Sie waren zu dritt und erwarteten Delilah an einem viereckigen Holztisch, um sie in die Zange zu nehmen, sobald sie sich setzte. Sie fragte sich, warum es so viele waren. Europäische Verschwendungssucht? Eine Demonstration der Stärke? Die Sicherheit der Überzahl? Wahrscheinlich eine Kombination von allem. Jedenfalls war es nicht alltäglich, dass der Direktor sich persönlich, begleitet von zwei Stellvertretern, in ein sicheres Haus in den Randbezirken von Amsterdam begab.

Die Männer waren alle sitzen geblieben, obwohl die beiden Sicherheitsleute in Zivilkleidung draußen, die Delilah an ihrem Verhalten und der leichten Ausbuchtung der Uzi Pros unter ihren Jacketts erkannt hatte, sie zweifellos von ihrer Ankunft unterrichtet hatten. Niemand sprach ein Wort, während sie das Wohnzimmer betrat, nicht einmal, als sie auf dem letzten leeren Stuhl am Tisch Platz nahm. Während der Jahre in Paris hatte sich Delilah an Small Talk gewöhnt, daher musste sie sich erst ins Gedächtnis rufen, dass sein Fehlen hier weder Unhöflichkeit noch Herablassung bedeutete. Diese Männer waren Israelis, nicht ohne Grund für ihre Schroffheit bekannt, und darüber hinaus hatten sie ihr halbes Leben beim Militär und im Geheimdienst verbracht. Sie bezweifelte, dass sie mit ihren eigenen Geliebten Small Talk machten, geschweige denn mit einer Undercover-Agentin.

Dennoch zog sich das Schweigen auffallend in die Länge. Sie wartete und beobachtete. Sie wollte verdammt sein, wenn sie auch nur ein einziges Wort sagte, bevor sie ihr wenigstens erklärten, warum sie hierher beordert worden war.

»Falls es Sie interessiert, Delilah«, meinte der Direktor endlich, »dieser Schlamassel mit den Saudis: Er wurde beseitigt.«

Sie fragte sich, warum er Hebräisch sprach. Sie selbst mied die Sprache, wann immer es möglich war, und versuchte, selbst bei einer Einsatzbesprechung nicht aus der Rolle zu fallen. Wollte er sie daran erinnern, wer sie wirklich war, für wen sie arbeitete? Wenigstens benutzte er nicht ihren richtigen Namen. Vielleicht hatte er ihn vergessen.

Ein paar blonde Strähnen hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst. Sie widerstand der Versuchung, sie sich aus dem Gesicht zu streichen, damit die Geste nicht als Nervosität interpretiert werden konnte. »Sie meinen Farid?«

»Gibt es noch einen weiteren Saudi-Schlamassel, von dem wir nichts wissen?«

Farid war ein saudischer Finanzmann, mit dem sie ins Bett gegangen war, um ihn auszuforschen. Es hatte sich als schwierig erwiesen, ihn wieder loszuwerden. Im Gegenteil, er wurde immer besessener von ihr und hatte seine Männer nach Paris geschickt, um ihr wehzutun. Das war ihnen nicht gelungen, doch aus dem krankhaften Blickwinkel ihres ehemaligen Liebhabers betrachtet, handelte es sich nur um eine verpasste Gelegenheit. Sein Motiv blieb.

»Wie beseitigt?«

Einer der Stellvertreter lachte leise. »Wie schon? Dauerhaft.«

Sie trugen alle Kakihosen und blaue Button-down-Hemden. Eine Uniform im Tausch gegen die andere. Delilah fand, sie hätten genauso gut Schilder tragen können, auf denen stand, dass sie Israelis waren. Aber vielleicht war sie ja überkritisch. Die meisten Menschen hätten sie für unauffällige Witwer oder Rentner gehalten, vielleicht auf einer Busreise durch Europa.

»Wie sind Sie in Riad an ihn herangekommen?«

»Sind wir nicht«, erwiderte der erste Stellvertreter. »Das war der MI6.«

»In unserem Auftrag?«

Darauf nickten sie nur, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Langsam verstand sie. »Und die Briten wollen eine Gegenleistung.«

»Natürlich«, sagte der Direktor und schenkte ihr das großväterliche Lächeln, für das er berühmt war. Delilah hatte es immer als unecht und manipulativ empfunden. »Was glauben Sie denn? Dass sie uns einfach so eine Gefälligkeit erweisen? Sie haben uns bei unserem Problem geholfen. Jetzt müssen wir ihnen bei ihrem helfen.«

»Und was hat das mit mir zu tun?«

Der zweite Stellvertreter klopfte auf dem Tisch eine Zigarette aus der Schachtel. »Vielleicht ist es ein wenig beschönigend, das Problem als ›unseres‹ zu beschreiben. In Wirklichkeit waren Sie dafür verantwortlich.«

Sie bemühte sich, ihre Entrüstung zu unterdrücken. »Ich?«

Der zweite Stellvertreter zog die Zigarette heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen, hielt das Feuerzeug daran, inhalierte tief und stieß eine Wolke graublauen Rauchs aus. Er lehnte sich zurück und musterte Delilah stirnrunzelnd. »Wir haben Ihnen dringend davon abgeraten, weiter persönlichen Umgang mit diesem Freischaffenden zu pflegen, diesem John Rain. Sie haben nicht auf uns gehört.«

Sie konnte es nicht fassen. »Rain hatte nichts mit Farid zu tun. Er war mir in jener Nacht eine große Hilfe. Er entdeckte den Hinterhalt als Erster.«

Der zweite Stellvertreter nahm einen weiteren langen Zug von seiner Zigarette. Sie merkte, dass er nervös war. Sie waren nicht sicher, wie dieses Treffen ausgehen würde.

»Er hat Sie gerettet, oder nicht?«, sagte der zweite Stellvertreter. »Und wissen Sie, was er dabei hinterlassen hat? Zwei Gehirnerschütterungen, einen gebrochenen Kehlkopf, eine zerschmetterte Hand, einen kompletten Gesichtsbruch, einschließlich Nase, Zähnen und Wangenknochen, und zwei geplatzte Hoden. Die Verletzungen verteilten sich auf vier Männer. Denjenigen, der jetzt nie wieder Kinder zeugen wird – nicht, dass das ein großer Verlust für die Menschheit wäre –, hetzte Rain einen Kilometer weit durch die Straßen von Paris, bevor er ihn erwischte und zum Krüppel machte.«

»Zwei der Opfer hätte man erklären können«, fuhr der Direktor fort, »den, dessen Gesicht Sie aufgeschlitzt, und den, dessen Knie Sie zerstört haben. Selbst eine simple Fotografin kann ja unter solchen Umständen einmal Glück haben. Vielleicht ist sie früher schon einmal überfallen worden – attraktiv genug ist sie ja. Also trägt sie ein Messer bei sich. Vielleicht hat sie auch Karateunterricht genommen. Ihre Angreifer unterschätzen sie. Und was macht sie in dem Moment, als sie die Gelegenheit dazu bekommt? Sie rennt davon. Rains Verhalten war völlig anders. Ein Mann gegen vier? Und diese Verfolgungsjagd auf den Letzten als Dreingabe? Das lässt sich nicht so einfach abtun.«

»Und überlegen Sie«, fügte der zweite Stellvertreter hinzu. »Derartig schwere Verletzungen, und kein einziger Toter? Es ist viel schwieriger, so viel Schaden anzurichten, als jemanden einfach umzubringen. Das bringt nur ein Agent mit außerordentlicher Selbstkontrolle fertig. Ein ausgebildeter Killer, der sich zurückgehalten hat, um nicht eine Spur von Leichen zu hinterlassen, die die Aufmerksamkeit der Polizei erregen würde. Wie wollen Sie erklären, was eine harmlose Fotografin – die, wie es scheint, doch nicht ganz so harmlos ist – mit einem solchen Mann zu schaffen hat? Ist Ihnen eigentlich klar, welcher Gefahr Sie die Tarnidentität ausgesetzt haben, die wir ohne Rücksicht auf Kosten und Mühen für Sie geschaffen haben?«

»Für mich geschaffen?«, gab Delilah angewidert zurück. »Wie großzügig. MI6 erweist also keine Gefälligkeiten, aber Sie anscheinend schon?«

Sie war sich bewusst, dass sie ihren Zorn nicht gebührend unter Kontrolle hielt, aber das war ihr egal. Diese ständigen Zweifel an ihr, die permanenten Verdächtigungen von sogenannten Vorgesetzten, die mit ihrer Effizienz nicht klarkamen und ihr Unbehagen darüber nicht unterdrücken konnten, wie effektiv sie auf Befehl buchstäblich mit dem Feind ins Bett stieg … Irgendwann musste sie einfach zurückschlagen, sonst erstickte sie noch an ihrer Wut.

Und jetzt stocherten sie auch noch in ihrem Privatleben herum und stellten es infrage. Das wäre schon schlimm genug gewesen, aber das Thema John Rain traf einen wunden Punkt. Die Erinnerung war ebenso frisch wie schmerzhaft. Er hatte sie in jener Nacht in Paris gerettet oder zumindest ihre Chancen drastisch verbessert. Und sie hatte sich danach ihm gegenüber ganz und gar unmöglich benommen. Seit er Paris verlassen hatte, hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt.

»Das ist noch nicht alles«, warf der Direktor ein und erlöste den zweiten Stellvertreter von seinem Tritt ins Fettnäpfchen. »Ich weiß nicht, welchen Grund Rain dafür hatte, vielleicht wollte er den Mann einschüchtern und auf die Art effektiver verhören können, bevor er ihn praktisch kastrierte, aber er erzählte ihm, dass Sie beide der GIGN angehören, der Eliteeinheit der französischen Gendarmerie zur Terrorismusbekämpfung. Das alles wurde Farid hinterbracht.«

Er legte eine Pause ein, vermutlich, weil er hoffte, Delilah würde fragen, woher er das alles wusste. Dann hätte er Gelegenheit gehabt, sie auf ihren Platz zu verweisen und zu sagen, dass sie das nach dem Need-to-know-Prinzip nicht zu erfahren brauchte. Diese kleine Befriedigung wollte sie ihm nicht gönnen. Außerdem nahm sie an, dass es eine rein technische Angelegenheit war – eine Telefon- oder Computerüberwachung, eine angezapfte Satellitenverbindung. Schließlich mussten sie Farid im Auge behalten.

Nach einer Weile fuhr der Direktor fort: »Und während Farid selbst keine geheimdienstlichen Beziehungen hat, steht er im Kontakt mit Leuten, auf die das zutrifft. Ich bin sicher, Sie verstehen, warum wir es uns nicht leisten können, dass der saudische Geheimdienst Sie auf Verbindungen zur GIGN abklopft. Sicher, Rain musste sich in aller Eile etwas einfallen lassen, aber das spielt keine Rolle – nur die Aufmerksamkeit, die er erregt hat. Die hätte zu weiterreichenden Erkenntnissen führen können, wenn auch vielleicht nur zufällig, und dann wäre alles sehr schnell außer Kontrolle geraten. Also mussten wir uns unverzüglich um Farid kümmern.«

»Aber nicht, um mein Leben zu schützen. Nur meine Tarnung.«

»Genau genommen«, sagte der erste Stellvertreter nicht unfreundlich, »lassen sich diese beiden Kategorien nicht leicht trennen.«

Der Direktor schenkte ihr wieder das großväterliche Lächeln. »Ich verstehe, warum Sie erregt sind«, meinte er. »Aber würden Sie für eine Organisation arbeiten wollen, die so unverantwortlich handelt, dass sie nicht einmal das Verhalten ihrer eigenen Angestellten unter die Lupe nimmt?«

»Allerdings, das würde ich.«

Die großväterliche Fassade bröckelte. »Nun, es ist aber nicht so.«

Er hätte hinzufügen können: »Und natürlich dürfen Sie jederzeit gehen, wenn Sie wollen.« Doch anscheinend waren sie so besorgt, sie würde genau das tun, dass sie sie lieber nicht herausforderten. Delilah wünschte sich, sie hätte den Mut dazu. Aber wie würde sie sich fühlen, wenn sie in der Zeitung über den nächsten Terroranschlag las und wusste, dass sie ihn vielleicht hätte verhindern können? Wie sollte sie damit leben?

Der zweite Stellvertreter stieß eine weitere stinkende Rauchwolke aus. »Mit genügend Zeit hätten wir ihn in Übersee erledigt. Aber unter den gegebenen Umständen konnten wir uns den Luxus des Abwartens nicht leisten. Das heißt, wir mussten ihn in Riad zu fassen bekommen. Und der Zugang nach Riad ist uns, wie Sie wissen, versperrt. Aber glücklicherweise nicht den Briten. Sie stellten keine Fragen und jagten Farid einfach zwei Kugeln in den Kopf, als er von seinem scheinheiligen Morgengebet nach Hause ging.«

Abgesehen von einem leisen Gefühl der Erleichterung und Befriedigung, dass Farid tot war, spürte Delilah gar nichts. Der Sex war Teil des Jobs. Und sie machte ihren Job gut. Gut genug, um im richtigen Moment manchmal etwas zu empfinden. Aber niemals danach. Gott sei Dank.

»Ohne Fragen zu stellen«, sagte sie. »Aber es gibt einen Preis.«

Der Direktor nickte. »Ja.«

»Den ich bezahlen muss.«

»Das ist keine Maßregelung«, meinte der Direktor. »Sie sind einfach die Richtige für den Job.«

Doch sie war ziemlich sicher, dass beides zutraf.

Der erste Stellvertreter zog einen USB-Stick aus der Hemdtasche und ließ ihn über den Tisch zu ihr gleiten. »Sie fahren nach London«, sagte er. »Sie arbeiten eng mit einem Agenten des MI6 zusammen …«

»Zusammenarbeiten? So also schützen Sie meine Tarnung?«

Der Direktor zuckte die Achseln. »Delilah, so etwas ist unvermeidlich. Je länger Sie im Einsatz sind, desto mehr Kratzer bekommt Ihre Tarnung. Sie hatten bis jetzt einen beneidenswerten und bemerkenswerten Lauf, und wir arbeiten alle hart daran, Sie im Spiel zu halten. Aber wir befanden uns in einer schwierigen Lage, und der MI6 hat seinen Preis genannt. Wenn es eine Alternative gäbe, würden wir diese ergreifen. Die existiert aber nicht. Ja, es besteht ein gewisses Risiko, dass Ihre Tarnung durch diese Operation kompromittiert wird. Aber Risiko ist unser Geschäft. Und diesmal müssen wir es eingehen.«

Am liebsten hätte sie den USB-Stick genommen und dem Direktor ins Gesicht geschleudert. Stattdessen sagte sie: »Wie lautet der Auftrag?«

Der erste Stellvertreter räusperte sich. »MI6 jagt einen Terroristen. Und sie glauben, der Schlüssel zu ihm ist seine Schwester.«

Delilah war verwirrt. »Sie wollen, dass ich mich an die Schwester heranmache?«

Der erste Stellvertreter nickte. »Ja.«

»Aber sie ist eine Frau.«

Der zweite Stellvertreter drückte die Zigarette aus und warf ihr ein Lächeln zu, das eher ein boshaftes Feixen war. »Betrachten Sie es als einzigartige Herausforderung. Oder eine einzigartige Gelegenheit.«

Delilah ignorierte die Anzüglichkeit. »Aber Sie sagten, ich wäre genau die richtige Person dafür. Das verstehe ich nicht.«

Der Direktor antwortete: »Die Zielperson – sie heißt übrigens Fatima – hat einen guten Instinkt. MI6 hat schon zweimal versucht, einen Mann auf sie anzusetzen. Beides britische Agenten pakistanischer Abstammung, die perfekt Urdu sprachen, die Moschee besuchten, erstklassige Legenden besaßen. Beide Male roch sie Lunte. MI6 braucht jemanden, der unter ihrem Radar hindurchschlüpfen kann. Jemanden, den Fatima nicht kommen sieht.«

Der zweite Stellvertreter grinste wieder anzüglich. »Außer, Sie möchten, dass sie Sie kommen sieht.«

Delilah sah ihn an. »Wissen Sie was, alter Mann? Wenn ich wollte, könnte ich Ihren USB-Stick nehmen und Ihnen durch die Nase in Ihr seniles Gehirn rammen. Sie haben Glück, dass ich nicht gerade meine Periode habe oder so etwas. PMS macht mich unheimlich unleidlich.«

Es wurde still im Raum, und das Gesicht des zweiten Stellvertreters lief puterrot an. Einen Moment lang fragte sich Delilah, ob er einen Herzanfall bekam. Sie hoffte es.

»Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie es hier zu tun haben?«, explodierte er.

Delilah sah den Direktor und den ersten Stellvertreter an. »Würden Sie Ihren Kollegen bitte daran erinnern, wer er ist? Es scheint ihm entfallen zu sein. Senil, wie ich schon sagte.«

»Es reicht mir jetzt mit Ihrer Insubordination!«, brüllte der zweite Stellvertreter. »Es reicht!«

Delilah fand seinen Ausbruch außerordentlich befriedigend, fast entspannend. Er hatte die Selbstbeherrschung verloren. Wenn man die Kontrolle über sich selbst verliert, gewinnt sie ein anderer, und im Moment wussten sie beide, wer das war. Sie lächelte ihn nachsichtig an, als wäre er ein belustigendes, harmloses Kind.

»Es reicht«, wiederholte er. Er wandte sich an den Direktor. »Ich sagte Ihnen ja, sie ist respektlos, aufsässig und hat ein katastrophales Urteilsvermögen. Vor allem aber ist sie unzuverlässig. Sie …«

»Ja, ich weiß.« Der Direktor brachte seinen zweiten Stellvertreter mit erhobener Hand zum Schweigen. »Und sie liefert unbestreitbar Resultate. Delilah, Ihr Befehl lautet, nach London zu gehen. Dort werden Sie übermorgen Ihre Kontaktperson vom MI6 treffen. Die Details befinden sich auf dem Speicherstick. Noch Fragen? Wenn nicht, vertagen wir uns.«

Sie überlegte, ob sie bewusst guter Cop, böser Cop spielten. Aber eigentlich war es egal. Selbst wenn es zwischen diesen Männern echte Unstimmigkeiten geben sollte, waren von Delilahs Standpunkt aus die Unterschiede wesentlich belangloser als die Gemeinsamkeiten.

Sie griff nach dem USB-Stick und ließ ihn in ihre Handtasche fallen. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt in Amsterdam, Gentlemen«, sagte sie und erhob sich. »Bestimmt finden Sie selbst den Weg zum Rotlichtviertel. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie reichlich Zeit für einen Besuch eingeplant haben.«

star

Wie sich herausstellte, enthielt der Speicherstick kaum etwas, was sie nicht schon wusste. Ihren Kontakt sollte sie in zwei Tagen um zehn Uhr abends in der Coburg-Bar des Connaught Hotel in Mayfair treffen. Sie reiste unter ihrer üblichen Tarnung als freischaffende Fotografin und musste sich auf mindestens zwei Wochen Aufenthalt einstellen, möglicherweise länger. Sie hatten für sie bereits eine Wohnung in Notting Hill gemietet. Es blieb ihr gerade genug Zeit, nach Paris zurückzukehren, die Koffer zu packen und einen Flug nach London zu erreichen.

Ein aalglatter Makler führte sie durch die Wohnung, ein Zweizimmerapartment ohne Aufzug, aber mit schöner Junisonne. Er zeigte ihr die Bedienung der Geräte und was sonst noch zu beachten war. Sobald er zur Tür hinaus war, durchsuchte sie die Wohnung mit einem tragbaren Apparat, den ihr Kollege Boaz ihr besorgt hatte, nach Abhörgeräten. Boaz war einer der wenigen verheirateten Männer in der Organisation, der nie versucht hatte, ihr an die Wäsche zu gehen. Tatsächlich behandelte er sie eher wie eine Schwester als eine Kollegin, und es gab kaum jemanden, zu dem sie größeres Vertrauen hatte. Die Wohnung schien sauber zu sein, doch sie musste später noch einen weiteren Scan durchführen. Die Männer, für die sie arbeitete, waren klug genug, eine Wanze erst dann zu aktivieren, nachdem der Raum überprüft worden war.

Als sie ausgepackt hatte, duschte sie und schlüpfte in ein lachsfarbenes Etuikleid von Akris mit asymmetrischem Schnitt. Dazu Riemchenpumps, eine karamell-creme-farbene Lacklederhandtasche und ein passendes Bolerojäckchen gegen die Abendkühle. Sie betonte ihre Augenpartie mit ein wenig Make-up und legte als letzten Schliff ein Paar goldene Cartier-Ohrringe an. Es handelte sich um ein geschäftliches Treffen, und sie wollte nicht allzu verführerisch sein, ließ die Haare aber offen, um auch nicht zu streng zu wirken. Sie betrachtete sich im Spiegel und war zufrieden. Dezent und professionell, souverän und elegant. Sachlich, nicht männermordend.

Sie investierte ein wenig Zeit, um die, wie sie zugeben musste, reizvolle Umgebung zu erkunden –Straßenzüge mit restaurierten Häusern, manche im viktorianischen Stil, in eigenartigen Pastelltönen zwischen Gelb, Blau und Pink gestrichen. Dazu die Antiquitätengeschäfte, Vintagekleiderläden und Obstgeschäfte in der Portobello Road. Eine bunte Mischung aus Touristen, die ihre Stadtpläne studierten, schwer mit Tüten beladenen Einkaufsbummlern und ein paar Einheimischen, die ihre Babys im Kinderwagen spazieren fuhren. Sie konnte die Wohnung auf mehreren verschiedenen Routen ansteuern und verlassen, was sicher ein Grund dafür war, dass ihre Leute sie besorgt hatten. Jegliche effektive gegnerische Beschattung musste sich auf ihre Straße konzentrieren, und weil das eine reine Wohngegend ohne Cafés oder Parks war, wo ein Team unauffällig warten konnte, waren Probleme relativ leicht auszumachen. Sie identifizierte ein paar Strecken, auf denen sie Verfolger aus der Reserve locken konnte, und während sie sich weiter umsah, benutzte sie sie gleich, um sicherzustellen, dass sie nicht beschattet wurde.

Sie legte einen Zwischenstopp in einem protzigen Apple Store ein und sah sich das Connaught auf einem der ausgestellten Computer an. Sie war noch nie dort gewesen. Das war ein Vorteil: Sie wusste, dass man sich wegen ihres guten Aussehens leicht an sie erinnerte, und wollte ungern einem schwatzhaften Angestellten erklären müssen, was sie diesmal nach London geführt hatte. Wenig begeistert stellte sie fest, dass das Hotel in der Nähe der amerikanischen Botschaft lag, aber sie vermutete, die Preise in der Bar des Connaught würden das Budget eines durchschnittlichen Regierungsbeamten übersteigen; außerdem kannte sie niemanden von der Botschaft. Als sie fertig war, löschte sie ihre Spuren auf dem Browser und ging wieder.

Sie war verärgert über die Art, wie man sie in diese Operation hineingezogen hatte, und fühlte sich versucht, ihrer Verstimmung und Unabhängigkeit Ausdruck zu verleihen, indem sie zu spät zu dem Treffen kam. Aber das wäre ziemlich kindisch und gleichzeitig taktisch dumm gewesen. Besser, sie kam zu früh, um die Lage zu peilen. Sie drehte eine letzte, aggressive Gegenaufklärungsrunde, um sicherzugehen, dass sie nicht verfolgt wurde, dann bestieg sie in der Nähe des U-Bahnhofs Holland Park ein Taxi. Es gab in London derart viele Überwachungskameras, dass öffentliche Verkehrsmittel keinen echten taktischen Vorteil gegenüber einem Taxi brachten. Sie ließ sich am Berkeley Square absetzen. Kein Grund, jemandem ihr wahres Ziel zu verraten.

Es lag immer noch ein wenig frühsommerliches Licht am Himmel, das die Ziegel- und Steinfassaden von Mayfair rosa aufglühen ließ. In den Schaufenstern der Antiquitätenhändler, Immobilienmakler und Galeristen spiegelte sich die untergehende Sonne und gleichzeitig das Licht der stillen Straßenlaternen. Ein paar Passanten kamen ihr entgegen, vor allem elegant gekleidete Paare, die vermutlich auf dem Weg zum Essen in einem der schicken Restaurants in der Gegend waren oder von dorther kamen. Der Hall ihrer Schritte wurde beim Näherkommen auf den Steinplatten des Gehwegs lauter und verklang dann hinter ihr. Bei gutem Wetter war London eine schöne Stadt. Eigentlich eine Schande, dass sie hier nicht mehr davon hatten, aber sie machten wohl das Beste daraus, solange es anhielt.

Vor einem erleuchteten elliptischen Granitbrunnen, aus dem sich zwei üppig belaubte alte Bäume erhoben, hielt sie inne und suchte die Umgebung ab. Sie konnte problemlos die eindrucksvolle georgianische Fassade des Hotels sehen, dessen Eingang von zwei livrierten Portiers flankiert wurde. Sie bemerkte nichts Ungewöhnliches, aber da dies ein verabredetes Treffen war, gab es natürlich auch keinen Grund, außen einen Observierungsposten zu platzieren. Sie rechnete nicht mit Schwierigkeiten – doch eigentlich wusste sie überhaupt nicht, was sie zu erwarten hatte.

Einer der Portiers hielt ihr grüßend die Tür auf, als sie das Hotel betrat, und der Blick seines Kollegen senkte sich im Vorbeigehen einen winzigen, unprofessionellen Moment lang auf ihren Hintern. Das Innere war prachtvoll – wie ein altes britisches Herrenhaus mit einer herrlichen, geschwungenen Mahagonitreppe als Prunkstück –, ohne im Geringsten pompös zu wirken. Sie machte sich auf der Damentoilette frisch, sah sich die Lage der Notausgänge an und ging dann in die Bar.

Sie war nur halb voll – es war ja noch früh –, aber die Gespräche und das Gelächter und Billie Holiday, die aus einer verborgenen Stereoanlage tönte, sorgten für eine angeregte Atmosphäre. Die Wände waren dunkel getäfelt, und die sanfte Beleuchtung stammte von drei geschmackvollen Kronleuchtern unter einer hohen, üppig verzierten Stuckdecke. Überall standen vornehme Sessel und Sitzkissen in ausgewählten Farben verteilt. An einer klassischen verspiegelten Bar bedienten zwei Angestellte mit Krawatten und Westen und mixten mit unauffälligem Geschick Cocktails. Sie glaubte, den Duft von Süßgras zu spüren. Die Atmosphäre war ausgesprochen angenehm – elegant, spielerisch und teuer. All das ließ sie einen plötzlichen Stich von Trauer und Schuld fühlen. Es war ein Ort, wie John ihn liebte, und sie hätte ihn ihm sehr gern gezeigt.

In der hintersten Ecke saß ein gut aussehender Mann mit dem Rücken zur Wand, den Eingang voll im Blick. Um die vierzig, schätzte sie, obwohl das Licht schlecht war und sie zehn Meter entfernt stand, mit kurzen schwarzen Haaren und einem Gesicht, das aristokratisch hätte wirken können, wäre da nicht das etwas kantige Kinn gewesen. Er trug einen anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug, der wie für ihn gemacht schien – wörtlich und im übertragenen Sinn. In einer Hand hielt er lässig ein Martiniglas, und sein vager Blick war auf nichts Bestimmtes gerichtet. Sie war selten jemandem begegnet, der in einer hochklassigen Bar so zu Hause wirkte, und musste sich eingestehen, dass sie sein gelassenes Selbstvertrauen attraktiv fand. Der taktisch gewählte Sitzplatz und die Aura von Autorität ließen sie ziemlich sicher sein, dass es sich um ihren Kontaktmann handelte. Darüber war sie froh – sie hatte schon fast mit etwas Vergleichbarem wie dem Direktor und seinen zwei Stellvertretern gerechnet.

Sie ging auf seinen Tisch zu und winkte ab, als ein Angestellter sie zu einem eigenen geleiten wollte. Der Mann sah sie an, und seine Augenbrauen hoben sich leicht. Sie bemerkte eine Ausgabe des Granta auf seinem Tisch, das vereinbarte Erkennungszeichen.

»Verzeihen Sie«, sagte Delilah, als sie ihn erreicht hatte. »Gibt es hier in der Nähe eine Steckdose? Ich muss mein Handy aufladen.«

Das war ihre Hälfte der Parole. Der Mann lächelte und sagte mit dem Akzent der britischen Oberklasse: »Ich weiß es nicht, aber Sie dürfen gerne nachsehen, wenn Sie wollen.«

Das brachte sie kurz aus der Fassung – sie war so sicher gewesen, doch es war nicht die richtige Antwort. Sie schüttelte die Verwirrung ab und meinte: »Danke. Ich denke, ein bisschen Saft ist noch drin, aber ich komme wieder, falls ich mich irre.«

Sie wollte sich abwenden. Der Mann lachte leise und sagte: »Nur ein Scherz. Ist es ein iPhone? Ich bräuchte auch eine frische Ladung.«

Das war die vereinbarte Antwort. Sie machte wieder kehrt und musterte ihn leicht verärgert, weil er den Austausch einer Parole in einen Scherz verwandelt hatte und sich offensichtlich auch noch darüber amüsierte.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte er und wies auf den Sessel neben sich. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«

Sie sah ihn noch einen Moment länger an, dann ließ sie sich in den üppigen Sessel sinken. »Ich kann mir selbst einen Drink kaufen.«

Seine Augen blitzten belustigt. »Ich wollte nicht andeuten, dass Sie das nicht könnten. Es war nur ein Versuch, gastfreundlich zu sein.«

»Aber natürlich.«

»Hören Sie, ich bitte um Verzeihung. Manchmal lassen sich die Jungs im Büro ein wenig zu sehr hinreißen von ihren geheimen Handschlägen und all dem. Wirklich, manchmal wird es einem zu viel. Ich wusste in dem Moment, als Sie eintraten, dass Sie mein Mädchen sind.«

Sie stellte fest, dass die Akustik sich perfekt für eine diskrete Unterhaltung eignete. Die Musik war gerade laut und dominierend genug, um die Gespräche an den Nebentischen zu übertönen, aber nicht so, dass man die Stimme erheben musste.

»Ach ja?«, sagte sie und beschloss, fürs Erste das herablassende »mein Mädchen« zu überhören.

»Ja, natürlich. Man sagte mir, ich solle eine umwerfende Blondine erwarten. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass Sie die einzige in London seien. Aber wie hoch ist die Chance, dass ein solches Geschöpf ohne Begleitung genau am vereinbarten Ort auftaucht, und zwar eine Stunde vor dem vereinbarten Termin wie ein guter Profi, und auch noch mit vorsichtig wachsamer Ausstrahlung? Sie haben zuerst in die Ecken des Raums gesehen, dann erst zur Bar. Wären Sie einfach eine Schickeriadame, wäre die Reihenfolge umgekehrt gewesen.«

Wie die meisten Männer schien er gesprächig zu sein. Das kam ihr entgegen. Beim Reden erfuhr man nichts, nur beim Zuhören.

»Sehe ich so aus? Wie eine Schickeriadame?«

»Nun, hinreißend genug jedenfalls, wenn ich das sagen darf.«

Sie war weder enthusiastisch, noch störte es sie. »Was trinken Sie?«

»Gordon’s Gin, verwässert mit Wermut, Olivengarnitur. Möchten Sie auch einen?«

Sie ließ sich nicht gerne drängen und hätte beinahe reflexartig abgelehnt. Aber er schien der Typ Mann zu sein, der gerne die Klingen kreuzte, und sie hatte das Gefühl, dass er aktiv nach den richtigen Knöpfen suchte, die es zu drücken galt. Also sagte sie stattdessen: »Geschüttelt, nicht gerührt?«

Er lachte wieder leise. »Natürlich. Was wären wir Briten ohne unsere Traditionen?« Er winkte einem Kellner und deutete auf seinen Drink. »Noch einen davon, Henry – danke.«

»Henry?«

»Ja, und dort an der Bar haben wir Joseph und Giuseppe. Giuseppe ist nicht direkt ein Einheimischer, wie Sie vielleicht am Namen erraten haben, aber seine Qualitäten als Barkeeper sind unübertroffen.«

Sie war entsetzt. »Man kennt Sie hier?«

»Meine Güte, aber ja. Hier ist sozusagen mein zweites Zuhause, wenn ich in London bin. Das geht schon in Ordnung. Sie glauben alle, ich wäre ein Finanzmensch. Unsichtbar in der Masse, sozusagen.«

Sie sah sich um. Die Klientel schien tatsächlich zu einer Hälfte aus Bankern in Anzügen zu bestehen und zur anderen aus Hipstern in hautengen Jeans. Trotzdem hätte es ja nicht geschadet, sich irgendwo zu treffen, wo man keinen von ihnen kannte. Die dilettantische Vorgehensweise missfiel ihr. Vermutlich war das Schlimmste, was einem MI6-Agenten passieren konnte, dass man ihn zur Persona non grata erklärte und aus dem Gastland auswies. Wenn Delilah einen Job vermasselte, würde es sie höchstwahrscheinlich das Leben kosten, aber erst nachdem man sie gefoltert und vergewaltigt hatte. Er konnte es sich leisten, das alles als Spiel zu betrachten. Sie nicht.

»Warum haben wir uns nicht einfach in Ihrer Wohnung getroffen?«, fragte sie.

Er blinzelte und lachte, aber zum ersten Mal war das Lachen nicht voller Selbstsicherheit. »Das wäre ein bisschen dreist gewesen, finden Sie nicht?«

»Ich finde, es wäre dumm gewesen. Genauso dumm, wie sich an einem Ort zu treffen, wo man Sie kennt und sich an Sie erinnern wird.«

Er antwortete nicht. Das war auch nicht nötig. Sie wusste genau, was er dachte, was sie immer alle dachten. So ein Miststück.

Es war ihr gleichgültig. Sie suchte nicht seine Freundschaft. Sie wollte nicht einmal seinen Respekt. Was sie brauchte, war Entgegenkommen.

»Ich muss wissen, dass Sie zuverlässig sind. Bis jetzt bin ich nicht beeindruckt.«

Er legte den Kopf schief und lächelte, aber es war ein bemühtes Lächeln. »Tatsächlich? Und was, wenn ich es nicht bin?«

»Dann teile ich meinen Leuten mit, dass ich diese Operation abbrechen muss, weil unsere Kollegen einen Amateur geschickt haben. Die werden es dann Ihren Leuten weitersagen. Was dann passiert, weiß ich nicht, aber andererseits ist es mir auch ziemlich egal. Obwohl ich den Verdacht habe, dass Ihre Vorgesetzten bereits jetzt Vorbehalte haben, was Ihre Einstellung und Einsetzbarkeit betrifft. Und falls ich recht habe, werden sie über diese neue Entwicklung nicht gerade erfreut sein.«

Er musterte sie mit geschürzten Lippen und kalten Augen. Sobald seine Jovialität verschwunden war, wirkte er plötzlich auf ruhige Weise gefährlich. Gut.

»Sie wissen nicht das Geringste über meine Einstellung. Oder über meine Vorgesetzten. Oder mich.«

»Ich weiß nur, was ich sehen kann. Zeigen Sie mir etwas Besseres.«

Der Kellner brachte ihren Martini. Geschickt platzierte er einen ledernen Untersetzer auf dem Tisch, stellte das Glas genau in die Mitte, nickte förmlich und entfernte sich wieder.

Delilah griff nach dem Drink und dachte: Sie sind am Zug.

Ein langer Augenblick verstrich. Er sagte: »Also gut. Wie nenne ich Sie?«

»Bertha.«

Seine Augen weiteten sich leicht. »Sie sehen nicht aus wie eine Bertha.«

»Und wie nenne ich Sie?«

»Kent.«

»Sie sehen nicht aus wie ein Kent.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Wie sieht ein Kent denn aus?«

»Ich scherze nur, Kent.«

Es gab eine lange Stille, dann lachte er. »Ich wusste nicht, dass Sie das Zeug dazu haben.«

»Der Name war auch ein Scherz. Nennen Sie mich Delilah.«

Er hob sein Glas. »Also gut, Delilah. Tut mir leid, dass wir auf dem falschen Fuß angefangen haben. Cheers.«

Sie stießen an und tranken. Der Drink war herrlich – kalt, frisch und stark.

»Gut«, sagte Kent. »Dann zum Geschäftlichen. Wie viel wissen Sie?«

»Sehr wenig.«

»Tja, bedauerlicherweise gibt es auch nicht allzu viel zu erzählen. Unsere Zielperson heißt Fatima Zaheer. Britische Nationalität, pakistanische Herkunft. Alter dreißig, politische Einstellung: radikal.«

»Und sie ist von Interesse, weil …«

»Sie ist das älteste von vier Kindern – drei Brüder, von denen einer namens Imran ihr zweieiiger Zwilling ist. Die beiden jüngeren Brüder wurden vor fünf Jahren vor dem Haus der Familie bei einem amerikanischen Drohnenangriff getötet.«

Delilahs eigener Bruder, ihr einziges Geschwister, war im Libanon getötet worden, als sie sechzehn war. Ihre Eltern hatten sich nie wieder davon erholt.

»Das ist schrecklich«, hörte sie sich sagen.

Kent nickte. »Fatima und Imran lebten zu der Zeit in London. Nach dem Tod ihrer Brüder kehrten sie nach Pakistan zurück, um sich um ihre Eltern zu kümmern, die, wie Sie sich vorstellen können, über den Verlust ihrer beiden Kinder völlig verzweifelt waren. Fatima kehrte schließlich nach London zurück; Imran nicht. Es gibt Anzeichen dafür, dass er ein Anführer der Tehrik-i-Taliban in Pakistan geworden ist und sich gegenwärtig in einem der ›Stammesgebiete unter Bundesverwaltung‹ versteckt. Die Amerikaner jagen ihn seit Jahren mit Drohnen, bisher ohne Erfolg. Wir glauben, dass Fatima weiß, wo er sich befindet, oder zumindest ungewollt Hinweise auf seinen Aufenthaltsort geben könnte. Wenn wir etwas Brauchbares von ihr erfahren, leiten wir es an die Amerikaner weiter, die damit sicher etwas anfangen können.«

»Aber die TTP ist hauptsächlich ein pakistanisches Problem. Warum sind die Amerikaner so interessiert?«

»Ach so, das. Unser Mann Imran scheint etwas Besonderes zu sein. Bevor er dem Ruf des Dschihad folgte, machte er in London seinen Abschluss in Chemietechnik am University College. Danach arbeitete er ein paar Jahre als vielversprechender Forscher in einem Labor der INEOS, einem Chemiemulti mit Hauptsitz in Großbritannien. Sein Fachgebiet sind Aerosole.«

»Aerosole.«

»Ja. Ein sehr gefährliches Expertenwissen, beispielsweise in Kombination mit Anthrax. Oder Zyanid. Oder Sarin. Al-Qaida besitzt diese Materialien bekanntlich, konnte sie aber bisher nicht in eine Massenvernichtungswaffe verwandeln.«

»Dann wird er wegen seiner Kenntnisse gesucht? Aber diese Dinge kann man im Internet erfahren.«

»Manche ja, und die Hälfte davon bringt einen um. Tatsächlich sind wir der Ansicht, dass Internetinformationen für die Eliminierung eines nicht unwesentlichen Prozentsatzes unserer Gegner verantwortlich sind, weil diese Idioten sich selbst in die Luft sprengen, indem sie ihre Rohrbomben nach den Plänen basteln, die sie in dschihadistischen Blogs finden.« Er lächelte. »Es besteht sogar der Verdacht, dass die unzuverlässigen Informationen in einigen der besagten Blogs dort von gewissen westlichen Geheimdiensten eingeschleust wurden. Aber bitte zitieren Sie mich nicht dahin gehend.«

Sie war überrascht. Der Mossad führte ähnliche Operationen mit vergleichbaren Resultaten durch. »Dann befürchtet man, dass Imran qualifiziertere Studenten ausbildet?«

»Genau. Und ihnen die höheren Weihen in einigen ausgesprochen wenig hilfreichen Fachbereichen erteilt.«

Sie nippte an ihrem Martini und dachte nach. »Die beiden Brüder. Sie waren Terroristen?«

Er verlagerte sein Gewicht. »Die Amerikaner sagen Ja.«

»Bei den Amerikanern gilt jeder Mann im wehrfähigen Alter, der bei einem Drohnenangriff getötet wurde, als Terrorist.«

»Ja, ich weiß. Man muss sie für ihre Kreativität bewundern. Sie haben zweifellos eine Zählweise entwickelt, mit der es gelungen ist, die zivilen Opfer drastisch zu reduzieren.«

Er trank einen Schluck. »Aber ganz ehrlich? Nein. Keinerlei Hinweis darauf, dass es sich um Terroristen handelte, nur zwei Kinder, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Ihr Tod war eine Tragödie, nicht zuletzt, weil diese Tragödie die überlebenden Geschwister erst radikalisierte. Es ist genau wie mit diesen Gefangenen, die die Yankees irrtümlich in Guantánamo ›interniert‹ haben. Waren sie unschuldig? Ja. Und nach einem Jahrzehnt der Folter und der Käfighaft, von wie vielen durfte man da erwarten, dass sie nach der Entlassung in ihr unschuldiges Zivilleben zurückkehren? Wenn sie bei der Einlieferung keine Terroristen waren, dann mit Sicherheit bei der Entlassung.«

Es war eine vertraute Geschichte, und Delilah hasste sie. Ihre Arbeit erschien in diesem Kontext so sinnlos. Nein, nicht nur sinnlos. Schädlich. Teil einer riesenhaften, gefühllosen Maschinerie, die zu nichts fähig war, als Feuer mit Feuer zu bekämpfen, und dabei einen Flächenbrand auslöste.

»Sie sagen, Fatima wurde auf diese Weise auch radikalisiert. Inwiefern?«

»Wir glauben, dass sie eine Anwerberin ist. Wie Sie wissen, besitzt London einen beträchtlichen muslimischen Bevölkerungsanteil. Fatima ist Dichterin – und mittlerweile sogar ziemlich bekannt. Ihre Arbeiten werden im London Review of Books besprochen, und der New Yorker hat eine ihrer Kurzgeschichten veröffentlicht. Außerdem ist sie als freie Journalistin eine Art Chronistin der muslimischen Diaspora für verschiedene linke Zeitschriften wie den Guardian. Zusätzlich dazu hat das, was ihrer Familie zugestoßen ist, ihr eine Art … Status in der Gemeinde verschafft. Wir glauben, dass sie hiesige Radikale mit ihrem Bruder in Kontakt bringt, damit er sie ausbildet. Dann kehren sie nach Großbritannien oder anderswohin zurück und bilden Schläferzellen.«

»Wie ich höre, haben Sie versucht, ihr zwei Insider als potenzielle Rekruten anzubieten.«

»Ja, ohne Erfolg. Sie hat einen guten Riecher für Täuschungen. Wir hofften, ein anderer Ansatz könnte bessere Resultate liefern. Statt eines potenziellen Rekruten eine mögliche Freundin. Statt eines hiesigen Moslems eine Ausländerin. Statt eines Mannes eine Frau.«

Für Delilah klang das alles ziemlich hoffnungslos. Aber das war bei anderen Operationen, die sie mit Erfolg durchgeführt hatte, oft genauso gewesen.

»Wie nähere ich mich ihr?«

»Soviel ich weiß, sind Sie Fotografin?«

Delilah war augenblicklich auf der Hut. »Inwiefern ist das relevant?«

»Haben Ihre Leute Ihnen das nicht gesagt?«

»Was gesagt?«

»Ihre Tarnung ist, dass Sie hier einen Auftrag haben. Sie werden Fatima fotografieren. Ist das … ein Problem?«

Es war nicht direkt ein Problem, aber es gefiel ihr nicht. Sie war tatsächlich Fotografin und arbeitete freischaffend für verschiedene Magazine, hauptsächlich im Modebereich – schließlich musste eine Undercover-Legende echt sein, wenn sie etwas taugen sollte. Aber es war eine Sache, diese Legende als Hintergrundstory bei einem Mann zu verwenden, mit dem sie sich traf und den sie aushorchte. Eine ganz andere aber, sie als faktische Basis für die Anbahnung der Beziehung zur Zielperson zu benutzen. Bei dieser Operation exponierten sie sie wirklich extrem. Das war wohl ihr Recht, aber das bedeutete nicht, dass es ihr gefallen musste. Oder dass sie es infrage stellen konnte.

»Sie sagen, sie hat scharfe Instinkte. Meinen Sie nicht, dass sie meine Geschichte überprüfen wird? Wie ausgefeilt ist meine Legende?«

»Soweit ich weiß, ist es nicht nur eine Legende – der Auftrag ist echt. Anscheinend steht der Redakteur, der Sie angeheuert hat, auf der CIA-Lohnliste.« Er schob die Ausgabe der Granta beiseite – diskret, wie sie erfreut feststellte –, und ein USB-Stick wurde sichtbar. »Man sagte mir, dass Sie alle Details hierauf finden.«

Er schien aus der Schule zu plaudern. Das missfiel ihr, aber unwillkürlich wurde sie neugierig. »Ein CIA-Mitarbeiter?«, fragte sie, während sie den Speicherstick einsteckte.

»Es läuft alles ziemlich korrekt ab, genau genommen. Jedenfalls fast. Wenn die Regierung oder eine Firma Meldungen über ein bestimmtes Thema oder einen bestimmten Ort platzieren will, legt sie die Idee ihren Kontakten bei den Medien vor und bietet an, die Story zu finanzieren, wenn der Redakteur zustimmt. Völlig ohne Druck natürlich. Aber die Finanzierung reduziert das Risiko, eine Story zu bringen, auf null. Wenn das Thema also nicht völlig uninteressant ist, beißt der Redakteur an. Es ist wirklich nichts Besonderes daran – nur eine Abart des üblichen Arrangements mit den Mainstreammedien: einen direkten Draht im Tausch gegen wohlwollende Berichterstattung.«

»Trotzdem, ein Austausch von Gefälligkeiten ist das eine. Barzahlung etwas ganz anderes.«

»Ach, ich weiß nicht. Es gibt schließlich alle möglichen Arten von Prostitution. Nicht bei allen geht es um Bargeld, wenn man es recht betrachtet.«

Delilah fragte sich, wie genau er über ihre Rolle beim Mossad Bescheid wusste und ob er absichtlich auf Prostitution Bezug genommen hatte.

»Wie auch immer«, fuhr er fort. »Ich bin sicher, die meisten der betreffenden Redakteure glauben, dass sie mit der Entgegennahme von Gefälligkeiten und Zahlungen nicht einmal ihre journalistische Integrität und Unabhängigkeit infrage stellen. Wer weiß? Vielleicht tun sie es ja gar nicht. Am Ende verrichten wir alle Gottes Werk.«

Sie konnte nicht beurteilen, ob er das ernst oder sarkastisch meinte. Oder ob er den Unterschied überhaupt kannte. »Wie stelle ich den Kontakt her?«

»Das sollte kein Problem sein. Der amerikanische Verteidigungsminister ist morgen zu einem Treffen mit dem Premierminister in der Stadt. Zu seiner Begrüßung wird es eine Demonstration gegen US-Drohnenangriffe geben. Fatima gehört zu den angekündigten Rednern. Details finden Sie auf dem Speicherstick. Außerdem auch auf der Website der Stop the War Coalition, des Bündnisses Stoppt den Krieg, und auf verschiedenen Facebook-Seiten, die zu der Demonstration aufrufen.«

»Eine Terroristin bei einer Demonstration gegen Drohnen?«

»Ja, warum nicht? Wenn man es so recht bedenkt, ist Widerstand innerhalb der legalen Grenzen ein geeignetes Mittel zur Verschleierung der extremeren Versionen.«

»Wo findet sie statt?«

»In Whitehall, zwischen Downing Street und dem Parlament. Mittags. Sie sind begierig auf Publicity, wissen Sie? Es sollte für Sie die ideale Gelegenheit sein.«

»Ein Fotoshooting dauert normalerweise ein paar Stunden. Vielleicht einen Tag. Erwarten Sie wirklich, dass ich in diesem Zeitrahmen etwas Brauchbares herausfinde?«

»Ich erwarte gar nichts. Die Chefetage hat diese Operation entwickelt. Sie und ich, wir sind nur dazu da, das Beste aus dem zu machen, was denen eingefallen ist. Und an Ihrer Stelle? Ich würde die Zeit, in der ich sie fotografiere – wenn es überhaupt so weit kommt –, dazu nutzen, mich mit ihr anzufreunden. Machen Sie aus dem Auftrag mehr als eine Fotosession. Vielleicht etwas wie ›Ein Monat im Leben einer Londoner Friedensaktivistin‹. Sie sind ziemlich unwiderstehlich, wissen Sie. Ich vermute, das ist der Grund, warum man Sie ausgewählt hat. Hängen Sie den richtigen Wurm an den Haken, und sie beißt an.« Er lächelte. »Ich würde es bestimmt.«

Sein Vorschlag klang vernünftig. Sie ignorierte den letzten Teil, weil er es nur darauf anlegte, dass sie den Ball annahm und zurückspielte.

»Ich muss wissen, was Sie über ihre Beziehung zu ihrem Bruder herausgefunden haben. Was glauben Sie, wie sie Kontakt halten? Wie schickt sie die Leute zu ihm?«

»Verzeihung, aber warum?«

»Wie soll ich sonst wissen, ob das, was ich beobachte, überhaupt relevant ist? Ich brauche einen Bezugsrahmen.«

»Ich fürchte, das Wenige, das wir wissen, stammt aus technischen Überwachungsquellen. Die Grundidee ist, dass Sie und ich uns regelmäßig treffen und austauschen. Wir werden alles durchgehen, was Sie in Erfahrung gebracht haben. Dann können wir Ihre persönlichen Beobachtungen mit dem abgleichen, was meine Leute bereits wissen.«

Sie gab sich nicht die Mühe zu antworten. Es war zwar nichts Neues, aber trotzdem widerte die Art sie an, wie angeblich verbündete Geheimdienste eifersüchtig darauf bedacht waren, einander Informationen vorzuenthalten, um die Chancen auf den eigenen Erfolg zu maximieren.

Er musste erraten haben, was sie dachte, denn er sagte: »Hören Sie, ich weiß, dass das idiotisch ist. Befehl ist Befehl und so weiter, aber im Lauf unserer Besprechungen werde ich Ihnen einige sehr vielsagende Fragen stellen müssen. Es wäre ja nicht meine Schuld, wenn Sie aus den Fragen genau ableiten könnten, über welche Informationen meine Organisation bereits verfügt. Nur als Beispiel: Ich würde Sie ganz sicher fragen, ob Sie Fatima jemals ein anderes Telefon als ihr eigenes benutzen haben sehen. Ein separates Handy etwa. Oder eines, das sie sich von einem Freund ausleiht. Oder eine öffentliche Telefonzelle. In Ordnung?«

Sie nickte. Es war noch zu früh, um zu beurteilen, ob er wirklich die Absicht hatte, bürokratische Hürden zu umgehen, oder ob er einfach nur so tat, damit sie ihm vertraute und das Gefühl hatte, sie wären Verbündete gegen einen gemeinsamen Feind. Oder vielleicht auch beides.

»Eines noch«, sagte er. »Nur als Randbemerkung, wirklich, denn ich dürfte Ihnen auf keinen Fall sagen, wie wichtig das ist. Sie besitzt einen Laptop.«

»Tut das nicht jeder?«

»Mehr oder weniger, ja. Der von Fatima ist ein MacBook Air. Er ist verschlüsselt. Sollte sie ihn in Ihrer Gegenwart benutzen, und Sie könnten einen schnellen Blick auf das Passwort erhaschen … in der Art. Aber denken Sie daran, das haben Sie nicht von mir.«

Sie widerstand der Versuchung, die Augen zu verdrehen. Wie stark wollten diese Leute sich eigentlich abschotten? So sehr, dass es den Erfolg der Operation infrage stellte? Anscheinend ja.

»Wie halten wir Verbindung?«, fragte sie.

»Meine Handynummer ist auf dem USB-Stick. Prägen Sie sie sich ein, und rufen Sie mich jederzeit von einem öffentlichen Telefon aus an. Geben Sie mir Ihre, und ich mache es genauso. So kann jeder von uns den anderen kontaktieren, ohne dass eine elektronische Spur zwischen uns entsteht. Auf dem USB-Stick sind acht verschiedene Treffpunkte aufgelistet. Natürlich durchnummeriert von eins bis acht. Die ersten fünf sind für persönliche Treffen gedacht, die letzten drei tote Briefkästen. Wenn Sie mich anrufen, nennen Sie einfach die Nummer, die sie benutzen wollen.«

Sie nippte an ihrem Martini. »Alles Hotelbars?«

Er lächelte. »Die meisten schon, zumindest für die persönlichen Begegnungen. Es gibt ein paar recht gute Hotelbars in London, wissen Sie. Es wäre nur natürlich, wenn ich Sie, nachdem ich heute Abend das Vergnügen hatte, Sie kennenlernen zu dürfen, wiedersehen möchte. Ihr Einverständnis vorausgesetzt. Und natürlich würde ich versuchen, Sie zu beeindrucken, indem ich Sie nur an die besten Plätze ausführe. Wir Finanzmenschen sind da ausgesprochen berechenbar.«

»Ach so, wir gehen ab heute miteinander aus, meinen Sie das?«

Er lächelte wieder. »Wie schon gesagt, unsichtbar in der Masse.«

»Ich finde, Diskretion ist normalerweise die sicherere Methode.«

Er sah ihr in die Augen, und sein Lächeln ließ nicht nach. »Oh, ich kann sehr diskret sein.«

Seine Souveränität, die bisweilen an sexuelle Arroganz zu grenzen schien, zog sie an. Und unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht gerne auf eine Affäre eingelassen, um auf andere Gedanken zu kommen. Eine kurze, heiße Geschichte, die den Schmerz betäubt, nachdem das mit John passiert war.

Aber im Augenblick erschien ihr das unpassend und unprofessionell. Sie spürte, wenn sie etwas mit Kent anfing, würde es das Gefühl des Verlustes nur verschlimmern, statt ihr zu helfen, John zu vergessen.

Sie trank ihren Martini aus. »Danke für den Drink, Kent.«

Er nickte. Vielleicht verbarg er seine Enttäuschung gut, vielleicht sagte er sich, dass es noch andere Gelegenheiten geben würde. »Nun, da wir also bereits wieder in unsere Rollen geschlüpft sind, wäre es für mich nur normal, Sie um Ihre Telefonnummer zu bitten. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, solange sie in London sind.«

»Haben Sie etwas zu schreiben?«

Er brachte einen Montblanc-Füller aus seiner Brusttasche zum Vorschein und reichte ihn ihr. Sie nahm seine Hand und schrieb ihm die Nummer säuberlich auf die Handfläche. Sie bemerkte, dass seine Fingernägel manikürt waren – vielleicht ein Zugeständnis an seine Tarnung als Finanzmann. Doch Knöchel und Handflächen waren rau. Sie hielt seine Hand eine Sekunde länger fest als unbedingt nötig. Sie wusste, dass Enttäuschung eine kurzlebige Emotion ist. Die Hoffnung hingegen konnte ausgesprochen lang anhalten.

»Lernen Sie sie auswendig«, sagte sie. »Und waschen Sie sie ab, wenn Sie fertig sind.«

Er lächelte. »Ich werde sie nur mit großem Bedauern verschwinden sehen. Also gut, hören Sie zu. Ich weiß, dass wir in London sind. Meinem Hinterhof sozusagen. Aber Sie dürfen nie vergessen, dass die Netzwerke, gegen die wir antreten, sehr real sind und zum größten Teil im Verborgenen liegen. Wenn alles gut läuft und Sie mehr Zeit mit Fatima verbringen, wird man Sie unter die Lupe nehmen. Und zwar genau. Wenn die etwas bemerken, was ihnen missfällt, raten sie Fatima möglicherweise lediglich, den Kontakt zu Ihnen zu annullieren. Sie könnten aber auch zu dem Schluss kommen, dass Sie annulliert werden müssen. Verstehen Sie?«

Sie sah ihn verärgert an. »Kent? Ich habe schon solo in Situationen operiert, in denen Sie nach dem einfühlsamen Schulleiter geplärrt hätten, der Ihnen damals im Internat die Tränen abgewischt hat, wenn sie Heimweh hatten.«

Sie erwartete, eine gewisse Befriedigung darüber zu sehen, dass er mit der Andeutung, sie könne nicht auf sich selbst aufpassen, einen Nerv getroffen hatte. Aber er meinte lediglich: »In Ordnung. Es ist nur … ich wollte es gesagt haben, auch wenn ich sicher bin, dass es unnötig war.«

Sie beobachtete ihn und hatte das Gefühl, dass seine Sorge echt war. Gleichzeitig befürchtete sie aber, manipuliert zu werden. »Ich komme schon zurecht.«

Er trank seinen Martini aus. »Gut. Ach, und nur damit Sie Bescheid wissen. Der Schulleiter? Der war alles andere als einfühlsam.«

star

Am nächsten Morgen schlenderte Delilah vom Bahnhof Charing Cross aus die Whitehall Street entlang. Es war wieder ein schöner Frühsommertag. Über den sanften blauen Himmel zogen langsam ein paar Wolken, und eine warme Sonne glich die kalte Brise aus. Sie trug passend zum Wetter zurückhaltenden Fotografenschick: künstlich gealterte, hautenge Jeans, Vintage-Seidentop mit hochgekrempelten Ärmeln, in Blau, zur Betonung ihrer Augen, dazu leichte Doc-Martens-Stiefel. Ihre Kameratasche und den größten Teil der Ausrüstung hatte sie in der Wohnung zurückgelassen – schließlich war sie nicht bei der Arbeit –, aber sie hatte sich die Nikon D4 mit 300-Millimeter-Telezoom um den Hals gehängt. Der Look war cool und unprätentiös – nichts, von dem Fatima sich bedroht oder herausgefordert fühlen konnte, sondern etwas, das in seiner lässigen Einfachheit authentisch und faszinierend wirkte.

Die Protestaktion sollte mittags beginnen, und es war bereits 11.45 Uhr, doch sie sah keine Demonstranten – nur Touristen, die auf dem Weg nach Westminster Abbey und zum Big Ben zu sein schienen, und Spaziergänger, die das ungewöhnlich schöne Wetter genossen. Es gab viel Polizei, und sie entdeckte auch ein paar Sicherheitsbeamte in Zivil, aber das war bei einem Besuch des amerikanischen Verteidigungsministers nicht anders zu erwarten. Nichts davon wirkte wie eine Vorsichtsmaßnahme gegen eine Demonstration, die außer Kontrolle geraten könnte.

Sie ging weiter und checkte ihre Umgebung. Die Geräusche klangen gedämpft – Lastwagen, Gespräche, eine entfernte Sirene. Sie spürte keinerlei Anzeichen von Anspannung oder bevorstehender Konfrontation in der Luft liegen. Die Downing Street, in der der Premierminister wohnte, war natürlich mit einem hohen Eisenzaun abgeriegelt, doch die niedrigen, soliden Gebäude und breiten Gehwege strahlten nichts von den Barrikaden und Bollwerken und dem allgemeinen Gefühl von Belagerungszustand aus, der inzwischen charakteristisch war für Washington und das Weiße Haus. Der Verkehr floss ganz normal vorbei. Touristen glotzten durch die Gitterstäbe. Nirgendwo Sturmgewehre oder Panzerwesten.

Südlich der Downing Street wurde die Menge dichter, und viele der Leute schienen südostasiatischer und arabischer Abstammung zu sein, obwohl sich zwischen ihnen auch etliche weiße Hipstertypen tummelten. Delilah sah zusammengerollte Transparente und einige T-Shirts mit pinkfarbenen Fadenkreuzen auf Brust und Rücken. Sie schätzte die Menge auf etwa zweihundert Leute. Wenn das die Demonstration war, wirkte sie nicht übermäßig beeindruckend.

Gleich südlich der Absperrung zur Downing Street sah sie einen Mann, vermutlich ein Pakistani – nach seiner dunklen Haut, dem Schnurrbart und der ausladenden Gestik zu schließen –, der mit einem bewaffneten Polizisten in Uniform palaverte. Der Pakistani trug eine Krawatte und ein schlecht sitzendes Jackett, und sie fragte sich, ob er wohl eine Art Demonstrationsführer war. Die Diskussion hatte etwas von einer Verhandlung an sich, wobei der Pakistani Frustration verströmte und der Polizist eine ruhige, unerschütterliche Gelassenheit. Nach einer Weile ließ der Pakistani die Schultern hängen. Er wandte sich ab und ging rasch ein Stück weiter, wo er mit zwei anderen Pakistanis konferierte, die ähnlich gekleidet waren wie er. Sie nickten, warfen dem Polizisten ärgerliche Blicke zu und begannen dann, wie wild auf ihren Mobiltelefonen zu schreiben.

Delilah verstand. Die Demonstranten hatten die Erlaubnis erhalten, ihre Protestaktion zwischen der Downing Street und dem Parlament zu veranstalten, wo der amerikanische Verteidigungsminister sie nicht übersehen konnte. Aber in letzter Minute, zweifellos unter Berufung auf Sicherheitsbedenken, hatte die Polizei ihnen mitgeteilt, dass sie sie verlegen mussten. Die Genehmigung war nicht vollständig widerrufen worden, denn das hätte in den Abendnachrichten nach einer polizeistaatlichen Maßnahme geklungen. Außerdem hätte unter den Protestierenden Unruhe ausbrechen können, wenn sie nichts mehr zu verlieren hatten. Stattdessen gab die Polizei ihnen eine Alternative: Veranstaltet eure Demonstration, wo wir es euch sagen, sonst werdet ihr verhaftet, und es gibt überhaupt keine Aktion. Der wahre Zweck der Übung war natürlich, die Organisatoren mürbe zu machen und so zu entmutigen, dass sie Zeit verschwendeten und den Eindruck erweckten, sie wären planlose, konfuse Verlierer. Delilahs eigene Regierung benutzte diese Taktik routinemäßig gegen Peace Now und andere israelische Protestgruppen. Sie wirkte fast immer und schien auch hier ihren Zweck zu erfüllen.

Doch diese Gruppe musste außergewöhnlich gut organisiert sein, denn keine Minute, nachdem die drei Pakistanis ihre SMS abgeschickt hatten, begannen die Demonstranten, sich mit Macht auf der Whitehall Street nach Süden zu bewegen. Alles verlief zügig und geordnet. Delilah fragte sich, ob die Anführer eine Art Textcode verwendeten, auf den die Menge sich verlassen konnte – sonst wäre es für die Regierung ein Leichtes gewesen, falsche Mitteilungen zu versenden, um Verwirrung und Uneinigkeit zu stiften. Das war eine weitere Taktik, von der sie wusste, dass sie in Israel regelmäßig eingesetzt wurde und, wie sie vermutete, auch gegen die amerikanische Occupy-Bewegung. Wenn diese Leute schlau genug waren, einen Code zu verwenden, waren sie vermutlich auch clever genug, ihn nur einmal zu benutzen. Denn danach würde die Regierung, die ihre Telefone entweder in Kooperation mit den Telefongesellschaften oder durch direkte Infiltration abhörte, ihn ebenfalls kennen.

Delilah folgte den Demonstranten und sah, dass sie sich auf dem Parliament Square neu formierten. Ihre erste Schätzung hatte zu niedrig gelegen, und sie korrigierte sich auf insgesamt etwa dreihundert. Trotzdem keine große Beteiligung, besonders bei diesem Wetter. Die Pakistanis und Araber waren in der Mehrzahl mittleren Alters und konservativ gekleidet. Die Weißen waren jünger und gaben Stirnbändern, Gesichtsbehaarung und Piercings den Vorzug. Die Pakistanis hielten Schilder in die Höhe, auf denen stand: Drohnen unterscheiden nicht, Stoppt den Kindermord und Verhaftet die Kriegsverbrecher. Den weißen Kids schien Aktionskunst mehr zu liegen. Sie warfen sich auf die Straße, und ihre Kameraden zeichneten wie an Tatorten die Umrisse ihrer Körper mit Kreide nach. Die Polizei ließ sie gewähren, als müsste man einen solchen zusammengewürfelten Haufen nicht besonders ernst nehmen. Die ganze Veranstaltung wirkte sinnlos. Würden der britische Premierminister und der amerikanische Verteidigungsminister sie überhaupt wahrnehmen, ganz zu schweigen von beachten? Es war ein Wunder, dass diese Leute sich überhaupt die Mühe machten und dass nicht mehr von ihnen selbst zu Terroristen wurden.

Sie schoss ein paar Aufnahmen – Routine für jeden Berufsfotografen mit einem Funken Ehrgeiz. Eine Weile lang skandierten die Demonstranten: »So sieht eure Demokratie aus« und »Wem dient ihr, wen beschützt ihr?« Dann folgten ein paar ernsthafte Reden und Versuche, mit den paar Reportern zu sprechen, die sich die Mühe gemacht hatten zu kommen. Die Menge wurde nach und nach größer, und nach einer Stunde schätzte Delilah sie auf gut über tausend Personen. Auch die Atmosphäre hatte sich verändert – angespannter, erwartungsvoller, irgendwie entschlossener.

Und dann sah sie, warum. Eine Frau mit vollen schwarzen Haaren, die ihr bis auf die Schultern fielen und in perfektem Kontrast standen zu ihrem atemberaubenden aquamarinblauen, halblangen Camilla-Olson-Kleid, schob sich durch die Menge nach vorn. Das war natürlich Fatima, und ob durch Zufall oder mit Absicht, sie war genau in dem Augenblick erschienen, als die Menge für ihre Anwesenheit besonders empfänglich war.

Sie bewegte sich zuversichtlich und ohne Hast, wechselte hier ein paar Worte, tauschte dort ein paar Wangenküsse, und in ihrem Kielwasser schien eine Welle der Erregung durch die Menge zu laufen. Jemand reichte ihr ein Megafon, und eine Apfelsinenkiste wurde umgedreht auf den Boden gestellt. Sie stieg hinauf und wandte sich der Menge zu, die ihr zujubelte und applaudierte. Sie wartete mit einem Lächeln, das gleichzeitig strahlend und seltsam traurig war, und der Jubel verdoppelte sich. Sie besaß nicht nur große Schönheit, was selbst aus der Entfernung unübersehbar war, sie wusste offenbar auch, wie man eine Menschenmenge dirigiert, ihre Leidenschaften widerspiegelt und sie auf diese Weise verstärkt und zurückwirft.

Delilah hob die Nikon, zoomte heran und stellte die Schärfe ein. In der Nahaufnahme sah Fatima noch umwerfender aus. Sie hatte volle, sinnliche Lippen, makellose Haut mit einem Bernsteinton und Augen, die so dunkel waren wie ihre Haare. Ihr kräftiges Kinn unterstrich ihre Weiblichkeit noch. Sie sah jünger aus als die dreißig Jahre, die in ihrer Akte standen, besaß aber unglaublich viel Haltung und Stil – für Delilah Anzeichen von beachtlicher Lebenserfahrung –, eine Art Gegengewicht für ihre ansonsten sehr jugendliche Erscheinung. Der einzige Makel waren ihre dunklen Augenringe. Sie war ansonsten perfekt geschminkt, und wenn die Augenringe trotz eines erstklassigen Concealers noch sichtbar waren, mussten sie ziemlich ausgeprägt sein. Anzeichen für zu viel Kaffeegenuss? Schlaflosigkeit? Schlechtes Gewissen?

Delilah musste zugeben, dass die Frau nicht aussah wie eine Terroristin. Aber ihr war klar, dass es ein gefährlicher Irrtum war, sich eine bestimmte Vorstellung davon zu machen, wie ein Terrorist aussehen sollte. Denken Sie immer daran, hatte man ihr im Unterricht über die Psychologie des Terrorismus eingeschärft, das sind keine Monster. Es sind Menschen. Sie dürfen sich von ihrem äußeren Erscheinungsbild ebenso wenig täuschen lassen wie von der glatten Fassade eines Serienkillers. Schließlich war Eichmann ein bebrillter Buchhalter mit schütteren Haaren.

Nach ein paar Sekunden hob Fatima das Megafon an die Lippen. Das Publikum verstummte sofort.

»Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister«, begann sie, und das Megafon trug ihre Stimme bis in die hintersten Reihen, »wenn eine von einer amerikanischen Drohne abgefeuerte Rakete ein Kind in einer Stammesgemeinschaft tötet, dann zieht der Vater gegen Sie in den Krieg. Daran ist nicht zu rütteln. Das hat nichts zu tun mit al-Qaida.«

Trotz der Verzerrung durch den Verstärker konnte Delilah hören, dass die Stimme feminin klang und der Ton selbstsicher. Der Akzent war internationales Englisch, irgendwo zwischen britischer Präzision und amerikanischer Monotonie.

»Mit diesen grausamen, feigen Waffen schaffen Sie sich Ihre eigenen Feinde. Feinde, deren Antrieb keine Ideologie ist, sondern das universelle, menschliche Gefühl der Verzweiflung und der Wunsch nach Rache. Und wenn Sie Beerdigungen und Rettungsaktionen bombardieren, vervielfältigen sie den Hass noch um ein Tausendfaches. Ja, unter den Toten mögen Militante sein, aber das unvermeidliche Sterben so vieler Unschuldiger schafft eine neue Generation von Anführern, die spontan aus wütender Vergeltung für diese brutalen Angriffe auf ihre Territorien, ihre Stämme, ihre Familien hervorgehen. Sie versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen, Herr Verteidigungsminister, und indem Sie das tun, erzeugen Sie einen Flächenbrand, der mit jedem Angriff, den Sie befehlen, heißer wütet und sich ausbreitet.«

Die Rhetorik war vielleicht ein wenig theatralisch, aber im Großen und Ganzen konnte Delilah nichts dagegen einwenden. Sie machte sich keine Illusionen darüber, wie viele Probleme ihres Landes und des Westens hausgemacht waren. Aber sie war keine Politikerin. Ihre Aufgabe bestand darin, zu verhindern, dass die Feuersbrunst noch weiter außer Kontrolle geriet, egal, wie sehr die Politiker sie schürten. Es war ein trostloser, undankbarer und letzten Endes vielleicht fruchtloser Job. Doch was sonst konnte sie tun – achselzuckend über die Möglichkeit hinweggehen, dass einer der Menschen, die Fatima beschrieb – wie gerechtfertigt seine Empörung auch sein mochte –, ein Aerosol mit Sarin in einem U-Bahnhof freisetzte, in einem Einkaufszentrum oder in einer Schule? Die Politiker stellten Menschen wie Delilah vor eine nie enden wollende Reihe von Faits accomplis. Aber vielleicht sorgten ja gerade Delilah und ihresgleichen dafür, dass sie so handeln konnten. Möglicherweise musste erst jemand wie sie kommen und den Politikern sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren, musste streiken, sich weigern, die Feuer zu löschen, damit sie endlich aus ihrem Stumpfsinn aufwachten. Doch in der Zwischenzeit kostete das mit Sicherheit noch mehr, viel mehr Menschen das Leben.

Sie seufzte. Wenn Rain das nur begreifen könnte, dann würde er vielleicht auch verstehen, warum sie nicht einfach aussteigen konnte. Jedenfalls noch nicht. Wie sollte sie in dem Wissen weiterleben, dass sie Massaker und Katastrophen – was immer deren Ursache war – hätte verhindern können, und stattdessen untätig daneben gestanden hatte?

Fatima sprach zwanzig Minuten lang und zielte mit ihrem Appell auf Amerikas ureigenste Werte und Interessen ab. Immer wieder wurde sie von Applaus unterbrochen. Delilah beobachtete sie durch das Objektiv und schoss in regelmäßigen Abständen Fotos. Sie mochte die Distanz, die die Kamera ihr gestattete. Manchmal brauchte sie das.

Fatima schloss mit den Worten: »Einer der größten aller Amerikaner, Martin Luther King, hat das verstanden. King sagte: ›Dunkelheit kann Dunkelheit nicht vertreiben; nur Licht kann das. Hass kann Hass nicht vertreiben; nur Liebe kann das.‹ Bitte, Herr Verteidigungsminister, lernen Sie aus diesen Worten. Wenden Sie sich ab von der Dunkelheit. Wenden Sie sich ab vom Hass. Bevor wir alle davon verzehrt werden.«

Sie stieg von der Kiste, umflutet von tosendem Applaus und Bravorufen. Die TV-Reporterin eilte mit dem Mikrofon in der Hand und ihrem Kameramann im Schlepptau heran. Delilah fiel auf, dass Fatima nicht ein einziges Mal ihre toten Brüder erwähnt hatte. Sicher wusste ihr Publikum davon, also bezweckte sie damit vielleicht, dass ihre eigentliche Zielgruppe, die der harten Männer, die nicht leidenschaftlich, sondern kalt und geduldig hassten, diese Zurückhaltung würdigte und in ihr ein Band sah, das auf geteiltem, aber unausgesprochenem Schmerz beruhte. Ein Band, das sie erst zu ihr und dann zu ihrem Bruder und der Möglichkeit führen würde, ihren Hass endlich ekstatisch auszuleben. Denn ist es nicht so, dass der Meister erscheint, wenn der Schüler bereit ist?

Delilah begann sich durch die Menge zu schlängeln. Sie war sich bewusst, dass Fatima der Feind war. Aber diese Erkenntnis lag tief in ihrem Kopf vergraben, zusammen mit allen Details ihrer wahren Identität und ihrer Loyalitäten, abgeschirmt vom Bewusstsein wie ein eigenständiger, verborgener Maschinencode ohne gegenwärtige Relevanz für den Ablauf des externen Programms. Sie war eine Fotografin, die hier einen Auftrag zu erledigen hatte. Fatima bot sich als Thema für eine faszinierende Story an. Sie hoffte, dass sich alles positiv entwickelte – und das Magazin zufrieden war.

Fatima sprach immer noch mit der Reporterin, die nicht viel mehr zu tun schien, als sie zu bitten, das zu wiederholen, was sie gerade durchs Megafon gesagt hatte. Delilah wartete an der Seite, im Bereich von Fatimas peripherem Gesichtsfeld, und freute sich, dass sie ihren Blick kurz auf sich lenkte. Als die Reporterin mit ihrem Kameramann abzog, musste Delilah nur einen Schritt vortreten. Fatima wandte sich ihr bereits zu.

»Vielen Dank für Ihre Ansprache«, sagte Delilah und streckte die Hand aus. »Sie war sehr schön und bewegend. Ich hoffe, der Verteidigungsminister hat sie gehört.«

Fatima schüttelte Delilahs ausgestreckte Hand mit festem, zuversichtlichem Griff. In einem anderen Leben, dachte Delilah, hätte diese Frau Model sein können. Oder ein Filmstar. Natürlich wusste sie, dass die Leute von ihr das Gleiche dachten. Schönheit war ein unfairer Vorteil – ohne sie hätte Fatima sie jetzt möglicherweise ignoriert oder gar nicht erst wahrgenommen.

»Vielleicht hat er sie vernommen«, sagte Fatima. »Aber sie hören niemals zu.«

Delilah erkannte einen Ansatzpunkt. »Vielleicht kann ich da behilflich sein. Mit meinen bescheidenen Mitteln.«

Fatima legte den Kopf schief. »Behilflich …?«

Delilah hielt bereits eine Visitenkarte in der Hand und reichte sie Fatima. Sie stellte sich vor und umriss rasch die Tarngeschichte, die sie auf Kents USB-Stick vorgefunden hatte – ein Modemagazin aus Paris hatte sie hergeschickt, um Fatima zu fotografieren. Es sollte ein ziemlich ausführlicher Bericht sein, und sie wollte dafür sorgen, dass es die Titelstory der Ausgabe wurde. Die meisten Leute hätten sich um die Publicity gerissen, die Delilah damit anbot, und sie hatte erwartet, dass Fatima den Köder schlucken würde. Daher war sie überrascht, als sie sagte: »Ich fühle mich geschmeichelt und kann nicht leugnen, dass ich Mode liebe – es ist eine Schwäche, gegen die ich nicht ankomme. Aber zu sehr damit assoziiert zu werden ist gefährlich für mich – meine Feinde benutzen so etwas nur allzu gern, um mich als leichtfertig hinzustellen.«

Delilah improvisierte und meinte: »Dann vergessen wird die Mode. Lassen Sie mich helfen, Ihre Botschaft zu vermitteln. Ich teile Ihre Ansicht und würde die Gelegenheit begrüßen, mehr Menschen auf Ihre Arbeit aufmerksam zu machen und auf die Ungerechtigkeit dessen, was Amerika mit seinen Drohnen in Pakistan anrichtet.«

Fatima runzelte kurz die Stirn, als wäre sie ratlos. »Sie … und Ihre Redaktion hätte nichts dagegen?«

Delilah lächelte Fatima verschwörerisch an und sah ihr direkt in die Augen. »Doch. Jede Menge. Aber für mich werden sie es tun. Ein Hintergrundinterview mit der richtigen Sorte von Fotoshooting. Das wäre perfekt.«

Fatima erwiderte ihr Lächeln. Vielleicht fragte sie sich, wie Delilah dazu kam, so viel Macht über ihre Redakteure zu besitzen, zögerte aber, sie zu fragen. »Was bräuchten Sie dazu von mir?«

»Einen Nachmittag Ihrer Zeit. Oder einen Tag. Oder so viel Sie eben erübrigen können. Sie erzählen mir, was Sie sagen wollen, und ich halte es fest. Ich habe sowieso die Nase voll von Laufstegen. Ich will etwas … Bedeutungsvolleres machen.«

Fatima warf einen Blick auf die Geschäftskarte. »Und hier kann ich Sie erreichen?«

»Ja. Und noch etwas.« Delilah öffnete die Kamera, nahm die SD-Karte heraus und gab sie Fatima. Kleine Geschenke können nie schaden – die meisten Leute haben das Gefühl, sie erwidern zu müssen. »Es sind ein paar gute Aufnahmen von Ihnen dabei. Sie wirken ernsthaft und leidenschaftlich und sprechen vor einer großen Menschenmenge. Natürlich sehen Sie auch in Camilla Olson fabelhaft aus, aber ich denke, Sie werden feststellen, dass das nebensächlich ist.«

Wenn Fatima irgendwelche Zweifel an Delilahs Glaubwürdigkeit als Modefotografin gehabt haben sollte, würden sie durch die Erwähnung ihres Designerkleides verpuffen.

Fatima lachte. »Und wann wollen wir es machen?«

»Jetzt. Morgen. Wann immer es Ihnen recht ist. Ich bin auch noch aus anderen Gründen hier, und wenn ich auf Kosten des Magazins noch ein wenig länger in London bleiben muss, ist das nicht gerade tragisch.«

»Wo wohnen Sie?«

»Ich habe eine Wohnung gemietet. Notting Hill.«

»Die sind sehr großzügig bei Ihrem Magazin.«

»Sie behandeln mich ganz gut. Aber diesmal war eine Wohnung einfach billiger als ein Hotel. Ein gutes Hotel jedenfalls. Wo können wir uns treffen?«

Fatima zögerte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es gibt da ein Café, das ich mag – Notes, in der St Martin’s Lane, gleich beim Coliseum Theater. Kennen Sie es?«

»Nein, aber es dürfte nicht schwer zu finden sein.«

»Ich gehe zum Schreiben dorthin. Wir können uns unterhalten, Kaffee trinken, und Sie fotografieren mich bei der Arbeit. Wie wäre das?«

»Jedenfalls ein guter Anfang.«

»Gut. Ich bin morgen früh ab zehn Uhr dort.«

Erst nachdem sie sich zum Abschied die Hände geschüttelt hatten und sie schon ein Stück weit entfernt war, gestattete Delilah sich einen diskreten Augenblick des Triumphs. Sicher, eine Verabredung war nicht viel, und die Hoffnung, diese Operation könnte brauchbare Resultate liefern, war kaum größer als zu Beginn. Aber es ist immer befriedigend, wenn die Beute am Köder knabbert. Das bringt sie dem Haken näher.

Sie überlegte, ob sie Kent anrufen sollte – laut Protokoll musste sie ihn verständigen, wenn sie Erstkontakt zur Zielperson hergestellt hatte. Aber sie entschied sich dagegen. Sie sah zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Sinn in einem Treffen, und Kent, der inzwischen zweifellos erkannt hatte, dass sie keine Sklavin diplomatischer Höflichkeit war, könnte sich fragen, warum sie sich die Mühe machte. Vielleicht kam er dabei zu dem Schluss, dass ihr Interesse persönlicher Natur war, und versuchte, seine Theorie zu verifizieren. Das wollte sie nicht. Jedenfalls noch nicht.

star

Delilah traf kurz nach zehn am nächsten Morgen im Notes ein, gekleidet in bequeme Jeans und einen alten marineblauen Pulli mit V-Ausschnitt, die Kamera über die Schulter geschlungen. Sie hatte die vergangenen neunzig Minuten damit verbracht, einen Gegenaufklärungsgang zu machen, bis sie am Ziel, dem Bahnhof Charing Cross, sicher war, nicht verfolgt zu werden. Im Lauf ihrer Karriere hatte sie selten den Luxus genossen, eine mögliche Beschattung durch offensichtliche Techniken aufdecken zu können. Stattdessen musste sie ihre Gegenmaßnahmen als normales Alltagsverhalten tarnen, damit ein gegnerisches Team nicht durch bloße Beobachtung erkannte, dass sie etwas anderes war als ausgebildete Modefotografin. Allerdings musste sie diesmal bereits umsichtiger vorgehen als bei ihrer Ankunft. Sie hatte Kontakt hergestellt und würde eine Menge Zeit mit Fatima verbringen, wenn alles gut lief. Und je mehr Zeit sie mit ihr zusammen war, desto interessierter würden Fatimas Spießgesellen sein, und desto genauer würden sie ihre neue Bekanntschaft unter die Lupe nehmen wollen.

Sie betrat die St. Martin‹s Lane von Süden aus. Wenn jemand sie beschatten wollte, konnte er sich natürlich für das Nächstliegende entschieden haben, nämlich einfach Fatima im Auge zu behalten, bis Delilah auftauchte. Sollte das der Fall gewesen sein, würde sie es bald wissen.

St Martin’s war eine ruhige, schmale Straße, anscheinend hauptsächlich bekannt für ihre Antiquitätenläden und Secondhand-Buchhandlungen und, wie Fatima gesagt hatte, für das Coliseum Theater. Notes war ein bescheidenes Lokal, dessen Name mit Schablone in großen Lettern auf die Frontscheibe gemalt stand, und lag nur ein kleines Stück die Straße entlang auf der rechten Seite. Sie trat ein und gelangte in einen langen, hohen, rechteckigen Raum mit Holzboden, hell ausgeleuchtet durch ein Oberlicht in der Decke. Eine angenehme Geräuschkulisse aus Gesprächen, Gelächter und Jazzmusik aus unsichtbaren Lautsprechern empfing sie, akzentuiert durch das mechanische Summen von Kaffeemühlen, das Klack-klack von Espressofiltern, die manuell herausgenommen und geleert wurden, das Zischen und Blubbern von heißem Dampf, der durch Milchkännchen strömte. Die Luft war gesättigt vom herrlichen Duft nach frischem Kaffee.

Sie überblickte den Raum und sah keine offensichtlichen Probleme, nur eine Ansammlung von Männern und Frauen verschiedener Altersgruppen, Typen und Ethnien. Sie ging weiter, vorbei an einem riesigen Plakat von Miles Davis. Rechts von ihr säumten Tische die Wand, links erstreckte sich über die halbe Länge des Raums eine Holztheke, bemannt von drei Baristas und beherrscht von einer gewaltigen schimmernden Strada-Espressomaschine. Der Hintergrund war offener und enthielt lange Tische und Bänke, während die Wände mit hohen DVD- und CD-Regalen gesäumt waren.

Fatima saß ganz hinten an der Ecke eines dieser Tische, das Gesicht dem vorderen Teil des Cafés zugewandt. Ein taktischer Blick auf den Eingang oder eine höfliche Art, es Delilah leichter zu machen, sie zu finden? Vielleicht beides. Ein geöffneter Laptop stand vor ihr – ein MacBook Air. Gut. Sie trug ein schwarzes Button-down-Hemd und hatte sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie hatte nur einen Hauch von Make-up aufgelegt – Eyeliner, eine Spur Grundierung – und erzeugte damit einen Eindruck von müheloser Schönheit.

Sie sah auf. Als sie Delilah erkannte, lächelte sie, schloss den Laptop und erhob sich. »Hallo, Delilah. Danke fürs Kommen.«

Delilah gab ihr die Hand und registrierte, wie rasch sie den Laptop zugeklappt hatte. »Keine Ursache. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Ihr Büro gefällt mir.«

Fatima lachte. »Die Miete ist billig und der Kaffee erstklassig. Was möchten Sie trinken?«

Delilah warf einen Blick auf Fatimas leere Tasse. »Was hatten Sie denn?«

»Red-Brick-Espresso.«

»Sieht nach einem Doppelten aus.«

»Ja.«

Delilah stellte ihre Kameratasche auf den Tisch. »Passen Sie auf meine Kamera auf, während ich uns etwas hole?«

Am Ende redeten sie stundenlang miteinander. Statt ein Aufnahmegerät zu verwenden, von dem sie fürchtete, es würde Fatima befangen machen, machte Delilah sich Notizen. Aber gelegentlich wurde das Gespräch so intensiv und vertraut, dass sie ihre Rolle als Journalistin vergaß. Was natürlich in Ordnung war, denn sie versuchte ja gerade, eine Beziehung herzustellen, die darüber hinausging.

»Natürlich habe ich das von Ihren Brüdern gelesen«, sagte sie irgendwann. »Es tut mir leid.«

»Es war schlimm. Haben Sie schon einmal einen Angehörigen verloren?«

»Auf diese Art? Nein. Das haben sicher nicht viele. Aber mein älterer Bruder starb, als ich sechzehn war.«

»Das tut mir sehr leid. Darf ich fragen, was passiert ist?«

»Ein Autounfall«, sagte Delilah. Tatsächlich war ihr Bruder im Libanon im Kampf gefallen, aber wie jeder andere Aspekt der Legende, die sie lebte, war auch dieser so abgesichert, maßgeschneidert und sorgfältig einstudiert, dass ihr die Legende realer vorkam als ihre echte Kindheit, an die sie sich verzerrt und unscharf erinnerte wie an einen unterbrochenen Traum. »Also kann ich mir nur vorstellen, was Ihre Familie durchgemacht hat.«

»Vorstellen? Aber Sie wissen es.«

»Ja, gut. Aber zwei Kinder statt einem, und eine vorsätzliche Tötung – Mord, um genau zu sein, kein Unfall. Ihre Eltern … Ich weiß nicht, wie man so etwas überleben kann. Meine waren nie wieder so wie vorher.«

Sie hätte weiterbohren und das Thema auf ihren Bruder Imran lenken können und was aus ihm geworden war. Aber damit hätte sie vielleicht Alarmglocken schrillen lassen. Außerdem bestand kein Grund zur Eile.

Irgendwann bestellten sie sich Sandwiches. In den Stunden, während sie geredet hatten, hatte die gesamte Kundschaft gewechselt. Möglicherweise ließ Fatima Delilah beobachten – von ausreichend vielen Leuten, dass sie sich abwechseln und unauffällig bleiben konnten. Oder jemand wartete draußen, um sich an Delilah zu hängen, wenn sie ging. Aber sie bezweifelte es. Vielleicht hatte Fatima gar keine Aufpasser, oder sie duldete sie nicht um sich. Egal, Delilahs Gefühl nach war sie bisher auf keinem Radarschirm aufgetaucht.

Nachdem sie drei Espressos intus hatte – Fatima also mindestens vier –, sagte Delilah: »Ich komme mir sehr unprofessionell vor. Die Hälfte der Zeit vergesse ich ganz, dass ich Sie interviewen soll. Und wir haben noch gar keine Fotos gemacht.«

Fatima lachte. »Das ist schon in Ordnung. Ich war heute Morgen sowieso nicht richtig zum Schreiben aufgelegt, und es war sehr nett, mit Ihnen zu reden.«

»Mit Ihnen auch. Hören Sie, ich wollte Ihnen nicht so viel von Ihrer Zeit stehlen, aber … Ich habe das Gefühl, für die Art Artikel, die ich mir vorstelle, haben wir wirklich erst an der Oberfläche gekratzt. Ich muss zurück in meine Wohnung und die wichtigen Teile niederschreiben, solange sie noch frisch im Gedächtnis sind. Besonders weil ich unsere Unterhaltung so genossen habe, dass ich ganz vergessen habe, mir Notizen zu machen. Deshalb … ob wir uns später in der Woche vielleicht noch einmal treffen könnten?«

Fatima lächelte das Lächeln, das für Delilah langsam zu ihrem Markenzeichen wurde – strahlend und doch durchdrungen von einem seltsamen Anflug von Traurigkeit. »Das wäre mir ein Vergnügen.«

»Wunderbar. Vielleicht irgendwo anders. An einem Ort … der widerspiegelt, wer Sie sind und wofür Sie stehen?«

Fatima hob ihre Espressotasse und trank die letzten paar Tropfen aus. Sie setzte sie ab und rieb sich das Kinn. »Mögen Sie Shisha?«

»Sie meinen … so etwas wie Hookah?«

»Das ist ein und dasselbe. Es ist eines meiner Laster. Sehr populär in Pakistan. Es gibt da ein Café, wo ich gern hingehe – das Momtaz in Maida Vale. Recht authentisch, und es hat sogar einen großen Raum nur für Frauen. Ich fürchte, wenn das Stammpublikum Sie und Ihre blonden Haare zu sehen bekommt …« Sie lächelte. »Ohne den separaten Raum hätten wir keine Ruhe.«

Delilah erwiderte das Lächeln. »Ich bezweifle, dass sie nur auf mich scharf wären, aber ja, das klingt hübsch.«

»Morgen Abend? Acht Uhr? Wenn Sie bis dahin noch nicht gegessen haben, sie kochen dort hervorragende Libanesisch.«

»Klingt großartig.«

»Es liegt in der Chippenham Road. Es ist leicht im Internet zu finden, aber wenn Sie Schwierigkeiten haben, rufen Sie mich einfach an.«

Delilah stand auf und schlang sich die Kamera über die Schulter. »Haben Sie noch ein paar Minuten Zeit? Vielleicht finden wir draußen eine schöne Stelle, mit dem Notes oder einem trendigen Ausschnitt Londons als Hintergrund. Wäre ein hübscher Kontrast zu dem Shisha-Café morgen. Hm, ich weiß nicht, vielleicht wird der Artikel heißen ›Fatima, Frau der zwei Welten‹.«

Delilah hatte den Kommentar scherzhaft gemeint, und Fatima lachte auch darüber – aber es war ein unbehagliches Lachen, fand Delilah. Gut, die Frau gehörte ja tatsächlich zwei Welten an, wenn auch nicht den beiden, auf die Delilah sich anscheinend bezog. Und vielleicht gab es daran etwas, das ihr selbst nicht ganz gefiel. Delilah konnte das unschwer nachvollziehen.

Während der zwanzig Minuten, die sie mit Fotoaufnahmen verbrachten, kamen eine ganze Menge Passanten vorbei. Den meisten sah man deutlich an, dass sie Delilah und Fatima wegen ihres guten Aussehens und der natürlichen Neugier anglotzten, die ein professionell aussehendes Fotoshooting bei den meisten Leuten auslöst. Aber es gab zwei Gruppen von Männern mit dunklen Stoppelbärten, die sie nicht einmal eines Seitenblicks würdigten. Ihr augenfälliges Desinteresse wirkte unter den gegebenen Umständen einstudiert, und Delilah hielt sie für Profis, obwohl ihr Talent offenbar nicht für die Oberliga reichte. Sie erinnerte sich daran, was Kent gesagt hatte. Wenn sie anfing, Zeit mit Fatima zu verbringen, würde sie unter Beobachtung stehen.

Wenn die etwas bemerken, das Ihnen missfällt, raten sie Fatima möglicherweise lediglich, den Kontakt zu Ihnen zu annullieren. Sie könnten aber auch zu dem Schluss kommen, dass Sie annulliert werden müssen.

Auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung war sie äußerst wachsam. Sie war froh, dass sie versteckt in der vorderen Hosentasche ein Messer trug. Die Tigerkrallenklinge und der Ringgriff für Zeige- und Mittelfinger bestanden aus in Epoxidharz eingebettetem, mit Karbonnanoröhrchen verstärktem Glas – mit einer Schneidkraft wie Stahl, aber von einem Flughafenscanner unaufspürbar. Die Jungs von der Mossad-Technik hatten es nach einem FS-Hideaway-Modell speziell für sie angefertigt. Es war nicht schnitthaltig, aber das war auch nicht der Zweck. Kein Werkzeug für den täglichen Gebrauch, sondern eine Waffe für den äußersten Notfall.

Niemand folgte ihr. Aber jetzt wusste sie, dass sie beobachtet wurde. Beobachtet und taxiert. Welche Tests auch immer vor ihr lagen, ihr war klar, dass sie sie besser bestand.

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Am nächsten Abend nahm Delilah die U-Bahn zum Bahnhof Warwick Avenue und ging dann zu Fuß zum Momtaz weiter. Die Sonne stand schon tief am Himmel und badete die Straßen in den immer länger werdenden Schatten von Bäumen, Apartmenthäusern und Lampenmasten. Sie kam an einer Gruppe von rucksackbepackten Studenten vorbei, einigen Pärchen mit Kinderwagen und Einheimischen, die das lange Tageslicht eines lauen Sommerabends auskosteten. Sie hatte das Gefühl, dass sie mit ihren Jeans und einem weiteren Kaschmirpulli mit V-Ausschnitt, diesmal einem meergrünen, nicht weiter auffiel. Die Kameratasche hatte sie sich über die Schulter geschlungen. Ein paar Restaurants hatten geöffnet, doch die meisten Geschäfte waren geschlossen, verborgen hinter heruntergelassenen Metalljalousien.

Die Gegend war nicht direkt heruntergekommen, hatte aber etwas leicht Schäbiges an sich – zumindest nach den Standards von Mayfair oder Belgravia weiter im Südosten. Im Norden ging der Stadtteil in Kilburn mit seiner großen pakistanischen und muslimischen Gemeinde über, soweit Delilah wusste. Sie hätte die Umgebung gern besser ausgekundschaftet, aber wenn man bemerkte, dass sie zu früh kam oder sich zu gründlich umsah, hätte es verdächtig gewirkt. Also beschränkte sie sich auf den Fußweg von der U-Bahn-Station, den sie sich früher am Tag auf einer Karte im Internet angesehen hatte. Die Strecke gestattete ihr natürliche Abkürzungen über verschiedene ruhige Wohnstraßen und schloss multiple Abbiegungen nach links und rechts mit ein, sodass sie reichlich Gelegenheit hatte, sich nach Verfolgern umzusehen. Sie konnte keine Probleme feststellen.

Das Momtaz lag im Parterre eines dreigeschossigen braunen Backsteingebäudes an einer Straßenecke mit Geschäften und Wohnungen. Auf beiden Seiten des Eingangs erstreckten sich lange verglaste Terrassen – Delilah vermutete, dass damit dem Londoner Rauchverbot Rechnung getragen werden sollte. Sie trat ein und gelangte in ein großes Foyer, in dessen Mitte sie eine hübsche Hostess in einem schlichten Kleid empfing. Zum Café zweigte es rechts und links ab. Die Luft roch nach süßem Tabak und war erfüllt vom Klang arabischer Popmusik und dem leisen Hintergrundraunen der Gespräche. Einige Pärchen und Grüppchen, hauptsächlich südostasiatischer und arabischer Herkunft, besetzten die Nischen und Bänke. Ein paar Männer sahen bei ihrem Eintreten auf und beäugten sie mit jener Unverfrorenheit und Intensität, die sie jedes Mal wieder abstieß. Viele von ihnen konnten zu Fatima gehören. Es gab keine Möglichkeit, das zu entscheiden.

Delilah sagte der Hostess, dass sie sich mit einer Freundin treffen wollte, die sie möglicherweise schon in dem für Frauen vorbehaltenen Bereich erwartete … Die Hostess wusste Bescheid und bedeutete Delilah, ihr zu folgen. Jeder Mann im Restaurant starrte Delilah ins Gesicht, und sie spürte deren Blicke auf ihrem Hintern, wenn sie ihr nachsahen. Sie hatte sich absichtlich unauffällig gekleidet, aber das machte keinen Unterschied. Zum Teil lag es an ihren blonden Haaren und ihrem guten Aussehen, doch auch an der fremden Kultur – man hatte den Eindruck, dass für diese Männer Frauen einfach nicht in eine Shisha-Bar gehörten und dass jede Frau, die das nicht begriff, es verdiente, angestarrt zu werden und wahrscheinlich noch viel Schlimmeres.

Der Frauenbereich lag ganz am Ende der einen Hälfte des Cafés, ein intimer Raum mit rot und golden gepolsterten Bänken, Holztischen und -stühlen, sanft erleuchtet von einem Lichtschienensystem und Kerzen. In architektonischer Hinsicht handelte es sich tatsächlich um eine Terrasse, und obwohl Delilah sah, dass sie bei kälterem Wetter eher wie ein Innenraum wirken würde, waren heute die Heizstrahler ausgeschaltet und die Fenster zum Gehsteig und der Nachtluft hin geöffnet. Man hatte den Eindruck einer geschützten Enklave, die Verbindung zur Außenwelt besaß und doch in sicherer Entfernung davon lag. Hier saßen etwa ein Dutzend Frauen anscheinend nordafrikanischer, arabischer und pakistanischer Abstammung. Fatima war nicht dabei. Einige warfen Delilah unverhohlen neugierige Blicke zu, doch nicht mit dieser aufdringlichen, besitzergreifenden Feindseligkeit, die sie bei den Männern gesehen hatte. Sie sagte der Hostess, dass sie gern warten würde, und bat um den Ecktisch am hinteren Ende des Raums, der noch frei war.

Eine Serviererin brachte ihr wohlschmeckenden süßen Tee, und sie ließ sich einhüllen von der Musik, dem Duft des Shisha-Rauchs und dem Gemurmel der Gespräche auf Arabisch, Urdu und Englisch. Sie merkte, dass es ihr eher so vorkam, als würde sie auf eine Freundin warten statt auf eine Zielperson, und dieses Gefühl kam ihr realer vor als die Wirklichkeit. Das war eigenartig, aber auch gut. Je echter die Emotion war, desto wahrscheinlicher war es, dass sie Vertrauen erweckte, und damit stiegen ihre Erfolgschancen.

Fatima tauchte nach zwanzig Minuten auf, in einem eleganten schulterfreien schwarzen Kleid mit fuchsiafarbenem Kreppschal. Sie ließ den Blick durch den Raum gleiten und erblickte Delilah sofort. Ihr Gesicht leuchtete auf, und sie lächelte, als sie auf sie zukam. Ihr Kleid zeigte eine Menge Bein, und der Schal konnte ebenso gut ein Zugeständnis an die hiesigen Vorstellungen von weiblicher Sittsamkeit sein – und die implizite Drohung, sie durchzusetzen – wie eine Maßnahme gegen die nächtliche Kühle. Ihre Haare schimmerten im sanften Licht, und Delilah erkannte, dass sie sie geglättet hatte. Sie trug ein wenig mehr Eyeliner als tags zuvor und hatte auch etwas Lippenstift aufgelegt. Delilah spürte, dass ihre neue Freundin heute Abend an ihrem Aussehen gearbeitet hatte. Das Ergebnis war zweifellos umwerfend, aber was hatte es zu bedeuten? Hatte sie sich Delilah zuliebe bemüht? Für einen Mann? Beides? Delilah stellte fest, dass sie hoffte, es sei ihretwegen, und das war ein merkwürdiges Gefühl. Wenn Fatima etwas daran lag, welchen Eindruck Delilah von ihr hatte, war das natürlich von Vorteil, denn es konnte bedeuten, dass sie bereit war, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Und ohne das wäre diese Operation, die ohnehin nur ein Schuss ins Blaue war, eine Totgeburt gewesen.

Delilah stand auf, als Fatima den Tisch erreichte. »Tut mir leid, ich komme zu spät«, sagte Fatima, nahm sie an den Schultern und küsste sie auf die Wangen. »Konnte kein Taxi finden.«

Nein, dachte Delilah. Es war eine modische Krise. Du hast verschiedene Kleider ausprobiert und konntest dich nicht entscheiden, welches am besten aussieht. Der Gedanke war seltsam befriedigend.

»Kein Problem«, erwiderte Delilah. »Ich bin noch nicht lange da und genieße die Atmosphäre.«

Sie setzten sich. Die Serviererin brachte noch einen Tee, und sie bestellten Mezze – kleine Gerichte wie Baba Ghanoush und Mekanek und Souflaki. Während des Essens plauderten sie über dies und das. Fatima sagte Delilah, wie sehr ihr die Fotos von der Demonstration gefallen hätten. Delilah meinte, wenn sie die Speicherkarte kopierte, ihre Lieblingsbilder markierte und sie Delilah wiedergab, würde sie versuchen, sie in ihrem Artikel zu verwenden.

Irgendwann, beim Kaffee und einem Nachtisch aus Baklava und Sahlab, fragte Fatima: »Was glaubst du, wie lange du noch in London bleibst?«

Delilah hatte sich bereits eine Antwort zurechtgelegt. Zu lang klang merkwürdig. Zu kurz, und ihre aufkeimende Freundschaft hatte keine Zeit, Früchte zu tragen.

»Das hängt von vielen Dingen ab«, antwortete Delilah nach einem Augenblick, als hätte sie erst über die Frage nachdenken müssen. »Ich brauchte mal Tapetenwechsel und bin froh, in London zu sein. Ich denke, es kommt ein bisschen darauf an, wie lange ich diesen Auftrag hinziehen kann, bevor mein Redakteur sagt, dass Schluss ist mit der Mietwohnung.«

Das war kalkuliert: Indem sie Fatima wissen ließ, dass Delilahs Aufenthalt zum Teil von Fatimas Bereitwilligkeit abhing, ihr zu helfen, lud sie sie dazu ein, bei der Täuschung von Delilahs Redakteur zur Komplizin zu werden. Und falls Fatima mitmachte, wäre das ein gutes Zeichen. Es könnte Möglichkeiten eröffnen.

Fatima nippte an ihrem Kaffee. »Bist du … triffst du dich mit jemandem?«

Diese Frage traf Delilah unerwartet, auch wegen ihrer widersprüchlichen Gefühle, was John anging. »Du meinst … in London?«

»Nein, überhaupt. Du bist sehr schön … Ich musste mich unwillkürlich fragen, ob du jemanden hast.«

Delilah zögerte, dann wählte sie instinktiv die Antwort, die der Wahrheit am nächsten kam. »Bis vor Kurzem, ja. Das Ende war sehr unschön. Paris erinnert mich an ihn. Ich glaube, auch deswegen bin ich so froh, hier zu sein.«

»Tut mir leid.«

Delilah lächelte. »Das muss es nicht. Du bist schließlich der Grund, warum ich hergekommen bin. Was ist mit dir?«

Fatima schüttelte den Kopf. »Eine Trennung vor Kurzem, wie bei dir. Aber nicht im Bösen. Meine Eltern haben mehr darunter gelitten als wir beide. Ich bin dreißig, und sie denken, ich habe nicht mehr viel Zeit. Sie mochten ihn. Ein netter pakistanischer Junge. Aber er war nicht der Richtige. Und ich glaube, ich bin an einem Punkt angelangt, wo ich nicht mehr einfach nur, um … Ich weiß nicht. Die Macht der Gewohnheit, schätze ich. Es klingt sehr unfair allen gegenüber.«

Diese Eröffnung war eine Einladung, die Delilah sich nicht entgehen lassen konnte. »Deine Eltern … sie hätten sicher sehr gern Enkelkinder. Nach allem, was deine Familie durchmachen musste.«

Fatima trank noch einen Schluck Kaffee. »Ja. Und ich komme mir egoistisch vor, weil ich ihnen diesen Wunsch nicht erfülle. Aber ich bin einfach noch nicht bereit dafür.«

»Ich finde es gar nicht egoistisch. Oder ich bin auch ziemlich selbstsüchtig.« Das war eine leichte Abweichung von dem Weg, den Delilah eigentlich hatte einschlagen wollen, aber es war wichtig, sich persönliche Details anzuvertrauen.

»Deine Eltern möchten Enkelkinder?«

»Mehr als alles andere. Und da mein Bruder nicht mehr lebt, bin ich ihr einziges Kind. Aber … ich weiß nicht. Ich bin noch nicht bereit … vielleicht – meine Freiheit aufzugeben? Ich meine, ich habe das Gefühl, erst am Anfang zu stehen. Es gibt noch so viel zu tun.«

Fatimas Kiefermuskeln verhärteten sich leicht, und einen Augenblick lang glitt ein gleichermaßen gedankenverlorener wie intensiver Ausdruck über ihr Gesicht. Dann war er wieder verschwunden. »Ja«, sagte sie. »Genau.«

»Und was willst du tun? Poesie? Aktivismus? Was ist dein nächstes Ziel, wo willst du deine Spuren hinterlassen?«

Fatima lächelte. »Interviewst du mich jetzt?«

Delilah lachte und trank einen Schluck Kaffee. »Ja, das sind gute Fragen für ein Interview, danke für die Erinnerung. Ich vergesse es ständig. Bei dir fühle ich mich nicht wie eine gute Journalistin.«

Fatima sah sie für einen langen Augenblick an. »Ist das dein Ernst?«

»Ich glaube schon. Ich verstehe zu gut, was du durchgemacht hast und was du zu erreichen versuchst. Und ich mag dich zu gern. Es ist gefährlich, einem Interviewpartner zu nahe zu kommen.«

»Und das ist dir schon passiert?«

Sie verstand sich gut darauf, jemanden auszuhorchen, stellte Delilah fest. Oder sie war einfach eine gute Gesprächspartnerin – die Voraussetzungen waren ähnlich. Ein Gespür für Themen, das Zusammensetzen von Fragmenten und das Zurückspielen von Bällen, um jemanden aus der Reserve zu locken. Delilah beherrschte diesen Part virtuos, aber es machte ihr nichts aus, vorübergehend die Rollen zu tauschen. Dadurch entspannte sich Fatima und glaubte, die Situation unter Kontrolle zu haben.

»Vielleicht«, meinte sie nach kurzem Nachdenken und musste wieder an Rain denken.

»Geht es dabei um die Beziehung, von der du gerade gesprochen hast? Die, die böse geendet hat?«

Eine wirklich gute Verhörtechnik. Delilah lachte und sagte: »Ich dachte, ich sollte dich interviewen.«

Fatima lächelte ihr offenes, trauriges Lächeln. »Tust du das denn nicht?«

»Nein, überhaupt nicht, fürchte ich. Also sag’s mir. Was kommt als Nächstes? Du hast jetzt deine Freiheit, wie wirst du sie nutzen?«

Eine lange Pause trat ein. Delilah fand nicht, dass sie zu sehr nachgebohrt hatte. Schließlich gab sie sich als Journalistin aus, die vorgeblich ein Hintergrundinterview durchführte. Sie bedauerte, dass das Momtaz keinen Alkohol ausschenkte – selbst die diszipliniertesten Zielpersonen neigten dazu, sich nach ein paar Drinks mehr und mehr zu öffnen. Es wäre auch eine Hilfe gewesen, Fatima in einer weniger vertrauten Umgebung zu treffen, an einem Ort, der sie dazu brachte, sich selbst zu vergessen. Rain hatte diese Technik bei Delilah angewandt, damals, als sie sich noch lauernd umkreist hatten und in die bessere Position zu gelangen versuchten – er hatte sie nach Phuket gelockt, sie beschwipst gemacht und das, was er zwischen den Zeilen las, zu seinem Vorteil genutzt. Die Erinnerung tat nicht weh. John war gut, sie hatte nie einen Besseren getroffen. Und sie hatte aus der Erfahrung gelernt. Sie überlegte, ob sie hier etwas Ähnliches versuchen sollte.

Endlich sagte Fatima: »Ich möchte nicht, dass du das druckst, einverstanden?«

Delilah nickte und fragte sich verwundert, was nun folgen würde. Sie freute sich, denn es schien ein Vertrauensbeweis zu sein. »In Ordnung.«

»Ich weiß nicht, was ich als Nächstes tun werde. Ich fühle mich … verfolgt. Verfolgt von dem, was man meinen Brüdern angetan hat.«

Sie verstummte wieder. Delilah fiel auf, dass sie nicht davon sprach, was ihren Brüdern zugestoßen war, was ein Fehlen von Absicht impliziert und die Tragweite ihres Todes heruntergespielt hätte. Nein, was ihnen angetan wurde. Das wies auf ein Subjekt hin, eine aktive Handlung. Die Leute, die die Drohnen geschickt hatten. Amerika, der Westen.

»Warum möchtest du nicht, dass ich das drucke?«, fragte Delilah. »Natürlich werde ich es nicht tun, aber …«

»Weil das so nach Selbstmitleid klingt. So pathetisch. Aber es stimmt. Es lässt mich nicht los. Was meine Familie durchgemacht hat … das sollte niemand durchmachen müssen. Wenn ich etwas tun kann, um dieses Morden zu stoppen – und es handelt sich um Mord –, dann kann ich nicht anders. Sonst finde ich keinen Schlaf mehr.«

Es brachte Delilah aus dem Konzept, etwas zu hören, das so sehr an das Mantra erinnerte, mit dem sie Johns ständiges Drängen beantwortet hatte, aus dem Job auszusteigen. Wie hätte sie denn je wieder gut schlafen können, nachdem sie im Fernsehen das nächste Massaker in einer Pizzeria oder einem Einkaufszentrum in Tel Aviv gesehen hatte? Eine Rakete, die in einer Schule auf der West Bank einschlug? Oder, Gott möge es verhindern, einen Gasangriff mit zahllosen Opfern?

»Ich finde, es klingt weder nach Selbstmitleid noch pathetisch«, erwiderte Delilah und empfand dabei ein Mitgefühl, das echt und gleichzeitig beunruhigend war. »Aber was willst du unternehmen?«

»Was immer in meiner Macht steht«, antwortete Fatima, und ihr Blick richtete sich wieder in die Ferne. Abermals empfand Delilah Unbehagen angesichts der Parallelen zu ihren eigenen Rechtfertigungen, ihren eigenen Worten. Fatima sagte nichts mehr, und Delilah empfand ihr Schweigen als leicht beängstigend und gleichzeitig enttäuschend. Wieder fragte sie sich, ob Fatima nicht in einer anderen Umgebung wesentlich gesprächiger gewesen wäre, vielleicht nach ein paar Drinks. Sie begann sich für die Idee zu erwärmen und überlegte, wie sie sich umsetzen ließ.

Sie tranken ihren Kaffee aus, und Delilah schoss ein paar Fotos – von einer verwestlichten pakistanischen Frau, die abends unter ihresgleichen ein Restaurant besucht. Fatima bestand darauf, die Rechnung zu begleichen, weil Delilah sie im Notes eingeladen hatte. Beim Hinausgehen spürte Delilah die Augen jedes anwesenden Mannes heiß über ihre Gesichter und Körper streichen. In einigen Fällen spiegelte dieses Starren lediglich Begierde wieder, eine Art verdrehtes Besitzdenken. Aber in anderen Blicken las sie einen Abscheu, der an Hass grenzte. Warum? Weil Frauen etwas besitzen, das sie haben wollen, von dem sie aber nicht wissen, wie sie es auf legitime Weise erlangen können? Weil sie jemanden brauchen, auf den sie herabsehen und den sie verletzen können, um ihre eigene Armseligkeit und Machtlosigkeit zu vergessen? Weil ein Mann seinen Mangel an Status nur ertragen kann, solange er weiß, dass es eine Klasse von Menschen gibt, die noch unter ihm steht?

Draußen vor dem Eingang blieben sie stehen. Delilah wäre es lieber gewesen, gleich zu gehen. Die Schwingungen, die sie bei einigen der Männer drinnen gespürt hatte, waren so übel gewesen, dass sie keine Lust hatte, jemandem unbeabsichtigt Möglichkeiten zu eröffnen. Sie bezweifelte nicht, dass sie mit allen Problemen zurechtkommen würde, die sich vielleicht ergaben. Aber dabei konnte ihre Tarnung als zivile Fotojournalistin auffliegen – genau das hatte sie ja in Paris zusammen mit John in Schwierigkeiten gebracht.

»Tut mir leid, wenn ich mich ein bisschen ereifert habe«, meinte Fatima.

»Um sich über das, was deiner Familie zugestoßen ist, nicht zu ereifern, müsste man innerlich tot sein.«

Fatima nickte und sah Delilah an, als ob sie sich freute, dass sie es verstand. »Ja. Genauso ist es. Das ist die Wahl, die sie uns aufzwingen.«

Wieder fiel Delilah die aktive Ausdrucksweise auf, die Konzentration auf den Täter, nicht die Tat. In dieser Frau hatte sich eine Menge angestaut. Unter den richtigen Umständen, wenn Delilah einen kleinen Riss in der Fassade erzeugen konnte, würde sie dem Druck irgendwann nicht mehr standhalten.

Delilah hörte die Tür des Momtaz gehen und drehte den Kopf. Zwei junge Männer kamen mit schnellen und zielstrebigen Schritten auf sie zu. Sie waren ihr drinnen schon aufgefallen – kurz geschnittene Haare und dunkle Stoppelbärte, hässliche Gesichter und teure Hemden. Ihre Blicke waren besonders feindselig gewesen. Jetzt hefteten sie sich auf Delilah und Fatima, und Delilah erkannte Befriedigung darin, Vorfreude auf die bevorstehende Konfrontation. Sie spürte einen heißen Adrenalinstoß und dachte: Merde.

»Wir kommen einfach nicht dahinter«, sagte der Größere der beiden mit starkem arabischen Akzent.

Auf diese Eröffnung gab es zwei vorhersehbare Reaktionen. Eine lautete: »Wohinter?« Die andere bestand aus Schweigen. Beide verrieten Nervosität und konnten den Gegner ermutigen. Der richtige Zug war ein Non sequitur, etwas Unlogisches, das den Gegner ablenkte und sein Gehirn zwang, die unerwartete Erwiderung zu verarbeiten. Wäre sie allein gewesen, hätte Delilah geantwortet: »Hinter das Quadrat von Pi?« Vielleicht auch: »Wenn der Salzgehalt hoch genug ist, sinkt der Gefrierpunkt, nicht wahr?« Oder irgendeinen anderen völlig absurden Kommentar, woraufhin sie den vorderen Mann außer Gefecht gesetzt hätte, indem sie auf seine Kehle, das Knie oder ein anderes Ziel losging, das sich gerade bot. Eine Überreaktion? Sie glaubte nicht. Der natürliche Verbündete eines Mannes ist seine größere Körperkraft. Dem konnte sie das Überraschungsmoment, Schnelligkeit und kompromisslosen Angriff entgegensetzen. Die Strategie des Mannes beruht auf Zermürbung. Ihre war der Blitzkrieg. In einem langwierigen Kampf konnte ein Mann seine Vorteile nutzen, um ihre zunichtezumachen. Das durfte sie ihm nicht gestatten. Wenn sie sich irrte, dann lieber auf der sicheren Seite.

Aber in diesem Fall hätte sie Fatima einiges zu erklären. Und unabhängig davon, was Fatima selbst von Delilahs überraschendem Talent für gewalttätige Auseinandersetzungen hielt, ihre Leute würden darüber ihre eigenen Ansichten haben, und die wären möglicherweise tödlich für die Operation.

Also schwieg sie – ihrer Beurteilung nach das kleinere von den zwei verfügbaren Übeln.

Fatima jedoch sagte: »Hinter was kommt ihr nicht?« Ihre Stimme triefte vor Hohn.

Es war ein unkluger Schachzug, aber Delilah konnte Fatima nicht vorwerfen, dass sie es nicht besser wusste. In einer derartigen Konfrontation benutzt man keine Beleidigungen, keine Herausforderungen, man leugnet nicht, was geschieht. Und man lässt seinem Gegner immer eine Rückzugsmöglichkeit offen, bei der er das Gesicht wahren kann. Wenn er sie ergreift, wunderbar; falls nicht, handelt man. Mit großspurigem Gehabe reizt man lediglich Temperament und Ego des Gegners, während die eigenen Möglichkeiten für einen Überraschungsangriff sinken. Fatima jedoch, wie immer ihre Verstrickung in das Netzwerk ihres Bruders auch aussehen mochte, war nicht dafür ausgebildet und besaß keine Erfahrung.

Die beiden Männer traten so nahe heran, dass Delilah den einen mit einem Tritt auf den Spann und den anderen mit einem Kniestoß in den Schritt hätte mattsetzen können. Der Kleinere sagte: »Was treibt ihr denn hier draußen so allein, ihr zwei? Das ist es, wohinter wir nicht kommen.«

Fatima lachte verächtlich. »Allein zu zweit? Hey, ich will euch dasselbe fragen. Was treibt ihr denn hier draußen so allein? Haben eure Eltern nicht gemerkt, dass ihr euch aus den Betten geschlichen habt?«

Die beiden liefen rot an, und die Augen des Kleineren verengten sich. Delilah bewunderte Fatima für ihren Mut, aber so ein Bluff war gefährlich, wenn nichts dahintersteckte.

»Wisst ihr, was ich glaube?«, sagte der Kleinere. »Ich glaube, ihr seid zwei Huren, die scharf auf einen Schwanz sind.«

»Huren sind nicht scharf auf Schwänze«, versetzte Fatima. »Sie sind scharf auf Geld. Obwohl ich nicht glaube, dass ihr mit einem von beidem dienen könnt.«

Der Größere packte Fatima grob am Ellbogen. »Ich werde dir zeigen, womit wir dich bedienen können.«

»Loslassen«, sagte Fatima, und Delilah, die die plötzliche Angst in ihrer Stimme hörte, wusste, dass ihr Bluff danebengegangen war. Sie drehte sich unmerklich zur Seite, um die Bewegung zu verdecken, und schob Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in den Ring am Griff des Hideaway. Normalerweise hätte sie ein Messer nicht als Drohung benutzt, sondern zum Schneiden. Aber sie musste sich so weit wie möglich an ihre Rolle halten. Eine Zivilperson konnte durchaus zum Schutz ein Messer dabei haben. Aber sie würde zögern, es auch einzusetzen, wenn sie überhaupt wusste, wie das ging.

»Lasst sie los«, sagte Delilah bewusst ruhig und befehlend.

»Oder was?«, fragte der Kleinere mit hinterhältigem Grinsen.

Delilah war gezwungen, die rechte Faust zu heben, sodass sie die rasiermesserscharfe Klaue deutlich sehen konnten. »Oder ich schlitze euch auf und sehe zu, wie eure Eingeweide auf die Straße klatschen.« Sie wandte ihnen die linke Körperhälfte zu und zog die Messerhand näher an den Brustkasten. Wenn der Mann versuchte, danach zugreifen, konnte sie seine Arme mit der freien Hand blockieren und mit der Klinge auf seine Hoden und seinen Bauch losgehen.

Der Größere blickte seinen Freund Rat suchend an. Doch sein Griff an Fatimas Arm lockerte sich nicht.

Von rechts nahm sie eine verschwommene Bewegung war. Zwei weitere dunkelhäutige Männer bogen um die Ecke des Momtaz und kamen rasch auf sie zu. Delilah spürte einen weiteren Adrenalinstoß, erkannte dann aber sofort an der Verstohlenheit und Schnelligkeit der Attacke, dass Fatima und sie nicht ihr Ziel waren. Ein schneller, scharfer Blick zeigte ihr, dass die Neuankömmlinge sich voll auf die zwei Angreifer konzentrierten, nicht auf deren Opfer.

Der kleinere Typ musste etwas in Delilahs Miene gelesen, das kurze Abgleiten ihres Blicks bemerkt haben. Er begann sich umzudrehen, aber der Erste der Männer hatte ihn bereits erreicht. Er machte eine ruckartige Bewegung mit dem rechten Arm, und ein zusammenschiebbarer Schlagstock schoss heraus und rastete ein. In der zeitlupenartigen Verzerrung des Adrenalinstoßes sah Delilah, wie der kleinere Typ sich weiter und weiter umdrehte, doch inzwischen hatte der vordere Mann den linken Fuß fest auf den Boden gestemmt, und sein Schlagstock schoss heran wie eine Vorhand beim Tennis. Der kleinere Typ musste ihn aus dem Augenwinkel gesehen haben, denn er zuckte reflexartig zurück und zog den Kopf ein. Seine Arme flogen hoch, und er duckte sich, doch es war bereits zu spät, und bevor er seine Drehung stoppen konnte, peitschte ihm der Schlagstock mitten ins Gesicht. Sein Kopf ruckte zurück, seine Beine schossen nach vorne unter ihm weg, und zersplitterte Zähne flogen durch die Luft, während er fiel. Er erschlaffte, und Delilah sah, dass er bereits das Bewusstsein verloren hatte, bevor er zu Boden krachte.

Der größere Typ hatte sich noch nicht von seinem Schreck erholt, als der hintere Mann heran war. Er packte ihn am Kragen, und plötzlich hielt er ein Messer in der Hand, das er dem Größeren an die Kehle presste.

»Hast du Problem?«, fragte er auf Englisch. Delilah konnte den Akzent nicht ganz einordnen – Punjabi, dachte sie, vielleicht auch Urdu. Nicht Arabisch.

Die Augen quollen dem größeren Typen vor Entsetzen beinahe aus dem Kopf, doch er schien zu schockiert zu sein, um zu antworten.

Der hintere Mann drückte die Messerspitze fester gegen seine Haut. »Ich sage, hast du Scheißproblem?«

Der Kopf des größeren Typen zitterte verneinend, als hätte er ihn gern heftig geschüttelt, was aber wegen des Messers unmöglich war. »Nein. Kein Problem.«

»Gut. Dann schaff deinen Scheißarsch hier weg. Sofort.« Er versetzte dem größeren Typen einen so heftigen Stoß, dass er zurücktaumelte und mit den Armen wie Windmühlenflügel schlug, um nicht umzukippen. Sobald er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und rannte davon.

Der erste Mann kniete sich hin und begutachtete den Typen, den er flachgelegt hatte. Delilah wusste bereits, dass er bewusstlos oder von der Wucht des Schlags vielleicht sogar tot war. Der Mann mit dem Schlagstock wechselte den Griff, sodass er ihn wie einen Eispickel hielt, und stieß die Spitze gegen den Gehweg, um ihn zusammenzuschieben. Dann stand er auf und sah Fatima an.

»Alles in Ordnung?«, fragte er mit demselben Akzent wie sein Partner.

Fatimas Blick glitt von dem auf dem Boden liegenden Typen zu dem vorderen Mann. Einen Augenblick lang war sie sprachlos. Dann stammelte sie: »Ja. Ja, uns ist nichts passiert.«

Der vordere Mann warf seinem Partner einen Blick zu, dann sah er Delilah an. »Es … es tut mir leid«, sagte er. »Dieser Ort hier, manchmal schlechte Männer bei Nacht. Tut mir leid.«

Delilah schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich nicht entschuldigen.«

Der Mann warf einen Blick auf das Hideaway, dessen Klinge zwischen ihren Knöcheln herausragte. »Aber vielleicht brauchten Sie uns ja gar nicht.«

Delilah schob das Messer vorsichtig in die Scheide zurück. »Vielleicht. Danke für Ihre Hilfe.«

Der andere Mann sah sich nervös um. »Sie sollten gehen. Polizei kommt. Polizei nix gut.«

Fatima sah aus, als stünde sie unter Schock. Delilah legte ihr die Hand auf den Ellbogen und sagte: »Ja. Wir gehen. Noch einmal danke.«

Sie gingen rasch in südöstlicher Richtung davon, auf den Bahnhof Paddington zu. Delilah hatte aus dem Aufeinandertreffen eine Menge Eindrücke gewonnen, die sie gern besser hätte einordnen können, aber sie durfte nicht aus der Rolle fallen. Dazu war später noch Zeit.

»War das ein Messer?«, fragte Fatima mit einem Blick zurück. Ihre Stimme klang ungläubig.

»Ja.«

»Zeig es mir.«

»Später. Ich denke, wir sollten machen, dass wir hier wegkommen. Gehst du oft in diese Shisha-Bar? Kennt man dich dort?« Damit verriet sie ein wenig mehr taktischen Scharfsinn, als gut war, aber sie hielt das Risiko für vernachlässigbar gegenüber der Gelegenheit, mehr zu erfahren.

»Manchmal. Und ja, sie wissen, wer ich bin.«

»Oh. Das ist nicht gut.«

»Warum? Wir haben nichts Falsches getan. Wir haben überhaupt nichts getan.«

»Ja, aber willst du wirklich versuchen, die Polizei davon zu überzeugen? Ich meine, du hast doch das Gesicht des einen gesehen. Ich glaube, er war tot.«

»O mein Gott, ich weiß. Ich meine, wie er durch die Luft geflogen ist!« Sie sprach schneller als üblich, wirkte überdreht. Ganz normal, nach einem solchen Ausbruch von Gewalt.

»Weißt du, wer die Typen waren?«, fragte Delilah und vergaß nicht, eine gewisse Atemlosigkeit in ihre Stimme zu legen, damit Fatima sich nicht fragte, wie sie nach den Ereignissen so gelassen bleiben konnte.

»Bloß zwei Arschlöcher.«

»Nicht die zwei Arschlöcher. Die beiden anderen.«

»Nein.«

Delilah hätte etwas mehr erwartet – »Gott sei Dank, dass sie vorbeigekommen sind«, oder etwas in dieser Art. In der Kürze der Antwort lag ein falscher Ton. Wenn Fatima Bodyguards hatte, musste sie davon wissen, und die ausweichende Antwort deutete darauf hin, dass es tatsächlich so war. Dennoch, während des Überfalls hatte sie sich nicht so verhalten, als ob sie auf Leibwächter zählen könnte. Eher wie jemand, der einen naiven Bluff probiert und dann echte Angst bekommt, wenn er nicht funktioniert.

Sie gingen weiter. Delilah sah sich gelegentlich um, aber so hätte sich jeder verhalten, der gerade etwas Derartiges erlebt hatte, also konnte man kaum etwas anderes hineindeuten.

Als sie die Straßenlaternen und Taxis und relative Sicherheit der Paddington Station erreicht hatten, blieben sie stehen. Fatima sagte: »Ich kann kaum glauben, dass du gegen den Kerl ein Messer gezogen hast!«

»Tja, was hätte ich denn sonst tun sollen?«

»Hast du wirklich gesagt: ›Ich schlitze dich auf und sehe zu, wie deine Eingeweide auf die Straße klatschen‹?«

»Ich weiß nicht mehr genau. Ich hatte Angst.«

»Du hast überhaupt nicht so geklungen! Du warst total die harte Straßenkämpferin.«

»Ich hab mich gar nicht hart gefühlt, das kann ich dir sagen.«

Fatima reckte die Faust in die Höhe und verzerrte das Gesicht in überspitzter Wut. »Ich schlitz dich auf«, sagte sie mit gespielter Gefährlichkeit, und dann bekam sie einen Lachanfall. »Mein Gott, hast du das Gesicht von dem Arschloch gesehen?«

Da musste auch Delilah lachen – und das Gelächter war echt, nicht Teil des Rollenspiels. Es hielt eine ganze Weile lang an. Sie krümmten sich, fielen gegeneinander und wischten sich schließlich die Lachtränen aus dem Gesicht.

»Im Ernst, Mädchen«, sagte Fatima und trocknete sich die Augen, »ich fasse es einfach nicht. Du hast wirklich Mumm. Du bist meine neue Heldin.«

Delilah war sich der neuen Dynamik in ihrer Beziehung bewusst. Es war nur logisch. Sie hatten gemeinsam eine Gefahr überstanden und die Katharsis des Gelächters geteilt, als sie vorüber war. Sie war fasziniert und erfreut von den Veränderungen, die sie in Fatimas Sprachmustern entdeckte. Es war das erste Mal, dass sie sich erlaubt hatte, Schimpfworte zu benutzen. Und Delilah »Mädchen« zu nennen war auch neu. Die zwei Arschlöcher vom Momtaz konnten sich im Nachhinein als Geschenk des Himmels erweisen.

»Ich?«, meinte sie. »Was ist mit dir? ›Huren sind nicht scharf auf Schwänze, sie sind scharf auf Geld. Obwohl ich nicht glaube, dass ihr mit einem von beidem dienen könnt‹! Das war brillant!«

Dann ging es wieder los. Als der zweite Lachanfall verebbte, keuchte Fatima: »Oh, Mann, ich bin völlig überdreht. Ich kann heute Nacht bestimmt kein Auge zumachen.«

»Ich weiß. Geht mir genauso.«

»Willst du noch einen Drink?«

»Wollen? Verdammt, ich brauche einen.«

Sie mussten wieder lachen. Fatima führte sie zu einer nahe gelegenen Kneipe namens The Union Bar & Grill. Sie war ganz nett – viel Holz, Ledersofas, Fenster, die auf den Grand Union Canal hinausgingen, und es duftete nach Kaffee und Pubessen –, aber das Wichtigste für Delilah war der Alkohol. Sie wollte sehen, wie weit Fatima ihre Vorsicht noch vergessen würde, wie weit sich das Vertrauensverhältnis noch vertiefen ließ, das der Vorfall vor dem Momtaz gerade begründet hatte.

Es war ziemlich überfüllt, aber ein paar Frauen rückten auf einer Couch näher zusammen, sodass sie sich noch nebeneinander dazuquetschen konnten. Delilah war froh, dass sie die Couch nur mit Frauen teilten. Männer hätten ihnen keine Ruhe gelassen.

»Magst du Wein?«, fragte Delilah. Sie hatte nichts gegen Cocktails, aber bei einem Cocktail ist es zu leicht, nach einem Glas aufzuhören. Mit einer Flasche Wein ist es anders – sie steht auf dem Tisch, sie ist bezahlt, und es wäre eine Schande, sie nicht auszutrinken. Angesichts von Fatimas gegenwärtiger Überdrehtheit war Delilah neugierig, welche Facetten ihrer Persönlichkeit sie nach ein paar Gläsern enthüllen würde.

»Gern. Was würdest du empfehlen?«

»Ach, du willst mich wohl in Verlegenheit bringen, weil ich Französin bin?«

Fatima lachte. »Erlebst du das öfter?«

»Manchmal. Aber es macht mir nichts aus. Ich liebe Wein.«

Sie dachte an einen Beaujolais Cru, entdeckte aber überrascht einen 2007er Emilio’s Terrace von Schlein aus dem kalifornischen Napa Valley auf der Karte. Den fand man selten. Sie bestellte eine Flasche.

»Warum trägst du ein Messer?«, fragte Fatima, als die Kellnerin wieder weg war.

»Ich wurde in Paris einmal überfallen.«

»Das tut mir leid. Wurdest du … verletzt?«

Eine höfliche, indirekte Art der Frage, die Delilah zu schätzen wusste. Wie üblich in solchen Angelegenheiten log sie nicht. Sie arrangierte nur die Wahrheit neu.

»Nein. Ich hatte Glück. Aber danach wollte ich mich nicht mehr auf mein Glück verlassen. Wenn ich heute ausgehe, vor allem bei Nacht, habe ich immer meinen kleinen Freund dabei.«

»Kann ich es sehen?«

Delilah sah sich um. Ein paar Männer beobachteten sie, und Delilah vermied sorgfältig jeden Blickkontakt, damit er nicht als Einladung missverstanden wurde.

Sie zog das Hideaway vorsichtig heraus und verbarg es in der Handfläche. Sie war unbesorgt, dass Fatima das ungewöhnliche Material auffallen würde. Kompositmesser waren durchaus im Handel erhältlich, wenn auch nicht in dieser Qualität.

»Hinter der Speisekarte«, sagte sie. »Es sehen dich zu viele von diesen Männern an, und ich glaube nicht, dass man in London ein Messer tragen darf.«

»Nur mich? Ich denke, die sehen uns beide an.«

»Tja, wahrscheinlich hast du recht.«

Sie nahm das Messer an der Klinge und reichte es Fatima mit dem Griff voraus. »Hier, probier mal aus, ob es passt. Über den Zeige- und Mittelfinger. Vorsicht, es ist sehr scharf. O ja, ich glaube, es sitzt ziemlich gut.«

Fatima ballte die Hand zur Faust, drehte sie zu sich um und betrachtete sie einen Moment lang. »Wow.«

»Siehst du? Klein und gut zu verstecken, leicht erreichbar, und man kann es einem kaum wegnehmen. Diese Arschlöcher hatten Glück heute Abend, was? Dass die beiden anderen Männer kamen, um sie zu retten.«

Fatima lachte und gab ihr das Messer zurück. Sie hielt es ihr mit der Schneide voran hin, was jemand, der Erfahrung mit Messern hat, nie tun würde.

Die Kellnerin brachte ihren Wein. Delilah lehnte das Angebot ab, ihnen etwas einzuschenken. Sie wollte erst nur ganz wenig haben. Der Rest sollte atmen können.

»Trotzdem, was glaubst du, wer das war?«, fragte sie, während sie einen kleinen Schluck in jedes Glas goss. »Ein Kerl mit einem Messer, der andere mit einem Schlagstock … vielleicht Undercover-Polizisten? Aber warum hätten sie dann sagen sollen ›Polizei nix gut‹?«

Sie spielte bewusst die Ahnungslose. Unmöglich hätten diese Männer Cops sein können. Ein Polizist trug vielleicht einen Schlagstock, aber er hätte nicht ohne Warnung so zugeschlagen. Und sie hatte noch nie einen Cop gesehen, der jemandem ein Messer an die Kehle hielt, um ihn gefügig zu machen. Oder einen Verbrecher verscheuchte, ohne einen Versuch zu machen, ihn zu verhaften.

»Ich weiß nicht, wer das war«, sagte Fatima und griff nach ihrem Glas. »Aber ich bin froh, dass sie aufgetaucht sind.«

Zum zweiten Mal hatte Delilah das Gefühl, dass Fatima nicht die Wahrheit sagte. Sie wollte nachdenken, die Dinge verarbeiten. Aber das musste bis später warten.

Sie stießen an und tranken. »Wow«, sagte Fatima. »Du hast die Ehre deines Vaterlands gerettet. Selbst wenn du keinen französischen bestellt hast.«

Delilah lachte. »Schmeckt er dir?«

»Er ist köstlich.«

»Ja, der 2007er war der Traum jedes Winzers. Ein warmes, trockenes Frühjahr, keine Hitzewellen während der Sommermonate, sodass die Trauben langsam und gleichmäßig reifen konnten. Jeder ehrliche französische Winzer muss den Hut ziehen vor diesem Wein.«

Fatima, die von der überstandenen Gefahr offenbar immer noch wie aufgezogen war, hatte bald ausgetrunken. Delilah tat es ihr nach und schenkte ihnen noch ein Glas ein. Der Wein breitete sich herrlich warm in ihrem Bauch aus, und sie fühlte eine leichte, angenehme Unschärfe am Rand ihrer Wahrnehmung.

Sie machten es sich Seite an Seite auf der Couch bequem. Die Atmosphäre voll Gelächter und Gesprächen war wohltuend heiter, ein Kokon warmer Laute, der ihr Ende der Couch wie ein persönliches, intimes Refugium vor der Welt erscheinen ließ.

»Darf ich dich etwas fragen?«, sagte Delilah, während sie an ihrem Wein nippten. »Nicht für das Interview. Nur als Freundin.«

Fatima sah sie mit leicht verschwommenem Blick an. »Natürlich.«

»Als du vorhin gesagt hast: ›Das ist die Wahl, die sie uns aufzwingen‹, wie hast du das gemeint?«

Fatima trank einen Schluck. »Ich habe gemeint … wenn dir jemand wehtut, wirklich wehtut, sodass es nicht wiedergutzumachen ist, dann musst du dich doch wehren, sonst stirbst du innerlich.«

»Sich wehren … du meinst, ihm auch wehtun?«

»Manchmal bedeutet es das. Wie bei diesen Männern heute Abend. Wünschst du dir jetzt nicht, ihnen wehtun zu können?«

»Nein. Der eine Kerl, der den Schlagstock abbekommen hat, dem tut vielleicht nie wieder etwas weh. Ich weiß nicht.«

»Ja. Und warum willst du ihnen nicht wehtun? Sie hätten uns ganz sicher etwas angetan.«

»Aber sie haben es nicht.«

»Wieder ja. Und dieser Mann – ich setze voraus, dass es ein Mann war –, der dich in Paris überfallen hat: Wünschst du dir, ihm wehtun zu können?«

»Nein.«

»Weil du, wie du sagst, Glück hattest. Er hat dich nicht verletzt. Aber was, wenn doch? Was, wenn er dich vergewaltigt hätte? Was, wenn er deine Schwester oder deinen Bruder vergewaltigt hätte? Würdest du ihm dann auch nichts antun wollen?«

»Ich würde ihn umbringen wollen.«

»Und was, wenn er dich für die Vergewaltigung verantwortlich gemacht hätte? Weil du ihn provoziert hättest, weil du es so wolltest?«

»Das wäre noch schlimmer.«

»Dann kannst du dir vielleicht vorstellen, wie es für Familien wie die meine ist. Erst denkst du, es könnte nichts Schlimmeres geben, als dass Amerika deine Brüder, deine Schwestern, deine Kinder mit Drohnen ermordet. Aber dann stellst du fest, dass du dich geirrt hast. Weil nämlich danach, wenn ihr euch versammelt, um das tote Kind zu beweinen, Amerika eine zweite Drohne schickt, um die Trauernden zu bombardieren. Weil ein Berater im Weißen Haus dir erzählt, dass dein Kind getötet wurde, weil ihr keine guten Eltern wart. Weil irgendein überprivilegierter Kolumnist vom Time Magazine dir weismachen will, dass dein Kind ermordet werden musste, damit seines leben kann. Oder weil der amerikanische Botschafter bei den Vereinten Nationen behauptet, dass es eine halbe Million toter irakischer Kinder ›wert war‹.«

Delilah nickte. »Ja. Dann wäre es noch viel schlimmer.«

»Du sagst, du würdest ihn töten wollen. Und wenn du die Gelegenheit dazu hättest?«

»Ich weiß nicht. Aber … was ist mit ›Hass kann Hass nicht vertreiben; nur Liebe kann das‹? All die Dinge, die du in deinem Appell an den amerikanischen Verteidigungsminister gesagt hast?«

»Ich denke, das ist eine schöne Hoffnung. Aber manchmal … ich weiß nicht. Manchmal denke ich, das Bedürfnis nach Rache muss doch einen Grund haben. Es ist so natürlich, so universell, so tief in uns verankert. Gibt es also vielleicht einen Punkt, an dem es unklug wäre, es zu bekämpfen? Ich meine, gegen etwas anzugehen, das so fundamental in unserer Natur liegt, wäre so ähnlich, wie sich anzugewöhnen, auf den Händen statt auf den Füßen zu gehen. Ja, es ist machbar, man kann damit kurze Entfernungen zurücklegen, aber ist es auch sinnvoll? Wir sind einfach nicht so gebaut.«

Delilah spürte, dass die Dinge, unter deren Druck sich diese Frau nachts schlaflos im Bett wälzte, jetzt verführerisch dicht unter der Oberfläche herumwirbelten. Die Kunst war, sie unauffällig hervorzulocken.

»Ich verstehe, was du meinst. Aber sind nicht unsere Vernunft und die Eigenschaft der Barmherzigkeit ebenso fundamentale Bestandteile unseres Menschseins? Du weißt schon, die besseren Seiten unserer Natur?«

»Aber das Wesentliche ist doch, zu wissen, welche Aspekte unserer Natur die jeweilige Situation erfordert, oder nicht? Du zitierst Shakespeare, gut, hier ist noch ein Zitat aus Heinrich V.: ›Im Frieden kann so wohl nichts einen Mann / als Milde und bescheidne Stille kleiden, / doch bläst des Krieges Wetter euch ins Ohr …‹«

Delilah fuhr fort: »Dann ahmt den Tiger nach in seinem Tun, / spannt eure Sehnen, ruft das Blut herbei …«

Fatima nickte mit ernster Miene. »›Entstellt die liebliche Natur mit Wut.‹« Sie trank ihr Glas aus, schloss die Augen und atmete tief durch. Dann sah sie Delilah an. »Es freut mich, dass du Shakespeare magst. Und es tut mir leid, dass ich so philosophisch bin.«

Es war enttäuschend, dass Fatima das vielversprechende Gesprächsthema abschloss, aber Delilah war klar, dass sie nicht weiter in sie dringen durfte. Jedenfalls nicht direkt.

»Aber das macht doch nichts. Ich habe dich schließlich gefragt. Außerdem gefällst du mir, wenn du philosophisch bist. Na ja, nicht unbedingt philosophisch, aber ehrlich. Wo immer dich das hinführt.«

Fatima lächelte ihr trauriges Lächeln. »Und du wirst wirklich nichts davon drucken?«

»Ich sagte doch, ich stehe hinter deiner Arbeit. Ich möchte nur einen Artikel schreiben, der dich unterstützt. Du kannst mir vertrauen. In Ordnung?«

Fatima lächelte und drückte Delilahs Hand. »Danke. Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe. Weißt du, erst war ich ein wenig eingeschüchtert, als du mich bei der Demonstration angesprochen hast.«

Delilah war sich der Wärme von Fatimas Berührung deutlich bewusst. »Eingeschüchtert? Warum?«

»Weil du so schön bist. Und so selbstsicher.«

»Von dir ist das ein ziemliches Kompliment. Weißt du, mir ging es genauso.«

Fatima lachte. »Lügnerin.«

»Ich lüge nicht. Ich glaube, du bist viel zu bescheiden. Aber darum kümmern wir uns beim nächsten Glas Wein.«

Sie füllte die Gläser wieder auf und lehnte sich neben Fatima zurück. »Es ist wahr. Du bist schön, sehr sachkundig und unwiderstehlich vor einer Menschenmenge. Wie hätte ich da nicht eingeschüchtert sein sollen?«

Fatima lächelte. »Du bist wirklich sehr nett. Und es tut mir leid, wenn ich so paranoid wirke dessentwegen, was du schreibst. Es ist nur … eine Menge Leute blicken auf mich. Verstehst du, was ich meine?«

Delilah war gefesselt. »Nicht genau. Du meinst, weil du in der Öffentlichkeit stehst?«

Fatima nickte vielleicht einen Hauch zu eifrig, als wäre sie dankbar dafür, dass Delilah eine einleuchtende Erklärung für ihre Bemerkung geliefert hatte. »Ja … das. Es ist … der Druck ist manchmal sehr groß. Ich schwöre, es gibt Zeiten, da möchte ich am liebsten mein ganzes Leben hinter mir zurücklassen.«

Delilah musste wieder daran denken, wie Rain sie nach Phuket mitgenommen hatte. Sie hatte bereits begonnen, sich für die Idee zu erwärmen, mit Fatima etwas Ähnliches zu unternehmen … und jetzt bot sich der ideale Ansatzpunkt. Einen Versuch war es wert. Wie sonst sollte sie so viel Zeit in engem Kontakt mit Fatima verbringen, dass sie an den Laptop herankam oder etwas beobachten konnte, was der MI6 wissen wollte.

Sie hoffte, dass es nicht nur am Wein lag und der Plan, der in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen begann, Hand und Fuß hatte. Sie glaubte schon. Die Kunst würde sein, das Management dafür zu begeistern, wenn sie ihn vorlegte. Na schön, es gab nichts Besseres als ein Fait accompli, wenn man etwas erreichen wollte.

»Ich habe da … eine ganz verrückte Idee«, sagte sie. »Ich meine, es ist eine gute Idee, glaube ich, aber verrückt, weil wir uns erst so kurze Zeit kennen.«

Fatima nippte an ihrem Wein. »Ja?«

»Eines der Magazine, für die ich freiberuflich arbeite. Sie haben einen neuen Auftrag. Sie wollen jemanden nach Französisch-Polynesien schicken. Eine Hymne auf das Paradies. Alle Kosten inklusive. Eine Menge Leute reißen sich um den Job, wie du dir vorstellen kannst. Aber ich denke, ich könnte ihn an Land ziehen, wenn ich auf die richtigen Knöpfe drücke. Also, meine verrückte Idee … hättest du Lust mitzukommen?«

Fatima starrte sie an. »Ist das dein Ernst?«

»Ja, völlig. Ich müsste natürlich ein paar Stunden am Tag dies und das fotografieren, aber alles andere ist Freizeit. Gutes Essen, schöne Strände, jede Menge Sonne. Es würde Spaß machen, es mit einer Freundin zu teilen.«

»Ich würde sehr gern. Aber ich weiß nicht, ob ich hier weg kann.«

Delilah wusste nicht, ob das eine höfliche Absage werden sollte oder ob es wirklich etwas in London gab, das sie zurückhielt. In letzterem Fall fragte sie sich, was es sein konnte. Sie beschloss, noch ein bisschen nachzuhaken.

»Aber du bist doch Schriftstellerin, nicht wahr? Nimm doch deinen Laptop mit und schreib am Strand.«

Fatima nickte und sah in die Ferne, als würde sie nachdenken. »Vermutlich könnte ich das tun.«

»Meinst du wirklich? Ich will dich nicht drängen. Ich weiß nicht einmal sicher, ob ich den Auftrag bekommen kann. Aber falls ja, müsstest du lediglich den Flug bezahlen. Und falls das ein Problem sein sollte, du würdest mir einen Gefallen tun, wenn du mir hilfst, ein paar von meinen zahllosen Vielfliegermeilen aufzubrauchen.«

»Nein, die Flugkosten sind kein Problem, vor allem, wenn alles andere umsonst ist. Es ist nur … ich bin eine ganze Weile nicht mehr aus London herausgekommen. Was mir allerdings nicht besonders gut getan hat. Manchmal glaube ich, ich werde hier weniger gebraucht, als ich immer denke. Und wenn schon, dann müssten sie eben eine Weile ohne mich auskommen. Oder mich online kontaktieren. Um welche Zeitspanne geht es eigentlich? Ein paar Tage? Eine Woche?«

Da war es wieder, dieses … Unbehagen über ihre Lebensumstände in London. Und gebraucht von wem? So viele Andeutungen, Fährten, Möglichkeiten, die verfolgt werden mussten. Später.

»Wahrscheinlich nur ein paar Tage, aber ich versuche, es etwas auszudehnen. Es ist ein langer Flug von London, etwa vierundzwanzig Stunden von Tür zu Tür, also sollten wir so lange bleiben wie möglich, oder?«

Fatima lächelte. »Du bist sehr überzeugend.«

»Und du bist sehr lieb. Ein paar Tage oder eine Woche im Paradies sollte eigentlich nichts sein, für das man große Überredungskünste braucht.«

»Okay, jetzt bin ich schon ganz aufgeregt. Wann weißt du Bescheid?«

»Ich mache morgen ein paar Anrufe und sehe zu, was ich erreichen kann. Und ich werde all meine Überredungskünste einsetzen.«

Fatima lachte. »Dann haben sie keine Chance.«

star

Am nächsten Tag traf sie sich mit Kent im The Fumoir im Claridge’s Hotel, nur ein paar Blocks vom Connaught entfernt. Es war der zweite Eintrag auf Kents Liste, und als sie ihn am Morgen von einer Telefonzelle aus anrief, entschied sie, dass der Ort so gut oder schlecht war wie die anderen auf dem USB-Stick.

Die Bar entpuppte sich als ziemlich spektakulär – dunkel, geheimnisvoll, verborgen hinter einer prachtvollen Art-déco-Tür. In der gut besuchten Lobby nahmen echte Londoner Ladys und betuchte Touristen den Nachmittagstee ein. In der Hauptbar war es ähnlich voll, nur dass sich dort die Champagnerszene tummelte. Und hier war diese Flüsterkneipe aus den 1930er-Jahren, ganz auberginefarbener Samt und geschliffenes Kristallglas und gedämpfte Konversation. Sie bot nur Platz für vielleicht ein Dutzend Gäste, und Delilah war froh, dass es noch Nachmittag war. Abends hätten sie bestimmt keine Sitzplätze bekommen.

Kent erwartete sie bereits, wie schon beim ersten Mal versteckt in einer Ecke auf einer opulenten Bank. Sie fragte sich, ob er aus taktischen Gründen so frühzeitig kam oder ob er sich einfach gern in einem solchen Juwel von Bar aufhielt und auf eine Frau wartete, mit der er verabredet war. Wahrscheinlich beides. Wieder spielte er den eleganten Finanzmann: marineblauer Dreireiher, lila gestreiftes Hemd, dunkellila Krawatte. Es gab noch ein paar andere Männer im Anzug, hochrangig oder unverantwortlich genug, mitten am Tag auf einen Cocktail das Büro zu verlassen. Aber keiner wirkte so elegant wie Kent. Er erhob sich, als er Delilah sah, und küsste sie auf beide Wangen.

»Hallo«, sagte er. »Was für ein Anblick für müde Augen.«

Sie setzte sich ihm gegenüber hin. »Tatsächlich? Was fehlt Ihren Augen denn?«

Er lachte in sich hinein. »Wissen Sie, wenn Sie so zu sticheln anfangen, muss ich daraus schließen, dass Sie ein Auge auf mich geworfen haben. Und je mehr Sie es leugnen, desto sicherer werde ich mir sein.«

Sie mochte seine Arroganz, auch wenn sie nicht vorhatte, ihr nachzugeben. »Sie können denken, was Sie wollen. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass die Realität in Ihre Träume eindringt.«

»Oh, Sie haben ja keine Ahnung. Möchten Sie etwas trinken?«

Sie sah sich um. »Ich schätze, es wäre eine Schande, es nicht zu tun.«

»Ja, prachtvoll, nicht wahr? Sie können über den Untergang des Empire sagen, was Sie wollen, aber auf Bars verstehen wir uns.« Er winkte dem Barkeeper. »Zwei bitte, Niall. Vielen Dank.«

»Warum bin ich nicht überrascht, dass Sie den Barkeeper kennen?«

»Meine Liebe, ich kenne den Barkeeper jedes Londoner Etablissements, das sein Geld wert ist. Wenn Sie gekostet haben, was Niall Ihnen mixt, werden Sie es zu schätzen wissen. Und ich weiß, ich weiß. Ich hätte mich zurückhalten und Sie selbst bestellen lassen sollen. Aber lassen Sie uns nicht streiten, ja? Falls ich mich irre, dürfen Sie ihn mir ins Gesicht schütten. Sollte ich recht haben, wird mein Lohn das Vergnügen sein, Ihnen beim Genießen zuzusehen. Ist das ein faires Angebot?«

Sie schüttelte den Kopf. Der Mann war unverbesserlich. Das hätte sie ihm natürlich auch sagen können, aber sie war sich ziemlich sicher, dass ihn das nur noch mehr in Fahrt gebracht hätte. Besser, sie ließ ihm einfach seinen Spaß.

Während sie auf die Getränke warteten, machten sie Small Talk über London wie zwei gewöhnliche Menschen, die sich in einer Bar kennenlernen. Nach ein paar Minuten brachte der Kellner zwei taufeuchte Cocktailgläser, gefüllt mit einer halb durchsichtigen goldenen Mixtur.

Als der Mann wieder weg war, erhob Kent sein Glas. »Auf Ihren Erfolg.«

Sie stießen an und tranken. Kent sah sie erwartungsvoll an. »Und? Schütten Sie es mir ins Gesicht?«

»Nein, es ist tatsächlich ganz köstlich. Was ist es?«

»Es heißt Afterglow, Nachglühen. Gin, Absinth, Amaro, Ingwer, Zitronen, Orangen und Muskat. Alle wichtigen Nahrungsmittelgruppen. Ich trank einmal einen in der Flatiron Lounge in New York und erzählte Niall davon. Seine Interpretation gefällt mir besser – weniger süß, auch mit Eis gemixt, aber abgegossen. Ziemlich stark. Seien Sie vorsichtig.«

Nachglühen. Gut, wenigstens hatte er genug Klasse oder Verstand gehabt, nicht etwas wie Sex on the Beach oder etwas Ähnliches zu bestellen. Und es schmeckte gut.

Sie unterrichtete ihn über ihre Fortschritte bei Fatima. Das, was vor dem Momtaz passiert war, machte ihn genauso neugierig wie sie.

»Sie erweckten den Eindruck von Bodyguards«, sagte Delilah, »nicht von Samaritern. Und es wirkte auch nicht wie ein beliebiger Job. Sie sind auf diese zwei Kerle losgegangen wie Wachhunde, die man von der Kette gelassen hat. Als wären sie wütend, weil jemand ihren Herrn und Meister bedroht. Was mich verwirrt, ist die Art, wie Fatima sich verhalten hat – als hätte sie gar nichts von ihrer Anwesenheit gewusst.«

»Vielleicht war es ja so. Vielleicht haben sie sie eher locker beschattet. Oder sie haben Sie beobachtet.«

Sie unterdrückte ihre Verärgerung. »Ich garantiere Ihnen, Kent, niemand ist mir gefolgt. Nicht gestern Nacht, nicht jetzt. Sie waren auf Fatima angesetzt. Ob sie davon wusste oder nicht.«

»Sie wird also bewacht, hat aber keine Ahnung davon. Ist sich dessen zumindest nicht vollständig bewusst.«

»Und wie interpretieren Sie das?«

Er stieß einen langen Atemzug aus. »Sie ist … jemandem wichtiger, als dieser Jemand sie wissen lassen möchte?«

»Oder jemand vertraut ihr nicht so, wie sie es gern hätte.«

»Sie glauben, dass sie sie eher überwachen als beschützen?«

»Keine Ahnung. Sie wirkte jedenfalls … ich weiß nicht. Überrascht, das auf jeden Fall, als diese zweiten Typen auftauchten. Aber auch ebenso verwirrt wie erleichtert. Ich glaube, sie hatte den Verdacht, dass sie beobachtet wurde, war sich aber nicht sicher. Vielleicht ist sie sich der Existenz von Bodyguards, oder was immer, zwar bewusst, will sie aber nicht wahrhaben?«

Kent nickte. »Das könnte ich mir vorstellen.«

»Haben Sie Zugang zu Polizeiberichten? Ich halte es für wahrscheinlich, dass es einen geben wird – ich glaube, einer der Kerle hat es nicht überlebt.«

»Ich kann jedenfalls versuchen, das zu überprüfen.«

»Lassen Sie mich wissen, was sie herausfinden.«

»Das wollte ich damit sagen. Aber bis dahin: Jetzt wissen Sie, dass Fatima beschattet wird. Ich sagte Ihnen ja, dass Sie vorsichtig sein müssen.«

Sie betrachtete ihn.

»Natürlich«, fügte er hinzu, »das war Ihnen klar. Wie auch immer, wie sieht Ihr nächster Zug aus?«

»Wir haben darüber gesprochen, zusammen wegzufahren.«

»Eine Reise? Sie machen schnelle Fortschritte.«

Sie gab keine Antwort. Sie sah ihn nur unbewegt an und fragte sich, ob es sich lohne, darauf hinzuweisen, wie lächerlich es war, dass er sich einbildete, in einer Position zu sein, Erfolg oder Misserfolg ihrer Operation beurteilen zu können.

Er musste ihre Gedanken erraten haben, denn er sagte: »Ich bin beeindruckt, das ist alles. Denken Sie daran, Sie haben es mit jemandem zu tun, der die beiden vorigen Agenten, die wir auf sie angesetzt hatten, sofort durchschaute.«

Sie merkte, dass er sich nichts weiter dabei gedacht hatte, und wusste, dass sie toleranter sein sollte. Aber sie hatte es so verdammt satt, von Männern beurteilt zu werden. Ob Kompliment oder Kritik, spielte keine Rolle. Der springende Punkt war ihre Überzeugung, überhaupt das Recht dazu zu haben.

»Also gut. Sie meinte, dass sie ihren Laptop mitnehmen muss. Ist es nicht das, was Sie wollten?«

»Natürlich ist es das. Aber hören Sie, ich habe es bis jetzt nicht erwähnt, weil ich diesen ganzen Unsinn mit dem Need-to-know-Prinzip zu respektieren versuche. Nur einmal hypothetisch gesprochen: Glauben Sie nicht, dass wir ihre Wohnung bereits genauestens unter die Lupe genommen haben? Ihr Laptop ist mit Firevault verschlüsselt. Er war nutzlos.«

»Ich kann vielleicht Zugang bekommen, wenn sie bereits eingeloggt ist. Oder einen Weg finden, die Eingabe des Passworts aufzuzeichnen. Ein Hotel bietet naturgemäß Möglichkeiten, die ich nicht habe, wenn wir uns weiter nur zum Kaffee und auf ein paar Drinks treffen.«

Er nickte und musterte sie. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Sie haben natürlich recht. Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Sagen Sie mir, was Sie im Sinn haben.«

Sie umriss in kurzen Zügen, was sie Fatima bereits vorgeschlagen hatte – eine kostenlose Reise für zwei nach Französisch-Polynesien.

»Sind Sie verrückt? MI6 wird das niemals bezahlen. Und ich bezweifle stark, dass Ihre Erbsenzähler sich darauf einlassen. Ich glaube, das würden nicht einmal die Amerikaner, und die haben Geld wie Heu. Abgesehen davon, wie zum Teufel sollen wir dafür so kurzfristig eine Legende konstruieren?«

Es gefiel ihr, dass er praktische Einwände machte. Praktische Einwände bedeuteten, dass er im Prinzip bereits einverstanden war. Jetzt ging es nur noch darum, um den Preis zu feilschen.

»Sie wollen mir weismachen, dass weder der MI6 noch die CIA auch nur einen einzigen aufgeschlossenen Redakteur bei einem passenden Magazin sitzen haben?«

»Ich habe keine Ahnung, was sich machen lässt. Ich weiß nur, dass es äußerst hektisch zugehen wird, vorausgesetzt, es kommt überhaupt dazu.«

»Tja«, sagte sie und genoss das Gefühl, die besseren Karten in der Hand zu haben, »das ist es aber, was ich Fatima erzählt habe. Es wird merkwürdig aussehen, wenn ich erst so etwas ankündige und dann sage: ›Tut mir leid, das mit Polynesien haut nicht hin, aber ich habe noch ein hübsches Billighotel in Bristol bekommen.‹«

»Sie haben verdammt recht, dass es merkwürdig aussehen würde, und das wussten Sie von Anfang an.«

»Und wenn schon. Es ist der richtige Weg, Kent, und Sie sind klug genug, das zu sehen. Bringen Sie sie an einen fernen Ort, wo sie sich entspannen und abschalten und vergessen kann, was immer sie in London so beschäftigt. Einen Ort mit vielen Aktivitäten – Yoga, Wassersport, egal, Hauptsache, es bringt sie dazu, dass sie ihren Laptop zu schließen vergisst, bevor sie unter die Dusche geht oder zum Tauchen in die Lagune oder zu einer Wellnessanwendung.«

»Wellnessanwendungen? Das gehört auch zum Paket?«

»Hören Sie, wenn Ihre Leute derartig verquere Prioritäten setzen, dass sie lieber einen Sarinanschlag riskieren als die Möglichkeit, dass eine feindliche Agentin vielleicht gewisse Elemente einer Operation genießen kann, dann haben Sie diesen Krieg bereits verloren, und ich verschwende nur meine Zeit, wenn ich versuche, Ihnen zu helfen.«

Kent nippte an seinem Drink, während er sie beobachtete. Sie hatte keine Ahnung, was er dachte. Es war ihr egal. Sie wusste, worauf es ankam.

»Das ist ein ziemlich guter Spruch«, sagte er nach einer Weile. »Der Teil mit ›einen Sarinanschlag riskieren‹, meine ich. Den werde ich gegenüber den Sparfanatikern in der Finanzabteilung anbringen. Vielleicht funktioniert es ja.«

Sie ließ nicht zu, dass die Befriedigung, die sie fühlte, sich in ihrer Miene zeigte. »Egal, in welchem Hotel Sie reservieren, denken Sie daran, es ist nur für mich. Das Magazin kann nicht wissen, dass ich eine Freundin mitbringe – das würde ich denen nicht mitteilen.«

»Ja, denn dann würden sie vermutlich Ihr Tageshonorar reduzieren. Und das wollen wir doch unbedingt vermeiden.«

Sie erwiderte nichts. Entscheidend war, dass sie gewonnen hatte. Darüber hinaus würde sie sich nicht mit ihm anlegen.

Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch, sah zur Seite und dachte offenbar über etwas nach, traf dann eine Entscheidung. Er sagte: »Ach, zum Teufel, was soll’s. Dafür wird man mich wahrscheinlich feuern, aber dann sind wir wenigstens keine Kollegen mehr, und ich kann Sie zu einem richtigen Date einladen.«

Sie lächelte. Es widerstrebte ihr, ihn zu mögen, aber es war schwer, ihm zu widerstehen. »Na schön, gut zu wissen, dass Sie so oder so gewinnen.«

»Folgendes: Unsere Techniker haben eine App entwickelt. Sie läuft auf Computern, Tablets, sogar Smartphones. Sie ist sehr empfindlich für gewisse Töne. Besonders den Anschlag von Tastaturen. Es würde mich überraschen, wenn Ihre Laborgenies nicht an etwas Ähnlichem arbeiten.«

Sie wartete neugierig.

»Es ist im Grunde ein Keylogger-Programm. Jede Taste einer Computertastatur hat eine individuelle Geräuschsignatur. Für das menschliche Ohr sind die Unterschiede viel zu subtil, aber das Programm kann sie ziemlich genau erkennen. Wenn man nahe genug dran ist, wenn jemand sich nicht Mühe gibt, besonders leise zu tippen, wenn es nicht allzu viele Hintergrundgeräusche gibt, wenn die gesamte Akustik stimmt, wenn es sich um eine mechanische Tastatur und keine virtuelle handelt …«

»Eine Menge Wenns.«

»Ja. Aber wenn ich Ihnen Zugang zu der App verschaffe, könnten Sie sie auf Ihrem Laptop oder ihrem Telefon installieren. Und mit ein bisschen Glück sind Sie sie dann in der Nähe, wenn Fatima auf ihren Laptop zugreift. Falls es Ihnen gelingt, die App dabei laufen zu lassen, könnten Sie Ihre Passwörter belauschen, die Websites, die sie besucht, die Nachrichten, die sie tippt … einfach alles. Sofern Sie in einem Wi-Fi-Netzwerk eingeloggt sind, lädt die App sie automatisch auf eine sichere Website hoch. Ansonsten lässt sich das auch manuell erledigen. Zumindest könnten sie Fatimas Firevault-Passwort knacken, und unsere Einbruchsspezialisten erledigen dann den Rest, wenn sie wieder in London ist.«

»Und das haben Sie noch nicht versucht?«

»An einem öffentlichen Ort funktioniert es nicht – na gut, in einer Bibliothek vielleicht, aber ganz bestimmt nicht in der Art von Cafés, die Fatima frequentiert. Doch ein Hotelzimmer bietet so ungefähr die beste Gelegenheit, die es gibt.«

»Wenn es klappt, wie erklären Sie Ihren Leuten meinen Erfolg?«

»Wenn Sie Erfolg haben, garantiere ich Ihnen, dass niemand Fragen stellt.«

Delilah überlegte. Auf ihrem Telefon befanden sich keine sensiblen Daten. Selbst wenn der MI6 noch ein paar eigene Keylogger in der installierten App verpackt hatte, würden sie nichts von Wert finden. Und wenn die Operation vorüber war, konnte sie das Telefon einfach wegwerfen.

»Gut«, sagte sie. »Machen wir es so.«

Er nickte, und seine Miene wurde seltsam düster. »Da ist noch etwas, das ich Ihnen nicht sagen sollte.«

Sie fragte sich, wie viel von dem »nicht sagen sollte« echt war und wie viel erfunden, um sie dazu zu bringen, ihm zu vertrauen, vielleicht sogar mit ihm zu schlafen. Schwer zu sagen. Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Laut den Amerikanern«, fuhr er fort, »gibt es in letzter Zeit eine Menge Gemunkel. Sie wissen schon, in den Netzwerken, die ihre NSA überwacht. Und wir selbst haben auch einige ziemlich beunruhigende Signale aufgeschnappt. Übereinstimmender Meinung nach steht eine Art von Anschlag mit Massenvernichtungswaffen ungemütlich dicht vor der Ausführung. Und in seinem Zentrum befindet sich Fatimas Bruder Imran. Ich fürchte, meine Leute sind kurz davor, eine … eine Art Plan B in Gang zu setzen.«

Delilahs Kehle und Magen schnürten sich plötzlich zusammen. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich meine damit, wenn wir keinen anderen Zugang zu diesem Laptop finden, wird sich ein Team Fatimas bemächtigen und alle nötigen Informationen aus ihr herausholen – das Passwort, alles –, und zwar mit anderen Mitteln. Ziemlich unschönen Mitteln, um genau zu sein.«

Er beobachtete sie scharf. Sie wusste nicht, welche Fassade sie ihm präsentieren sollte. Ganz sicher nicht die der Bestürzung, die der Gedanke in ihr auslöste, Fatima könnte gefoltert werden.

»Warum werden wir immer zu dem, was wir hassen, Kent?«

Ein langes Schweigen entstand. »Ich weiß es nicht.«

»Stellen Sie sich je die Frage?«

»Ich versuche, es zu vermeiden.«

»Vielleicht ist das keine besonders gesunde Angewohnheit.«

»Sie und ich, wir treffen nicht die Entscheidungen, Delilah …«

»Nein, wir befolgen nur Befehle. Klingt das so, als hätten Sie es schon einmal irgendwo gehört?«

»Glauben Sie mir, ich möchte genauso wenig wie Sie, dass Plan B in Gang gesetzt wird. Besorgen Sie einfach das Passwort, einverstanden? Dann müssen wir uns darüber keine weiteren Gedanken machen.«

Einen Moment lang fragte sie sich, ob er diesen Plan B nur erfunden hatte, um sie zu motivieren, weil er befürchtete, dass Bora Bora nur Zeit- und Geldverschwendung war und sie eine zu enge Verbindung zu Fatima entwickelt hatte. Wenn ja, war es ihm zweifellos gelungen.

»Besorgen Sie mir die App«, sagte sie. »Und ich besorge Ihnen Ihr Passwort.«