Der Frühling passiert einfach – eines Tages siehst du hinaus, und der nieselnde, neblige Morgen, ein sicheres Anzeichen für den Jahreszeitenwechsel, ist von Nordwestwinden bestimmt, die den wellenlosen Ozean zu leuchtenden Schaumkronen aufwühlen. Die nächsten Monate über hältst du dir den Morgen frei und ergibst dich den nutzlosen, unsurfbaren Nachmittagen, und du bereitest dich auf das noch größere Elend des Sommers vor, wenn das Meer wochenlang glatt daliegen kann. Der von der Wärme im Landesinneren ans Land gezogene Morgennebel verflüchtigt sich; die Sicht kommt nun in Schüben, wenn über der Landzunge die Wolkenfetzen aufreißen. Wenn sich der Nebel zurückzieht, rollt die Wolkenmasse dick am Horizont entlang, und der Wind weht herab wie eine durchsichtige Wolke, ein breiter Bogen dunkelblauer Bewegung, der nach Süden drückt über ein blasseres Feld der Stille. Die Schaumkronen scheinen dann zusammen davonzueilen, als habe die Sonne sie alle gleichzeitig ausgekippt; man sieht sie oft kommen, sitzt in der glasigen Bucht, sieht, wie sich das Wasser draußen kräuselt, und weiß, dass man bald einpacken kann. Der Ozean ist jetzt viel, viel kälter als im Winter; die Winde fegen über die Oberfläche und wühlen eiskaltes Wasser vom Grund auf, während sie zugleich den Gräsern und Blumen kostbare Feuchtigkeit entziehen und die lange tote Zeit des Sommers einleiten. Und wie ich so auf der Klippe stand und all die Veränderungen betrachtete, musste ich daran denken, wie sehr wir uns durch das, was wir sehen, sagen lassen, in welcher Art von Welt wir leben; in dem Moment in einer schwindenden Üppigkeit aus Blüten und Samenkörnern und Spatzengezirp, das sich fast in der Luft verlor, die an dem Morgen weit entfernte nördliche Lungen durchlaufen hatte. Der Habicht schwang sich mit einem scharfen Aufwind empor über ein brachliegendes Feld. Wenn Kultur das Durcheinander von Ideen und Gefühlen ist, durch das wir die Welt verstehen, reagiert sie auch auf die Besonderheit der Welt: Gewiss hatte ich ziemlich klare Vorstellungen und Begriffe, um einen Ort rühmen zu können, aber auch der Ort selbst hatte sich dieser Begriffe bedient. Wir sind nicht gänzlich im Gefängnis der Sprache gefangen, und ein urbanes Raster reflektiert uns ganz anders als diese Küste; der Habicht liefert ein einzigartiges Argument für das, was ein gutes Leben ausmacht. Die wogenden Felder – in denen Siedler der Prärie die Bewegung des Meeres sahen – und sogar der aufgewirbelte Staub des Traktors und seine Abgase, die südwärts in den blassen Himmel abzogen, sagen etwas Bestimmtes über Zeit und Maß. Immerhin weht der Wind nicht über den Himmel, er ist der Himmel, der sich als Ganzes bewegt.

In der deutschen Stadt Kiel wussten Mitch und Thore nichts über die Surfsaison und die Windverhältnisse in Nordkalifornien: Drei Jahre lang hatten sie geplant, der Alten Welt den Rücken zu kehren, um in der Neuen Welt etwas Spaß zu haben, und wollten sich nicht von Kleinigkeiten abhalten lassen. Thore war Segelmacher und frisch von der Schule, er surfte ein bisschen bei sich an der Küste und schickte Mitch bei der Bundeswehr die Zeitschrift Surfer mit umkringelten Fotos von knackigen Tube-Ritten, Inselschönheiten in Tangas und den Zielorten ihrer Pilgerfahrt: Rincon, Malibu, Steamer Lane. Mitchs Wehrdienst verzögerte zwar alles, aber dann war er plötzlich doch damit durch. Sie flogen nach San Francisco, fuhren per Anhalter nach Santa Cruz, wo sie Boards und einen VW-Bus kaufen und dann surfend und campend weiter nach Costa Rica ziehen wollten. Der Kellner eines Kieler Restaurants, ein eingeschworener Nordsee-Surfer namens Frank, hatte in Santa Cruz ein paar tolle Kalifornier kennen gelernt und den beiden freundlicherweise die Adresse mitgegeben. Jetzt, nach zweitägiger Reise, saßen die beiden bei mir auf der Couch.

«Wir kommen von Frank», sagte Thore, breitschultrig und jungenhaft, mit eifrigem Gesicht und kurzem blondem Haar. Wenn er den Mund hielt, konnte er als professioneller Surfer durchgehen, er hatte seine Rolle eindeutig gelernt. Mitch, kahl und gebaut wie ein Ringer, schien sich mehr als Thore für den Überfall zu genieren und sprach kaum Englisch. Thore sprach sogar noch weniger Englisch, was ihn aber nicht davon abhalten konnte, unumwunden klarzumachen: «Wir bleiben zum Surfen, okay?»

Überwältigend, aber – ausgerechnet – ich hatte Mitgefühl, obwohl ich noch nie von Frank oder dem Typ, bei dem er gewohnt hatte, gehört hatte. Immerhin war es wirklich eine tolle Vorstellung: Zwei gute Freunde fliegen um die halbe Welt, streifen durchs Hinterland, treffen kalifornische Mädchen, rauchen Gras und surfen sich das deutsche Hirn aus dem Kopf. Anschließend hängen sie dann noch ein Jahr in einem tropischen Paradies ab. Thore hatte sich zwar einen Monat vor dem Abflug unsterblich verliebt, aber seine Freundin war einverstanden gewesen, sich mit den beiden in Costa Rica zu treffen – eine Schönheit am Ende des Regenbogens. Es machte Spaß, mit ihnen Surfboards zu kaufen, und wieder einmal spielte ich den Einheimischen, der alles wusste, war der Kahuna: Ich hatte das Vergnügen, all die mysteriösen Einzelheiten über Brettformen zu übersetzen, und die Verkäufer in den Surf-Läden waren fassungslos über die Unverblümtheit unserer Nachforschungen. Das weckte gleich Sympathie für die ausländischen Burschen und bestätigte, dass wir im Herzen alle Amerikaner sind. «Klassisch», meinten die Einheimischen, wenn sie von dem Plan hörten. Und die Jungs drehten förmlich ab in den Läden, diesen Tempeln für ein Leben, das ihnen so ätherisch und unmöglich erschienen war wie Hollywood selbst: Boards aus echtem Balsaholz an den Wänden, radikal neue Designs, wahnsinnige Action-Videos, und das Beste von allem: Hier waren richtige Surfer, die Boards kauften, die entsprechenden Klamotten trugen, die Sprache sprachen. Wir suchten was Schönes aus, und die Jungs steckten alle Sticker und Abziehbilder ein, die die Läden entbehren konnten.

Wie sich herausstellte, war unser erstes Surfen am Point für Mitch das erste überhaupt: Er paddelte hinaus, stürzte von einer der seltenen guten Wellen, wurde durch die Mühle gedreht und ließ es dabei bewenden. Er setzte sich zitternd an Land, während Thore und ich uns an windgepeitschten kleinen Wellenkämmen versuchten. Es war unbeständig und fürchterlich kalt – niemand sonnte sich weit und breit und so war dies auch nicht gerade, was Thore sich vorgestellt hatte: Die Jungs im Wasser fragten, wie das Surfen in Deutschland sei, aber Thores Englisch reichte nur für: Ja, da gab es Wellen. Auf dem Weg zurück zum Wagen sah ich, dass sich die am Morgen noch fest eingerollten Mohnblumen geöffnet hatten und im Wind wogten. Sogar das Licht war an dem Abend anders, ein frühlingshafter, kein sommerlicher Sonnenuntergang, das erste lange Zwielicht, vor Pollen vibrierend, während das Abendrot noch etwas vor der Dunkelheit verweilte. Aber es war nicht das kalte Wasser, das die Jungs veranlasste, den Kauf des Busses aggressiv anzugehen; in einem sonderbaren Anflug von Nationalismus kam für sie nur ein VW-Bus in Frage. Zwei volle Tage hockten sie auf meiner Veranda in der Hoffnung auf den Traumbus: eine schmucke, leistungsfähige Maschine, Doppelbett, Kühlschrank und Herd. Aber Bus um Bus fiel durch: Costa Rica war weit entfernt, und fünfzehnhundert Dollar reichten nicht für ein zuverlässiges Auto.

So kamen eines Tages die beiden Deutschen, deren meine Mitbewohner wegen des schmutzigen Geschirrs bereits überdrüssig geworden waren, mit Flugtickets nach Costa Rica in die Küche marschiert. Santa Cruz hatte sich ohnehin nicht gerade als Vollzeit-Karneval für sie entpuppt; nur als ein Ort, an dem Leute wohnten, eine rausgeputzte Kleinstadt inmitten einer Flaute. Und plötzlich gab's wieder Hoffnung: El Dorado mochte weiter draußen warten. Am Tag nachdem sie fort waren, kam Brandung auf, und ich machte mich auf zum Point und dachte daran, wie einfach man als Reisender, wenn das Geld alle und die Zeit abgelaufen war, in einer schäbigen Pinto enden konnte. Aber die Jungs hatten etwas, was man Feuer nennen konnte; ich stellte mir vor, wie sie sich am glatten, eiskalten Wasser ihrer Heimatstadt versuchten (ein Hafen, den mein Großvater im Zweiten Weltkrieg mit einer B-17 bombardiert hatte), von Kalifornien träumten, vielleicht hinterher eine Tasse Kaffee tranken und den News-Flash im Surfer lasen, der von perfekten Wellen vor den Osterinseln berichtete.

Es war eine diesige Frühjahrsdämmerung, der Nebel dick, die Mohnblüten wieder fest eingerollt, und das gesamte, riesige Rosenkohlfeld war jetzt von einem schreiend halluzinogenen Gelb unter den niedrigen Wolken, am Strand glänzten kleine See-Erbsen im Sand, und alles blühte violett. Scharfkantige Wellen schoben sich durch die stille, nebelverhangene See. Und die Hügel strotzten so grün vor frischem Gras, dass der Sauerklee nicht mehr die einzige Farbe war; zarte, saftige Hemlocksprossen ersetzten die alten, abgestorbenen und schwankten in der Brise wie wilder Weizen. Ich dachte erneut daran, diese ganze Szenerie mit Sprache zu uberdecken, und fragte mich, ob das Geheimnisvolle daran, wie man auf einen Ort reagiert, nicht im unbeholfenen Spiel mit möglichen Wörtern liegt, in der Empfindung von Bedeutungen und Poesie, im Erhabenen, Romantischen, Pittoresken, im Zen, manchmal sogar in etwas Neuem. Und vielleicht entstammt der Stich der Enttäuschung, den man immer angesichts seiner Wortwahl empfindet – und somit auch angesichts des herrlichen Schauplatzes dem Traum, dass im Augenblick der Unentschlossenheit und der allergrößten Entschlossenheit, bevor der Verstand die Reaktion auf Schönheit begreift, du vielleicht eine Sprache besessen haben könntest, die mit der ganzen Bedeutung der Erde erfüllt war.

Früh ans Wasser zu laufen, um vor dem Wind dort zu sein, um in den kleinen Wellen einer Art Salztherapie für die Haut zu frönen: Dabei geht es, und das weiß ich jetzt genau, nicht um den Kitzel des Risikos oder den Stolz auf etwas Erreichtes, sondern vielmehr darum, täglich seine Zeit richtig zu verbringen, um eine Anhäufung von Augenblicken –, die Anhäufung von Momenten, die für nichts anderes stehen als für einen ganz privaten Sinn für Wohlgefühl. Und wohl oder übel hat das Surfen einen engagierten Vogelkundler aus mir gemacht – ich nehme an, weil man in diesen Tagen so lange zwischen den Wellen herumsaß, die Winterdünung weg, die Südwinde des Sommers noch nicht da. Man trieb nutzlos dahin, beobachtete, was immer es zu beobachten gab; interessierte sich besonders für alles, was sich emporschwang. Vielleicht auch, weil Vögel ebenso viel durch die Luft schwimmen wie sie fliegen. Sie zeigen uns, dass wir in einem Äther leben – nicht in einem Vakuum – und dass wir nicht einer Leere gegenüberstehen. Vor diesem Jahr hatte ich mir überhaupt nichts aus Vögeln gemacht, fand allein die Idee öde. Noch immer kann ich mit Singvögeln nichts anfangen, obwohl ich mir vorstellen kann, dass der Zeitpunkt kommt, an dem mir ihre harmlose Fröhlichkeit und Leichtlebigkeit als angemessenes Ideal erscheinen wird. Obwohl er immer noch hart arbeitet und am Wochenende klettert, sagt mein Vater, für ihn sei es das schon. An Sonntagnachmittagen ist für ihn weltlicher Ruhetag, dann empfängt er keine Besucher, sondern sitzt dort in Berkeley auf einem Klappstuhl im ungemähten Gras und praktiziert seine neueste Besessenheit: Flamenco-Gitarre. Komplexe Griffe, spanisches Drama und Leidenschaft – während er (mit dem abwesenden, starren Blick des Musikers) dem Vorratshorten des ortsansässigen Eichhörnchens zusieht. Und er schwört, dass an Abenden, an denen es warm genug ist, dass er und Mom draußen sitzen und Wein trinken können, alle Spatzen der Umgebung sich bei Sonnenuntergang auf den Hochspannungsleitungen versammeln – und nicht einer von ihnen gen Osten blickt. Auch ein guter Ausblick, kann ich mir vorstellen, vorbei an einer riesigen Monterey-Pinie im Nachbargarten, über die Schwemmlandebene mit Berkeleys Lagerhallen, über die Bucht zur sagenhaften Bergform des Tamalpais – einer schwarzen Platte, die über der Farbe der hereinbrechenden Nacht liegt.

Als ich allein die Straße hinunterging, war dort über dem Getöse des Meeres die einheimische Kornweihe. Sie jagte in der kleinen Schlucht zwischen Binsen und Weiden, ein einsamer Segelflieger unter Gemeinschaften aasfressender Möwen und tauchender, verliebter Alke. Stunden-, tage-, jahre-, ein Leben lang: den Hügel hinab, über das Schilf, über den Senf auf der anderen Seite hoch, dann wieder hinunter über die kleine Lagune – sie bewachte ihre Felder. Ich fragte mich oft, ob sie wohl je ihre Beute vergaß und aus purem Vergnügen über diese Hügel flog. Eine Stunde lag ich da, bis ich nass wurde, ließ den Nebel aufklaren und sah zu, wie eine Gabelweihe über den Sandsteinklippen aufstieg – ein kleiner Raubvogel, der ebenfalls in den morgendlichen Thermalblasen flog, die für die größeren Raubvögel zu kühl und zu schwach waren. Sie schwenkte ein paar Meter über den Hemlocktannen ab, die Augen wütend auf das austrocknende weizengoldene Fuchsschwanzgras gerichtet. Frierend, die losen, dünnen Flügel gespreizt wie flatternde Finger, die Spitzen leicht V-förmig aufgerichtet; den rostroten Schwanz weit gespreizt und die scharfen Krallen geöffnet. Gelassen vom Meer zum Land gleitend, unbeirrbar eine Spitzmaus oder eine kleine Schlange im Blick, um sie am Stück zu verschlingen. Ihr gekrümmter, Fleisch zerfetzender Schnabel so ganz anders als die Zupfwerkzeuge der Seevögel. Dann hörte die Gabelweihe auf, mit den Flügeln zu schlagen, spreizte ihren Schwanz und stieß im Sturzflug durch die Luftschichten auf ihr Opfer hinab. Sie blieb damit mehrmals erfolglos und legte sich vor der Sonne in Schräglage; die Federn sahen einen Moment lang aus wie ein von hinten beleuchteter Fächer aus Knochen und Fasern. Dann ließ sie sich abfallen, schwang sich erneut auf einer unsichtbaren Brise empor und flog entlang eines Streifens Wildnis zwischen den Feldern. Schließlich ließ sie sich auf einer gelben Lupine nieder und sah sich in alle Richtungen um: ein Landvogel, der im letzten Biotop jagte.

Eine Familie von Seevögeln war von ihrem Zug wieder zum Point heimgekehrt und hatte sich an den Klippen häuslich eingerichtet: Es war Brutzeit. Schwarz mit roten Füßen, auf dem Rücken weiße Flecken, dicke Torpedokörper: Paare von Alken, die ihre Nester auf kleinen Simsen bauten, wo ihre Eier vor Krähen sicher waren, und die gruppenweise wie Korken in der Brandung trieben. Ihre Zahl und ihr Zusammenhalt sind ihre Stärke. Wenn sie nach Fischen tauchen, fliegen diese seltsamen kleinen Vögel geradezu im Wasser, eher angetrieben von ihren Flügeln als von ihren Füßen, doch die Anpassung hat ihren Preis: Ihre kurzen, scharfen Flügel arbeiten wie verrückt, um den korpulenten Körper voranzubringen. Hunderte von Metern lange Bewässerungsrohre wurden in Gang gesetzt, Farmer riefen den Arbeitern Anweisungen zu. Im Wasser war kein einziger Surfer. Ich war schließlich der Einzige zwischen rötlich-braunen Kelp-Streifen, mit dem Tosen der Brandung im Ohr, und niemand, mit dem ich reden konnte. Ein schwarzer Kormoran mit weiß gefleckten Flanken kam mit schweren Flügelschlägen knapp über den Wellen herangeflogen. Plötzlich hielt er im Flug inne, beugte sich vor und tauchte den Kopf unter Wasser, um nach Bodenbewohnern Ausschau zu halten, nach Krabben und Aalen; mit seinen ans Wasser angepassten Augen konnte er unter Wasser viel mehr sehen als ich. Und dann war er plötzlich abgetaucht, kam einen Moment später wieder hoch und hatte einen Fisch mit seinem Schnabel aufgespießt. Über zweitausend Jahre haben chinesische Fischer diese schlanken Vögel trainiert, damit sie für sie auf Beutefang gehen. Sie werden in Gefangenschaft aufgezogen und mit Tofu ernährt, man stutzt ihnen die Flügel und lehrt sie, auf gesprochene und gepfiffene Kommandos zu reagieren. Halsringe halten sie davon ab, den Fang zu schlucken, doch nach sieben Fischen wird der Ring abgenommen, und sie fangen für sich selbst. Wenn sie den siebten Fisch gefangen haben, so ist zu lesen, weigern sie sich zu tauchen, bis das Halsband gelockert ist – Kormorane können zählen.

Ich surfte eine Welle, rutschte, verlor das Gleichgewicht und wurde langsamer. Der Sog der Vorderfront der Welle zog mich mit. Deplaziert in der energiegeladenen Wölbung wurde ich vom Board geworfen, hatte es zwischen den Beinen und wurde damit herumgewirbelt. Nach hinten gezerrt, unten gehalten, freigelassen. Kam hoch an die Luft inmitten von Treibgut, das die Zone markierte, wo die Kraft des Elements gewaltet hatte. Aufsteigende Blasen hingen tief im Wasser wie geborstene weiße Kapillargefäße, versorgten die Riffbewohner mit Luft, zerzausten das Fell des Otters. Darüber durchzogen Schaumtentakel sprudelnd und zischend das blassgrüne Wasser; ich verschluckte mich und hustete. Blieb durch den Auftrieb meines Neoprenanzugs über Wasser und beobachtete die Spitze des Point: Schwalben kauerten sich in kleine Lehmlöcher, die sie sich unter losen Blöcken ausgehöhlt hatten; eine Stadt für eine Saison in einer rasch abbröckelnden Klippe. Niemandem muss noch gesagt werden, dass es im Frühling nur um Sex geht, aber irgendwie ist es doch ein Geschenk, wenn du das an einem Ort siehst, den du einen ganzen Winter über beobachtet hast: Wie ein Insektenschwarm schossen die Kliffschwalben von der Steilwand herab, wirbelten über die Gezeitenniederung, wichen einander aus, zankten sich und flogen im Schwarm wieder zurück. Flatternd stießen sie gegeneinander und drängelten in ihre kleinen Felslöcher. Als eine von ihnen mit dem Kopf voran in ein Loch stoßen wollte, bestieg eine andere sie von hinten, und beide fielen herunter. Verhakt in statischem Geschlechtsverkehr, flatterten sie nicht mit den Flügeln, sondern spreizten sie, formten einen organischen Hubschrauber, und das kopulierende Paar wirbelte hinab auf Sandsteinblöcke zu und trennte sich erst wenige Zentimeter vor dem Aufprall. Dann schossen die beiden zurück in die Wolke sexbesessener Vögel, das Männchen jagte das Weibchen, das sich in dem Riesenclan zu verdrücken suchte. Bald zog es ihn mit sich heraus aus der Gruppe und hoch über den tropfenden Seehafer der Küste; sie täuschten Angriffe vor, wichen einander aus, umflogen sich gegenseitig und schossen wieder auseinander. Als dann Flugbahn und Absichten synchroner wurden, verschlangen sich ihre Körper dreißig Meter über dem Riff ineinander. Und wieder rotierte der Hubschrauber, als sie durch die Luft glitten; tiefer und tiefer herab, und als der Zeitpunkt gekommen war, sich zu trennen und zum Schwarm zurückzukehren, wollten sie nicht. Es war zu spät, die Notbremse zu ziehen, und das Liebespaar knallte hart auf das Riff.

Benommen und verwirrt schüttelten sich die beiden unverletzten Vögel und untersuchten neugierig Muscheln und Seetang. Nicht gerade ein alltäglicher Futterplatz für sie. Dann flogen sie davon. Ich paddelte zu der Stelle, an der sie herabgefallen waren, und sah einen violetten Krebs, halb verschlungen von einer grünen Seeanemone. Eine Zange ragte noch aus dem Schlund heraus, öffnete und schloss sich reflexbedingt. Eine Möwe watschelte durch die seichten Lachen, im Schnabel einen sechzehnarmigen, violetten Seestern; eine unschöne Masse an kleinen, tentakelartigen Beinen baumelte aus dem schmalen Schnabel des Vogels. Die winzigen, durchsichtigen Tentakel an den Armen des Seesterns sind schlauchförmige Füßchen, durch die der Seestern saugen oder klebrigen Schleim ausscheiden kann, wenn er Muscheln und Seegurken auflauert. Es wird behauptet, dass Seeigel, eigentlich ortsfeste kleine Stachelkugeln, die Flucht ergreifen, wenn sich ein solcher Seestern nähert, dass sie übereinander krabbeln und gelegentlich von einem anderen Seeigel abgeworfen werden und direkt im klaffenden Maul einer hungrigen Seeanemone landen. Wenn der Seestern einen Seeigel zu fassen bekommt, verschlingt er ihn ganz und scheidet nur die Stacheln aus. Als ich in die Wellen zurückkehrte, legte sich ein sanftes Licht wie eine Haut über die Tiefe. Zahllose klare, kleine Wellenhügel: vom Kielwasser des Boards, den paddelnden Händen; Mikrokräuselungen, die über die zusammenfließende Rückströmung und die Dünung des Abendwinds liefen. Wenn man ihnen lange genug zusah, waren sie fast zu entziffern.

Nicht weit entfernt trieb der Otter im sich mehrenden Kelp und wurde in der überquellenden Fruchtbarkeit des Frühlings immer dicker; Nordwestwinde wühlten das Wasser auf und brachten massenhaft Nahrung aus der Tiefe zu Tage. Und auch er: Heute war ein anderer Otter bei ihm, ein hellerer und etwas kleinerer Spielgefährte. Sie tobten und rollten durch dicke Stränge Seetang, verloren Seeigel und Muscheln, die sie so mühsam zusammengeklaubt hatten. Bis heute hatte ich vermutet, dass der Bursche Weibchen mied, dachte, der ganze Zirkus um sie herum sei ihm zuwider. Das Werben dauerte nämlich Tage, dann muss das Männchen eine halbe Stunde lang eifrig ran (wenn sie ihn nicht beachtet, stiehlt er ihr wutentbrannt einen Seeigel). Aber heute war auch sie hinter ihm her, und kein eifersüchtiges Junges kam dazwischen. Ich sah, wie sie sich versteifte, mit dem Bauch oben schwamm. Er tauchte unter ihr durch, streckte die Arme aus und krallte sich an ihrer Brust fest, streckte den Kopf vorne um sie herum und biss sie in die Nase, ehe er ein paar komplizierte Verrenkungen unternahm, um in sie hineinzukommen. Es dauerte etwa vierzehn Minuten. Wie gerne hätte ich das anschließende Bettgeflüster mit angehört, das gegenseitige Gekraule beobachtet, das Einnicken und die eventuelle zweite Runde. Es kam bei ihnen zu keinem ernsthaften Gerangel, und ich nehme an, das war auch nicht nötig, denn der Biss in die Nase kann tödlich sein. Ein hiesiger Biologe hatte einmal beobachtet, wie ein Männchen zwei Weibchen während der Paarung umbrachte und das zweite einen Tag lang mit sich herumschleppte und versuchte, dem toten Körper Nahrung einzuflößen. Im offiziellen Bericht stand: «entschieden abartiges Verhalten». (Im Vergleich womit?)

Ich machte mich auf, zurück an Land, da Sex nicht unbedingt ein Sport für Zuschauer ist, doch ehe ich die ganze Szene hinter mir lassen konnte, flog eine einsame Möwe von den Klippen direkt hinaus aufs Meer. Sie flog mit einem Ziel, stellte ich mir vor, von welcher Art Fisch sich der Schwarm da draußen auch ernähren mochte. Und genau in dem Moment, in dem mich durchfuhr, dass ich als Einziger von allen hier untätig war, kam die Möwe plötzlich zurückgeflogen und schwang sich an einer hereinrollenden Welle empor. Sie legte sich schräg auf Höhe des Wasserspiegels, steuerte in das Luftkissen, das der Dünung vorausging, und glitt an der Vorderseite der Welle entlang. Sie hielt die Linie genau richtig ein und ritt auf einer Windwelle, entstanden aus einer Wasserwelle, entstanden aus Wind. Ich drehte mich um und sah zu, wie die Möwe vorüberflog; die Welle rollte unter mir hindurch, und ich sah ihr hinterher und wollte unbedingt wissen, wie weit die Möwe gehen würde. Erst als die Welle sich auf dem Sand brach, stieg die Möwe hoch auf in die Luft und beschrieb eine strikte Kehrtwende zurück zum Schwarm: kein klares Ziel, sie wollte auch keinen Abstand gewinnen. Sie surfte einfach nur. Zu vertraut … Am späten Morgen kamen wieder existenzielle Fragen zum Vorschein: Worum ging es beim Point hier überhaupt? Point: «n. 2. ein vorstehender Teil von etwas: Eine in die Bucht hinausragende Landspitze»? Ja, natürlich, aber – «3. etwas mit einem scharfen oder spitz zulaufenden Ende»? Nicht ganz, vielleicht, wenn man an der Bucht entlangblickte, aber vielleicht – «9. ein Maß oder Stadium: Offenheit bis zum Grad von Beleidigung»? Nein, nein, wie wär's mit: «10. ein besonderer Augenblick»? Ja, natürlich! Ein Jahr, ein Tag, ein Leben! Und sogar, «12. das Wichtige oder Wesentliche: der wesentliche Punkt

 

Wir hingen einen langweiligen, wellenlosen Nachmittag bei Willie ab, nachdem wir fünfzig Meilen ergebnislos abgesucht hatten. In dieser Woche hatten die Farmer die Küste gepflügt, und die Rosenkohl-Sprossen sollten demnächst gesetzt werden; Feldfrucht gedeiht, während die Wildnis ruht. Ich beobachtete einen vorüberschwebenden Möwenschwarm, der sich über die Würmer eines austrocknenden Felds hermachte, wobei der heftige Wind aus Nordwest seinen Flug völlig in Einklang mit der Jahreszeit brachte. Die kleinen Möwen wirkten wie stilisiert: schwarze Gesichtsmasken, Körper wie Miniaturen aus dem Andenkenladen. Und so viel Frieden lag darin, die wechselnden Winde von weit her mit anzusehen; Staub stieg von einem Traktor auf, und ein Kormoran schoss in einer schnellen Luftströmung nach Süden. Stundenlang spielte Willie auf seiner für ihn angefertigten Rosenholz-Gitarre, während ich den Ausblick genoss. Das Instrument tönte hell, während zwei Krähen in ihrer typischen Mischung aus Fröhlichkeit und Bosheit Schleifen flogen – Kojoten der Lüfte. Und über den Feldern, hinter dem weidenden Vieh in den Hügeln vor Willies Haus, ragten die Santa-Lucia-Berge über Point Lobos auf. Ich musste unbedingt wissen, warum der dunkle Raubvogel, der sich über die Felder vor uns hermachte, mich so erregte mit seinem sich allmählich abzeichnenden Verhaltensmuster aus Energie und Mord und den Luftrhythmen und -kreisen. Irgendwie erschien mir dieses Kippen der gespreizten Flügel, die Art, wie er das Weidendickicht streifte, wie ein Gemälde, das die Formen dieser kleinen Welt darstellte. Und schließlich wird der Raubvogel für mich zum Symbol für den Geist dieser Küste: sein statisches Schweben im Nordwind, die Flügel in hoher V-Form, den hakenförmigen Schnabel nach unten, die Augen aufmerksam auf das grüne Gras gerichtet. Alles das ereignet sich auf einer Anhöhe über den Meeresklippen, wie erstarrt vor einer roten Sonne, die als praller Feuerball über dem Wasser untergeht. Es bedeutet zwar eine Erleichterung, das Leben zu entdecken, das man am liebsten leben will, aber man bekommt auch Angst, wenn man die Bedürfnisse der Seele erkennt – wie soll man sie dann noch verleugnen können?

Die Nebelbank weit vor Willies Veranda wirbelte erneut auf und bildete eine Wolke abstrahierten Ozeans, wogte in der trägen Stille, mit der Luft sich bewegt. Sie waberte über die Klippen unterhalb der Hügel, und ich lernte noch mehr über die Natur des Nebels, kleine Dinge, die mir nie aufgefallen wären, hätte ich nicht das ganze Jahr an dieser Küste verbracht (und das war nur ein winziger Moment, verglichen mit der Zeit, die Vince und Willie hier verbracht hatten): Wie der Nebel wie ein Geisterschiff aus grauen Tröpfchen über einer Lagune landet. Es bringt einen aus der Ruhe, wenn man entdeckt, wie hart das wirkliche Verständnis für einen Ort erkämpft werden muss, wie viel Stille und Zeit es erfordert; wirkliche Zeit, tägliche Besuche, Spaziergänge zum Point oder Fahrten an die Grenze des County, auch wenn nicht die geringste Dünung zu sehen ist. Es bringt einen aus der Ruhe wie eine neue Freundin und die erste leise Ahnung, wie sehr man sie lieben könnte. So viel mehr scheint plötzlich möglich, und doch kann man es nicht schnell vorantreiben. Wie ich so dasaß und Willies Musik lauschte – er war ein brillanter Gitarrist –, erfasste mein umherschweifender Blick ein großes, blasses Kornweihen-Weibchen, das sich aus dem Feld der Rettichblüten erhob und über einen Hohlweg aus trockenem Gras flog. Daraufhin flatterte das Männchen ebenfalls empor und folgte ihr; gemeinsam flogen sie eine Weile, beschrieben ein paar Bögen, bis das Weibchen wieder in den Blüten landete. Er legte unweit von ihr auf einem alten Zaunpflock neben einer Eiche eine Pause ein. Zehn Minuten saß das Männchen reglos da, ehe es seine Flügel ausbreitete und von seinem Sockel glitt, sich zu der Stelle, wo sie gelandet war, treiben ließ und neben ihr aufsetzte, für mich außer Sicht. Sie war offenbar noch nicht bereit, und ehe er seine Flügel angelegt hatte, flatterte sie hoch in die Luft und steuerte hinüber zum Zaunpfosten. Sie spielten dieses geduldige Spiel des Schwer-zu-Kriegens fast eine Stunde lang: Sogar die Killer waren verliebt! Natürlich eine Vermenschlichung – eine Sentimentalität –, doch vielleicht fing die Sprache der Verhaltensforscher von unserer Liebe so wenig ein wie von ihrer?

Als meine Träumereien von der untergehenden Sonne unterbrochen wurden, fuhr ich nach Hause zu einem lustigen Kontrastprogramm: Die Deutschen waren zurück, saßen nach kaum einer Woche wieder in meiner Küche, wirkten etwas betreten und nicht besonders glücklich, mich zu sehen.

«Costa Rica», antwortete Thore auf meine Frage, «nicht so gut.»

Nicht? Ich sah Mitch an.

Er legte den Kopf auf den Tisch. «Neee», sagte er kopfschüttelnd. Er setzte sich auf und sah aus dem Fenster auf unsere kleine Straße, ein sehr gewöhnlicher Anblick. Nervös gluckste er. «Nicht so gut.»

«Schmutzige Strände», setzte Thore hinzu, «keine Wellen. Viel Müll. Wir gehen heim.»

Den ganzen weiten Weg? Jeden Tag war für Thore ein Brief angekommen, parfümiert und mit geschwungener Handschrift adressiert. Die letzten vier schienen noch mehr Wind aus seinen Segeln zu nehmen.

«Nein», sagte Thore, «wir kaufen vielleicht doch einen Bus. Sehen uns Kalifornien an. Vielleicht einen Monat.» Er wirkte etwas gequält. Der Wilde Westen … er hatte nicht mehr als zehn Wellen erwischt. Mitchs Blick war leer, trostlos – die Liebe, diese alte Verräterin, hatte ihm alles vermasselt. Sie entschlossen sich schließlich für einen blaugrauen '67er, den sie einem Studenten von der Universität Santa Cruz für dreizehnhundert Dollar abkauften, und fragten, wohin sie fahren sollten.

Hey, also, ich meine Yosemite? Mendocino? San Francisco? Joshua Tree? Disneyland? Rincon? Da gibt's keine falsche Entscheidung!

Bei meinem Surf-Check vor dem Frühstück traf ich sie ein paar Tage später wieder am Kliff, wo sie parkten. Sie waren nie über die Stadtgrenze hinausgekommen, hatten ihren Bus aber mit Aufklebern aufgemotzt: Irie Vibrations, Byrning Spears, No Fear, Pearson Arrow Surfboards. Mitch saß griesgrämig in der Schiebetür, die nackten Füße auf dem Pflaster. Thore stand ans Klippengeländer gelehnt und aß eine Schüssel Müsli. «Ich glaube, ich geh», sagte er, während Milch in sein neues Spitzbärtchen floss.

Deutschland?

«Jaha.»

Ich sah Mitch an, der wieder gluckste und eingehend seine Hände untersuchte: drei Wochen, zweitausend Dollar, und dabei hatte er nicht mal unbedingt surfen wollen.

«Und du?», fragte ich.

«Oh», erwiderte er und suchte nach Worten. «Ich bleibe. Tourismus.»

Thore flog am nächsten Morgen zurück, pleite. «Ich glaube, ich werde ein bisschen durch Europa reisen», sagte er beim Einsteigen in den Shuttle-Bus. Ziemlich genervt von der Küste, fragte Mitch noch einmal nach der Richtung zum Yosemite-Park; ich erzählte ihm von einer heißen Quelle und ein paar schönen Wanderwegen, wies ihn darauf hin, dass er wärmere Klamotten brauchte, und bestand darauf, dass er bei seiner Rückkehr wieder bei uns wohnte. Immerhin war er irgendwie das Stiefkind der beiden gewesen, er war weniger einvernehmend und kam zudem schlechter damit zurecht, jung und glücklos zu sein. Genau wie mir fehlte ihm die emotionale Kraft des einsamen Wolfes.

Am nächsten Morgen hatte er wieder am Kliff geparkt – Yosemite?

«Nein … aber heute Morgen», sagte er und wirkte zum ersten Mal etwas interessiert, «Um sechs Uhr kommt ein Kerl mit einem Fahrrad und» – er machte ein Geräusch, als hole er Schleim tief aus dem Rachen – «dann phhhttt! Genau hier …!» Er deutete wütend auf die Windschutzscheibe. «Also, letzte Nacht habe ich nicht geschlafen.» Er war ein kräftiger Bursche mit dicken, starken Armen, und das Militär hatte ihm bestimmt einiges darüber beigebracht, wie man anderen wehtat. «Ich warte die ganze Nacht», sagte er, schlug mit einer Faust in seine andere Hand und blinzelte mörderisch.

Ich sah mich nach Anzeichen für einen Kampf um – etwa ein um einen Pfosten gewickeltes Fahrrad oder ein bisschen Blut auf dem Pflaster. «Hast du ihn umgebracht?», fragte ich.

«Ich bin für eine Minute eingeschlafen!», sagte er bebend vor Wut. «Und ich wache auf und höre den Schlag gegen das Fenster! Ich springe auf und … er ist weg! Aaaarrrggghhh!» Die ganzen Frustrationen dieser lächerlichen Reise waren darauf gerichtet, irgendeinem boshaften Kid den Kopf abzureißen, und wieder hatte er versagt. «Muss den Bus verkaufen», sagte er.

Also setzten wir eine Anzeige in die Zeitung, und er parkte an verschiedenen Stellen, sah den ganzen Tag aufs Meer hinaus, versuchte hin und wieder eine gratis ausliegende Lokalzeitung zu lesen. Der einzige Anruf kam von dem Kerl, der ihnen den Wagen verkauft hatte; für fünfhundert Dollar wollte er ihn zurücknehmen. Mitch konnte die Schmach nicht ertragen, also vertraute er den Verkauf meinem Mitbewohner Keith an, der dafür zwanzig Prozent erhalten sollte; ich bot Mitch hundertfünfzig Dollar für sein Surfboard, ein schönes Twinzer-Board, das viel mehr wert war, aber er wollte etwas von seiner Reise mitnehmen, und so beschloss er, es zu behalten. Am Morgen seiner Abreise erwähnte Mitch, er wolle sich zu Hause einen Job suchen, nicht mehr vom Fleck rühren und nur noch Rad fahren.

Ein paar Wochen später kam Keith in die Küche.

«Weißt du», sagte er, «der Typ ist an dem Bus interessiert, aber ich habe mir gedacht, ich sollte ihn vielleicht selbst behalten und so richtig fahrtüchtig machen …»

Ja? «Na, war doch toll, ihn den Sommer über zu haben, oder? Im Herbst könnte ich ihn dann für viel mehr losschlagen, und wir beide würden mehr Geld bekommen, und ich war mobil, und überhaupt will ich surfen lernen und könnte mein Board dann hinten einpacken und nach Baja mit hinunternehmen …»

Und während Mitch in zehntausend Meilen Entfernung auf einen Scheck wartete, blieb sein Briefkasten leer.

 

An der Küste bricht die Nacht anders herein als in der Stadt: keine Straßenlaternen spenden zusätzlich Licht, keine elektrische Lichtkonstellation erhellt die flüssige Welt, die da draußen über Feld, Teich, Strand und Hohlweg in die Dunkelheit dämmert – was für eine vereinende Erfahrung für ein ansonsten bunt zusammengewürfeltes Terrain. Es geht etwas kraftvoll Beruhigendes aus von einem sommerlichen Sonnenuntergang an einer dermaßen südlich ausgerichteten Küste. Die Sonne sinkt hinter dem Land, nach rechts hin außer Sicht, und taucht alles in ein gleichmäßig sanftes Leuchten. Keine Feuerwerke vor der Küste wie im Winter und nichts von dem Versinken einer nur knapp über dem absoluten Datumsende des Horizonts hängenden Sonne – nur ein freundliches Hinübergleiten in die Nacht. Auf Willies Veranda sah ich zu, wie ein Farmlaster sich Stück um Stück durch die Kohlröschen dort unten schob, die Lichter eines Fischerboots gingen an. Ich versuchte mich auf einen Sommer zu freuen, den ich teils in Berkeley und teils in der Sierra verbringen wollte. Ich wollte mich darauf freuen, die Stadt bis zum Herbst zu verlassen; Willie und Pascale waren bis einschließlich Oktober in Indonesien, und Vince und Fran reisten durch Europa. Eine getigerte Katze schlich durch die trockenen Senffelder jenseits des Gartens, während Pascale Zeitungspapier zerknüllte, um den Grill anzuzünden. Nachdem Willie gelesen hatte, dass ein hiesiger Pinot Noir alle französischen Pinots von Weltklasse schlug, war er hinauf zu den Santa Cruz Mountains gefahren und hatte eine Kiste gekauft: Holz, Rauch und Frucht, eine wohl abgestimmte Aromakomposition, die sich als Ganzes üppig und stimmig entfaltete. Wir sahen Walen zu, die Wasser ausblasend gen Norden vorstießen – alle paar Minuten eine winzige weiße Fontäne. Während Pascale den Grill abkratzte, erzählte sie Fran von ihren Gedichten und dass sie sich nicht vorstellen konnte, jemals Prosa zu schreiben. All die Verstrebungen zwischen den Epiphanien würden sie einfach umbringen. Fran, die Pascale nur flüchtig kannte, stellte ihr eine Frage, die ich akustisch nicht verstand, und Pascale antwortete, ihr gefiele einfach die präzise Ausarbeitung eines Moments, bescheidene Musik, immer wieder. Es war ihr nicht daran gelegen, sich in Szene zu setzen, so, wie sie es sagte, es war einfach nur etwas, was sie eindeutig gerne tat.

Willie, der aussah wie der elegante Gastgeber schlechthin, brachte aus der Küche eine Platte mit Krustentieren und eine Schüssel mit Marinade. Er und Pascale hatten das Barbecue allein im Griff, also saßen Vince und ich auf einer Bank mit Blick nach Westen. Keine Autogeräusche, kein Stadtlärm, nicht einmal das Tosen der See. Das Trimester war fast um, und Vince trennten nur noch ein paar Schlussexamen von drei Monaten sommerlicher Randexistenz als Surfer. Er war ziemlich glücklich, an heißen Tagen winzige Wellen mit seinem Longboard abzufahren, ganz zu schweigen vom Surfen auf der Dünung, die von Süden kam, wenn sie uns die Hurrikans aus Baja brachten; sein drei Meter langer Nose-Rider besaß so viel Gleitkapazität, dass schon ein kniehohes Kräuseln ihn glücklich machen konnte. Er sprach über seine Arbeit, als sei sie gerade mal eine Möglichkeit, seine Surferei zu finanzieren, aber ich war mir sicher, dass er ein sehr guter Lehrer war. Er hatte diesen lockeren, direkten Charme, der bewirkt, dass du dich auf den Unterricht freust, Lust an dem hast, was du lernst. Pascale, offenbar eine sehr organisierte Küchenchefin in einem früheren Leben, legte die Langusten an den Rand des Grills, die beiden Hummer in die Mitte und die Austern überall dazwischen. Während sie etwas Wein darüber goss, fragte ich sie, wie sie und Willie an dieses wunderschöne Haus gekommen waren. Zum einen wusste ich, dass man an der Küste nicht einfach Wohnungen mieten konnte: alles war Landwirtschaftszone mit der strikten Auflage, Farmarbeiter unterzubringen. Wie sich herausstellte, wollte Willie, als er sich nach mehreren Jahren, die er zwischen Bali und einer Inselkette vor Sumatra verbracht hatte, nach Kalifornien zurückzog, das dort drüben geführte Leben, die Weite und die Zeitzone hier nachahmen. Er klopfte an jede Tür einer Farmarbeitersiedlung nördlich der Stadt auf der Suche nach einer Bleibe, hatte aber kein Glück. Die Leute glaubten, er habe sie nicht alle. Und dann, kurz nachdem er Pascale geheiratet hatte, bot ihnen der Basilikum-Typ, für den sie arbeitete, dieses wunderschöne Plätzchen an – Bingo! Ein Glück kommt selten allein.

Obwohl ich schon recht betrunken war, wurde ich berufen, den Reis für die Paella zuzubereiten. Also rein ins Haus, um den Reis erst in Olivenöl anzubraten, dann in Hühnerbrühe mit gelbem und rotem Paprika, Haufen von Knoblauch und Safran zu kochen. Sie hatten große gusseiserne Töpfe, herrliche Schneideblöcke und gut geschärfte Messer, aber die Wohnung war ein Durcheinander: Musikpartituren lagen überall verstreut, und eine Wand war noch unverputzt. Während ich eine Zwiebel schnitt, erzählte Fran von ihrer Dissertation über Körper, Lust und Macht in den schwulen Badeclubs von San Francisco. Mir fiel ein, dass Michel Foucault, der verstorbene französische Philosoph, der in solchen Bädern sein Coming-out gehabt hatte, viel mit Richard Henry Dana, Jack London und Tausenden Surfern, die sich selbst in Kaliforniens Gewässern gefunden hatten, gemein hatte, aber Fran blieb unbeeindruckt, hörte etwas Widriges aus meiner Andeutung heraus; vielleicht hatte sie Recht. Das Gespräch ging über zu der Frage, welches Schneidebrett für den Knoblauch vorgesehen war – ich wollte ihnen nicht die Melone am nächsten Morgen verderben –, und bald setzten wir uns alle um den handgearbeiteten Zedernholztisch vor der Fensterfront. Ich hatte Pech und bekam den Stuhl mit dem Rücken zur Kante Nordamerikas, und Pascale servierte Bio-Artischocken von den Privatfeldern des Basilikum-Typen: dicke Knospen auf weißem Geschirr mit selbst gemachter Kräutermayonnaise. Das Meer draußen war jetzt dunkel, abgesehen von einem Streifen Rot entlang des entfernten Teils der Erdrundung, ein kleines Blinzeln von gestern. Willie lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die Erhabenheit des Sonnenuntergangs, und das Gespräch kam auf Momente von unvergessener Schönheit. Er erzählte, wie er allein bei Tagesanbruch gesurft war, als drei Killerwale um ihn herum auftauchten, ihre gekrümmten schwarzen Finnen gleißend im Morgenlicht. Vince erzählte mit ironischer Gelassenheit, wie in seinen wilderen Tagen einmal ein einheimischer Brettbauer eine Tüte voller Peyote und ein spitz zulaufendes Board auf seiner Veranda liegen gelassen hatte. Zusammen mit einem Freund verschlang er sie im Wald, saß eine Weile halluzinierend da und fand sich schließlich unten bei Steamer Lane wieder; ein ablandiger Herbstnachmittag voll von durchrollenden scharfkantigen, fast zwei Meter hohen Wellen. Wie auch immer die Siebziger hier ausgesehen haben mochten, alle am Tisch können sich erinnern, dass sie entschieden anders waren als jetzt. Vince gab eine lebhafte Beschreibung davon, wie er das kleine spitze Brett durch eine gewaltige Tube geritten hatte, wie er durch ihre Öffnung den Regenbogen der vorausgegangenen Welle sah und vier Möwen die Lip entlangflogen. Das Ganze war für ihn eine Verzerrung der Zeit, die sein Leben verändern sollte, bis die Rolle zumachte und ihn vermöbelte.

Vince und Willie und ich versenkten uns eine Weile in Surf-Talk, und dann räusperte sich Pascale. «Ich war vor kurzem Ski fahren», sagte sie und nickte, «oben in Lake Tahoe. Ich war nicht auf den schwierigen Pisten oder so, aber all der Schnee hatte die anderen hier davon abgehalten, hochzufahren, so hatten wir den ganzen Berg für uns und glitten durch das – okay, ich sag das Wort – jungfräuliche Pulver.» Sie lachte und fuhr dann fort: «Und das Verrückte dabei war, ich spürte nie den Boden unter meinen Skiern. Es war, als würde ich ein Kissen aus Gänsedaunen hinabgleiten, aber eines aus Trockeneis. All die kleinen Kristalle flogen hinter uns wie ein Engelsschweif.» Wir alle schwiegen einen Moment, stellten uns das vor. Willie und Vince sahen sich an: Engelsschweif… Metapher oder mehr?

«Diese Artischocken», sagte Fran, «sind einfach … na, sagen wir, was Besonderes.» Sie schloss ihre Augen und zog ein Blatt fangsam zwischen Zähnen und Zunge hindurch. Und dann als Gipfel sinnlicher Genüsse: Spargel. Auch er wurde fast ohne alles serviert, ihr Vertrauen in das Gemüse war so groß, dass sie wussten, dass «das Ding an sich» unter ablenkenden Aromen und Texturen nur leiden würde. Durch Vinces Anstoß gab Fran ein uncharakteristisches und überraschendes eigenes Erlebnis zum Besten, eines aus einer früheren Ehe: den Abstieg von einem hoch auf einem Vulkan Mittelamerikas über den Wolken gelegenen Camp, einen sich über hundert Meilen erstreckenden Ausblick über ein überirdisches Vlies aus Federwolken und das langsame Durchqueren der Wolkenschicht, hinab auf Bergwiesen voller leuchtend roter und gelber Mohnblumen. Sie erschauderte noch in der Erinnerung daran, als bestätige dieses Erlebnis die Vorherrschaft der Intuition vor der Linearität. Vince fragte sie nach mehr Einzelheiten, da er offenbar die Geschichte noch nicht gehört hatte, aber Fran bestand darauf, das sei der relevante Teil gewesen, den Rest würde sie ihm später einmal erzählen. Und dann war ich dran: ein langer, träger Morgen auf einem Felsvorsprung hoch auf El Capitan am fünften Tag unserer Kletterpartie; während meine bekifften Partner umhertappten, schwebte ich sechs Stunden lang und ließ meine bestrumpften Füße über einem fast 900 Meter tiefen Abhang baumeln, tief hinein in beinahe flüssige Weite, durch und durch Yang-geläutert, und sah einem Wanderfalken dabei zu, wie er die Aufwinde nutzte, um meilenweit über seine riesigen Jagdgründe zu gleiten, ohne auch nur einmal mit den Flügeln zu schlagen. Doch meine Geschichte verpuffte ebenso wie die anderen über der riesigen Paellapfanne, ein Griff nach dem Gral als Beweis seiner Existenz, eine Frage als Beweis der erhofften Antwort.

Vince bediente sich von der Platte mit den Garnelen und erzählte, er habe kürzlich einen tollen Roman gelesen, der den ganzen Archetypus des Westens auf den Surfer überträgt, der spurlos im Südpazifik verschwindet. Während er die Handlung umriss, aß ich ein paar Happen, und eine Behaglichkeit hinsichtlich der Opfer und der Hingabe, die wir teilten, breitete sich in mir aus. «Eine Sache daran ist schon komisch», sagte er in sein Essen hinein und hob mit der Gabel eine Auster aus ihrer Schale, «man weiß, für jeden Surf-Insider bedeutet es einen Scheißdreck.»

Ich sah auf. Willie sah auf.

«Na ja», beharrte Vince, «stimmt doch.» All die Jahre einer so schönen Sache gewidmet und immer noch so viele Zweifel. Ich stimmte ihm nicht zu, glaubte nicht einmal, dass er es tatsächlich ernst meinte, aber vielleicht nur, weil der Preis für mich so viel geringer gewesen war, jedenfalls bis jetzt.

 

Diesiger Wind und dumpfes Licht an meinem letzten Surftag am Point vor meinem Abschied: Sogar am späten Nachmittag peitschten große Nebelschwaden über die ungepflügten Felder (alles Gelb war herausgerissen), und die Wildblumen dazwischen wiesen auf den kürzlich gefallenen Regen hin – der erblühte Schierling wogte noch immer. Rettich- und Senfblüten vertrockneten, ein Ausbruch von Salbeigrün: Es gab bereits weniger grelle Kontraste, ein geschmackvolleres Wüstenpflanzengemälde. Die ganze Küste westlich des Highway war noch unbepflanzt, der Boden etwas ausgetrocknet, ein Schwarm Möwen folgte einem Traktor und fraß die freigelegten Würmer. Es wurde Landwirtschaft betrieben, aus den leeren Saatfurchen schossen die Schösslinge. Die Hügel waren überwuchert, verwahrlost und trocken, Fuchsschwanzgras wogte im ausdörrenden Wind und Mohnblüten ragten hoch über das vertrocknende Weidegras hinaus: Grashalme waren unten saftig, aber blass, sodass die Mohnblüten wie schwebende Pünktchen wirkten, eine vibrierende orangefarbene Decke über einem grünen Bett. Möwen labten sich an einem vorbeischwimmenden Fischschwarm, und Hunderte Frösche quakten im Lilienteich am Bahndamm; einer der seltenen Momente, in denen die Meisen, die Amseln mit den roten Flügeln, die Schwalben und die Spatzen alle mit ihrem Gesang das ferne Rauschen der kleinen Brandung übertönten.

Vier braune Pelikane in der Frühjahrsmauser – grau mit weißen Daunenfedern, braunen Hälsen und weißen Köpfen – standen auf dem schwarzen Fels am Meer, wo der grasbewachsene Hang des Hügels in eine steinerne Gezeitenebene überging; ein Lebensraum endete, ein anderer begann dort, alles auf einer Strecke von drei Metern. Etwas an ihrer ruhenden Pose, den Kopf nach hinten gedreht und den Schnabel flach am Hals, erweckte in mir den Eindruck, als seien die Pelikane außerordentlich angewidert. Dann streckte einer von ihnen die breiten Flügel aus und putzte seine Federn, und ein anderer streckte seinen langen, langen Schnabel hoch in die Luft und schüttelte das trockene, rosa Fleisch seines Kehlsacks. Ihre Gestalt wirkte merkwürdig komplex und mechanisch, und sie standen einfach beieinander, eine kleine Delegation, ohne zu schnattern und zu zetern. Dann flatterten sie auf, formierten sich, umkreisten den Felsen und erwischten in einer Reihe eine Südbrise, flogen mit stetigem Flügelschlag über eine sich neigende Welle aus Turbulenzen in der Nähe einer Dünung wie im Kielwasser eines Tankers surfende Tümmler, aber ohne deren Verspieltheit. Mit synchronem Flügelschlag verdrängen sie dieselbe Luft, zogen voran wie Radfahrer, wobei jeder Vogel einen Aufwind produzierte, auf dem der nachfolgende getragen wurde. Schließlich löste sich der anführende Pelikan aus der Gruppe, ließ sich nach hinten treiben und einen anderen die Arbeit tun. Weit draußen erhoben sie sich über einen Möwenschwarm und fingen an zu kreisen: Anchovis, Sardinen, vielleicht Makrelen. Dann legte der Anführer seine Flügel an, zog seinen Kopf nach hinten und sauste im Sturzflug hinunter. Hinein ins Wasser in steilem Winkel, der Kehlsack an der Brust minderte die Härte des Aufschlags – bis in zwei Meter Tiefe vom Einschlag verstörte Fische. (Wenn der Schnabel des Pelikans eintaucht, schnappt die obere Schnabelhälfte auf die weit aufgebogene untere und schleudert den Fisch in den geöffneten Kehlsack.) Schnell kam der Pelikan wieder hoch, den Hautsack prall voll mit einigen Litern Wasser. Als eine Minute später das Wasser abgeflossen war, hob der Pelikan den Schnabel und schluckte hinunter, was immer er gefangen hatte. Weit draußen auf See fuhr im Nebel ein riesiges Hyundai-Containerschiff.

Ich lief hinunter zum Strand, war in zwei Schritten von einem Streifen aus zwölf orangefarbenen Mohnblumen auf den von der Brandung gerundeten Kieseln, die von herumhuschenden Krebsen bevölkert waren. Der Mond hatte eine sehr niedrige Ebbe gezogen, aber der Morgennebel schirmte die schutzlos ausgelieferten Tiere vor der Sonne ab. Ganze Gezeiten-Welten lagen da offenbart, nackt und nass wie eine rohe Haut unter der grauen Nebeldecke. Ein Schwarm Seemöwen schnappte in den flachen Lachen nach Seesternen, zerrte an Seetrauben und schiss flächendeckend das Seegras voll. Und bei all dieser Unbedecktheit trat das Leben in Streifenform klar zu Tage: die graubraunen Rankenfußkrebse und Schnecken auf den höchstgelegenen, trockenen Felsen; ein wenig tiefer die Algen auf den Felsen und ein paar baumelnde Meeresalgen, und dann ledrige Mollusken, die gesprenkelte Korallenkrusten abmähten, und unter all dem ein Vorhang aus blühendem Seegras, das die Manteltiere bedeckte. Grenzgebiete variierender Abstufungen, eine Welt am Rande und im Wandel. All diese Rankenfußkrebse, die ihre Öffnungen weit aufsperrten und sich nach Nahrung reckten, wenn Wasser sie überflutete, ein paar von ihnen mit ihren fadenförmigen Penissen umhersondierend.

Winzige Wellen … ich stocherte ein bisschen im Flachwasser herum, wollte mich dem Unvermeidlichen nicht fügen. Wartete, dass sich der Nebel verzog, schlief eine Weile am Strand. Verbrachte meine Zeit erbärmlich damit, einen verhärteten Algenstrunk in eine Seeanemone zu stecken, um zu sehen, wie sie spritzte und sich zusammenzog; scheuchte einen kleinen Krebs in eine Ecke und focht ein Duell gegen seine monströsen Popeye-Arme; verfütterte einen Seestern an eine Anemone, zog ihn aber gleich wieder raus. Algen wogten, während ich mit meinem Board durch das flache Wasser watete – Luft und Wasser waren knapp über 10 Grad. Ich nahm an, es gab da ein Recycling, ein System, in all diesen wilden kleinen Welten, aber ein Leben von dort herleiten? Einen Code? Aus Ed Ricketts' Between Pacific Tides von 1939: «Der Besucher einer Felsküste bei Ebbe betritt wahrscheinlich den fruchtbarsten Lebensbereich der Welt – einen so dicht besiedelten Gürtel, dass oftmals nicht nur jeder Quadratmillimeter des Raums von einer Pflanze oder einem Tier genutzt wird, sondern der Wettbewerb um einen festen Platz ist so groß, dass Tiere übereinander siedeln – Pflanzen wachsen auf Tieren, Tiere wachsen auf Pflanzen.» Oder in Cannery Row, wo Ricketts als Romanfigur vorkommt und John Steinbeck Ricketts absichtlich damit Saures gibt, dass er sich die vorknöpft, die das Wilde romantisieren wollen: «Hier reißt gerade ein Krebs seinem Bruder das Bein aus … Dann stiehlt sich der kriechende Mörder, der Octopus, davon, träge, weich bewegt er sich wie ein grauer Dunst, tut so, als sei er ein Stück Alge, dann ein Stein, und jetzt wieder ein Klumpen vermodernden Fleisches, während seine bösen Ziegenaugen kalt umherschauen.» Es ist Melvilles universeller Meereskannibalismus, wo Ricketts in dem Schrecken eines überglasten Beckens lediglich eine «liebliche, bunte Welt» sieht – die Landschaft bei Ebbe als trügerisches Scheingebilde.

Und so ging's über die bemoosten Vorsprünge und Riffe, ausgleitend und dem Meer entgegenstolpernd, Blut und Schnodder auf dem Neoprenanzug, der von Schweiß und Urin getränkt war – bis zu den Knien in dem glasigen Wasser, die Zehen der fleischigen Oberfläche des Riffs. In «The Love Song of J.Alfred Prufrock», als T.S. Eliot langsam der Last des Bewusstseins müde wird, schreibt er, er «hätte ein Paar gezackter Krallen sein sollen / Und hastig über den Boden der stillen Meere eilen». Krebse? Krabben? Oder einfach nur eine Versinnbildlichung? Mit gefühllosen Händen und kalten Kopfschmerzen von eisigen Wellen über dem Kopf, scharrte und zerrte ich das Surfboard über große Stränge und Schäfte von Kelp, die wie glänzende Ranken und Zweige auf dem Wasser trieben. Ein sich durch die trübe Brühe reckender Efeuwald ohne Haus, an dem es sich hochranken konnte – verschlungene Bänder des Lebens. Die so bedeckte Wasseroberfläche fing die Bewegung der Wellen auf, hielt die Brandung ruhig, winkte mit flüssigen Säulen wie stachellose, vom Himmel herabbaumelnde Bäume, atmete mit der Sinuskurve der Brandung ein, mit ihrer Cosinuskurve aus. Der Pulsschlag des Lebens als ein empfindungsloses Momentum. Dort unten im lichtgesprenkelten Dschungel bevölkerten Seesterne und schwarze Abalones die Flächen; Krabben und Schnecken knabberten an den Stielen und wurden selbst von Drachenköpfen und Brandungsbarschen angeknabbert: die obszöne Anzahl der kleinen Aasfressereien und Attacken einer ausgezeichneten Organisation.

Ich versuchte, mich auf eine kleine Welle aufzuschwingen, stürzte aber vom Brett, weil meine Beine steif waren und ich keine Balance hatte. Aber immerhin war ich nass. Ich paddelte einer anderen entgegen, schätzte sie aber nicht richtig ein. Ein Strudel formte sich darunter, und die Lip warf mich kopfüber ab. Der Nebel verzog sich endlich, als der Abend kam, und da stand noch ein Mann auf den Klippen. Neben mir kam eine Robbe an die Oberfläche und verschwand wieder. Die Sonne warf lange Schatten über die Klippen und ätzte kleine Hohlräume in sie hinein. Das Wasser war von einem harten Blauschwarz mit rosigem Abendlicht, das auf den Kräuselungen glitzerte. Ich bekam noch ein paar Wellen, wärmte aber nicht auf. Die Robbe erschien wieder, um zwischen den freiliegenden Riffen zu fischen. Viel später, in der letzten halben Stunde Licht, paddelte der andere Typ hinaus. Es war Steve, der Bursche mit dem kleinen, blinden Hund. Wir schwatzten ein wenig und froren zusammen im selben eiskalten Wasser, als die Sonne unterging, Kliffspitzen beleuchtete und lange Sedimentbrüche verdunkelte. Ein Pelikan schwamm mit hochgestrecktem Hals, den Schnabel direkt nach unten gerichtet, vorüber. Der kalte Wind und der Mangel an Wellen versprachen kein Adrenalin, und ich fing an zu schlottern. Die Sonne war ein scharf umrissener leuchtender Ball. Steve sagte, er wolle zurück nach Utica, New York, ziehen, bei seinem Bruder wohnen und Anfängerkurse für Krankenpflege im dortigen College belegen. Die zehn Jahre Kalifornien hatten zu nichts geführt: Die Frau war schließlich weg die Wirtschaft am Boden, die Städte so groß und teuer. Er fing auch an zu schlottern, dabei war er erst ganz kurz draußen. Ich konnte sehen, wie er die Lippen fest aufeinander presste und die Schultern zusammenzog. Er freute sich nicht gerade auf den Winter im Osten, sagte er, er hatte gedacht, er habe seinen letzten dort bereits hinter sich.

Die Sonne zerfloss an der Unterseite und schmolz rasch in den Ozean, während er erzählte – es war wunderschön aber so frostig. Allein paddelte ich an Land und zitterte am ganzen Körper in brutalen Zuckungen, als ich meinen Neoprenanzug auszog. Ich brauchte eine Weile, bis ich angezogen war, weil meine Finger so taub waren, dass ich meine Jeans mit den Handflächen zuknöpfen musste. Und die ganze Zeit über blieb Steve im Wasser, versuchte sich nicht einmal an einer Welle, saß auf seinem Brett und trieb einfach durch die hereinbrechende Nacht. Sogar als ich mich umgezogen hatte und die Sonne vollständig untergegangen war, blieb er. Auf dem Rückweg durch die Felder konnte ich noch Wolkenfetzen in der Dunkelheit sehen. Scheinwerfer tauchten auf dem Highway auf, während hinten an der Klippenkante die Zypressen zu Silhouetten vor dem noch verbliebenen Streifen violetter Abenddämmerung verflachten. Stille, atmen … Schritte entfernt von der schwarzen See, die eher einen eiskalten flüssigen Balsam als die Wärme des Flusses Lethe versprach. Kein Arzt würde je einen Patienten hierher schicken, damit er seine Jugend wiedererlangt. Von einer kalten, dunklen Welle unter Wasser gedrückt, fühlt man sich klein und schwach und begreift, dass selbst der eigene Körper größtenteils im Grunde nichts als Wasser ist.