Sündenbock machen, weil sie etwas so Offensichtliches wie eine Überwachungskamera in einer ganz normalen Wohnung übersehen haben?«

Er sagte nichts, aber sie hätte schwören können, dass er unter der Nachtsichtbrille beinahe grinste.

»Das Verteufelte ist, ich möchte Ihnen wirklich gern glauben. Und ich nehme an, Sie werden mich auch irgendwie davon überzeugen, dass mir trotz dieser zwei Leichen auf der Straße nichts passieren kann?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass die beiden auf verschiedensten Beobachtungslisten stehen. Vielleicht sind es sogar Illegale. Ich bezweifle, dass jemand sich für sie interessiert. Wenn Sie schnell genug sind, können Sie und Ihre Leute die Sauerei beseitigen. Sie müssen jemanden vor Ort haben, die Person, die den Strom abgeschaltet hat, ja? Aber Sie verschwenden Zeit.«

Einen Augenblick, der sich zu einer Ewigkeit zu dehnen schien, stand er völlig regungslos, und die Mündung des Schalldämpfers zeigte unbeirrt auf sie. Dann senkte er die Waffe, ging zum Schreibtisch und nahm den Laptop.

»Ich werde meinen Leuten sagen, dass niemand hier war«, meinte er. »Es wäre eine Schande, wenn irgendetwas meiner Geschichte widersprechen würde.«

Delilah antwortete nicht. Sie hatte Angst, er würde merken, dass sie die Luft angehalten hatte.

Er ging zur Tür, öffnete sie und wandte sich dann noch einmal zu ihnen um. »Wissen Sie, mein ganzes Leben lang habe ich davon geträumt, einmal in genau so eine Szene hineinzuplatzen. Daher hoffe ich, Sie werden mir glauben, wenn ich sage, ich wünschte, wir hätten uns alle unter anderen Umständen kennengelernt.«

Er ging. Delilah wartete einen langen Moment ab, hatte Angst, es zu glauben, Angst, er versuchte einfach, sie von Fatima wegzulocken, damit er für einen sicheren Schluss zurückkehren konnte.

Als sie überzeugt war, dass er wirklich verschwunden war, stand sie auf. Sie sah aus dem Fenster. Er ging die Straße entlang und sprach in ein Handy, beorderte vermutlich ein Reinigungsteam an den Schauplatz. Er hob die Hand und winkte, als wüsste er, dass sie ihn beobachtete.

Delilah begann, sich anzuziehen. »Du musst hier weg«, sagte sie, zog ihren Slip hoch und stieg mit einem Bein in die Hose. »Du kannst nicht länger bleiben.«

»Wer bist du?«

Delilah bekam auch das andere Bein in die Hose, zog den Reißverschluss hoch und schloss den Knopf. »Was glaubst du, wer ich bin?«

»Meine Leute glauben, du bist vom französischen Geheimdienst. Stimmt das?«

»Wegen der Sache, die vor dem Momtaz geschehen ist?«

»Das auch. Und sie sagen, du bist unmöglich zu verfolgen. Nach dem Momtaz sagten Sie mir, ich solle den Kontakt abbrechen.«

»Warum hast du es nicht getan?«

Fatima gab keine Antwort.

»Warum bist du mit nach Bora Bora gekommen, wenn du dachtest, ich sei vom französischen Geheimdienst?«

Fatima sah sie an. »Was denkst du denn?«

»Du hast es nicht geglaubt?«

»Ich wollte ihnen nicht glauben.«

Die Bemerkung tat weh. Delilah schob das Gefühl beiseite.

Fatima ergriff ihre Hände. »Wer immer du bist, bitte. Imran ist jetzt mein einziger Bruder. Bitte.«

Delilah entzog ihr die Hände. »Verstehst du nicht? Es hieß, du oder er.«

»Nein, du verstehst nicht. Es wird uns beide treffen! Ich kann nicht einfach …«

»Du wusstest, dass diese Männer heute Nacht kommen würden?«

Fatima schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich schwöre es. Sie müssen … Ich weiß nicht. Sie müssen gewusst haben, dass ich nicht auf sie hören würde. Sie trauen mir nicht, und manchmal denke ich, sie halten mich unter Beobachtung. Vielleicht haben sie heute Abend meine Wohnung beschattet. Sie sahen dich kommen, aber nicht wieder gehen.« Für einen langen Augenblick trat Stille ein. Fatima sagte: »Glaubst du mir?«

»Das spielt keine Rolle. Es ändert nichts.«

Fatima ergriff wieder ihre Hände. »Glaubst du mir?«

Delilah sah in ihre flehenden Augen. Gott, sie war so schön. »Das möchte ich gerne«, sagte sie.

Fatima nickte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

Delilah legte ihr sanft die Fingerspitzen auf die Lippen. »Aber ich tue es nicht.«

Fatima gab einen leisen Laut von sich, ein winziges Keuchen oder Wimmern.

Delilah wandte sich ab und hob ihren Baumwollpulli auf.

»Warte«, sagte Fatima. »Verstehst du denn nicht? Was sollen meine Leute denken? Sie vertrauen mir schon jetzt nicht. Ich habe mich weiter mit dir getroffen, obwohl sie es mir verboten hatten. Sie wissen, dass du heute Nacht hier warst, und die beiden Männer, die sie auf dich angesetzt haben, werden tot aufgefunden oder vermisst werden … sie werden denken, ich hätte sie in eine Falle gelockt!«

»Es spielt keine Rolle, was sie denken. Das geht mich nichts an.«

»Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte Fatima mit zitternder Stimme.

Delilah streifte den Pullover über und hielt inne. Sie musste nachdenken. Im Moment ließ sie sich von ihren Emotionen beherrschen, das wusste sie. Denk nach.

Wenn es stimmte, dass Fatima nichts von diesen Männern gewusst hatte … dann konnte sie in Schwierigkeiten stecken. Ernsten Schwierigkeiten. Sie behauptete, ihre Leute trauten ihr nicht. Nach Delilahs eigenen Erfahrungen war das nicht schwer zu glauben. Und wenn sie tatsächlich dachten, dass Fatima in irgendeiner Weise mit Delilah zusammenarbeitete …

Plötzlich wurde ihr klar, dass das, was eine einfache Operation zur Informationsbeschaffung gewesen war, sich vielleicht unabsichtlich zu etwas Ähnlichem wie einem Anwerbungsversuch entwickelt hatte.

»Ich kann dir nicht helfen, Fatima. Meine Leute können es, aber ich nicht.«

»Was meinst du?«

»Ich meine, wenn du in Gefahr bist, dann gibt es Leute, die dich schützen können. Im Austausch gegen deine Kooperation.«

»Im Austausch gegen meine Kooperation … wovon redest du? Soll ich zu deiner Botschaft gehen?«

»Oder zum MI6, ja.« Delilah wusste, dass für Fatima eine Kooperation mit Frankreich oder England leichter zu schlucken war – falls überhaupt – als mit Israel. Inzwischen war es also auch noch eine Operation unter falscher Flagge.

»Das ist Wahnsinn. Das kann ich nicht tun, ich habe ein Leben! Und erwartest du wirklich, dass ich euch helfe, meinen Bruder zu ermorden? Den Sohn meiner Mutter und meines Vaters?«

»Deinem Bruder kann ich nicht helfen. Nur dir.«

»Doch, das kannst du. Halt sie zurück. Bitte. Delilah, bitte!«

Delilah zögerte, dachte nach und hasste sie sich selbst dafür, dass sie es auch nur in Erwägung zog. »Würde er überlaufen?«

Fatima warf sich die Hand vor den Mund, als müsste sie sich gleich übergeben. »O mein Gott. Es war eine Falle. Die ganze Geschichte. Jeder einzelne Punkt.«

Delilah hatte das schreckliche Gefühl, dass die Welt um sie herum sich verschob, sodass sie nicht alles zugleich im Auge behalten konnte, es einfach zu viel wurde. »Nein«, sagte sie. »Das ist nicht wahr.«

Fatima setzte sich schwer aufs Bett und legte den Kopf in die Hände. »Natürlich ist es wahr. Und ich war zu dumm, es zu erkennen. Außerdem … Mein Gott, ich war so vernarrt in dich. O mein Gott, Imran. Es ist meine Schuld. Es ist meine Schuld.«

Sie begann zu weinen. Delilah sah sie an und fühlte sich wie gelähmt. Sie musste lediglich Fatima eine Telefonnummer geben und gehen, das war alles. Dann wäre sie fertig. Sie wäre draußen.

Stattdessen setzte sie sich neben sie. »Fatima«, sagte sie. »Sieh mich an. Bitte.«

Fatima rührte sich nicht. Delilah ergriff ihre Hände und zog sie sanft von ihrem Gesicht weg. Sie fasste nach ihrem Kinn und drehte ihren Kopf so, dass sie sich ansehen mussten.

»Ich wurde geschickt, um einen Weg zu finden, an deinen Laptop heranzukommen. Denn dein Bruder ist an der Planung furchtbarer Anschläge beteiligt. Willst du denn, dass andere Menschen genau das durchmachen müssen, was du und deine Familie erlitten haben?«

»Natürlich nicht. Aber es gibt keine Alternative. Es ist die Wahl, die sie uns aufzwingen. Der einzige Weg, damit es endlich aufhört.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Dann ruf sie zurück! Lass nicht zu, dass sie Imran töten!«

Delilah antwortete nicht.

»Sag was! Antworte mir!«

Immer noch schwieg Delilah.

»Merkst du nicht, dass du nur voller Scheiße steckst?« Fatimas Stimme brach. »Du verdammte Heuchlerin. Verschwinde! Raus hier!«

»Fatima … Ich weiß nicht, wie man dem allen ein Ende setzen kann. Vielleicht ist es unmöglich. Vielleicht hattest du recht damit, was du über das menschliche Bedürfnis nach Rache gesagt hast. Aber … alles, was mit dir zu tun hatte … das war echt. Ich hatte es nicht beabsichtigt, aber so war es.«

Fatima sagte nichts.

»In Bora Bora habe ich dein Passwort in die Hände bekommen. Frag nicht, wie. Das kann ich dir nicht sagen. Aber an diesem Punkt war die Operation gelaufen. Danach hatte ich keinen Grund mehr, dich zu treffen. Keinen … professionellen Grund. Es tut mir leid. Aber es ist wahr.«

Fatima begann wieder zu weinen. Delilah krampfte sich der Magen zusammen.

»Du kannst nicht hierbleiben. Du hast recht, wahrscheinlich befindest du dich in Gefahr. Komm mit mir, und ich werde dir helfen, so gut ich es kann.«

Fatima wischte sich die Tränen erst von der einen Wange, dann von anderen. Die Bewegungen waren schnell, ökonomisch. Sie räusperte sich. »Nein. Geh einfach. Mir passiert schon nichts.«

»Das stimmt nicht. Du wirst …«

»Geh einfach.«

»Bitte hör mir zu, ich will nicht, dass dir etwas geschieht.«

Fatima lächelte. »Dafür ist es ein bisschen spät, findest du nicht?«

Delilah suchte nach Worten. Sie fand keine. »Fatima, bitte …«

Fatima sah sie an. Ihre Augen waren jetzt trocken. Als sie sprach, klang ihre Stimme neutral. Fast kalt. »Verlass meine Wohnung, Delilah. Oder wie immer du heißt.«

Delilah hatte das Gefühl, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. Sie stand auf, nahm ihre Handtasche und ging zur Tür.

»Ich möchte dir helfen«, sagte sie. »Bitte ruf mich an. Du hast meine Nummer. Bitte, Fatima.«

Keine Antwort.

Sie ging, stolperte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Die Straße war finster und verlassen. Von den Leichen war nichts mehr zu sehen.

star

Sie verließ London am nächsten Tag in Richtung Rouen, wo sie ihren Führungsagenten vom Mossad informieren sollte. Bevor sie in den Zug stieg, rief sie Kent an.

»Ich hatte gehofft, Sie würden anrufen«, sagte er. »Haben Sie Ihre Meinung über unsere Verabredung geändert? Der Laptop war die reinste Fundgrube, wissen Sie. Sie standen unmittelbar davor, eine ganz große Aktion durchzuführen, und jetzt können wir sie stoppen. Ich würde Sie sehr gern persönlich auf den neuesten Stand bringen.«

Kein Wort über das, was er in der Wohnung gesehen hatte. Aber so oder so, es war ihr egal. Sie teilte ihm mit, was nach seinem Weggang geschehen war.

»Angesichts dessen, was alles auf dem Laptop war«, sagte er, »bezweifle ich, dass sie noch von Nutzen wäre. Ich glaube kaum, dass noch großes Interesse besteht, sie an Bord zu holen. Aber ich werde es versuchen.«

»Tun Sie Ihr Bestes«, sagte sie. »Es würde mir … eine Menge bedeuten. Falls das Ihnen etwas bedeutet.«

»Es könnte ein klein wenig peinlich sein angesichts meiner Geschichte, dass ich niemanden in der Wohnung angetroffen habe.«

»Seien Sie nicht so ein egoistisches Arschloch«, sagte sie, überrascht von ihrem eigenen Zorn. »Sie haben die Sache vermasselt. Lassen Sie nicht jemand anderen dafür bezahlen.«

Kurze Stille. Er sagte: »War da wirklich eine Kamera?«

»Woher zum Teufel soll ich das wissen?«

Er lachte. »Ich wusste es. Okay, fast. Und fast zählt nicht, nicht wahr?«

Sie gab keine Antwort.

»Sie haben sich wirklich … sie ist Ihnen wirklich ans Herz gewachsen, oder?«

»Ihre Auffassungsgabe hört nie auf, mich zu überraschen, Kent.«

Sie dachte, er würde darauf eine schlagfertige Antwort parat haben, irgendeinen zweideutigen Kommentar über das, was er in Fatimas Wohnung gesehen hatte. Stattdessen sagte er: »Wissen Sie, ich hatte befürchtet, etwas Ähnliches könnte zwischen uns beiden passieren. Und mit ›befürchtet‹ meine ich ›gehofft‹. Das tue ich immer noch, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Helfen Sie ihr einfach, Kent, in Ordnung? Sie kann Ihnen nützlich sein. Und zwar lebendig.«

»Das ist mir klar. Zumindest werde ich versuchen, es so darzustellen, einverstanden?«

»Vielen Dank.«

»Und … was ist mit uns?«

Mein Gott, dachte sie, bekommt er es denn nie satt?

»Uns?«

»Werde ich Sie wiedersehen?«

»Ich weiß nicht, Kent. Im Moment muss ich über eine Menge nachdenken.«

»Das verstehe ich. Es tut mir leid, dass die Sache so einen üblen … Nachgeschmack entwickelt hat. Das passiert manchmal. Das ist nicht herablassend gemeint, ich kann es Ihnen nachfühlen, in Ordnung?«

Sie lächelte. Es war schon seltsam, wie gut er sie inzwischen kannte.

»Ja. Dafür danke ich Ihnen.«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie möchten. Es wäre mir wirklich ein Vergnügen, Sie wiederzusehen. Es gibt noch eine Menge andere gute Bars in London, wissen Sie. Auch Hotels.«

»Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder nach London kommen möchte.«

»Nun, möglicherweise kenne ich auch in Paris das ein oder andere Etablissement. Es würde mich freuen.«

»Leben Sie wohl, Kent. Ich muss los.« Sie legte auf.

In Rouen erwartete sie nur ihr Führungsagent. Nicht der Direktor und seine Spießgesellen. Vermutlich genügte der Rotlichtbezirk in Rouen nicht ihren Ansprüchen. Aber sie ließen Grüße übermitteln und überschwängliche Dankbarkeit für Delilahs letzten, verblüffenden Erfolg.

Lust- und ziellos kehrte sie nach Paris zurück. Sie hätte gern Fatima angerufen. Oder Kent, nur um zu erfahren, was sich tat. Aber sie ließ es sein.

Drei Tage nach ihrer Rückkehr kaufte sie sich eine örtliche Zeitung und ging auf einen Kaffee und ein Croissant ins Le Loir Dans La Théière, nicht weit von ihrem Apartment im Marais entfernt. Es war ein hübsches Café, in das sie oft mit John gegangen war. Jetzt spukten die Gespenster der Erinnerung dort. Sie wusste nicht recht, ob sie trotzdem hinging oder gerade deswegen.

Sie hatte Glück – ein Fensterplatz war frei. Sie setzte sich und schlug die Zeitung auf. Auf der Titelseite sah sie eine Story über einen amerikanischen Drohnenangriff in Pakistan. Sieben Kämpfer getötet. Sie dachte an das, was Kent über die Methode gesagt hatte, wie die Amerikaner die Toten zählen, und fragte sich, wie viele von ihnen Zivilisten gewesen waren. Vielleicht alle. Unmöglich zu sagen. Und sie bezweifelte, dass es irgendjemanden groß kümmerte, abgesehen von den trauernden Familien.

Sie las den ersten Absatz. Die Amerikaner behaupteten, einer der Kämpfer sei die Nummer drei der al-Qaida gewesen. Sie lächelte. Hat es jemals eine Organisation mit mehr Nummer-drei-Männern gegeben als die al-Qaida?

Und dann sah sie einen Namen. Imran Zaheer. Fatimas Bruder.

Sie seufzte und senkte den Kopf. Normalerweise hätte sie sich in einem Augenblick wie diesem euphorisch gefühlt. Die Früchte ihrer Arbeit. Ein toter Terrorist und zahllose gerettete Menschenleben.

Aber diesmal nicht. Diesmal fühlte sie nichts als Leere, Entsetzen und Reue.

Sie blätterte um. Direkt unter dem Falz stand die Schlagzeile: Pakistanische Aktivistin in London tot aufgefunden.

Delilah schlug die Hand vor den Mund, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Neben dem Artikel befand sich ein Foto von Fatima – eines von denen, die Delilah in ihrem Interview verwendet hatte. Das Magazin musste die Rechte an die Zeitung verkauft haben. Von dem gesamten Satz hatte es Delilah am besten gefallen. Es zeigte Fatimas Gesicht im Dreiviertelprofil, und sie lächelte darauf jenes charakteristische Lächeln, in dem immer eine gewisse versteckte Traurigkeit gelegen hatte. Eine Traurigkeit, die im Nachhinein prophetisch wirkte.

Sie las weiter, während sie gegen Übelkeit und Schwindelgefühle ankämpfte. Es war in ihrer Wohnung am Covent Garden geschehen. Erst vergewaltigt und dann erwürgt. Delilah hätte sich am liebsten übergeben.

Wie, fragte sie sich kopfschüttelnd und weinte stumm, wie konnte jemand etwas Derartiges tun?

Sie erinnerte sich daran, wie Fatima sie »meine Leute« genannt hatte. Mein Gott, hatte es jemals eine schrecklichere Bezeichnung als diese gegeben?

Und dann kam ihr ein noch schlimmerer Gedanke. Woher wollte sie wissen, dass es Fatimas Leute getan hatten? Warum nicht der MI6 oder der Direktor, die ein paar lose Enden so verknüpft hatten, dass der Verdacht auf jemand anderen fiel?

Waren ihre eigenen Leute zu etwas so Monströsem, so absolut Bösem fähig? Oder Kent?

Sie wollte es nicht glauben. Aber sie war sich nicht wirklich sicher.

Ein Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Sie wischte sich übers Gesicht und schickte ihn weg. Sie holte tief Luft, riss sich zusammen, stand auf und verließ das Café.

Auf unsicheren Beinen schritt sie die Rue de Rivoli entlang. Es war warm und sonnig. Autos und Radfahrer und Lieferwagen fuhren vorbei. Passanten kamen ihr entgegen, unterhielten sich, lachten, genossen den Tag.

Sie ging weiter und dachte nach, während ihr Zorn wuchs und zu glühen begann.

Sie musste das nicht einfach hinnehmen. Sie kannte Leute, die ihr helfen konnten, inoffiziell natürlich. Kent verstand nicht halbwegs genug von seinem Handwerk, dass er unangreifbar gewesen wäre. Und selbst wenn, ein Anruf von ihr genügte, und er würde angelaufen kommen, zu einem genau definierten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Und dann würde sie herausfinden, was wirklich geschehen war. Und etwas unternehmen.

Sie dachte: Werd nicht zu dem, was du hasst.

Sie blieb stehen und musste plötzlich wieder weinen. Was konnte sie tun, um Fatima zu rächen? Wenn es wirklich das war, was sie wollte, dann nahm sie sich vielleicht besser selbst das Leben. Wäre sie niemals nach London gegangen, wäre sie schon vor langer Zeit aus diesem furchtbaren Geschäft ausgestiegen, wie John immer wieder drängte, dann wäre Fatima noch am Leben, unverletzt, ihr trauriges Lächeln strahlend und intakt.

Noch nie hatte sie so dringend mit John reden müssen. Aber sie konnte nicht. Er war fort.

Neben einem Taxi sank sie schluchzend in die Knie.

Sie rief sich die Anschläge ins Gedächtnis, die sie verhindert hatte, die Menschenleben, die sie gerettet hatte. Es half nichts. Diese Menschen waren eine Abstraktion, eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, Variablen. Real war nur Fatima und dass Delilah sie getötet hatte.

Das würde sie niemals wieder gutmachen können. Es gab keine Rechtfertigung, keine Vergebung. Nur Reue.

Sie weinte noch lange Zeit. Ein paar Leute blieben stehen und fragten sie, ob alles in Ordnung sei. Die meisten ignorierten sie.

Irgendwann hatte sie keine Tränen mehr. Sie richtete sich auf und wanderte auf wackeligen Beinen durch Paris. Nach vielen Stunden kehrte sie in ihre Wohnung zurück. Sie ging früh zu Bett. Schlaf fand sie keinen.

star

Am nächsten Morgen ging Delilah früh aus dem Haus. Sie hatte keinen Grund, kein besonderes Ziel, sie musste nur einfach ihrer Wohnung entkommen, ihren Gedanken.

Als sie die schwere hölzerne Haustür öffnete, suchte sie aus einem durch Erfahrung geschärften Instinkt die Straße ab. Ein einzelner Mann, nur eine Silhouette vor den schrägen Strahlen der tief stehenden Morgensonne, kam auf sie zu. Sie brauchte einen Augenblick, um ihn unterzubringen – sie hatte ihn noch nie in Jeans und Hemdsärmeln gesehen. Es war Kent.

Er hatte den Eingang zu ihrem Apartmenthaus bereits aufs Korn genommen und bemerkte sie sofort. Er winkte und hielt beide Hände so, dass sie sie deutlich sehen konnte.

Sie warf einen schnellen Blick nach links und rechts. Sie glaubte nicht, dass sie sich in Gefahr befand. Wenn jemand in Gefahr war, dann er. Aber der Reflex ließ sich nicht abstellen.

Sie wartete in der Tür, bis er ein paar Meter entfernt stehen blieb.

»Hallo«, sagte er. »Ich entschuldige mich für den Überfall.«

»Woher wussten Sie, wo Sie mich finden?«

Er lächelte leise. »Um die Wahrheit zu sagen, meine handwerklichen Fähigkeiten sind nicht gar so schlecht. Jedenfalls, wenn mir etwas wichtig ist.«

»Was wollen Sie?«

»Ihnen sagen, dass es mir leidtut.«

»Was?«

»Delilah, wir waren es nicht.«

»Nein? Warum haben Sie sie dann nicht beschützt?«

»Niemand war an ihr interessiert. Aber ich habe sie dennoch angerufen. Ich sagte ihr, ich sei ein Freund von Ihnen und dass wir beide sie beschützen wollten. Sie hat einfach aufgelegt.«

»Ich verstehe.«

»Es tut mir wirklich sehr leid.«

»Warum glauben Sie, dass mich das kümmert?«

»Das mit Fatima? Oder dass es mir leidtut?«

»Beides.«

»Nun, die Antwort auf Ersteres ist das, was ich in Fatimas Wohnung gesehen habe.«

Sie schwieg, und er setzte rasch hinzu: »Die Art, wie Sie sie geschützt haben, meine ich.«

Immer noch sagte sie nichts.

»Und das Zweite, nun, in dem Fall habe ich keinen besonderen Grund zu der Annahme, dass es Sie interessiert, so oder so. Es ist nur, dass … es würde mich belasten, wenn Sie denken, ich wäre zu etwas so Abstoßendem fähig, wie es Fatima angetan wurde.«

»Sie hätten sie getötet.«

»Ja. Ich fürchte, das ist Teil meines Jobs. Im Moment wünschte ich, ich hätte es getan. Das wäre besser gewesen als das andere.«

Sie spürte, wie der Zorn in ihr hochstieg. »Wagen Sie es nicht, mir die Schuld zu geben, weil ich sie beschützt habe!«

»Das tue ich nicht. Ich mache mir selbst Vorwürfe. Es war meine Entscheidung, nicht Ihre. Wie auch immer, ich … ich bewundere Sie für das, was Sie getan haben. Immerhin hat sie versucht, Sie in die Falle zu locken.«

»Nein.«

»Aber sie wusste, dass diese Männer unterwegs waren …«

»Sie hatte keine Ahnung. Vielleicht hätte sie es wissen können, aber sie versuchte, es zu ignorieren. Sie war in etwas verwickelt, dessen Konsequenzen sie nicht ins Gesicht sehen wollte. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?«

Er antwortete nicht.

Sie rieb sich die Schläfen. Die Sonne war zu grell. Sie spürte einen ziehenden Kopfschmerz.

»Haben Sie Hunger?«, fragte er.

»Nein.«

»Würden Sie vielleicht trotzdem gern etwas essen gehen?«

»Warum sollte ich?«

»Ich glaube, Sie brauchen jemanden, mit dem Sie sprechen können. Jemanden, der versteht.«

Sie dachte an John. »Das letzte Mal, als ich mich aus diesem Grund auf jemanden eingelassen habe, hat es sehr schlimm geendet.«

»Tatsächlich? Wäre es sehr egoistisch, wenn ich sage: Ich bin froh, dass er jetzt nicht hier ist?«

»Ja, das wäre es.«

»Also gut, dann bin ich egoistisch.«

Eine junge Mutter mit zwei kleinen Mädchen an der Hand ging an ihnen vorbei. Die Kinder hielten sich an der Mutter fest und tranken mit der anderen Hand aus Bechern etwas, das wie Chocolat chaud roch. Delilah fand den Duft plötzlich ganz köstlich. Sie war hungriger, als sie gedacht hatte.

»Falls Sie etwas damit zu tun hatten, was ihr zugestoßen ist, Kent, und ich finde es heraus, dann gibt es nichts, was Sie retten kann.«

»Ich glaube Ihnen.«

»Und wenn ich Ihnen jetzt glaube und später herausfinde, dass Sie mich angelogen haben, dann schneide ich Ihnen das Herz heraus.«

»Es ist mir klar, dass Sie das nicht metaphorisch meinen.«

»Nein. Das tue ich nicht.«

»Ich lüge Sie nicht an, Delilah.«

Sie sah ihm in die Augen. Sie glaubte ihm. Sie hoffte, dass das nicht naiv war. Um ihretwillen und um seinetwillen.

Sie seufzte. »Es wird niemals aufhören, Kent. Nie. Nicht, solange wir ewig so weitermachen.«

»Ich weiß.«

»Warum tun Sie es dann?«

Er hob die Arme und ließ sie hilflos fallen. »Ich weiß, dass wir in einer Falle sitzen. In einem brennenden Haus, in dem alle Türen und Fenster verbarrikadiert sind. Das ist mir klar. Aber ich sehe keinen Ausweg. Alles, was ich sehen kann, ist die sehr seltene und unwahrscheinliche Möglichkeit von kurzen Augenblicken der … Gnade.«

»Ist es das, was Sie mir anbieten?«

Er blickte feierlich drein. »Eigentlich hoffte ich, Sie würden es mir anbieten. Wie gesagt, so egoistisch bin ich.«

Sie schenkte ihm ein leises, zögerndes Lächeln. Vielleicht war es gut, mit jemandem zu reden. Oder wenigstens nicht allein zu sein. Vielleicht war das einer dieser kurzen Augenblicke.

Sie wusste es nicht genau. Aber es wäre eine Schande gewesen, nicht wenigstens zu versuchen, es herauszufinden.

»Laden Sie mich zu einer Chocolat chaud ein«, sagte sie.

Er nickte. »Machen wir zwei daraus.«