Ort: Salon einer bequemen, wenn auch etwas verlotterten Villa des privaten Sanatoriums ›Les Cerisiers‹.
Nähere Umgebung: Zuerst natürliches, dann verbautes Seeufer, später eine mittlere, beinahe kleine Stadt. Das einst schmucke Nest mit seinem Schloß und seiner Altstadt ist nun mit gräßlichen Gebäuden der Versicherungsgesellschaften verziert und ernährt sich zur Hauptsache von einer bescheidenen Universität mit ausgebauter theologischer Fakultät und sommerlichen Sprachkursen, ferner von einer Handels- und einer Zahntechnikerschule, dann von Töchterpensionaten und von einer kaum nennenswerten Leichtindustrie und liegt somit schon an sich abseits vom Getriebe. Dazu beruhigt überflüssigerweise auch noch die Landschaft die Nerven, jedenfalls sind blaue Gebirgszüge, human bewaldete Hügel und ein beträchtlicher See vorhanden sowie eine weite, abends rauchende Ebene in unmittelbarer Nähe – einst ein düsteres Moor – nun von Kanälen durchzogen und fruchtbar, mit einer Strafanstalt irgendwo und dazugehörendem landwirtschaftlichem Großbetrieb, so daß überall schweigsame und schattenhafte Gruppen und Grüppchen von hackenden und umgrabenden Verbrechern sichtbar sind. Doch spielt das Örtliche eigentlich keine Rolle, wird hier nur der Genauigkeit zuliebe erwähnt, verlassen wir doch nie die Villa des Irrenhauses (nun ist das Wort doch gefallen), noch präziser: auch den Salon werden wir nie [12] verlassen, haben wir uns doch vorgenommen, die Einheit von Raum, Zeit und Handlung streng einzuhalten; einer Handlung, die unter Verrückten spielt, kommt nur die klassische Form bei.
Doch zur Sache. Was die Villa betrifft, so waren in ihr einst sämtliche Patienten der Gründerin des Unternehmens, Fräulein Dr. h. c. Dr. med. Mathilde von Zahnd, untergebracht, vertrottelte Aristokraten, arteriosklerotische Politiker – falls sie nicht noch regieren –, debile Millionäre, schizophrene Schriftsteller, manisch-depressive Großindustrielle usw., kurz, die ganze geistig verwirrte Elite des halben Abendlandes, denn das Fräulein Doktor ist berühmt, nicht nur weil die bucklige Jungfer in ihrem ewigen Ärztekittel einer mächtigen autochthonen Familie entstammt, deren letzter nennenswerter Sproß sie ist, sondern auch als Menschenfreund und Psychiater von Ruf, man darf ruhig behaupten: von Weltruf (ihr Briefwechsel mit C. G. Jung ist eben erschienen). Doch nun sind die prominenten und nicht immer angenehmen Patienten längst in den eleganten, lichten Neubau übergesiedelt, für die horrenden Preise wird auch die bösartigste Vergangenheit ein reines Vergnügen. Der Neubau breitet sich im südlichen Teil des weitläufigen Parks in verschiedenen Pavillons aus (mit Ernis Glasmalereien in der Kapelle) gegen die Ebene zu, während sich von der Villa der mit riesigen Bäumen bestückte Rasen zum See hinunterläßt. Dem Ufer entlang führt eine Steinmauer.
Im Salon der nun schwach bevölkerten Villa halten sich meistens drei Patienten auf, zufälligerweise Physiker, oder doch nicht ganz zufälligerweise, man wendet humane Prinzipien an und läßt beisammen, was zusammengehört. Sie leben für sich, jeder eingesponnen in seine [13] eingebildete Welt, nehmen die Mahlzeiten im Salon gemeinsam ein, diskutieren bisweilen über ihre Wissenschaft oder glotzen still vor sich hin, harmlose, liebenswerte Irre, lenkbar, leicht zu behandeln und anspruchslos. Mit einem Wort, sie gäben wahre Musterpatienten ab, wenn nicht in der letzten Zeit Bedenkliches, ja geradezu Gräßliches vorgekommen wäre: Einer von ihnen erdrosselte vor drei Monaten eine Krankenschwester, und nun hat sich der gleiche Vorfall aufs neue ereignet. So ist denn wieder die Polizei im Hause. Der Salon ist deshalb mehr als üblich bevölkert. Die Krankenschwester liegt auf dem Parkett, in tragischer und definitiver Stellung, mehr im Hintergrund, um das Publikum nicht unnötig zu erschrecken. Doch ist nicht zu übersehen, daß ein Kampf stattgefunden hat. Die Möbel sind beträchtlich durcheinandergeraten. Eine Stehlampe und zwei Sessel liegen auf dem Boden, und links vorne ist ein runder Tisch umgekippt, in der Weise, daß nun die Tischbeine dem Zuschauer entgegenstarren.
Im übrigen hat der Umbau in ein Irrenhaus (die Villa war einst der von Zahndsche Sommersitz) im Salon schmerzliche Spuren hinterlassen. Die Wände sind bis auf Mannshöhe mit hygienischer Lackfarbe überstrichen, dann erst kommt der darunterliegende Gips zum Vorschein, mit zum Teil noch erhaltenen Stukkaturen. Die drei Türen im Hintergrund, die von einer kleinen Halle in die Krankenzimmer der Physiker führen, sind mit schwarzem Leder gepolstert. Außerdem sind sie numeriert eins bis drei. Links neben der Halle ein häßlicher Zentralheizungskörper, rechts ein Lavabo mit Handtüchern an einer Stange.
Aus dem Zimmer Nummer zwei (das mittlere Zimmer) [14] dringt Geigenspiel mit Klavierbegleitung. Beethoven. ›Kreutzersonate‹. Links befindet sich die Parkfront, die Fenster hoch und bis zum Parkett herunterreichend, das mit Linoleum bedeckt ist. Links und rechts der Fensterfront ein schwerer Vorhang. Die Flügeltüre führt auf eine Terrasse, deren Steingeländer sich vom Park und dem relativ sonnigen Novemberwetter abhebt. Es ist kurz nach halb fünf nachmittags. Rechts über einem nutzlosen Kamin, vor den ein Gitter gestellt ist, hängt das Porträt eines spitzbärtigen alten Mannes in schwerem Goldrahmen. Rechts vorne eine schwere Eichentüre. Von der braunen Kassettendecke schwebt ein schwerer Kronleuchter. Die Möbel: Beim runden Tisch stehen – ist der Salon aufgeräumt – drei Stühle: wie der Tisch weiß gestrichen. Die übrigen Möbel leicht zerschlissen, verschiedene Epochen. Rechts vorne ein Sofa mit Tischchen, von zwei Sesseln flankiert. Die Stehlampe gehört eigentlich hinter das Sofa, das Zimmer ist demnach durchaus nicht überfüllt: Zur Ausstattung einer Bühne, auf der, im Gegensatz zu den Stücken der Alten, das Satyrspiel der Tragödie vorangeht, gehört wenig. Wir können beginnen.
Um die Leiche bemühen sich Kriminalbeamte, zivil kostümiert, seelenruhige, gemütliche Burschen, die schon ihre Portion Weißwein konsumiert haben und danach riechen. Sie messen, nehmen Fingerabdrücke, ziehen die Konturen der Leiche mit Kreide nach usw. In der Mitte des Salons steht Kriminalinspektor Richard Voß, in Hut und Mantel, links Oberschwester Marta Boll, die so resolut aussieht, wie sie heißt und ist. Auf dem Sessel rechts außen sitzt ein Polizist und stenographiert. Der Kriminalinspektor nimmt eine Zigarre aus einem braunen Etui.
[15] INSPEKTOR Man darf doch rauchen?
OBERSCHWESTER Es ist nicht üblich.
INSPEKTOR Pardon. Er steckt die Zigarre zurück.
OBERSCHWESTER Eine Tasse Tee?
INSPEKTOR Lieber Schnaps.
OBERSCHWESTER Sie befinden sich in einer Heilanstalt.
INSPEKTOR Dann nichts. Blocher, du kannst photographieren.
BLOCHER Jawohl, Herr Inspektor.
Man photographiert. Blitzlichter.
INSPEKTOR Wie hieß die Schwester?
OBERSCHWESTER Irene Straub.
INSPEKTOR Alter?
OBERSCHWESTER Zweiundzwanzig. Aus Kohlwang.
INSPEKTOR Angehörige?
OBERSCHWESTER Ein Bruder in der Ostschweiz.
INSPEKTOR Benachrichtigt?
OBERSCHWESTER Telephonisch.
INSPEKTOR Der Mörder?
OBERSCHWESTER Bitte, Herr Inspektor – der arme Mensch ist doch krank.
INSPEKTOR Also gut: Der Täter?
OBERSCHWESTER Ernst Heinrich Ernesti. Wir nennen ihn Einstein.
INSPEKTOR Warum?
OBERSCHWESTER Weil er sich für Einstein hält.
INSPEKTOR Ach so. Er wendet sich zum stenographierenden Polizisten. Haben Sie die Aussagen der Oberschwester, Guhl?
GUHL Jawohl, Herr Inspektor.
[16] INSPEKTOR Auch erdrosselt, Doktor?
GERICHTSMEDIZINER Eindeutig. Mit der Schnur der Stehlampe. Diese Irren entwickeln oft gigantische Kräfte. Es hat etwas Großartiges.
INSPEKTOR So. Finden Sie. Dann finde ich es unverantwortlich, diese Irren von Schwestern pflegen zu lassen. Das ist nun schon der zweite Mord –
OBERSCHWESTER Bitte, Herr Inspektor.
INSPEKTOR – der zweite Unglücksfall innert drei Monaten in der Anstalt ›Les Cerisiers‹. Er zieht ein Notizbuch hervor. Am zwölften August erdrosselte ein Herbert Georg Beutler, der sich für den großen Physiker Newton hält, die Krankenschwester Dorothea Moser. Er steckt das Notizbuch wieder ein. Auch in diesem Salon. Mit Pflegern wäre das nie vorgekommen.
OBERSCHWESTER Glauben Sie? Schwester Dorothea Moser war Mitglied des Damenringvereins und Schwester Irene Straub Landesmeisterin des nationalen Judoverbandes.
INSPEKTOR Und Sie?
OBERSCHWESTER Ich stemme.
INSPEKTOR Kann ich nun den Mörder –
OBERSCHWESTER Bitte, Herr Inspektor.
INSPEKTOR – den Täter sehen?
OBERSCHWESTER> Er geigt.
INSPEKTOR Was heißt: Er geigt?
OBERSCHWESTER Sie hören es ja.
INSPEKTOR Dann soll er bitte aufhören. Da die Oberschwester nicht reagiert Ich habe ihn zu vernehmen.
OBERSCHWESTER Geht nicht.
INSPEKTOR Warum geht es nicht?
OBERSCHWESTER Das können wir ärztlich nicht zulassen. Herr Ernesti muß jetzt geigen.
[17] INSPEKTOR Der Kerl hat schließlich eine Krankenschwester erdrosselt!
OBERSCHWESTER Herr Inspektor. Es handelt sich nicht um einen Kerl, sondern um einen kranken Menschen, der sich beruhigen muß. Und weil er sich für Einstein hält, beruhigt er sich nur, wenn er geigt.
INSPEKTOR Bin ich eigentlich verrückt?
OBERSCHWESTER Nein.
INSPEKTOR Man kommt ganz durcheinander. Er wischt sich den Schweiß ab. Heiß hier.
OBERSCHWESTER Durchaus nicht.
INSPEKTOR Oberschwester Marta. Holen Sie bitte die Chefärztin.
OBERSCHWESTER Geht auch nicht. Fräulein Doktor begleitet Einstein auf dem Klavier. Einstein beruhigt sich nur, wenn Fräulein Doktor ihn begleitet.
INSPEKTOR Und vor drei Monaten mußte Fräulein Doktor mit Newton Schach spielen, damit der sich beruhigen konnte. Darauf gehe ich nicht mehr ein, Oberschwester Marta. Ich muß die Chefärztin einfach sprechen.
OBERSCHWESTER Bitte. Dann warten Sie eben.
INSPEKTOR Wie lange dauert das Gegeige noch?
OBERSCHWESTER Eine Viertelstunde, eine Stunde. Je nachdem.
INSPEKTOR beherrscht sich Schön. Ich warte. Er brüllt Ich warte!
BLOCHER Wir wären fertig, Herr Inspektor.
INSPEKTOR dumpf Und mich macht man fertig.
Stille. Der Inspektor wischt sich den Schweiß ab.
[18] INSPEKTOR Ihr könnt die Leiche hinausschaffen.
BLOCHER Jawohl, Herr Inspektor.
OBERSCHWESTER Ich zeige den Herren den Weg durch den Park in die Kapelle.
Sie öffnet die Flügeltüre. Die Leiche wird hinausgetragen. Ebenso die Instrumente. Der Inspektor nimmt den Hut ab, setzt sich erschöpft auf den Sessel links vom Sofa. Immer noch Geigenspiel, Klavierbegleitung. Da kommt aus Zimmer Nummer 3 Herbert Georg Beutler in einem Kostüm des beginnenden achtzehnten Jahrhunderts mit Perücke.
NEWTON Sir Isaac Newton.
INSPEKTOR Kriminalinspektor Richard Voß. Er bleibt sitzen.
NEWTON Erfreut. Sehr erfreut. Wirklich. Ich hörte Gepolter, Stöhnen, Röcheln, dann Menschen kommen und gehen. Darf ich fragen, was sich hier abspielt?
INSPEKTOR Schwester Irene Straub wurde erdrosselt.
NEWTON Die Landesmeisterin des nationalen Judoverbandes?
INSPEKTOR Die Landesmeisterin.
NEWTON Schrecklich.
INSPEKTOR Von Ernst Heinrich Ernesti.
NEWTON Aber der geigt doch.
INSPEKTOR Er muß sich beruhigen.
NEWTON Der Kampf wird ihn wohl angestrengt haben. Er ist ja eher schmächtig. Womit hat er –?
INSPEKTOR Mit der Schnur der Stehlampe.
NEWTON Mit der Schnur der Stehlampe. Auch eine Möglichkeit. Dieser Ernesti. Er tut mir leid. [19] Außerordentlich. Und auch die Judomeisterin tut mir leid. Sie gestatten. Ich muß etwas aufräumen.
INSPEKTOR Bitte. Der Tatbestand ist aufgenommen.
Newton stellt den Tisch, dann die Stühle auf.
NEWTON Ich ertrage Unordnung nicht. Ich bin eigentlich nur Physiker aus Ordnungsliebe geworden. Er stellt die Stehlampe auf. Um die scheinbare Unordnung in der Natur auf eine höhere Ordnung zurückzuführen. Er zündet sich eine Zigarette an. Stört es Sie, wenn ich rauche?
INSPEKTOR freudig Im Gegenteil, ich – Er will sich eine Zigarre aus dem Etui nehmen.
NEWTON Entschuldigen Sie, doch weil wir gerade von Ordnung gesprochen haben: Hier dürfen nur die Patienten rauchen und nicht die Besucher. Sonst wäre gleich der ganze Salon verpestet.
INSPEKTOR Verstehe. Er steckt sein Etui wieder ein.
NEWTON Stört es Sie, wenn ich ein Gläschen Kognak –?
INSPEKTOR Durchaus nicht.
Newton holt hinter dem Kamingitter eine Kognakflasche und ein Glas hervor.
NEWTON Dieser Ernesti. Ich bin ganz durcheinander. Wie kann ein Mensch nur eine Krankenschwester erdrosseln! Er setzt sich aufs Sofa, schenkt sich Kognak ein.
INSPEKTOR Dabei haben Sie ja auch eine Krankenschwester erdrosselt.
NEWTON Ich?
INSPEKTOR Schwester Dorothea Moser.
INSPEKTOR Am zwölften August. Mit der Vorhangkordel.
NEWTON Aber das ist doch etwas ganz anderes, Herr Inspektor. Ich bin schließlich nicht verrückt. Auf Ihr Wohl.
INSPEKTOR Auf das Ihre.
Newton trinkt.
NEWTON Schwester Dorothea Moser. Wenn ich so zurückdenke. Strohblond. Ungemein kräftig. Biegsam trotz ihrer Körperfülle. Sie liebte mich, und ich liebte sie. Das Dilemma war nur durch eine Vorhangkordel zu lösen.
INSPEKTOR Dilemma?
NEWTON Meine Aufgabe besteht darin, über die Gravitation nachzudenken, nicht ein Weib zu lieben.
INSPEKTOR Begreife.
NEWTON Dazu kam noch der enorme Altersunterschied.
INSPEKTOR Sicher. Sie müssen ja weit über zweihundert Jahre alt sein.
NEWTON starrt ihn verwundert an Wieso?
INSPEKTOR Nun, als Newton –
NEWTON Sind Sie nun vertrottelt, Herr Inspektor, oder tun Sie nur so?
INSPEKTOR Hören Sie –
NEWTON Sie glauben wirklich, ich sei Newton?
INSPEKTOR Sie glauben es ja.
Newton schaut sich mißtrauisch um.
NEWTON Darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, Herr Inspektor?
[21] INSPEKTOR Selbstverständlich.
NEWTON Ich bin nicht Sir Isaac. Ich gebe mich nur als Newton aus.
INSPEKTOR Und weshalb?
NEWTON Um Ernesti nicht zu verwirren.
INSPEKTOR Kapiere ich nicht.
NEWTON Im Gegensatz zu mir ist Ernesti doch wirklich krank. Er bildet sich ein, Albert Einstein zu sein.
INSPEKTOR Was hat das mit Ihnen zu tun?
NEWTON Wenn Ernesti nun erführe, daß ich in Wirklichkeit Albert Einstein bin, wäre der Teufel los.
INSPEKTOR Sie wollen damit sagen –
NEWTON Jawohl. Der berühmte Physiker und Begründer der Relativitätstheorie bin ich. Geboren am 14. März 1879 in Ulm.
Der Inspektor erhebt sich etwas verwirrt.
INSPEKTOR Sehr erfreut.
Newton erhebt sich ebenfalls.
NEWTON Nennen Sie mich einfach Albert.
INSPEKTOR Und Sie mich Richard.
Sie schütteln sich die Hände.
NEWTON Ich darf Ihnen versichern, daß ich die ›Kreutzersonate‹ bei weitem schwungvoller hinunterfiedeln würde als Ernst Heinrich Ernsti eben. Das Andante spielt er doch einfach barbarisch.
INSPEKTOR Ich verstehe nichts von Musik.
Er zieht ihn aufs Sofa. Newton legt den Arm um die Schulter des Inspektors.
NEWTON Richard.
INSPEKTOR Albert?
NEWTON Nicht wahr, Sie ärgern sich, mich nicht verhaften zu dürfen?
INSPEKTOR Aber Albert.
NEWTON Möchten Sie mich verhaften, weil ich die Krankenschwester erdrosselt oder weil ich die Atombombe ermöglicht habe?
INSPEKTOR Aber Albert.
NEWTON Wenn Sie da neben der Türe den Schalter drehen, was geschieht, Richard?
INSPEKTOR Das Licht geht an.
NEWTON Sie stellen einen elektrischen Kontakt her. Verstehen Sie etwas von Elektrizität, Richard?
INSPEKTOR Ich bin kein Physiker.
NEWTON Ich verstehe auch wenig davon. Ich stelle nur aufgrund von Naturbeobachtungen eine Theorie darüber auf. Diese Theorie schreibe ich in der Sprache der Mathematik nieder und erhalte mehrere Formeln. Dann kommen die Techniker. Sie kümmern sich nur noch um die Formeln. Sie gehen mit der Elektrizität um wie der Zuhälter mit der Dirne. Sie nützen sie aus. Sie stellen Maschinen her, und brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte. So vermag heute jeder Esel eine Glühbirne zum Leuchten zu bringen – oder eine Atombombe zur [23] Explosion. Er klopft dem Inspektor auf die Schulter. Und nun wollen Sie mich dafür verhaften, Richard. Das ist nicht fair.
INSPEKTOR Ich will Sie doch gar nicht verhaften, Albert.
NEWTON Nur weil Sie mich für verrückt halten. Aber warum weigern Sie sich nicht, Licht anzudrehen, wenn Sie von Elektrizität nichts verstehen? Sie sind hier der Kriminelle, Richard. Doch nun muß ich meinen Kognak versorgen, sonst tobt die Oberschwester Marta Boll. Newton versteckt die Kognakflasche wieder hinter dem Kaminschirm, läßt jedoch das Glas stehen. Leben Sie wohl.
INSPEKTOR Leben Sie wohl, Albert.
NEWTON Sie sollten sich selber verhaften, Richard! Er verschwindet wieder im Zimmer Nummer 3.
INSPEKTOR Jetzt rauche ich einfach.
Er nimmt kurzentschlossen eine Zigarre aus seinem Etui, zündet sie an, raucht. Durch die Flügeltüre kommt Blocher.
BLOCHER Wir sind fahrbereit, Herr Inspektor.
Der Inspektor stampft auf den Boden.
INSPEKTOR Ich warte! Auf die Chefärztin!
BLOCHER Jawohl, Herr Inspektor.
Der Inspektor beruhigt sich, brummt.
INSPEKTOR Fahr mit der Mannschaft in die Stadt zurück, Blocher. Ich komme dann nach.
[24] BLOCHER Zu Befehl, Herr Inspektor. Ab.
Der Inspektor pafft vor sich hin, erhebt sich, stapft trotzig im Salon herum, bleibt vor dem Porträt über dem Kamin stehen, betrachtet es. Inzwischen hat das Geigen- und Klavierspiel aufgehört. Die Türe von Zimmer Nummer 2 öffnet sich, und Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd kommt heraus. Bucklig, etwa fünfundfünfzig, weißer Ärztemantel, Stethoskop.
FRL. DOKTOR Mein Vater, Geheimrat August von Zahnd. Er hauste in dieser Villa, bevor ich sie in ein Sanatorium umwandelte. Ein großer Mann, ein wahrer Mensch. Ich bin sein einziges Kind. Er haßte mich wie die Pest, er haßte überhaupt alle Menschen wie die Pest. Wohl mit Recht, als Wirtschaftsführer taten sich ihm menschliche Abgründe auf, die uns Psychiatern auf ewig verschlossen sind. Wir Irrenärzte bleiben nun einmal hoffnungslos romantische Philanthropen.
INSPEKTOR Vor drei Monaten hing ein anderes Porträt hier.
FRL. DOKTOR Mein Onkel, der Politiker. Kanzler Joachim von Zahnd. Sie legt die Partitur auf das Tischchen vor dem Sofa. So. Ernesti hat sich beruhigt. Er warf sich aufs Bett und schlief ein. Wie ein glücklicher Bub. Ich kann wieder aufatmen. Ich befürchtete schon, er geige noch die Dritte Brahms-Sonate. Sie setzt sich auf den Sessel links vom Sofa.
INSPEKTOR Entschuldigen Sie, Fräulein Doktor von Zahnd, daß ich hier verbotenerweise rauche, aber –
FRL. DOKTOR Rauchen Sie nur ruhig, Inspektor. Ich [25] benötige auch dringend eine Zigarette, Oberschwester Marta hin oder her. Geben Sie mir Feuer.
Er gibt ihr Feuer, sie raucht.
FRL. DOKTOR Scheußlich. Die arme Schwester Irene. Ein blitzsauberes junges Ding. Sie bemerkt das Glas. Newton?
INSPEKTOR Ich hatte das Vergnügen.
FRL. DOKTOR Ich räume das Glas besser ab.
Der Inspektor kommt ihr zuvor und stellt das Glas hinter das Kamingitter.
FRL. DOKTOR Wegen der Oberschwester.
INSPEKTOR Verstehe.
FRL. DOKTOR Sie haben sich mit Newton unterhalten?
INSPEKTOR Ich entdeckte etwas. Er setzt sich aufs Sofa.
FRL. DOKTOR Gratuliere.
INSPEKTOR Newton hält sich in Wirklichkeit auch für Einstein.
FRL. DOKTOR Das erzählt er jedem. In Wahrheit hält er sich aber doch für Newton.
INSPEKTOR verblüfft Sind Sie sicher?
FRL. DOKTOR Für wen sich meine Patienten halten, bestimme ich. Ich kenne sie weitaus besser, als sie sich selber kennen.
INSPEKTOR Möglich. Dann sollten Sie uns aber auch helfen, Fräulein Doktor. Die Regierung reklamiert.
FRL. DOKTOR Der Staatsanwalt?
INSPEKTOR Tobt.
FRL. DOKTOR Wie wenn das meine Sorge wäre, Voß.
INSPEKTOR Zwei Morde –
[26] FRL. DOKTOR Bitte, Inspektor.
INSPEKTOR Zwei Unglücksfälle. In drei Monaten. Sie müssen zugeben, daß die Sicherheitsmaßnahmen in Ihrer Anstalt ungenügend sind.
FRL. DOKTOR Wie stellen Sie sich denn diese Sicherheitsmaßnahmen vor, Inspektor? Ich leite eine Heilanstalt, nicht ein Zuchthaus. Sie können schließlich die Mörder auch nicht einsperren, bevor sie morden.
INSPEKTOR Es handelt sich nicht um Mörder, sondern um Verrückte, und die können eben jederzeit morden.
FRL. DOKTOR Gesunde auch und bedeutend öfter. Wenn ich nur an meinen Großvater Leonidas von Zahnd denke, an den Generalfeldmarschall mit seinem verlorenen Krieg. In welchem Zeitalter leben wir denn? Hat die Medizin Fortschritte gemacht oder nicht? Stehen uns neue Mittel zur Verfügung oder nicht, Drogen, die noch aus den Tobsüchtigsten sanfte Lämmer machen? Sollen wir die Kranken wieder in Einzelzellen sperren, womöglich noch in Netzen mit Boxhandschuhen wie früher? Als ob wir nicht imstande wären, gefährliche und ungefährliche Patienten zu unterscheiden.
INSPEKTOR Dieses Unterscheidungsvermögen versagte jedenfalls bei Beutler und Ernesti kraß.
FRL. DOKTOR Leider. Das beunruhigt mich und nicht Ihr tobender Staatsanwalt.
Aus Zimmer Nummer 2 kommt Einstein mit seiner Geige. Hager, schlohweiße lange Haare, Schnurrbart.
EINSTEIN Ich bin aufgewacht.
FRL. DOKTOR Aber, Professor.
EINSTEIN Geigte ich schön?
[27] FRL. DOKTOR Wundervoll, Professor.
EINSTEIN Ist Schwester Irene Straub –
FRL. DOKTOR Denken Sie nicht mehr daran, Professor.
EINSTEIN Ich gehe wieder schlafen.
FRL. DOKTOR Das ist lieb, Professor.
Einstein zieht sich wieder auf sein Zimmer zurück. Der Inspektor ist aufgesprungen.
INSPEKTOR Das war er also!
FRL. DOKTOR Ernst Heinrich Ernesti.
INSPEKTOR Der Mörder –
FRL. DOKTOR Bitte, Inspektor.
INSPEKTOR Der Täter, der sich für Einstein hält. Wann wurde er eingeliefert?
FRL. DOKTOR Vor zwei Jahren.
INSPEKTOR Und Newton?
FRL. DOKTOR Vor einem Jahr. Beide unheilbar. Voß, ich bin, weiß Gott, in meinem Metier keine Anfängerin, das ist Ihnen bekannt und dem Staatsanwalt auch, er hat meine Gutachten immer geschätzt. Mein Sanatorium ist weltbekannt und entsprechend teuer. Fehler kann ich mir nicht leisten und Vorfälle, die mir die Polizei ins Haus bringen, schon gar nicht. Wenn hier jemand versagte, so ist es die Medizin, nicht ich. Diese Unglücksfälle waren nicht vorauszusehen, ebensogut könnten Sie oder ich Krankenschwestern erdrosseln. Es gibt medizinisch keine Erklärung für das Vorgefallene. Es sei denn –
Sie hat sich eine neue Zigarette genommen. Der Inspektor gibt ihr Feuer.
[28] FRL. DOKTOR Inspektor. Fällt Ihnen nichts auf?
INSPEKTOR Inwiefern?
FRL. DOKTOR Denken Sie an die beiden Kranken.
INSPEKTOR Nun?
FRL. DOKTOR Beide sind Physiker. Kernphysiker.
INSPEKTOR Und?
FRL. DOKTOR Sie sind wirklich ein Mensch ohne besonderen Argwohn, Inspektor.
INSPEKTOR denkt nach Fräulein Doktor.
FRL. DOKTOR Voß?
INSPEKTOR Sie glauben –?
FRL. DOKTOR Beide untersuchten radioaktive Stoffe.
INSPEKTOR Sie vermuten einen Zusammenhang?
FRL. DOKTOR Ich stelle nur fest, das ist alles. Beide werden wahnsinnig, bei beiden verschlimmert sich die Krankheit, beide werden gemeingefährlich, beide erdrosseln Krankenschwestern.
INSPEKTOR Sie denken an eine – Veränderung des Gehirns durch Radioaktivität?
FRL. DOKTOR Ich muß diese Möglichkeit leider ins Auge fassen.
INSPEKTOR sieht sich um Wohin führt diese Türe?
FRL. DOKTOR In die Halle, in den grünen Salon, zum oberen Stock.
INSPEKTOR Wie viele Patienten befinden sich noch hier?
FRL. DOKTOR Drei.
INSPEKTOR Nur?
FRL. DOKTOR Die übrigen wurden gleich nach dem ersten Unglücksfall in das neue Haus übergesiedelt. Ich hatte mir den Neubau zum Glück rechtzeitig leisten können. Reiche Patienten und auch meine Verwandten steuerten bei. Indem sie ausstarben. Meistens hier. Ich [29] war dann Alleinerbin. Schicksal, Voß. Ich bin immer Alleinerbin. Meine Familie ist so alt, daß es beinahe einem kleinen medizinischen Wunder gleichkommt, wenn ich für relativ normal gelten darf, ich meine, was meinen Geisteszustand betrifft.
INSPEKTOR überlegt Der dritte Patient?
FRL. DOKTOR Ebenfalls ein Physiker.
INSPEKTOR Merkwürdig. Finden Sie nicht?
FRL. DOKTOR Finde ich gar nicht. Ich sortiere. Die Schriftsteller zu den Schriftstellern, die Großindustriellen zu den Großindustriellen, die Millionärinnen zu den Millionärinnen und die Physiker zu den Physikern.
INSPEKTOR Name?
FRL. DOKTOR Johann Wilhelm Möbius.
INSPEKTOR Hatte auch er mit Radioaktivität zu tun?
FRL. DOKTOR Nichts.
INSPEKTOR Könnte auch er –?
FRL. DOKTOR Er ist seit fünfzehn Jahren hier, harmlos, und sein Zustand blieb unverändert.
INSPEKTOR Fräulein Doktor. Sie kommen nicht darum herum. Der Staatsanwalt verlangt für Ihre Physiker kategorisch Pfleger.
FRL. DOKTOR Er soll sie haben.
INSPEKTOR greift nach seinem Hut Schön, es freut mich, daß Sie das einsehen. Ich war nun zweimal in ›Les Cerisiers‹, Fräulein Doktor von Zahnd. Ich hoffe nicht, noch einmal aufzutauchen.
Er setzt sich den Hut auf und geht links durch die Flügeltüre auf die Terrasse und entfernt sich durch den Park. Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd sieht ihm [30] nachdenklich nach. Von rechts kommt die Oberschwester Marta Boll, stutzt, schnuppert. In der Hand ein Dossier.
OBERSCHWESTER Bitte, Fräulein Doktor –
FRL. DOKTOR Oh. Entschuldigen Sie. Sie drückt die Zigarette aus. Ist Schwester Irene Straub aufgebahrt?
OBERSCHWESTER Unter der Orgel.
FRL. DOKTOR Stellt Kerzen um sie und Kränze.
OBERSCHWESTER Ich habe dem Blumen-Feuz schon angeläutet.
FRL. DOKTOR Wie geht es meiner Tante Senta?
OBERSCHWESTER Unruhig.
FRL. DOKTOR Dosis verdoppeln. Dem Vetter Ulrich?
OBERSCHWESTER Stationär.
FRL. DOKTOR Oberschwester Marta Boll: Ich muß mit einer Tradition von ›Les Cerisiers‹ leider Schluß machen. Ich habe bis jetzt nur Krankenschwestern angestellt, morgen übernehmen Pfleger die Villa.
OBERSCHWESTER Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd: Ich lasse mir meine drei Physiker nicht rauben. Sie sind meine interessantesten Fälle.
FRL. DOKTOR Mein Entschluß ist endgültig.
OBERSCHWESTER Ich bin neugierig, woher Sie die Pfleger nehmen. Bei der heutigen Überbeschäftigung.
FRL. DOKTOR Das lassen Sie meine Sorge sein. Ist die Möbius gekommen?
OBERSCHWESTER Sie wartet im grünen Salon.
FRL. DOKTOR Ich lasse bitten.
OBERSCHWESTER Die Krankheitsgeschichte Möbius.
FRL. DOKTOR Danke.
Die Oberschwester übergibt ihr das Dossier, geht dann [31] zur Türe rechts hinaus, kehrt sich jedoch vorher noch einmal um.
OBERSCHWESTER Aber –
FRL. DOKTOR Bitte, Oberschwester Marta, bitte.
Oberschwester ab. Frl. Doktor von Zahnd öffnet das Dossier, studiert es am runden Tisch.
Von rechts führt die Oberschwester Frau Rose sowie drei Knaben von vierzehn, fünfzehn und sechzehn Jahren herein. Der älteste trägt eine Mappe. Den Schluß bildet Missionar Rose. Frl. Doktor erhebt sich.
FRL. DOKTOR Meine liebe Frau Möbius –
FRAU ROSE Rose. Frau Missionar Rose. Ich muß Sie ganz grausam überraschen, Fräulein Doktor, aber ich habe vor drei Wochen Missionar Rose geheiratet. Vielleicht etwas eilig, wir lernten uns im September an einer Tagung kennen. Sie errötet und weist etwas unbeholfen auf ihren neuen Mann. Oskar war Witwer.
FRL. DOKTOR schüttelt ihr die Hand Gratuliere, Frau Rose, gratuliere von ganzem Herzen. Und auch Ihnen, Herr Missionar, alles Gute. Sie nickt ihm zu.
FRAU ROSE Sie verstehen unseren Schritt?
FRL. DOKTOR Aber natürlich, Frau Rose. Das Leben hat weiterzublühen.
MISSIONAR ROSE Wie still es hier ist! Wie freundlich. Ein wahrer Gottesfriede waltet in diesem Hause, so recht nach dem Psalmwort: Denn der Herr hört die Armen und verachtet seine Gefangenen nicht.
FRAU ROSE Oskar ist nämlich ein guter Prediger, Fräulein Doktor. Sie errötet. Meine Buben.
[32] FRL. DOKTOR Grüß Gott, ihr Buben.
DIE DREI BUBEN Grüß Gott, Fräulein Doktor.
Der jüngste hat etwas vom Boden aufgenommen.
JÖRG-LUKAS Eine Lampenschnur, Fräulein Doktor. Sie lag auf dem Boden.
FRL. DOKTOR Danke, mein Junge. Prächtige Buben, Frau Rose. Sie dürfen mit Vertrauen in die Zukunft blicken.
Frau Missionar Rose setzt sich aufs Sofa rechts, Frl. Doktor an den Tisch links. Hinter dem Sofa die drei Buben, auf dem Sessel rechts außen Missionar Rose.
FRAU ROSE Fräulein Doktor, ich bringe meine Buben nicht grundlos mit. Oskar übernimmt eine Missionsstation auf den Marianen.
MISSIONAR ROSE Im Stillen Ozean.
FRAU ROSE Und ich halte es für schicklich, wenn meine Buben vor der Abreise ihren Vater kennenlernen. Zum ersten und letzten Mal. Sie waren ja noch klein, als er krank wurde, und nun heißt es vielleicht Abschied für immer zu nehmen.
FRL. DOKTOR Frau Rose, vom ärztlichen Standpunkt aus mögen sich zwar einige Bedenken melden, aber menschlich finde ich Ihren Wunsch begreiflich und gebe die Bewilligung zu diesem Familientreffen gern.
FRAU ROSE Wie geht es meinem Johann Wilhelmlein?
FRL. DOKTOR blättert im Dossier Unser guter Möbius macht weder Fort- noch Rückschritte, Frau Rose. Er puppt sich in seine Welt ein.
FRAU ROSE Behauptet er immer noch, daß ihm der König Salomo erscheine?
MISSIONAR ROSE Eine traurige, beklagenswerte Verirrung.
FRL. DOKTOR Ihr strammes Urteil erstaunt mich ein wenig, Herr Missionar Rose. Als Theologe müssen Sie doch immerhin mit der Möglichkeit eines Wunders rechnen.
MISSIONAR ROSE Selbstverständlich – aber doch nicht bei einem Geisteskranken.
FRL. DOKTOR Ob die Erscheinungen, welche die Geisteskranken wahrnehmen, wirklich sind oder nicht, darüber hat die Psychiatrie, mein lieber Missionar Rose, nicht zu urteilen. Sie hat sich ausschließlich um den Zustand des Gemüts und der Nerven zu kümmern, und da steht’s bei unserem braven Möbius traurig genug, wenn auch die Krankheit einen milden Verlauf nimmt. Helfen? Mein Gott! Eine Insulinkur wäre wieder einmal fällig gewesen, gebe ich zu, doch weil die anderen Kuren erfolglos verlaufen sind, ließ ich sie bleiben. Ich kann leider nicht zaubern, Frau Rose, und unseren braven Möbius gesund päppeln, aber quälen will ich ihn auch nicht.
FRAU ROSE Weiß er, daß ich mich – ich meine, weiß er von der Scheidung?
FRL. DOKTOR Er ist informiert.
FRAU ROSE Begriff er?
FRL. DOKTOR Er interessiert sich kaum mehr für die Außenwelt.
FRAU ROSE Fräulein Doktor. Verstehen Sie mich recht. Ich lernte ihn als fünfzehnjährigen Gymnasiasten im Hause meines Vaters kennen, wo er eine Mansarde gemietet hatte. Er war ein Waisenbub und bitter arm. Ich ermöglichte ihm das Abitur und später das [34] Studium der Physik. An seinem zwanzigsten Geburtstag haben wir geheiratet. Gegen den Willen meiner Eltern. Wir arbeiteten Tag und Nacht. Er schrieb seine Dissertation, und ich übernahm eine Stelle in einem Transportgeschäft. Vier Jahre später kam Adolf-Friedrich, unser Ältester, und dann die beiden andern Buben. Endlich stand eine Professur in Aussicht, wir glaubten aufatmen zu dürfen, da wurde Johann Wilhelm krank, und sein Leiden verschlang Unsummen. Ich trat in eine Schokoladefabrik ein, meine Familie durchzubringen. Bei Tobler. Sie wischt sich still eine Träne ab. Ein Leben lang mühte ich mich ab.
Alle sind ergriffen.
FRL. DOKTOR Frau Rose, Sie sind eine mutige Frau.
MISSIONAR ROSE Und eine gute Mutter.
FRAU ROSE Fräulein Doktor. Ich habe bis jetzt Johann Wilhelm den Aufenthalt in Ihrer Anstalt ermöglicht. Die Kosten gingen weit über meine Mittel, aber Gott half immer. Doch nun bin ich finanziell erschöpft. Ich bringe das zusätzliche Geld nicht mehr auf.
FRL. DOKTOR Begreiflich, Frau Rose.
FRAU ROSE Ich fürchte, Sie glauben nun, ich hätte Oskar nur geheiratet, um nicht mehr für Johann Wilhelm aufkommen zu müssen, Fräulein Doktor. Aber das stimmt nicht. Ich habe es jetzt noch schwerer. Oskar bringt sechs Buben in die Ehe mit.
FRL. DOKTOR Sechs?
MISSIONAR ROSE Sechs.
FRAU ROSE Sechs. Oskar ist ein leidenschaftlicher Vater. Doch nun sind neun Kinder zu füttern, und Oskar ist [35] durchaus nicht robust, seine Besoldung kärglich. Sie weint.
FRL. DOKTOR Nicht doch, Frau Rose, nicht doch. Keine Tränen.
FRAU ROSE Ich mache mir die heftigsten Vorwürfe, mein armes Johann Wilhelmlein im Stich gelassen zu haben.
FRL. DOKTOR Frau Rose! Sie brauchen sich nicht zu grämen.
FRAU ROSE Johann Wilhelmlein wird jetzt sicher in einer staatlichen Heilanstalt interniert.
FRL. DOKTOR Aber nein, Frau Rose. Unser braver Möbius bleibt hier in der Villa. Ehrenwort. Er hat sich eingelebt und liebe, nette Kollegen gefunden. Ich bin schließlich kein Unmensch.
FRAU ROSE Sie sind so gut zu mir, Fräulein Doktor.
FRL. DOKTOR Gar nicht, Frau Rose, gar nicht. Es gibt nur Stiftungen. Der Oppelfonds für kranke Wissenschafter, die Doktor-Steinemann-Stiftung. Geld liegt wie Heu herum, und es ist meine Pflicht als Ärztin, Ihrem Johann Wilhelmlein davon etwas zuzuschaufeln. Sie sollen mit einem guten Gewissen nach den Marianen dampfen dürfen. Aber nun wollen wir doch unseren guten Möbius mal herholen.
Sie geht nach dem Hintergrund und öffnet die Türe Nummer 1. Frau Rose erhebt sich aufgeregt.
FRL. DOKTOR Lieber Möbius. Sie erhielten Besuch. Verlassen Sie Ihre Physikerklause und kommen Sie.
Aus dem Zimmer Nummer 1 kommt Johann Wilhelm Möbius, ein vierzigjähriger, etwas unbeholfener Mensch. [36] Er schaut sich unsicher im Zimmer um, betrachtet Frau Rose, dann die Buben, endlich Herrn Missionar Rose, scheint nichts zu begreifen, schweigt.
FRAU ROSE Johann Wilhelm.
DIE BUBEN Papi.
Möbius schweigt.
FRL. DOKTOR Mein braver Möbius, Sie erkennen mir doch noch Ihre Gattin wieder, hoffe ich.
MÖBIUS starrt Frau Rose an Lina?
FRL. DOKTOR Es dämmert, Möbius. Natürlich ist es Ihre Lina.
MÖBIUS Grüß dich, Lina.
FRAU ROSE Johann Wilhelmlein, mein liebes, liebes Johann Wilhelmlein.
FRL. DOKTOR So. Es wäre geschafft. Frau Rose, Herr Missionar, wenn Sie mich noch zu sprechen wünschen, stehe ich drüben im Neubau zur Verfügung. Sie geht durch die Flügeltüre links ab.
FRAU ROSE Deine Buben, Johann Wilhelm.
MÖBIUS stutzt Drei?
FRAU ROSE Aber natürlich, Johann Wilhelm. Drei. Sie stellt ihm die Buben vor. Adolf-Friedrich, dein Ältester.
Möbius schüttelt ihm die Hand.
MÖBIUS Freut mich, Adolf-Friedrich, mein Ältester.
ADOLF-FRIEDRICH Grüß dich, Papi.
MÖBIUS Wie alt bist du denn, Adolf-Friedrich?
ADOLF-FRIEDRICH Sechzehn, Papi.
[37] MÖBIUS Was willst du werden?
ADOLF-FRIEDRICH Pfarrer, Papi.
MÖBIUS Ich erinnere mich. Ich führte dich einmal an der Hand über den Sankt-Josephs-Platz. Die Sonne schien grell, und die Schatten waren wie abgezirkelt. Wendet sich zum nächsten. Und du – du bist?
WILFRIED-KASPAR Ich heiße Wilfried-Kaspar, Papi.
MÖBIUS Vierzehn?
WILFRIED-KASPAR Fünfzehn. Ich möchte Philosophie studieren.
MÖBIUS Philosophie?
FRAU ROSE Ein besonders frühreifes Kind.
WILFRIED-KASPAR Ich habe Schopenhauer und Nietzsche gelesen.
FRAU ROSE Dein Jüngster, Jörg-Lukas. Vierzehnjährig.
JÖRG-LUKAS Grüß dich, Papi.
MÖBIUS Grüß dich, Jörg-Lukas, mein Jüngster.
FRAU ROSE Er gleicht dir am meisten.
JÖRG-LUKAS Ich will ein Physiker werden, Papi.
MÖBIUS starrt seinen Jüngsten erschrocken an Physiker?
JÖRG-LUKAS Jawohl, Papi.
MÖBIUS Das darfst du nicht, Jörg-Lukas. Keinesfalls. Das schlage dir aus dem Kopf. Ich – ich verbiete es dir.
JÖRG-LUKAS ist verwirrt Aber du bist doch auch ein Physiker geworden, Papi –
MÖBIUS Ich hätte es nie werden dürfen, Jörg-Lukas. Nie. Ich wäre jetzt nicht im Irrenhaus.
FRAU ROSE Aber Johann Wilhelm, das ist doch ein Irrtum. Du bist in einem Sanatorium, nicht in einem Irrenhaus. Deine Nerven sind einfach angegriffen, das ist alles.
MÖBIUS schüttelt den Kopf Nein, Lina. Man hält mich für [38] verrückt. Alle. Auch du. Und auch meine Buben. Weil mir der König Salomo erscheint.
Alle schweigen verlegen. Frau Rose stellt Missionar Rose vor.
FRAU ROSE Hier stelle ich dir Oskar Rose vor, Johann Wilhelm. Meinen Mann. Er ist Missionar.
MÖBIUS Dein Mann? Aber ich bin doch dein Mann.
FRAU ROSE Nicht mehr, Johann Wilhelmlein. Sie errötet. Wir sind doch geschieden.
MÖBIUS Geschieden?
FRAU ROSE Das weißt du doch.
MÖBIUS Nein.
FRAU ROSE Fräulein Doktor von Zahnd teilte es dir mit. Ganz bestimmt.
MÖBIUS Möglich.
FRAU ROSE Und dann heiratete ich eben Oskar. Er hat sechs Buben. Er war Pfarrer in Guttannen und hat nun eine Stelle auf den Marianen angenommen.
MISSIONAR ROSE Im Stillen Ozean.
FRAU ROSE Wir schiffen uns übermorgen in Bremen ein.
Möbius schweigt, die anderen sind verlegen.
FRAU ROSE Ja. So ist es eben.
MÖBIUS nickt Missionar Rose zu Es freut mich, den neuen Vater meiner Buben kennenzulernen, Herr Missionar.
MISSIONAR ROSE Ich habe sie fest in mein Herz geschlossen, Herr Möbius, alle drei. Gott wird uns helfen, nach dem Psalmwort: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
[39] FRAU ROSE Oskar kennt alle Psalmen auswendig. Die Psalmen Davids, die Psalmen Salomos.
MÖBIUS Ich bin froh, daß die Buben einen tüchtigen Vater gefunden haben. Ich bin ein ungenügender Vater gewesen.
FRAU ROSE Aber Johann Wilhelmlein.
MÖBIUS Ich gratuliere von ganzem Herzen.
FRAU ROSE Wir müssen bald aufbrechen.
MÖBIUS Nach den Marianen.
FRAU ROSE Abschied voneinander nehmen.
MÖBIUS Für immer.
FRAU ROSE Deine Buben sind bemerkenswert musikalisch, Johann Wilhelm. Sie spielen sehr begabt Blockflöte. Spielt eurem Papi zum Abschied etwas vor, Buben.
DIE BUBEN Jawohl, Mami.
Adolf-Friedrich öffnet die Mappe, verteilt die Blockflöten.
FRAU ROSE Nimm Platz, Johann Wilhelmlein.
Möbius nimmt am runden Tisch Platz. Frau Rose und Missionar Rose setzen sich aufs Sofa. Die Buben stellen sich in der Mitte des Salons auf.
JÖRG-LUKAS Etwas von Buxtehude.
ADOLF-FRIEDRICH Eins, zwei, drei.
Die Buben spielen Blockflöte.
FRAU ROSE Inniger, Buben, inniger.
Die Buben spielen inniger. Möbius springt auf.
[40] MÖBIUS Lieber nicht! Bitte, lieber nicht!
Die Buben halten verwirrt inne.
MÖBIUS Spielt nicht weiter. Bitte. Salomo zuliebe. Spielt nicht weiter.
FRAU ROSE Aber Johann Wilhelm!
MÖBIUS Bitte, nicht mehr spielen. Bitte, nicht mehr spielen. Bitte, bitte.
MISSIONAR ROSE Herr Möbius. Gerade der König Salomo wird sich über das Flötenspiel dieser unschuldigen Knaben freuen. Denken Sie doch: Salomo, der Psalmendichter, Salomo, der Sänger des Hohen Liedes!
MÖBIUS Herr Missionar. Ich kenne Salomo von Angesicht zu Angesicht. Er ist nicht mehr der große goldene König, der Sulamith besingt und die Rehzwillinge, die unter Rosen weiden, er hat seinen Purpurmantel von sich geworfen –
Möbius eilt mit einem Male an der erschrockenen Familie vorbei nach hinten zu seinem Zimmer und reißt die Türe auf.
MÖBIUS – nackt und stinkend kauert er in meinem Zimmer als der arme König der Wahrheit, und seine Psalmen sind schrecklich. Hören Sie gut zu, Missionar, Sie lieben Psalmworte, kennen sie alle, lernen Sie auch die auswendig:
Er ist zum runden Tisch links gegangen, kehrt ihn um, steigt hinein, setzt sich.
Ein Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen.
Wir hauten ins Weltall ab.
Zu den Wüsten des Monds. Versanken in ihrem Staub.
Lautlos verreckten
Manche schon da. Doch die meisten verkochten
In den Bleidämpfen des Merkurs, lösten sich auf
In den Olpfützen der Venus, und
Sogar auf dem Mars fraß uns die Sonne,
Donnernd, radioaktiv und gelb.
FRAU ROSE Aber Johann Wilhelm –
MÖBIUS
Jupiter stank,
Ein pfeilschnell rotierender Methanbrei,
Hing er so mächtig über uns,
Daß wir Ganymed vollkotzten.
MISSIONAR ROSE Herr Möbius –
MÖBIUS
Saturn bedachten wir mit Flüchen.
Was dann weiter kam, nicht der Rede wert:
Uranus, Neptun
Graugrünlich erfroren,
Über Pluto und Transpluto fielen die letzten
Unanständigen Witze.
BUBEN Papi –
MÖBIUS
Hatten wir doch längst die Sonne mit Sirius verwechselt,
Sirius mit Kanopus,
Abgetrieben, trieben wir in die Tiefen hinauf
Einigen weißen Sternen zu,
Die wir gleichwohl nie erreichten,
[42] FRAU ROSE Johann Wilhelmlein! Mein liebes Johann Wilhelmlein!
MÖBIUS
Längst schon Mumien in unseren Schiffen
Verkrustet von Unrat:
Die Oberschwester kommt mit Schwester Monika von rechts.
OBERSCHWESTER Aber Herr Möbius.
MÖBIUS
In den Fratzen kein Erinnern mehr
An die atmende Erde.
Er sitzt starr, das Gesicht maskenhaft, im umgekehrten Tisch.
FRAU ROSE Johann Wilhelmlein.
MÖBIUS Packt euch nun nach den Marianen fort!
DIE BUBEN Papi –
MÖBIUS Packt euch fort! Schleunigst! Nach den Marianen! Er erhebt sich drohend.
Die Familie Rose ist verwirrt.
OBERSCHWESTER Kommt, Frau Rose, kommt, ihr Buben und Herr Missionar. Er muß sich beruhigen, das ist alles.
MÖBIUS Hinaus mit euch! Hinaus!
OBERSCHWESTER Ein leichter Anfall. Schwester Monika wird bei ihm bleiben, wird ihn beruhigen. Ein leichter Anfall.
MÖBIUS Schiebt ab! Für immer! Nach dem Stillen Ozean!
JÖRG-LUKAS Adieu, Papi! Adieu!
[43] Die Oberschwester führt die bestürzte und weinende Familie nach rechts hinaus. Möbius schreit ihnen hemmungslos nach.
MÖBIUS Ich will euch nie mehr sehen! Ihr habt den König Salomo beleidigt! Ihr sollt verflucht sein! Ihr sollt mit den ganzen Marianen im Marianengraben versaufen! Elftausend Meter tief. Im schwärzesten Loch des Meeres sollt ihr verfaulen, von Gott vergessen und den Menschen!
SCHWESTER MONIKA Wir sind allein. Ihre Familie hört Sie nicht mehr.
Möbius starrt Schwester Monika verwundert an, scheint sich endlich zu finden.
MÖBIUS Ach so, natürlich.
Schwester Monika schweigt. Er ist etwas verlegen.
MÖBIUS Ich war wohl etwas heftig?
SCHWESTER MONIKA Ziemlich.
MÖBIUS Ich mußte die Wahrheit sagen.
SCHWESTER MONIKA Offenbar.
MÖBIUS Ich regte mich auf.
SCHWESTER MONIKA Sie verstellten sich.
MÖBIUS Sie durchschauen mich?
SCHWESTER MONIKA Ich pflege Sie nun zwei Jahre.
MÖBIUS geht auf und ab, bleibt dann stehen Gut. Ich gebe es zu. Ich spielte den Wahnsinnigen.
SCHWESTER MONIKA Weshalb?
MÖBIUS Um von meiner Frau Abschied zu nehmen und von meinen Buben. Abschied für immer.
[44] SCHWESTER MONIKA Auf diese schreckliche Weise?
MÖBIUS Auf diese humane Weise. Die Vergangenheit löscht man am besten mit einem wahnsinnigen Betragen aus, wenn man sich schon im Irrenhaus befindet: Meine Familie kann mich nun mit gutem Gewissen vergessen. Mein Auftritt hat ihr die Lust genommen, mich noch einmal aufzusuchen. Die Folgen meinerseits sind unwichtig, nur das Leben außerhalb der Anstalt zählt. Verrücktsein kostet. Fünfzehn Jahre zahlte meine gute Lina bestialische Summen, ein Schlußstrich mußte endlich gezogen werden. Der Augenblick war günstig. Salomo hat mir offenbart, was zu offenbaren war, das System aller möglichen Erfindungen ist abgeschlossen, die letzten Seiten sind diktiert, und meine Frau hat einen neuen Gatten gefunden, den kreuzbraven Missionar Rose, Sie dürfen beruhigt sein, Schwester Monika. Es ist nun alles in Ordnung. Er will abgehen.
SCHWESTER MONIKA Sie handeln planmäßig.
MÖBIUS Ich bin Physiker. Er wendet sich seinem Zimmer zu.
SCHWESTER MONIKA Herr Möbius.
MÖBIUS bleibt stehen Schwester Monika?
SCHWESTER MONIKA Ich habe mit Ihnen zu reden.
MÖBIUS Bitte.
SCHWESTER MONIKA Es geht um uns beide.
MÖBIUS Nehmen wir Platz.
Sie setzen sich. Sie aufs Sofa, er auf den Sessel links davon.
SCHWESTER MONIKA Auch wir müssen voneinander Abschied nehmen. Auch für immer.
MÖBIUS erschrickt Sie verlassen mich?
MÖBIUS Was ist geschehen?
SCHWESTER MONIKA Man versetzt mich ins Hauptgebäude. Morgen übernehmen hier Pfleger die Bewachung. Eine Krankenschwester darf diese Villa nicht mehr betreten.
MÖBIUS Newtons und Einsteins wegen?
SCHWESTER MONIKA Auf Verlangen des Staatsanwalts. Die Chefärztin befürchtete Schwierigkeiten und gab nach.
Schweigen.
MÖBIUS niedergeschlagen Schwester Monika, ich bin unbeholfen. Ich verlernte es, Gefühle auszudrücken, die Fachsimpeleien mit den beiden Kranken, neben denen ich lebe, sind ja kaum Gespräche zu nennen. Ich bin verstummt, ich fürchte, auch innerlich. Doch Sie sollen wissen, daß für mich alles anders geworden ist, seit ich Sie kenne. Erträglicher. Nun, auch diese Zeit ist vorüber. Zwei Jahre, in denen ich etwas glücklicher war als sonst. Weil ich durch Sie, Schwester Monika, den Mut gefunden habe, meine Abgeschlossenheit und mein Schicksal als – Verrückter – auf mich zu nehmen. Leben Sie wohl. Er steht auf und will ihr die Hand reichen.
SCHWESTER MONIKA Herr Möbius, ich halte Sie nicht für – verrückt.
MÖBIUS lacht, setzt sich wieder Ich mich auch nicht. Aber das ändert nichts an meiner Lage. Ich habe das Pech, daß mir der König Salomo erscheint. Es gibt nun einmal nichts Anstößigeres als ein Wunder im Reiche der Wissenschaft.
[46] SCHWESTER MONIKA Herr Möbius, ich glaube an dieses Wunder.
MÖBIUS starrt sie fassungslos an Sie glauben?
SCHWESTER MONIKA An den König Salomo.
MÖBIUS Daß er mir erscheint?
SCHWESTER MONIKA Daß er Ihnen erscheint.
MÖBIUS Jeden Tag, jede Nacht?
SCHWESTER MONIKA Jeden Tag, jede Nacht.
MÖBIUS Daß er mir die Geheimnisse der Natur diktiert? Den Zusammenhang aller Dinge? Das System aller möglichen Erfindungen?
SCHWESTER MONIKA Ich glaube daran. Und wenn Sie erzählten, auch noch der König David erscheine Ihnen mit seinem Hofstaat, würde ich es glauben. Ich weiß einfach, daß Sie nicht krank sind. Ich fühle es.
Stille. Dann springt Möbius auf.
MÖBIUS Schwester Monika! Gehen Sie!
SCHWESTER MONIKA bleibt sitzen Ich bleibe.
MÖBIUS Ich will Sie nie mehr sehen.
SCHWESTER MONIKA Sie haben mich nötig. Sie haben sonst niemand mehr auf der Welt. Keinen Menschen.
MÖBIUS Es ist tödlich, an den König Salomo zu glauben.
SCHWESTER MONIKA Ich liebe Sie.
Möbius starrt Schwester Monika ratlos an, setzt sich wieder, Stille.
MÖBIUS leise, niedergeschlagen Sie rennen in Ihr Verderben.
SCHWESTER MONIKA Ich fürchte nicht für mich, ich [47] fürchte für Sie. Newton und Einstein sind gefährlich.
MÖBIUS Ich komme mit ihnen aus.
SCHWESTER MONIKA Auch Schwester Dorothea und Schwester Irene kamen mit ihnen aus. Und dann kamen sie um.
MÖBIUS Schwester Monika. Sie haben mir Ihren Glauben und Ihre Liebe gestanden. Sie zwingen mich, Ihnen nun auch die Wahrheit zu sagen. Ich liebe Sie ebenfalls, Monika.
Sie starrt ihn an.
MÖBIUS Mehr als mein Leben. Und darum sind Sie in Gefahr. Weil wir uns lieben.
Aus Zimmer Nummer 2 kommt Einstein, raucht eine Pfeife.
EINSTEIN Ich bin wieder aufgewacht.
SCHWESTER MONIKA Aber Herr Professor.
EINSTEIN Ich erinnerte mich plötzlich.
SCHWESTER MONIKA Aber Herr Professor.
EINSTEIN Ich erdrosselte Schwester Irene.
SCHWESTER MONIKA Denken Sie nicht mehr daran, Herr Professor.
EINSTEIN betrachtet seine Hände Ob ich noch jemals fähig bin, Geige zu spielen?
Möbius erhebt sich, wie um Monika zu schützen.
MÖBIUS Sie geigten ja schon wieder.
EINSTEIN Passabel?
MÖBIUS Die ›Kreutzersonate‹. Während die Polizei da war.
[48] EINSTEIN Die ›Kreutzersonate‹. Gott sei Dank. Seine Miene hat sich aufgeklärt, verdüstert sich aber wieder. Dabei geige ich gar nicht gern, und die Pfeife liebe ich auch nicht. Sie schmeckt scheußlich.
MÖBIUS Dann lassen Sie es sein.
EINSTEIN Kann ich doch nicht. Als Albert Einstein. Er schaut die beiden scharf an. Ihr liebt einander?
SCHWESTER MONIKA Wir lieben uns.
Einstein geht nachdenklich hinaus in den Hintergrund, wo die ermordete Schwester lag, betrachtet die Kreidezeichnung am Boden.
EINSTEIN Auch Schwester Irene und ich liebten uns. Sie wollte alles für mich tun, die Schwester Irene. Ich warnte sie. Ich schrie sie an. Ich behandelte sie wie einen Hund. Ich flehte sie an zu fliehen. Vergeblich. Sie blieb. Sie wollte mit mir aufs Land ziehen. Nach Kohlwang. Sie wollte mich heiraten. Sogar die Bewilligung hatte sie schon. Von Fräulein Doktor von Zahnd. Da erdrosselte ich sie. Die arme Schwester Irene. Es gibt nichts Unsinnigeres auf der Welt als die Raserei, mit der sich die Weiber aufopfern.
SCHWESTER MONIKA geht zu ihm Legen Sie sich wieder hin, Professor.
EINSTEIN Sie dürfen mich Albert nennen.
SCHWESTER MONIKA Seien Sie vernünftig, Albert.
EINSTEIN Seien Sie vernünftig, Schwester Monika. Gehorchen Sie Ihrem Geliebten und fliehen Sie! Sonst sind Sie verloren. Er wendet sich wieder dem Zimmer Nummer 2 zu. Ich gehe wieder schlafen. Er verschwindet in Nummer 2.
[49] SCHWESTER MONIKA Der arme irre Mensch.
MÖBIUS Er sollte Sie endlich von der Unmöglichkeit überzeugt haben, mich zu lieben.
SCHWESTER MONIKA Sie sind nicht verrückt.
MÖBIUS Es wäre vernünftiger, Sie hielten mich dafür. Fliehen Sie! Machen Sie sich aus dem Staub! Hauen Sie ab! Sonst muß ich Sie auch noch wie einen Hund behandeln.
SCHWESTER MONIKA Behandeln Sie mich lieber wie eine Geliebte.
MÖBIUS Kommen Sie, Monika. Er führt sie zu einem Sessel, setzt sich ihr gegenüber, ergreift ihre Hände. Hören Sie zu. Ich habe einen schweren Fehler begangen. Ich habe mein Geheimnis verraten, ich habe Salomos Erscheinung nicht verschwiegen. Dafür läßt er mich büßen. Lebenslänglich. In Ordnung. Aber Sie sollen nicht auch noch dafür bestraft werden. In den Augen der Welt lieben Sie einen Geisteskranken. Sie laden nur Unglück auf sich. Verlassen Sie die Anstalt, vergessen Sie mich. So ist es am besten für uns beide.
SCHWESTER MONIKA Begehren Sie mich?
MÖBIUS Warum reden Sie so mit mir?
SCHWESTER MONIKA Ich will mit Ihnen schlafen, ich will Kinder von Ihnen haben. Ich weiß, ich rede schamlos. Aber warum schauen Sie mich nicht an? Gefalle ich Ihnen denn nicht? Ich gebe zu, meine Schwesterntracht ist gräßlich. Sie reißt sich die Haube vom Haar. Ich hasse meinen Beruf! Fünf Jahre habe ich nun die Kranken gepflegt, im Namen der Nächstenliebe. Ich habe mein Gesicht nie abgewendet, ich war für alle da, ich habe mich aufgeopfert. Aber nun will ich mich für jemanden allein aufopfern, für jemanden allein dasein, [50] nicht immer für andere. Ich will für meinen Geliebten dasein. Für Sie. Ich will alles tun, was Sie von mir verlangen, für Sie arbeiten Tag und Nacht, nur fortschicken dürfen Sie mich nicht! Ich habe doch auch niemanden mehr auf der Welt als Sie! Ich bin doch auch allein!
MÖBIUS Monika. Ich muß Sie fortschicken.
SCHWESTER MONIKA verzweifelt Liebst du mich denn gar nicht?
MÖBIUS Ich liebe dich, Monika. Mein Gott, ich liebe dich, das ist ja das Wahnsinnige.
SCHWESTER MONIKA Warum verrätst du mich denn? Und nicht nur mich. Du behauptest, der König Salomo erscheine dir. Warum verrätst du auch ihn?
MÖBIUS ungeheuer erregt, packt sie Monika! Du darfst alles von mir glauben, mich für einen Schwächling halten. Dein Recht. Ich bin unwürdig deiner Liebe. Aber Salomo bin ich treu geblieben. Er ist in mein Dasein eingebrochen, auf einmal, ungerufen, er hat mich mißbraucht, mein Leben zerstört, aber ich habe ihn nicht verraten.
SCHWESTER MONIKA Bist du sicher?
MÖBIUS Du zweifelst?
SCHWESTER MONIKA Du glaubst, dafür büßen zu müssen, weil du sein Erscheinen nicht verschwiegen hast. Aber vielleicht büßt du dafür, weil du dich für seine Offenbarung nicht einsetzt.
MÖBIUS läßt sie fahren Ich – verstehe dich nicht.
SCHWESTER MONIKA Er diktiert dir das System aller möglichen Erfindungen. Kämpfst du für seine Anerkennung?
MÖBIUS Man hält mich doch für verrückt.
SCHWESTER MONIKA Warum bist du so mutlos?
[51] MÖBIUS Mut ist in meinem Falle ein Verbrechen.
SCHWESTER MONIKA Johann Wilhelm. Ich sprach mit Fräulein Doktor von Zahnd.
MÖBIUS starrt sie an Du sprachst?
SCHWESTER MONIKA Du bist frei.
MÖBIUS Frei?
SCHWESTER MONIKA Wir dürfen heiraten.
MÖBIUS Mein Gott.
SCHWESTER MONIKA Fräulein Doktor von Zahnd hat schon alles geregelt. Sie hält dich zwar für krank, aber für ungefährlich. Und für erblich nicht belastet. Sie selbst sei verrückter als du, erklärte sie und lachte.
MÖBIUS Das ist lieb von ihr.
SCHWESTER MONIKA Ist sie nicht ein prächtiger Mensch?
MÖBIUS Sicher.
SCHWESTER MONIKA Johann Wilhelm! Ich habe den Posten einer Gemeindeschwester in Blumenstein angenommen. Ich habe gespart. Wir brauchen uns nicht zu sorgen. Wir brauchen uns nur liebzuhaben.
Möbius hat sich erhoben. Im Zimmer wird es allmählich dunkel.
SCHWESTER MONIKA Ist es nicht wunderbar?
MÖBIUS Gewiß.
SCHWESTER MONIKA Du freust dich nicht.
MÖBIUS Es kommt so unerwartet.
SCHWESTER MONIKA Ich habe noch mehr getan.
MÖBIUS Das wäre?
SCHWESTER MONIKA Mit dem berühmten Physiker Professor Scherbert gesprochen.
MÖBIUS Er war mein Lehrer.
[52] SCHWESTER MONIKA Er erinnerte sich genau. Du seist sein bester Schüler gewesen.
MÖBIUS Und was besprachst du mit ihm?
SCHWESTER MONIKA Er versprach mir, deine Manuskripte unvoreingenommen zu prüfen.
MÖBIUS Erklärtest du ihm auch, daß sie von Salomo stammen?
SCHWESTER MONIKA Natürlich.
MÖBIUS Und?
SCHWESTER MONIKA Er lachte. Du seist immer ein toller Spaßvogel gewesen. Johann Wilhelm! Wir haben nicht nur an uns zu denken. Du bist auserwählt. Salomo ist dir erschienen, offenbarte sich dir in seinem Glanz, die Weisheit des Himmels wurde dir zuteil. Nun hast du den Weg zu gehen, den das Wunder befiehlt, unbeirrbar, auch wenn der Weg durch Spott und Gelächter führt, durch Unglauben und Zweifel. Aber er führt aus dieser Anstalt. Johann Wilhelm, er führt in die Öffentlichkeit, nicht in die Einsamkeit, er führt in den Kampf. Ich bin da, dir zu helfen, mit dir zu kämpfen, der Himmel, der dir Salomo schickte, schickte auch mich.
Möbius starrt zum Fenster hinaus.
SCHWESTER MONIKA Liebster.
MÖBIUS Geliebte?
SCHWESTER MONIKA Bist du nicht froh?
MÖBIUS Sehr.
SCHWESTER MONIKA Wir müssen nun deine Koffer packen. Acht Uhr zwanzig geht der Zug. Nach Blumenstein. Sie geht ins Zimmer Nummer 1.
MÖBIUS allein Viel ist ja nicht.
[53] Aus dem Zimmer Nummer 1 kommt Monika mit einem Stapel Manuskripte.
SCHWESTER MONIKA Deine Manuskripte. Legt sie auf den Tisch. Es ist dunkel geworden.
MÖBIUS Die Nacht kommt jetzt früh.
SCHWESTER MONIKA Ich mache Licht. Dann packe ich deinen Koffer.
MÖBIUS Warte noch. Komm zu mir.
Sie geht zu ihm. Nur noch die beiden Silhouetten sind sichtbar.
SCHWESTER MONIKA Du hast Tränen in den Augen.
MÖBIUS Du auch.
SCHWESTER MONIKA Vor Glück.
Er reißt den Vorhang herunter und über sie. Kurzer Kampf. Die Silhouetten sind nicht mehr sichtbar. Dann Stille. Die Türe von Zimmer Nummer 3 öffnet sich. Ein Lichtstrahl dringt in den Raum. Newton steht in der Türe im Kostüm seines Jahrhunderts. Möbius geht zum Tisch, nimmt die Manuskripte zu sich.
NEWTON Was ist geschehen?
MÖBIUS geht in sein Zimmer Ich habe Schwester Monika Stettler erdrosselt.
Aus Zimmer Nummer 2 hört man Einstein geigen.
NEWTON Da geigt Einstein wieder. Kreisler. ›Schön Rosmarin‹. Er geht zum Kamin, holt den Kognak.