Winter hier fühlt sich an, als treibe man in kühlem Fruchtwasser, er bedeutet hier nicht den Tod vor einer Wiedergeburt – eine Puderschicht Schnee kann auf den Gipfeln der Hügel bei Temperaturen von 20 °C im Sonnenschein etwa eine Woche lang liegen bleiben, um dann in einem Monat Dauerregen fortgewaschen zu werden. Aber diese Zeit, anders als der Ostküstenwinter oder der kalifornische Sommer, ist keine tote Zeit, sondern bringt alles zum Wachsen. Und die großen Tiefdruckgebiete, die sich vom Nordpazifik her anbahnen, wühlen eine fast beständige Nordwest-Dünung auf, solange ein kalifornisches Hoch sie alle über Oregon hinweg und nach Idaho ziehen lässt. Wenn aber dieses Hoch über unserem Kopf zusammenbricht, schwenken die Stürme die Küste entlang und lassen die Wellen direkt auf uns niederkrachen, was nichts Gutes verheißt. Alles kommt kreuz und quer. An einem solchen chaotischen Tag war Willie dann wirklich glücklich, wenn er ein paar Dollar verdiente, und Vince riss entweder seine Sprechstunden herunter oder surfte an einer Stelle, von der er mir nichts erzählt hatte, und ich kämpfte mich am Point mit einem sich gerade lichtenden Sturm ab, während eine neue dunkle Wolke hinter den Hügeln am Himmel aufstieg. Ein neuer Streifen schlechten Wetters, gelegentliche Regentropfen aus den Wolken fielen in die Pfützen von gestern und kräuselten die Spiegelung des klaren Himmels. Frische gelbe Senfpflanzen waren zwischen den Stürmen aufgetaucht und hatten ein bisschen Fröhlichkeit in all das harte, trockene Grün der Berge gebracht, und sogar die Kornweihe kreiste niedrig über den durchweichten Resten der Hemlocktannen. Schwalben tschilpten hungrig über den morastigen Feldern, noch nicht so aufgeregt, wie sie in ein, zwei Monaten sein würden, piepsten sich zu und hüpften dabei über ein Wasserrinnsal am Wegesrand. Kleine Disteln und Farne, frisch-grün und lebendig, dufteten nach Überfülle unter der Fäulnis, nach Anschwellen und Blühen, wenn das Gras aufging. Im Wasser ritt ich ein paar kleine, ungeordnete Wellen. Einige Delphine schwammen heran, und dann kamen keine weiteren Wellen. Es wurde ganz ruhig, abgesehen vom Kreischen der Möwen und Plätschern eines auftauchenden Seetauchers – schon etwas seltsam nach dem Getöse der Wellen. Ein großes Stück Seetang ähnelte einem menschlichen Kopf, und grüne Fettpflanzen hingen von der Klippe wie Moos. Der Geruch von Seegras, während die Wolken sich in Spiralen und Schichten verschmierten … es war schon merkwürdig, keinen Otter, keine Robbe und keinen Seelöwen zu erblicken. Die Delphine waren längst fort, und ich lungerte in der Nahrungskette herum. Wenn ein großer Hai hochkommt, heißt es, sehe man zuerst einen «Fußabdruck» hochsprudelnden Wassers – ungefähr so wie dieses Gebrodel überall um mich herum. Ich spürte meine Blase, als ich mich an den Geruchssinn des Weißen Hais erinnerte, der den Urin von Säugetieren in einer Auflösung von eins zu zehn Millionen ausmachen kann. (Wie oft wohl Pinkeln ein, fatales Ende hat?)

Meine Gedanken an Haie lenkten meine Augen zurück an Land, wo ein Bestand schiefergrauer Monterey-Pinien von der Klippe aufragte, dicke, windschiefe Stämme mit ein paar breiten Ästen; keine schwankenden Blätter oder unwürdige kleine Zweigchen. Ich vergaß den Tod und sah, wie diese Bäume das Wasser nicht beachteten, das sie bereits doppelt so lange, wie ich schon lebte, nicht beachtet hatten, und fragte mich, wie dieses dunkle, seit Jahrzehnten windgepeitschte Baumgestrüpp mir hier im Wasser jeden Tag einen fast greifbaren Frieden vermitteln konnte, einen Anker würdevoller Gleichmut. Denn das tat es seit kurzer Zeit, in der Art, in der die Ansicht eines Tempels am Fluss einer Stadt einen Einheimischen Jahr für Jahr über die sich ständig verändernde Mixtur von Straßenmüll hinwegsehen lassen kann und sogar über den erbärmliche Geschmack der Geistlichen in Bezug auf die neuen bunten Fenster. Die Art, in der diese Bäume sich nach Südosten lehnten, ohne sichtbaren Anstoß, beschwor jetzt einen ruhigen, genau bemessenen Ablauf der Zeit herauf, so als wollten sie sagen: Du hast gefunden, was du brauchst; immer aufs Neue werden Wellen sich unter diesen Bäumen und über diesem Riff brechen und dir weiterhin all das geben, was du von ihnen erwartest. So wie für andere wohl ein Fluss zum Angeln oder eine Skiloipe, ein Ort also, dessen Geometrie lange genug vor Augen geführt wurde, um für immer im Zentrum seines Vorstellungsvermögens zu stehen. Merkwürdig war auch, dass mich nur mein tägliches Ausschauhalten niemals dazu gebracht hätte, diese kleine Bucht als mein gesetzlich angetrautes Leben anzunehmen; erst dadurch, dass ich mühselig in dem Wind trieb, der diese Äste krümmte, sodass ich einen Strang Seetang fest um meinen Oberschenkel schlingen musste, erst dadurch war es so weit gekommen.

Ich weiß das, weil ich vor ein paar Tagen an einem dieser seit Wochen fürchterlich verregneten Nachmittage hier heraufkam, um die Küste zu schmecken. Wir hatten kaum eine Brandung gehabt, auf der man hätte surfen können, weil die Stürme direkt über uns lagen. Am besten sind die ein paar hundert Meilen entfernten, denn sie wühlen die Grunddünung auf, ohne die Oberfläche am Surfspot zu stören. Doch an dem Tag fiel der Regen auf stürmisches Wasser, und über den ganzen Strand verteilt lagen Treibholz und Styroporstücke sowie eine grüne Flasche. Als ich den Weg hinabgeschlittert war, sah ich das Kreuz, das jemand im Sand aufgepflanzt hatte, zwei Stück Treibholz, vertäut mit einem Strang Seetang, dem Ozean zugewandt. Beim weiteren Umsehen stellte ich fest, dass jemand insgesamt neun Kreuze entlang des Meeres aufgestellt hatte (in seinem allzu menschlichen Zwang, Ordnung in Entropien zu bringen und eine Entropie von Ordnung zu erschaffen); und es sah so hoffnungsfroh aus, war wie ein zartes, kleines Zeichen Gottes inmitten all dieser grässlichen Zeugnisse. Ich war beeindruckt von dieser Geste, zu der ich nie imstande gewesen wäre, die in mir aber auch eine Nostalgie für das auslöste, wie hier das Leben einst gewesen sein mochte. Ich trieb also in meinem Neoprenanzug mit Reiß- und Klettverschlüssen auf von Fiberglas umschlossenem Polyäthylenschaum, schaute zurück auf den aufgeweichten Strand und stellte mir vor, wie zwischen reetgedeckten Hütten, Haufen aus Vogelknochen und Austernschalen Feuer brannten und vielleicht eine Frau in den Ebbesielen stocherte und einen Korb mit Schalentieren füllte. Nennen wir es den Fluch des Amerikaners, dass er sich diese Welt immer ohne sich selbst vorstellt, aber ich konnte nicht anders. Ich malte mir aus, wie ein paar Jungen einem gestrandeten Wal Fleisch abschnitten, während in der Nähe ein Grizzly herumtappte und ein Kondor mit über zwei Meter Flügelspannweite darüber kreiste; wie Männer im Morast Enten jagten, während andere in einer Mulde Muscheln und Eicheln backten. Vielleicht trieb ein Mann (vielleicht ein Ohlone-Indianer?) genau hier, wo ich auf eine Welle wartete, in seinem Reetboot und fischte mit dem Speer. Als Nomaden innerhalb eines kleinen Territoriums wanderten sie ein paar Meilen nach hier, ein paar Meilen nach da; von Schalentieren zu Flusslachs, von Eicheln in den Hügeln zu Samen in den Wiesen. Die Notwendigkeit solchen Umherziehens preisend, schreibt Bruce Chatwin in seinem Buch Songlines, dass «die natürliche Selektion für uns gemacht war – angefangen bei der Struktur unserer Gehirnzellen bis hin zur Struktur unseres großen Zehs –, für einen Werdegang saisonbedingten Reisens zu Fuß». Ich frage mich, ob unsere Definition von Reisen nicht inzwischen von den zeitgemäßen technischen Möglichkeiten bestimmt wird; wir nennen es kaum noch Reisen, es sei denn, es steht in Verbindung mit einem Flug in eine andere Zeitzone, einen anderen Kontinent. Aber sicherlich entspricht etwas an dem langsamen Umherwandern durch die Heimat dem Bedürfnis nach jahreszeitlich bedingter Bewegung – genau wie Vince es proklamierte. Immerhin kommen Dünung und Wind an der Küste zu jeder Jahreszeit aus ganz unterschiedlichen Richtungen, und zwischen der Nord- und der Südgrenze von Santa Cruz County liegen Riffe und Sandbänke, die für praktisch jede Art von Brechung sorgen. Langsam zieht man von einem Surfspot zum anderen durch das Jahr, von einem bestimmten Strand bei Flut oder einem Ebbe-Riff im Herbst zu einer anderen Kombination im Winter und zu wieder anderen im Frühling und Sommer. Unsere Jahreszeiten sind subtil, nicht deutlich ausgeprägt, und sie wechseln auch nicht rasch. Wir haben sommerliche Bedingungen im Februar und gelegentlich Stürme aus Norden im Mai; doch ein Surfer auf der Suche bekommt im Laufe eines Jahres fast jeden Zoll der dreißig Meilen langen Küste zu sehen. Es ist, als ob das Surferleben hier eine Zelebrierung der Welt vor der eigenen Haustür im Sinne von Thoreau und zugleich von Chatwins Weltenbummelei (wenn auch auf einem kleinen Globus) wäre.

Und die Ohlone-Variante dieser Wanderung resultierte in einem verlockenden Garten Eden: Gelegentliche kriegerische Auseinandersetzungen forderten nur selten Leben; sie hatten viel zu essen und brauchten wenig Besitz. Nach jeder kleinen Strecke, die sie weitergezogen waren, bauten sie sich neue Hütten und Boote und konnten sich mit den je nach Jahreszeit verfügbaren Köstlichkeiten den Wanst voll schlagen. In den 1880er Jahren schrieb José Espinosa y Tello, dass ihr Leben ewigen Ferien ähnele, wie Reisende nach ihrem Besuch der Pazifikinseln bezeugen konnten. In ziemlich kolonialistischem Ton bemerkt Tello, dass «ihre Wünsche nur dahin gehen, genügend Essen für den Tag zu haben, ohne sich dafür allzu sehr verausgaben zu müssen», und sie deshalb «eine außergewöhnliche Trägheit und Stumpfheit an den Tag legen, sodass sie ihr Leben in ständiger Untätigkeit und Zeitvergeudung verbringen und jede Art von Arbeit und Anstrengung mit Entsetzen betrachten». (Isabella Bird und Hiram Bingham hätten dem beigepflichtet.) Aber gewiss hat die Gegenwart ihren Wert: Während Hunderte von Pott- und Buckelwalen nicht mehr länger zwischen den Kelp-Betten treiben und Millionen Heringe nicht länger die Navigation in der Bucht behindern (1863 beging ein riesiger Heringsschwarm Massenselbstmord, indem er an der Küste strandete und drei Meilen Strand vor Santa Cruz mehr als einen halben Meter hoch mit totem Fisch bedeckte), sind zumindest Otter, Seelöwen – deren Genitalien getrocknet nach China exportiert werden, um die Vitalität der Alten zu stärken – und See-Elefanten, die alle fast bis zum Aussterben gejagt worden waren, zurückgekehrt. Und sogar die Ohlone, das nomadische Volk an der Pazifikküste, schufen sich ihr Reich. Sie brandrodeten das angeschwemmte Land, um das Baumwachstum niedrig zu halten, und ernteten diese Bereiche zwischen den Gezeiten ab. An Hängen, an denen jetzt im Herbst die Kürbisse orange wurden und Senfpflanzen gelb blühten, fächelten auflandige Brisen den von den Indianern gelegten Buschfeuern Luft zu. Das Leben der Ohlone fand kurz nach der Ankunft der Missionare ein Ende: Das Volk umfasste beim Eintreffen der Missionare ungefähr 11000 Menschen, um 1924 waren es noch 56. Malcolm Margolin schreibt in The Ohlone Way, dass zu den wenigen Überresten dieser Kultur eine Zeile aus einem Lied gehört. Während ich hier vor so viel Weite surfe, erscheint mir diese Zeile ausgesprochen sinnvoll: Wir tanzen auf dem Rand der Welt.

Eine andere Formulierung meiner ursprünglichen Frage: Wie wird ein schottisch-irischer Surfer am Ende des 20. Jahrhunderts ein Bewohner der Westküste Nordamerikas und glaubt an sie? Indianische Gedanken bieten ein hübsches Gegengift für unseren Wahnsinn, aber nur der Wahnsinn gehört uns, also muss ein Teil der Antwort in den kursierenden Geschichten unserer Kultur liegen: Ökosysteme und Biotope, natürlich, und sogar kultische Stätten der Einheimischen, aber auch, wer wen tötete, was sie aßen, was sie beim ersten Anblick von was auch immer sagten. Also ab in die Bibliothek, um bei den weißen Burschen nachzuschlagen, die uns hierher brachten, um einen vorgetäuschten Ursprungsmoment zu finden: beispielsweise das Jahr 1542. Noch ehe jemand auf den Hügeln Neuenglands eine Stadt gebaut hatte, ging Juan Rodriguez Cabrillo mit seinem kleinen Holzschiff vor dem heutigen Monterey vor Anker. Er war am Dienstag, dem 27. Juni, um die Mittagszeit aus Navidad in Baja California, das in spanischer Hand war, losgesegelt und wollte weiter an der kalifornischen Küste entlang nach China, um neue Märkte zu eröffnen, ein paar weiße Flecken auf der Landkarte auszufüllen, und er sollte der erste Europäer werden, der diese herrliche Bucht mit ihren verschwiegenen Winkeln und Stränden sah. Vielleicht träumten Cabrillo und seine Männer von einem nördlichen, goldbeladenen Aztekenreich oder vom edlen Ritter, der vor einer Insel namens Kalifornien festmachte, die von bildschönen schwarzen Frauen bewohnt war, die ihn nur an Land ließen, um für Nachkommen zu sorgen. Cabrillos Schiff segelte nach Norden, vorbei an den öden Wüstenstränden der Baja-Halbinsel; die Männer sahen, wie die Küste immer grüner wurde, Monat für Monat, sahen riesige Herden Seelöwen, wogendes Kelp, das Seegras auf dem Meeresgrund und hier und da mal einen Indianer. Nach der Umrundung von Rosario Bay und Baja Point kam Cabrillos Schiff, die San Salvador, in wahrlich noch nicht vermessene Gewässer. Gelegentlich hielt Cabrillo auf der Strecke, um das Land für den spanischen König zu besetzen; wahrscheinlich so, wie es Ulloa im Innern des Landes gemacht hatte; Eine Hand am Schwert, verkündete er dem schweigenden Wald, er würde für das, was er getan habe, einstehen; haute Pinien um, versetzte Steine von hier nach da, goss Meerwasser aufs Land und pinkelte an den sprichwörtlichen Baum.

Überall warteten die Aufgaben Adams auf ihn: Landzungen und Buchten und Inseln nach den Heiligen zu benennen, denen man wiederum den Tag der Entdeckung widmete; eine Art, diesen Heiligen für ihre unmittelbaren und unentbehrlichen Beistand zu danken, durch den sie das Leben der Entdecker schützten. Dadurch hinterließ Cabrillo ein Vermächtnis spanischer Eigennamen für heutige Schulen, Straßen und Städte, das sogar noch flächendeckender ist als das der Gründungsväter. Cabrillo kam bis Point Reyes fünfzig Meilen nördlich von San Francisco, einer herrlichen Landzunge, die durch den San-Andreas-Graben vom Festland abgebrochen war. Er benannte sie Cabo de los Pinos nach den heute verschwundenen Wäldern aus Redwood, Fichten und Pinien. Überraschenderweise übersah er das Kronjuwel: die Einfahrt zur Bucht von San Francisco – vielleicht war sie von Nebel verborgen. Cabrillo kehrte nicht eher um, als bis er die Mündung des von Weiden flankierten Russian River erreicht hatte. Am 16. November trat er die Heimfahrt an, das Schiff umrundete den Point bei Santa Cruz, wo eine Nordwest-Dünung, die sich über die Riffe quälte und an den Sandbänken zu Tubes auftürmte, die Männer davon abhielt, an Land zu gehen; in einem Moment besonderer Inspiration nannten sie die Bucht Baya de los Pinos. Tage später segelten sie Big Sur entlang in Richtung Süden, wo die Bergketten direkt ins Meer abfallen, und berichteten von schneebedeckten Gipfeln und weiß vereisten Klippen – ein Beweis für das völlig andere Klima damals. Aus Angst vor dem nahenden Winter wollten sie schnell weiter nach Süden und machten auf einer Insel vor dem heutigen Santa Barbara Halt. Während sie die Lecks am Schiff reparierten und ihre kranken Seeleute ausruhen ließen (die an Erkältungen, Skorbut, Unterernährung und Erschöpfung litten), wurden sie von feindseligen Einheimischen überfallen; Cabrillo wollte am Kampf teilnehmen, aber das gebrochene Schienbein, das er sich beim Sprung an Land zugezogen hatte, kostete ihn das Leben.

Seit der Zeit, in der Cabrillos Schiffe nach Baja zurückkehrten, erhoben die Spanier Ansprüche auf die nordamerikanische Westküste, weil sie sie entdeckt hatten. Ist doch nur fair, oder? Immerhin haben sie sie gesehen. Und später im 16. Jahrhundert entsandten sie noch ein paar Abenteurer: Francisco Galli, der gerade von den Philippinen kam, erhielt den Befehl, nach einem sicheren Hafen an der Westküste Ausschau zu halten; er hielt kurz bei Pillar Point, heute Standort einer nordamerikanischen Luftabwehr-Radarstation. Pillar Point macht einen scharfen Bogen nach Süden und bietet guten Schutz vor nordwestlicher Dünung, aber wenn Galli dies als Hafen für sein Königreich nicht geeignet schien, mag das daran gelegen haben, dass es der einzige Ort in Alta California ist, an dem über neun Meter hohe Wellen vorkommen; vielleicht ist er gar an einem Tag vorbeigekommen, an dem das Tiefseeriff, bekannt als Mavericks, «abging», wie wir sagen. Und 1594 bekam Kapitän Sebastian Cermenon den ähnlichen Befehl, einen sicheren Hafen für aus Manila zurückkehrende Galeonen zu finden. Er setzte sein Schiff an einer der Farallon-Inseln in den haiverseuchten Gewässern vor dem Golden Gate auf Grund. Zusammen mit siebzig anderen schaffte er es zur Drake's Bay, wo sie ein Boot aus einem Baumstumpf hauten. Allzu gerne stelle ich mir ihre verblüfften Gesichter angesichts der unberührten Bestände über neunzig Meter hoher Redwood-Bäume direkt an der Küste vor, oder wie sie all die Wochen an diesen verlorenen Gestaden verbrachten, Holz hackten und den Baum aushöhlten, Grizzlys aus dem Weg gingen und Elche jagten. Zusammengepfercht in dem hohlen Stamm, hungernd, stinkend und sterbend, segelten sie (man stelle sich das vor) zweitausendfünfhundert Meilen hinunter nach Acapulco, unter Wind und Dünung aus Nordosten, direkt hier vorbei über den Kelp am Point, zwischen Tausenden von Walen, die nach Süden zogen. Es gibt keinen Zweifel, dass sie sogar in die Monterey Bay trieben, um Süßwasser zu finden, durch Heringsschwärme hindurch, und auf den Dünen Antilopen äsen sahen. Die Bucht muss ihnen wie ein Stück Paradies erschienen sein: ein warmes Tiefland an der Küste, umgeben von grünen Bergen, Lagunen, die von mehreren Flüssen gebildet wurden, ehe sie ins Meer mündeten, vielleicht der Rauch zahlloser Indianerdörfer.

Drei Monate nach Gallis Rückkehr segelte Sebastian Vizcaíno nach Norden, um dasselbe Paradies zu erkunden und zu besiedeln; Winde drängten ihn beim ersten Mal zurück, aber sechs Jahre später versuchte er es erneut und gelangte unbeschadet zum Cap Mendocino. Auch er machte die merkwürdig existenzielle Erfahrung, dass die Welt auf seiner Durchreise so hieß, wie er sie nannte. Nachdem sich am 14. Dezember dicker Nebel gelichtet hatte, sah er eine riesige Bergkette an der Küste (südlich von Monterey Bay) und darüber ein Tal mit einem Fluss, der ins Meer floss. Die Bergkette wurde zur Sierra de la Santa Lucia, der Fluss zum Rio del Carmelo zu Ehren der Karmeliter. Obwohl völlig unpassend, wurden die Namen als Dank dafür gegeben, dass die Entdecker durch die Gebete der Karmelitermönche am Leben geblieben waren. Dann umrundete das Schiff eine hohe, bewaldete Landspitze, die sie Punta de los Pinos nannten – heute Point Pinos –, und gingen am 16. Dezember 1602 vor Anker. Sie benannten Cabrillos Baya de los Pinos um, zu Ehren ihres Gönners, des Conde de Monterey. Über die Bucht schrieb Vizcaíno, dass alles «so war, wie man es sich nur wünschen konnte, ihre Weiträumigkeit und Eignung als Zwischenhalt für Schiffe auf der Fahrt zu den Philippinen. Dieser Hafen ist von allen Winden geschützt … und dicht besiedelt von Leuten, die ich von nobler Veranlagung, friedlich und fügsam befand.» Damit war Monterey, die im Dunst des Horizonts südlich vom Point bedrohlich aufragende Landspitze – diese dunkle Silhouette der Berge mir stets zur Linken, wenn ich auf eine Welle warte – auf der Weltkarte.

166 Jahre sollten vergehen, ehe erneut Europäer mit kolonialen Absichten vorbeikamen. Aber die Galeonen nach und von Manila kreuzten weiter vor der Küste, und vielleicht sahen hin und wieder Indianer nachts das Licht einer Laterne weit draußen auf See; Indianer, die nach Vizcaínos letzter Reise geboren und vor Portolás langem Marsch gestorben waren. Zweifellos legte von Zeit zu Zeit ein Schiff an, um Wasser zu holen oder einen gebrochenen Mast zu flicken; keine Entdecker, sondern Kerle, die arbeiteten und dafür bezahlt wurden. Ein Berufsmatrose hätte ein Leben lang an einer Küste vorbeisegeln können, an der nur wenige Orte einen Namen in seiner Sprache hatten, vorbei an dieser Landspitze, auf der Buschfeuer den Hügeln nachts eine Silhouette gaben. Er hätte in seinem Leben drei- oder viermal dasselbe Indianerdorf gesehen und sich dabei Fragen über das Leben gestellt, an dem er hier vorübertrieb, die Sierra und Rocky Mountains weit im Innern des Landes, Puritaner irgendwo dreitausend Meilen entfernt im Kampf gegen die Pequots. Vielleicht hätte er Kodiak-Indianer in ihren baidarkas gesehen, den Kajaks aus Walknochen und Robbenhaut, die in einer langen stillen Reihe rund um den Point trieben. Der Otter wäre damals nahe dem überwachsenen Felsbrocken aus dem Meer aufgetaucht und hätte ein Spritzen im ruhigen, glasklaren Morgen gehört, er hätte sich aufgerichtet, den Verursacher gesehen und wäre wieder abgetaucht. Die Jäger hätten sich über die Bucht ausgebreitet und ein paar Minuten gewartet, bis der Otter wieder an die Oberfläche kam, um Luft zu holen; sobald sein Kopf aufgetaucht wäre, hätte einer der Jäger geschrien, bis er wieder abgetaucht wäre. Und noch einmal, bis er aufgetaucht und einen Moment zu lange nach Luft gejapst und gebannt auf einen roten, fast zwei Meter langen Speer mit Widerhaken und eingebrannten Jagdszenen samt Otterkerbholz gestarrt hätte. Als königlicher Pelz Chinas, Robenbesatz der Mandarine, standen Otter im Mittelpunkt des Interesses bei der darauffolgenden Besiedlung der Westküste; allein die Russen holten sich 1811 neuntausend Felle aus der Bucht von San Francisco, während am Strand Amerikaner auf Trittleitern wahllos Schüsse abfeuerten und darauf hofften, ihr Zufallstreffer würde an Land gespült werden. Sogar in den dreitausend Jahre alten Abfallhaufen einheimischer Indianer sind Otterknochen zu finden: Ohlones erschlugen sie am Strand, breiteten Netze über dem Kelp aus oder warteten darauf, dass eine Mutter nach Nahrung tauchte; banden dann dem Jungen eine Schlinge um den Fuß und zogen daran, damit es heulte und so das Muttertier zurückholte. Gut sind Otter jedenfalls darin, Angriffen aus dem Weg zu gehen. Sie schwimmen klug unters Boot, hinein in Strömungen und windwärts, sogar unter Brecher und zwischen gezackte Felsen, wohin kein Boot ihnen folgen kann. Berichten zufolge reißen sie sich mit den Zähnen Pfeile aus dem Körper und weinen wie kleine Menschenkinder. Heute hat die Wirtschaft für solch schäbige Ressourcen keinen Bedarf mehr; nur noch Weiße Haie jagen Otter, reißen jährlich Hunderten von ihnen den Kopf ab, ohne sie zu fressen, so wie bei dem, den ich am Chums gesehen hatte. So hat diese Kreatur, die einst offen an sonnigen Stränden schlief und dann lernte, dem geringsten menschlichen Geruch oder Geräusch mit Misstrauen zu begegnen, heute etwas von ihrer Angst vergessen.

Die Russen hatten gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Beringsee überquert, und es waren ihre von Alaska nach Süden vordringenden Otterjäger, die den spanischen König Carlos III. zunehmend unruhig werden ließen. Um seinen Besitzanspruch zu sichern, entsandte er Don Caspar de Portolá zusammen mit vierzehn Franziskanermönchen, um die Jesuiten in Baja California zu enteignen und Missionen in San Diego und Monterey einzurichten. Portolá marschierte mit vierzig Kavalleristen und fünfundzwanzig Infanteristen (ebenso mit dreißig christlichen Indianern für die harte Arbeit des Wegesuchens und Flüsseüberquerens) von San Diego direkt hierher. Bei Etappen von zwei, drei Meilen pro Tag und mit Pferden, die nachts wegen eines Fuchses oder durch einen Windhauch aufschreckten, erscheint dies wie eine unvorstellbar mühsame Reise. Nach einer qualvollen Überquerung der Santa Lucia Mountains hielten sie dort, wo der Sahnas River in die Bucht fließt, und sandten Soldaten aus, um den legendären Hafen von Monterey zu finden; sie konnten einfach nicht glauben, dass die weit offene ensenada, die sie sahen, der geschützte Hafen sein sollte, von dem Vizcaíno so geschwärmt hatte. Tagelang suchten sie und hielten am Mittwoch, dem 4. Oktober 1769, in niedergeschlagener Stimmung Rat. Nach der Messe beschlossen sie, weiter nach Norden vorzudringen. Sechzehn an Skorbut erkrankte Männer konnten jetzt ihre Gliedmaßen nicht mehr bewegen und wurden tagsüber in Hängematten zwischen Maultieren getragen und nachts mit Öl abgerieben. Sie waren ein verlorener, desorientierter Haufen verwundeter, murrender Priester, der durch das Beinahe-Paradies steinzeitlicher Indianer trottete. Viele Einheimische flohen aus ihren Dörfern angesichts dieser Reiter in ihren Rüstungen aus Wildhäuten, deren Musketen ein meilenweit zu hörendes Echo in der vorindustriellen Stille auslösten. Bruder Juan Crespi beschreibt das Entsetzen der Indianer – was man auch als ungeheuren Weitblick deuten kann: «… sie rannten wild durcheinander, ohne zu wissen, was sie taten. Einige liefen zu ihren Waffen, andere riefen und schrien, die Frauen fingen an zu schluchzen. Die Soldaten taten alles, was in ihrer Macht stand, um sie zu beruhigen …»

Am 17. Oktober überquerte die Gruppe einen Fluss, den sie San Lorenzo nannte und der mitten durch das heutige Santa Cruz verläuft; genau der Fluss, von dem aus 1880 die hawaiianischen Fürsten losgesurft waren und an dem in den fünfziger Jahren andere Surfer campiert hatten; der Fluss, der den Seabright Beach unterhalb meines Häuserblocks von den grünen Stahlrohren trennt, auf denen die Achterbahn am kitschigen Boardwalk steht. (Der San Lorenzo schwemmt immer noch bei starkem Regen eine braune Brühe in die Bucht, verteilt noch immer den Schutt und die giftig durchseuchten Abwässer der Santa Cruz Mountains über den Sand, wo man Treibholz sammeln, Tempel bauen oder eben neun Kreuze errichten kann. Manchmal spült der Fluss sogar eine Sandbank auf, die lupenreine Klopfer erzeugt.) Dann zogen Portolá und seine Männer weiter nach Norden, vorbei an meiner kleinen Bucht, dem Point, und wenn der Oktober so war wie sonst, dann war das Wetter freundlich, der Himmel klar, wenn die Sonne über diesem fremden Meer unterging. Vielleicht sahen sie am Horizont sogar eine Galeone und fühlten sich den Männern an Bord verbunden. Am 20. Oktober waren sie nahe Punta Año Nuevo und campierten am Waddell Creek; sie wussten es zwar nicht, aber sie waren direkt auf dem Weg zur Bucht von San Francisco. Eines Tages wurde eine Gruppe Männer zur Jagd in die Hügel geschickt und sichtete eine riesige Lagune im Landesinnern, umgeben von Wäldern, Indianerdörfern, von denen Rauchsäulen aufstiegen, glaubten jedoch, es sei der nördliche innere Arm der winzigen Bolinas-Lagune; flach, voller Vögel und Robben (wo meine Familie meist den Unabhängigkeitstag verbrachte und die Audubon Society heute eine Ranch hat). Sogar die äußere Küste vor San Francisco mit den sieben weißen Farallon-Inseln und Point Reyes in der Ferne schienen kaum mehr als eine weitere, ungeschützte ensenada. Irgendwie sahen die Männer nie die Öffnung der Bucht zum Meer, setzten die Einzelteile nicht zusammen. Feindliche Indianer und verbranntes Weideland ließen sie nach Süden zurückkehren, immer noch auf der Suche nach einem Ort, den sie längst gefunden hatten.

Zurück am Point Pinos nahmen sie an, Vizcaínos herrliche Bucht sei mit Sanddünen angefüllt worden, und sie berieten sich: die Nahrungsmittelversorgung wurde knapp, der Winter stand vor der Tür, und (genau wie zig Jahre später Walt Whitman) sie hatten einfach nicht gefunden, wonach sie vor so langer Zeit zu suchen begonnen hatten. Am Sonntag, dem 10. Dezember 1769, hinterließen sie am Strand der Bucht ein großes Holzkreuz mit der Inschrift: «Grabe tiefer, am Fuße wirst du eine Schrift finden.» In einer Flasche hinterließen sie (für wen?) einen Bericht mit allen Details der Expedition. Dann marschierten sie die mehreren hundert Meilen zurück nach San Diego, nur um sich von neuen Karten überzeugen zu lassen, dass sie schlußendlich doch Monterey gefunden hatten. Also machten sie wieder kehrt. Monate später kamen sie zurück zu ihrem Kreuz und fanden dort Pfeile kreisförmig im Boden stecken, von denen einige mit Federn geschmückt waren, an anderen steckten Fische oder Fleisch; am Fuß des Kreuzes war ein kleiner Haufen Schalentiere. Opfergaben an einen Gott, den zu fürchten diese geheimnisvollen Spender allen Grund hatten, obwohl sie das wohl kaum gewusst haben konnten. (Hätten die Indianer die Flasche ausgegraben, wären ihnen diese vielleicht als ein wundersames Ding erschienen; aber vielleicht war solcher Müll sowieso schon überall am Wegesrand zu finden, wo diese Entdecker campiert hatten.) In der Nähe des Ortes, an dem Vizcaínos Karmelitermönche 1602 ihre Messe zelebriert hatten, errichteten Portolá, seine Soldaten, die Mönche und Seeleute – eine bunte Mannschaft an einer abgelegenen Küste – am 3. Juni 1770 den ersten Presidio und die zweite Mission in Alta California. Pater Junípero Serra las die Messe und predigte, die Soldaten schossen ihre Musketen ab, und am Ende der Zeremonien nahm Portolá formell im Namen des Königs Besitz von dem Land – unter den Gewehrsalven, die über die Bucht hallten, und den Augen der Indianer, die von den Bäumen herab zusahen. Und all das dort, wo, von meinem Surfboard aus gesehen, die vage Bergsilhouette die Bucht abschloss.

Eine Reihe von Fakten und Daten, die Art von Geschichtsschreibung, die nur wiedergibt, wer gewonnen hat; um das Gefühl des Staunens angesichts dieses Landes zu finden, das einige, da bin ich ganz sicher, empfanden, muss ich mir den einen oder anderen Soldaten oder Mönch ausdenken, muss mir vorstellen, wie er mit diesem kurzen Moment des Mysteriums konfrontiert wurde. Übertragen auf ein zeitgemäßes Beispiel, hätten diese Entdecker ebenso gut auf dem Mars sein können, so groß war ihre Entfernung zur Heimat, so wenig vertraut das Terrain. Bestimmt gibt es noch unerschlossene Bergketten oder Wüsten oder Küstenstriche in Alaska, wo man sich die Abwesenheit jeglicher Kultur vorstellen kann, aber doch nicht an üppig grünen, mittelmeerähnlichen Stränden mit Weideland, das zum fruchtbarsten dieser Welt zählt? An Stränden, an denen es von Tieren wimmelt, mit meilenweit ausgedehnten Lagunen und Zehntausenden Vögeln; Millionen stahlköpfiger Lachse, die zurück in die Flüsse springen, die mehr als zwanzig Meilen lange feinsandige, blumenbewachsene Ufer überspülen? Man sollte sich diese Stellen keinesfalls «leer» vorstellen – die Menschen hier wurden Hunderte von Jahren lang brutal von den Spaniern misshandelt –, was ich indes wissen wollte, war, wie meine Kultur diesen Ort zuerst gesehen hatte.

Als ich meinen Neoprenanzug abgestreift und eingepackt, die Rückholleine meines Bretts um die Finnen gewickelt und meine feuchten Füße in die Nylonsandalen gesteckt hatte, schlenderte ich noch einmal den Strand entlang, um mir die neun Kreuze anzusehen, und dachte daran, vielleicht auch ein paar Muscheln bei einem davon abzulegen als meine Opfergabe. Zwar fand ich ein schönes, vom Wasser abgeschliffenes Stück grünes Glas, aber die Kreuze waren alle ins Meer gespült worden.

 

Im strahlenden Licht des Wintermorgens fächerte sich die scharfkantige Welle schäumend auf, während ich auf ihr davonflog; die Welle war kalt, nass, schnell, ihr vorderster Rand dünnte sich zu einem neun Meter langen Gischtstreifen aus und war kurz davor zu brechen. Zwei Zehen über der Brettspitze kontrollierten den bebenden Rand, und ich schwang mich, genau in dem Moment, als die ganze Welle nach vorne stürzte, hoch, ihren brechenden Rücken entlang. Und in diesem Augenblick – ein teleskopischer Blick durch eine schimmernde Glaswand unter einem schneebedeckten grünen Berg und einem morgendlichen Regenbogen – begann ich zu fliegen, als ein wirklich riesiger Delphin (fast drei Meter lang) aus der Welle vor mir herausschoss und mit seinem glänzenden grauen Körper für einen Augenblick in der Luft stand. Wir hingen beide gerade so lange in der aufgehenden Sonne, dass ich verblüfft aufschreien konnte, das Gleichgewicht verlor und in den Schaum stürzte, während der Delphin die Oberfläche durchbrach und verschwand. Ich schwamm auf dem Rücken, starrte in den dunkelblauen Himmel, wo ich einen Gott suchte, dem ich meinen Dank sagen konnte.

Aber von solchen Momenten gibt es im Leben am Wasser jede Menge, und sie dienen meistens dazu, die Ängste des Tages zu entschärfen. Was mir nur recht war, denn als ich an diesem abgelegenen Surfspot für Longboards meinen Anzug abstreifte, hielt Skinny seinen kleinen Wohnwagen auf einen Schwatz an, grinste, schüttelte mir die Hand, und wir tauschten Einzelheiten über all die Spots aus, an denen wir in letzter Zeit gesurft hatten. Wir machten Pläne für den nächsten Morgen. Skinny absolvierte jedenfalls flüchtig all die jahreszeitlich bedingt wechselnden Surfspots, und da ich ihn seit dem Matschsocken-Debakel nicht mehr gesehen hatte, freute ich mich, wieder auf dem Laufenden zu sein. Er hatte dem Point rigoros abgeschworen, wollte mich aber gern ein Stückchen weiter mitnehmen; und er war ein angenehmer Begleiter mit genau der richtigen Beimengung von Ironie in seinem endlosen Surftalk, die ihn eher angenehm als lächerlich machte. Ich hatte inzwischen genügend hinzugelernt, um keinen von uns mehr in Verlegenheit zu bringen – all die Zeit am Point ohne jede Konkurrenz, an der ich mich messen musste. Am nächsten Morgen arbeitete sich Skinny bei 13 Grad im allerersten Licht des Tages durch ein Frühstück aus vier Aspirin, einer Tasse Kaffee und einem Joint. Sein sonnengebräuntes Gesicht grinste breit unter seiner schwarzen Sonnenbrille.

«Sooooo», sagte er und atmete aus, «guten Morgen, mein Sohn. Wohin geht's?»

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, hohe Wolken im Osten röteten sich mit der Dämmerung; er saß in der offenen Tür seines winzigen Trailers und knackte mit den Knöcheln, schlüpfte in seine ausgelatschten Flip-Flops und nippte an seinem Kaffee.

«Sharkenport?», wollte er wissen. «Shark's Creek? Ooooooh. Will uns das etwas sagen?» Ich erhaschte endlich einen kurzen Blick in seinen Wohnwagen und sah, was ich erwartet hatte: überall Klamotten, eine Matratze, die fast die gesamte Fläche ausfüllte, an den Wänden Ausschnitte aus Surfmagazinen, vorwiegend die allgegenwärtige Insulanerin im Tanga. Wir fuhren fünfzehn Meilen hoch nach Norden, um uns seinen Lieblingsspot anzusehen – ein abgelegener Strand, der auch von Männern für Stelldicheins in den Büschen bevorzugt wurde.

«Taugt nichts», sagte Skinny. «War schon besser. Siehst du diesen Baby-Swell?»

Sah ich zwar nicht, wollte mich aber nicht streiten. Wohin also? Ortegas?

«Die Lane könnte was sein.» Also Kehrtwende und zurück zur Stadt, während die Sonne jetzt über den Gabilan Mountains aufging und zwei Frauen in schwarzen Lycrasuits vorüber joggten…

«Hör mal, Kumpel», sagte Skinny plötzlich.

Ja?

«Wenn wir die Lane zusammen surfen, musst du cool sein.»

Wie bitte?

«Du regst dich immer auf. Also, ich will nicht unbedingt, dass jemand denkt, wir seien zusammen dort. Also johl mir nicht zu oder so, okay? Hast du verstanden?»

Was? Warum nicht, zum Teufel? Hatte er von meinem Tag mit dem Kajakfahrer gehört? Meinem Ausbruch gegenüber Apollo?

«Du sollst nur die Klappe halten und nicht weiter auffallen», sagte er. «Ich glaube, du merkst es nicht mal.» Skinny surfte an massenhaft besuchten Surfspots, was ganz allgemein hieß, Spots mit wohletablierter Hackordnung. Und da er ein Bursche war, der viel von seiner Energie darauf verwandte, den imaginären Schicksalsschlägen dieser Welt auszuweichen und allen Groll zu meiden, hatte er sich nie seinen Weg in diese Hackordnung gebahnt, sondern einfach seinen periphären Rang in der Surfwelt akzeptiert.

Ein kleiner Gummihai lag auf dem Armaturenbrett. Sein Maul bestand nur aus Zähnen. Während er alle Surfspots, an denen wir vorbeikamen, mühelos benennen konnte – Chicos, Fresnos, Gas Chambers, Electric Chairs –, inszenierte ich auf meinem Finger aus der Tiefe heraus ansteigende Brandung, stellte mir vor, aus welchem Winkel dieses Maul hoch genug kommen würde, um den Surfer zu packen. Das kleine Gummispielzeug klammerte sich beharrlich an meinen Finger.

An der Steamer Lane waren schon Autos und Trucks versammelt: Schreiner, Dachdecker und Maler, Ärzte, Rechtsanwälte und Professoren, sie alle waren vor der Arbeit auf einen Blick hierher gekommen, nippten an einem Kaffee, die Fenster wegen der Kälte geschlossen. Ein Geländer trennte den Gehsteig von der Klippe, gegen die das Meer brandete. In dem diffusen Licht, die Sonne noch hinter Wolken, fuhr ein Surfer eine saubere grüne Wand entlang, die krachend durch die Morgendämmerung brach – sah irre aus.

«Glaub nich.»

He?

«Hat den Sand verloren, der im letzten Frühling über dem Riff lag, Rennstrecke unregelmäßig. Ich will heute Schwung, Hochleistung, etwas zum Knallen.»

Und wo?

«Oooooh, keine Ahnung. Brauch was zum Rippen, weißt du? So ein Gefühl, wie wenn es mit dir durchgeht, wie wenn der ganze …» – er knirschte mit den Zähnen, kniff die Augen zusammen – «verdammte vordere Rand in eins abstürzt und … irgendwie die ganze Spitze der Welle versetzt…»

Wie wär's mit Cowdoodies? Ein reißender Surfspot links vom Strand, zu dem man nach einem Fußmarsch über Weideland gelangte.

«Die Szene da ist mir zu heavy.»

«Da ist doch nie jemand.»

«Aber du willst trotzdem nicht von einem da draußen erwischt werden; die Kerle haben meinem Kumpel in den Rucksack geschissen.»

Immerhin geschütztes Regenpfeifer-Brutgebiet; kleine Vögel, die im Sand nisten.

Skinny, Skinny, Skinny. Er war kurz vor mir auf der High School in Berkeley gewesen, in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern. Basketball, Gewichtheben, kleine Diebstähle und unreife Früchtchen. Viel Schwarzen-Slang. Dad war Pflichtverteidiger, die Brüder hatten auch Jura studiert, und Skinny flüchtete. Sogar Berkeley war zu heavy: keine Wellen zum einen, dafür auch noch zu viele Feinde. Mit seinem grimmigen Napoleonkomplex hatte er sich den Weg bis zur Zwölften hochgeboxt. Noch immer machte er täglich hundert Liegestütze und Rumpfbeugen.

«Um fit fürs Surfen zu bleiben?», hatte ich ihn gefragt.

«Nee», hatte er mit bewundernswerter Ironie geantwortet, «mir ging früh auf, dass ich eine Krabbe war, also wollte ich immerhin eine große Krabbe sein.» Und das war er.

«Nun komm, lass uns schnell machen», sagte ich, während ich hinunter zur Steamer Lane schaute und hoffte, dass Apollo eine frühe Mathestunde hatte. «Sieht mörderisch aus! Perfekt zum Surfen. Ein paar kleine Ritte drinnen, vielleicht noch ein, zwei fette Drops draußen.»

«Mann, siehst du nicht, wie viele Typen da draußen sind? Scheiße, wahrscheinlich die ganze harte Truppe von hier: die Floater-Brüder, die Slacker-Brüder, Peepee, Batboy …» Zwei Burschen mit hauchdünnen Brettern eilten die Zementstufen hinunter zum Wasser.

«Lass dich von ihnen nicht aus dem Konzept bringen, Mann», sagte ich. «Zieh einfach dein Ding durch.»

«Darum geht's nicht.» Meine Ignoranz schien ihm richtig weh zu tun. «Aber wohin fahren wir dann?»

«Zum Point?»

«Einmal sag ich's noch: ICH SURFE NICHT AM POINT. Langweilig und lahm. Was wir brauchen, ist Hochspannung, kapiert?»

Die Steamer-Lane-Lebenslänglichen kamen nach und nach, Typen, die den Ruf hatten, ihre Behindertenstütze für Bier auszugeben und den ganzen Tag lang der Meute im Wasser Obszönitäten zuzurufen. Offensichtlich kannten sie sich bereits ihr halbes Leben lang und versammelten sich jeden Tag auf dem Kliff wie Bauern auf dem Viehmarkt – hauptsächlich aus Spaß daran, an diesem hübschen Fleckchen herumzukrakeelen.

Dann traf es Skinny wie ein Blitzschlag.

«Ooooooh», sagte er, «siehst du da in der Mitte der Bucht bei The Dunes die beiden Rauchsäulen?»

Vor dem Landwirtschaftsdunst des Salinas Valley hingen zwei dünne Rauchfäden.

«In welche Richtung zieht der Rauch?» Er stellte die Frage rasch, prüfend.

Äääääähm…

«Ablandig. Los geht's. Das wird krachen.»

«Krachen?»

«Das sind die Rockies da draußen», erwiderte er lächelnd, ganz in seinem Surftalk-Element. «Tubes, viele, weißt du.»

Aber… aber… wir hatten schon eineinhalb Stunden vergeudet … die Flut würde bald einsetzen … The Dunes waren mindestens vierzig Minuten entfernt.

«Willst du nun fett surfen oder nicht?»

Unglaublich. Ich setzte den Hai auf meinen Finger, während wir nach Süden durch die Badeorte Capitola, Aptos, dann durch das Farmland von Sahnas Valley, das Land John Steinbecks, zogen; Surfer als existenzielle Wanderer, aufgefressen von Angst. Ich meine, es macht schon viel Spaß, das ganze Leben lang stets auf Achse und hinter den Wellen her zu sein, aber dieses dauernde Herumzockeln und die Unentschiedenheit, ganz zu schweigen von dem Versäumnis weltlicher Pflichten … obwohl, wenn es da wirklich Barrels gab; immerhin habe ich in letzter Zeit von solchen Tubes geträumt. Für gewöhnlich waren meine Träume Collagen aus Ängsten und Erinnerungen, aber das Surfen regte zu Wunscherfüllungs-Phantasien an, in denen ich durch die Luft flog, wie ich wollte, mich ohne zu zögern auf riesige Ungeheuer auf offener See stürzte. Und in der vorigen Nacht warf sich das blau schimmernde Band der Wellenkante über mich, und anstatt das Weite zu suchen, duckte ich mich. Da war ich plötzlich in einer glitzernden, dröhnenden Höhle, das glatte Abbild aller Fotos von Tube-Ritten, die ich je gesehen hatte. Als ich unversehrt herausschoss, lächelte mich ein hawaiianischer Surfer in gelbem, ärmellosem Hemd an – ein wichtiger Teil des Traums; ich streckte meine Zunge heraus und dachte im Traum; «Der Typ hat echt keine Ahnung, was mir da gerade passiert ist; er weiß nicht, dass dies mein erster wahrhaftiger Tube-Ritt war.» Tube-Ritte sind keine intuitive Angelegenheit, außer auf den wirklich perfekten Wellen. Du schießt voran, siehst, wie die Welle «sich anwinkelt», vortaumelt, um sich so stark zu brechen, dass die Wellenkante, wenn sie sich nach vorne wirft, am unteren Teil der Welle vorbeirollt – und alle Instinkte sagen dir; Mach, dass du aus dem Weg kommst. Auf Fotos sieht es immer aus wie der allerfriedlichste Ort, die ultimative Sanftheit; aber in Wirklichkeit ist es das Zentrum des Sturms.

Kleiner Highway, Farmen, das verrückte Schloss von irgendeinem Kauz mit einer nachgebauten Lokomotive im Vorgarten. Skinny sagte, The Dunes lagen genau im Westen in Richtung dieses riesigen Untersee-Canyons, sodass eine nordwestliche Dünung durch das Kontinentalschelf weniger gestört wurde als außerhalb der Bucht. Dann kam er auf unseren gemeinsamen Bekannten Orin zu sprechen, über den jetzt das Gerücht ging, er habe aus den drei Jahren in New York hunderttausend Dollar auf der Bank gehortet.

«Ich weiß nicht, ob ich mit ihm tauschen wollte», sagte Skinny. «Weiß nicht, vielleicht doch. Aber … zehn Jahre Surfen? Nee. Kommt nicht in Frage. Ja … Würde nicht tauschen wollen.» Skinnys Freundin hatte sich um ihn Sorgen gemacht; sie fand, er müsse sich endlich etwas aufbauen, das Leben in den Griff bekommen. Ein Kumpel riet ihm, sie einfach wissen zu lassen, er sei zu körperlicher Gewalt fähig – das löse jedes Problem. Nutzte nichts. Und die Eltern? Sein Oregon-Summer-Trail-Job überzeugte sie nicht.

«Ich erzählte ihnen, ich fände es toll, Karriere zu machen», sagte er, «und das stimmt auch, aber das Problem ist, dass ich durch das Surfen keine Zeit dafür habe. Es beansprucht mich viel zu sehr. Und außerdem habe ich sowieso schon eine Menge erreicht: Immerhin kann ich surfen, verdammte Scheiße, ich meine, das ist alles andere als leicht! Davon haben die Leute keine Ahnung.» Damit die Einnahmen des Sommers so lange wie möglich reichten, ging er nie auswärts essen. Nicht einmal einen Bagel oder einen Burrito. Ein wahrer Asket, wenn auch ein offenkundig unspiritueller. Sogar sein Fernseher war aus dem Sperrmüll eines Freundes gerettet. «Und meine Freundin zieht nach Hawaii, um zu unterrichten. Ich muss unbedingt da rüber. Sie hat bestimmt eine Wohnung, in der ich unterkommen kann; wahrscheinlich ohne Miete zu zahlen. Ich glaube, sie will mich heiraten, aber, verfluchte Scheiße, sie sagt, ich muss mir einen Job suchen. Ich muss erst mal Geld auftreiben, um hinzufahren, und es klingt schon wie der blanke Wahn, da auf der Insel mit ihr, aber dann denke ich auch, verdammt, für das Geld kriegst du schon ein neues Brett und einen Neoprenanzug.»

Als wir an den schönen Farmen auf dem Schwemmland der inneren Bucht vorbeifuhren, redete Skinny über die Rezession und wie die Jungs, die auf der Highschool ein paar Klassen über uns gewesen waren, einen Platz in der Wirtschaft fanden, ehe sie den Bach runterging. «Nach unserem Jahrgang ging alles in die Binsen, das schwör ich dir, keine Jobs.» Ein Gesetz gegen Diskrimierung hatte zur Folge, dass der Förster Weißen nur einen Teilzeitjob geben konnte. Jeden Herbst wurde Skinny entlassen und im nächsten Sommer wieder eingestellt. «Und das ist die Karriere, die ich mir ausgesucht habe», sagte er und schüttelte den Kopf, «also bin ich am Arsch. So ist das. Achtundzwanzig und es ist vorbei. Ich kann gar nichts anderes machen, als neun Monate im Jahr zu surfen und Arbeitslosengeld zu kassieren.»

Als wir bei The Dunes ankamen, planschte eine Robbe in der Lagune, und der breite Elkhorn Slough – ein sumpfiger Fluss in sattem Grund – schlängelte sich zurück landeinwärts und färbte das rostfarbene Gras wieder ziemlich grün. Ein paar Pick-ups standen neben einem Pfad, der in die Dünen führte. Skinny parkte ungefähr fünfzig Meter weiter.

«Warum so weit weg?»

«Da drüben dürfen nur die Einheimischen parken. Vertrau mir. Und sieh zu, dass du mit keinem von denen zusammenstößt.»

Der Sandpfad war mit Steinen aufgeschüttet; ungefähr zwanzig Meter weiter hatten wir eine Aussicht: Von einer Hafenmole aus erstreckte sich der Strand nordwärts nach Santa Cruz, und überall waren Wellengipfel auszumachen, schulter- bis kopfhoch, die sehr schnell hintereinander herangerollt kamen. Vor der Küste dümpelte eine Reihe weißer Bojen und markierte die Grenze des Monterey Bay Canyon, eine kolossale Unterwasserspalte von der Größe des Grand Canyon und ungeklärten Ursprungs. (Drei Flüsse mündeten in die Bucht und bildeten offenbar drei Schluchten. Aber die neueste Theorie besagte, dass der Canyon auf kataklystische Ursprünge zurückging und mit der Plattentektonik in ursächlichem Zusammenhang stand.) Wie dem auch sei, tiefes Wasser hat etwas Beunruhigendes, und die Nähe von außerordentlich tiefem Wasser hat etwas außerordentlich Beunruhigendes – man hat immerhin von riesigen, amorphen Lebensformen gehört, die ihre lichtlosen Tiefen bevölkern, von riesigen umhertreibenden Quallen. Wir liefen den Strand etwas höher hinauf, die Bretter unterm Arm, neben Schwärmen kleiner Strandläufer, die in dem ein- und ausströmenden Schaum hin und her flitzten, die Beinchen zu dünn, als dass man sie sehen konnte, die Körper scheinbar im Wasser treibend wie Fische. Etwas weiter neben dem Spot, den wir uns ausgesucht hatten, flog ein anderer Schwarm in der Brise – die Oberseiten dunkel, die Unterseiten weiß, blieben sie in so strenger Formation, dass sie beim kollektiven Querlegen in die Kurve ihre weißen Bauchfedern aufblitzen ließen und wie ein Schwarm tropischer Fische wirkten, auf denen sich die Sonne spiegelt. Als wir hinauspaddelten, verfolgten uns aus zehn Meter Entfernung drei Robben lange und eingehend mit ihren Blicken. Dann tauchte eine von ihnen unter und schwamm genau auf uns zu. Ein unheimliches Gefühl: dir geht auf, dass deine Beweglichkeit bloß zwei Dimensionen hat und dass du eine Schnecke in einem Feld voller Schlangen bist.

Die Wellengipfel der Brandung am Strand verschieben sich, wenn die Sandbänke durch Dünung und Gezeiten abwandern; ganz anders die Riffbrandung, bei der man immer auf demselben überspülten Stein warten kann. Wir paddelten nach links, dann nach rechts, dann hinaus, und die Wellen kamen wunderbar uniform herangerollt – aber auch anders als sonst bei Riffbrandung, bei der sogar die symmetrischsten Wellen am Felsenriff hier und da ausfransen, wenn sich die Tiefe ändert. Aber Sand unter dem Wasser beruhigt sich zu glatten, organisierten Formen wie eine dichtere Flüssigkeit auf einer anderen. Skinny rief mir ununterbrochen zu, «reinzugehen», mich unter der ansteigenden Dünung zu ducken und sie mir zu schnappen. Anfangs konnte ich an die Tube überhaupt nicht herankommen. Doch dann schrie mir Skinny zu, ich solle abwarten und auf einen Wellengipfel über mir genau im Moment seiner Brechung aufspringen. Ich kam von der Seite heran, und als die Welle richtig dröhnte, hatte ich das seltsame Gefühl, dass sich das Licht um mich herum veränderte und sich vielleicht sogar die Zeit verlangsamte, und dann wurde ich zweimal um mich selbst gewirbelt und voll auf den Sandboden geschleudert. Prustend kam ich hoch, war aber wie elektrisiert; versuchte es wieder und wieder und begriff langsam. Ich schaffte es nie aus einer Tube heraus, doch jedes Mal, wenn ich mich duckte, hatte ich dasselbe Gefühl der Phasenverschiebung. Immerhin sind Wellen durch Masse bewegte Formen, Energiebündel, die ihren Ausdruck in der Krümmung finden: Wenn eine Krümmung ihre Form wegen einer flachen Sandbank nicht halten kann, bündelt sich ihre Energie, bis sie sich über sich selbst erstreckt und eine neue Wellenform findet, indem sie Wasser verdrängt, um die Krümmung zu schließen; dabei bildet sie den ursprünglichen Bogen, aber mit einem hohlen, rotierenden Innern. In ihm steht der Surfer. Der Bergsteiger dringt nie richtig ins Innerste des Berges ein, der Wanderer bleibt in seinem visuellen Gefängnis, der Surfer aber dringt körperlich ins schlagende Herz des Meeres ein – und das ist keineswegs metaphorisch gemeint dringt ein in seine Substanz, von seiner Dynamik in einen kinetischen Strudel gerissen. Sogar auf einem Floß bewegt man sich mithilfe eines Mediums, das selbst von Schwerkraft bewegt wird, ähnlich wie auf einem Windsurfboard oder auf Skiern. Solange niemand herausfindet, wie man sich auf Tönen oder Licht fortbewegen kann, bleibt Surfen die einzige Möglichkeit, die pure Energie zu reiten.

Da kam ein sehr kräftiger Bursche herangepaddelt – er sah aus wie James Dean nach einer Anabolikabehandlung – und fragte mich, wobei er sich sehr bemühte, nicht besserwisserisch zu klingen, ob ich einen Tipp fürs Tube-Reiten wolle.

«Unbedingt», erwiderte ich.

«Halt stets die Augen auf.» Zusammen lachten wir laut los, und dann stellte er sich ganz herzlich und sympathisch vor, was so gar nicht zu seinem martialischen Äußeren passte. Er erklärte, er sei gerade aus dem Süden hierher gezogen. «Weißt du was?», fragte er grinsend.

«Was?»

«Ich bin schier am Platzen, Mann.» Er hatte ein scharfkantiges Kinn und perfekte Zähne.

«Warum?»

«Allein dass ich hier in Santa Cruz bin, sagt mir, dass ich einen Sprung gemacht habe. Ich weiß, es wird alles anders.»

«Was denn?» Wir saßen beide auf unseren Brettern und trieben aufeinander zu.

«Einfach die ganze Art, wie ich bisher gelebt habe.»

«Wie hast du denn gelebt?», wollte ich wissen.

«O Mann, einfach nichts in Angriff nehmen, kein Studium oder so. Ich war echt gut in der Schule, ich will Doktor werden.»

«Arzt?»

«Ja, ich bin gut mit so was. Ich werde zwei Jahre aufs Community College gehen, dann die University of California besuchen und all den Scheiß auf die Reihe kriegen. Dann studiere ich Medizin. Fünf Jahre, dann bin ich fertig und werde platzen!» Er kicherte beim Gedanken daran, als wäre es eine absolute Gewissheit, als könne es dadurch, dass er es aussprach, im Voraus wahr werden. Und vielleicht war es ja auch so. Er erzählte mir, seine Schwester habe ihn dazu aufgestachelt, hierher zu kommen. Sie hatte immerhin ihren Scheiß auf der Reihe, das war alles. Sie war jetzt Erdkundelehrerin in Florida und hatte zugesehen, dass sie aus Südkalifornien so schnell wie möglich rauskam. Er sagte, es sei wahnsinnig toll, nur für sich selbst sorgen zu müssen.

«Wie meinst du das?»

«Mein Dad hat alles verloren», erzählte er, während er sich auf sein Board legte und auf die Wellen zupaddelte. Sein Arme waren seltsam muskulös, sein Trizeps groß wie ein Ziegelstein. Die Wellen kamen nicht in Gang, und er setzte sich wieder auf. «Dad ist völlig am Ende», sagte er. «Er sitzt nur auf der Couch und sieht fern. Er macht mich rasend. Irgendwie widert es mich an, ihm dabei zuzusehen, wie er völlig aufgibt. Er sucht sich nicht mal einen neuen Job, und ich zahle seine Miete. Deshalb musste ich auch das Junior College abbrechen; ich habe Vollzeit auf dem Bau gearbeitet, um noch für meinen Vater aufzukommen.» Dann wechselte sein Gesichtsausdruck von beschwingter Verdrängung zu niedergeschlagener Erkenntnis, als er seine Rolle in alledem reflektierte; er erzählte, er sei auf dem College sowieso nicht so toll gewesen, ließ sich leicht ablenken. «Ich setzte mich in die Bibliothek, um zu lernen. Ich wollte es ganz ehrlich, aber dann las ich lieber Dinge, die mich interessierten, verbrachte fünf Stunden in der Bibliothek damit, irgendwelche Bücher zu lesen, die mir cool vorkamen. Aber im Seminar schnitt ich dann eher schlecht ab.»

Er drehte sich herum und war auf und davon in eine gerade richtig wirbelnde Röhre hinein, duckte sich in ihr mit furchtloser Gelassenheit, und dann sah ich, wie eine große Flosse direkt vor mir auftauchte, aufrecht gehalten von einem langen grauen Körper. Während ich das, was ich da sah, in meinem Kopf in Entsetzen umwandelte, bemerkte ich noch drei weitere Flossen, und sie drehten sich so, dass ihre hakenförmige Krümmung zu sehen war: Delphine. Dann noch drei und danach zwei weitere – eine ganze Parade rechts und links, vorne und hinten, aalglatt und jeder etwa so groß wie ein Mensch. Eine kleine Welle rollte auf mich zu, in die drei sich krümmende dunkle Gestalten hineingepresst waren: Die Delphine veranstalteten für uns eine Show und ritten die Welleninnenseite. Und einer schoss eine perfekte Wand entlang (nebenbei gesagt: Delphine reiten ausschließlich gute Wellen) auf die anderen zu, gerade hoch genug, dass der oberste Zentimeter seiner Rückenflosse die Wasseroberfläche durchbrach und eine rasante, rasiermesserscharfe Linie quer durch die Welle zog. Dann rollten Welle und Reiter unter mir hindurch; ich drehte mich um, wollte das zurückfließende Wasser sehen, als plötzlich der ein Meter achtzig große Körper hoch hinaus in die Luft schoss und goldene Tropfen vor der Sonne verschleuderte … Angeberei? Selbstvergessenheit?

«Hey, Mann», sagte Skinny und paddelte heran, «ganz cool bleiben, okay?»

He?

«Die Jungs da hinten sehen schon ganz böse rüber zu dir.»

Wer?

«Die Jungs von hier. Reden schon so manche Scheiße über dich.»

Vier weitere Delphine bäumten sich mit ihren glatten, rasanten Flossen auf, flogen in die Lüfte und kamen wieder herunter wie die unerbittliche Sinuskurve der Dünung.

«Hör zu, Mann», sagte Skinny eindringlich und warf einen flüchtigen Blick über seine Schulter, «vergiss nicht, wir sind bescheuerte Typen, so lange wir leben, nur weil wir nicht wirklich von hier sind.»

 

Spiel, spielen: 1. dramatische Komposition; Drama … 3. Aktivität, oftmals spontane Beschäftigung zur Erholung und Entspannung, z.B. von Kindern. 4. Spaß, im Gegensatz zu Ernsthaftigkeit… 15. muntere, leichte, wechselnde Bewegung oder Aktion: Wasserspiele … 46. Beschäftigung zur Zerstreuung, Erbauung, Erholung. 47. Tätigkeit, die nicht ernst zu nehmen ist; Sport. 48. Amüsement; Spielzeug; Leichtfertigkeit … 64. herumspielen: a. sich spielerisch oder frivol verhalten; b. promiske sexuelle Beziehungen unterhalten. 65. sich nur nebenbei mit etwas beschäftigen, a. vorgeben, etwas zu tun oder zu sein; b. etwas ohne Ernsthaftigkeit betreiben

Random House Webster's College Dictionary

Ein Südwind zerriss die trübe grüne See, als Gewitterwolken sich über den Bergen am blauen Himmel zusammenballten, oben vergoldet, unten schwarz. Ein Flüsschen schwemmte Schlamm in die Bucht, während die Tide durch Felsrinnsteine strömte, als seien es Bewässerungskanäle. Draußen lagen sieben Robben, und eine mit geschwollenem Auge knurrte, als ich näher kam. Sie hatte weiße Schnurrhaare und dicke Fleischfalten, die sich um ihren Kopf herum zusammenschoben. Hunderte Krebse krabbelten über den Ebbeboden und schossen bei jedem meiner Schritte auseinander – tu einen Schritt, und die Welt antwortet dir. In einer winzigen Pfütze eine grüngefranste Anemone, eine saugende Öffnung genau gegenüber ihrem konzeptionellen Gegenstück, der stacheligen Kugel eines Seeigels. Die anderen Robben hatten helles Fell und besorgte Panda-Augen, und als eine von ihnen einen Parasiten aus ihrem Fell kratzte, sah ich ganz klar die handähnliche Knochenstruktur ihrer Schwimmflosse. Eine Mutter und ihr Junges – ein sechzig Zentimeter langer, schwarzer Klumpen Leben – sprangen spritzend in ein Wasserloch, während die anderen ihre Rücken wölbten und sich streckten wie Menschen in engen Schlafsäcken. Die Mutter ließ mich nicht aus den Augen, während die Brecher heranrollten und wieder abflossen. Leute wie ich kassierten für gewöhnlich Geschöpfe wie sie. Zum Beispiel die Grönlandmethode: vom Kajak aus die Robbe harpunieren, heranpaddeln, während sie zappelt, und mit einer langen Lanze hineinstoßen. Wenn sie nicht mehr zuckt, näher heranpaddeln und das Tier vollends erstechen. Oder umgib den Robbenfelsen mit einem Draht voller Widerhaken; wenn sie dann an Land kommen, um sich auszuruhen, schieß auf sie und scheuch sie zurück ins Wasser, sodass sie sich auf dem Weg dorthin selbst die Bäuche aufschlitzen. Oder trommel einfach eine Truppe zusammen, mit der du dich in der Dunkelheit an die Tiere anschleichst, schneid ihnen den Rückweg ab und schlachte so an die fünfzehntausend pro Nacht. Als ich in einem Moment unerwarteter Sentimentalität die erste Robbe ansprach – um freundlichen Tonfall bemüht gähnte sie und zeigte ihre scharfen kleinen Zähne. Eine Geste, die Robinson Jeffers, dem Poeten von Carmel, bestimmt gefallen hätte. Er beschrieb einmal, wie eine Robbe von einem Killerwal verschlungen wurde, und nannte es: «Schön. Warum? Weil da nichts Menschliches im Spiel war, weder Leiden noch Begründung; keine Lügen, kein blödes Grinsen und keine Bosheit.»

Während ich mein eigenes Robbenkostüm anzog, verschleierte Regen die auflandigen Brecher, und die Spitzen der Redwoodbäume auf dem Berg kräuselten sich im Wind; die Sonne ging jetzt unterhalb der Wolken unter und färbte ihren Bauch orange. Ein kleiner Trupp kauerte im Wasser, keine großen Gespräche. Sogar die Klippen wurden jetzt von den Schatten der Dämmerung ergriffen – eine langsame Aufwallung in den Abend hinein. Die Brandung, die dick und unstet von den Felswänden dröhnte, hatte auch etwas von Robinson Jeffers an sich; in «Granite and Cypress» beschreibt er die Wellen als «weißmähnige, laut brüllende, schwer belastete Kinder des Winds». Ihren Ursprung führt er zurück auf die sehr modernistische Mischung aus Wissenschaft und ursprünglichem Symbol, und er stellt sich vor: «Der unsichtbare Kalke / Brütete auf Wasser und ließ sie an weiten, öden Orten schlüpfen … / Inmitten des Ozeans.» Als ich mich nach dem Point umsah und Vince gerade eine neue blauweiße Welle ritt, kam mir dieses Spiel von Jeffers mit dem allzu gefühlvollen Trugschluss merkwürdig vor, aber kein Kalifornier hatte mehr Zeit damit verbracht, diese Strände und Felsküsten zu betrachten und zu erträumen, und seine Gedichte sind von elementarer Klarheit. Als nach dem Ersten Weltkrieg alle Vorstellungen von Gott und Fortschritt ihre Glaubwürdigkeit verloren zu haben schienen, starrte Jeffers auf diese unergründliche Küstenwildheit und verkündete seinen eigenen erhabenen Platz darin. Er verachtete sogar schwache, in der Brise schwankende Zypressen-Schösslinge wie diese hier am Point und behauptete, er sei eher den Granitblöcken verwandt: «Genau wie ich / erinnern sich die Felsblöcke / an alte Kriege und schweigen still; denn wir denken, dass die Zukunft eins ist mit der Vergangenheit, wundern uns, warum Baumwipfel / und Menschen so wanken.»

Ich hatte den Eindruck zu verstehen, was diese Klippen und Wellen an sich hatten, das die Kraft von Geschichte zu mindern schien, aber mir war auch sehr, sehr kalt. Fröstelnd und müde im ständigen Mahlen der Wellen sah ich plötzlich eine überdimensionale Wellengruppe vor mir auftauchen, eine Reihe gebrochener, schwankender grünlich-schwarzer Wände. Ich entschied, dass ich noch eine Letzte brauchte und paddelte auf sie zu, schwang mich auf die kabbelige Oberseite und fuhr die Welle hinab, kurvte auf der Brettkante hinaus auf ihre graue Anhöhe, übersprang die Unebenheiten drum herum und raste an zufälligen, unvorhersehbaren Höhlungen vorbei, geradewegs bis auf den Sandstrand. Unter der Klippe musste ich härter als sonst mit meinem Neoprenanzug kämpfen, um ihn abzustreifen, da er wie eine zweite Haut förmlich an mir klebte; mit nacktem Rücken lag ich auf dem nassen Fels und verrenkte mich zappelnd, um meinen linken Knöchel freizubekommen. Da hörte ich hinter mir etwas platschen; in einer Regenpfütze lag eine kleine schwarze Schlange, die neun Meter tief aus der Welt der Gräser und Nagetiere herabgefallen war. (Wie? Hatte sie vielleicht nach einem Käfer geschnappt, der sie ganz bis an die Kante gelockt hatte? War sie irgendwo falsch abgebogen? Oder hatte ein Habicht sie fallen lassen?) Sie zuckte ein paar Mal, um im Wasser voranzukommen, und glitt dann umständlich heraus. Ein, zwei Wirbel bewegten sich überhaupt nicht. Rasch verschwand die Schlange zwischen den runden Steinen der Brandung; damit war sie erledigt, hatte den falschen Weg eingeschlagen, denn da gab's keine Mäuse, keinen Schutz vor der Flut. Wirklich eine Katastrophe. Barfuß ging ich über den Sand und drehte mich noch einmal um und warf einen letzten Blick aufs Wasser, ein Reflex, dem niemand widerstehen kann. Ein dünner Hauch der rötlichen Dämmerung beleuchtete Willie und Vince und ein paar andere, die noch draußen waren und geduldig und zusammengekauert das Ende der Flaute abwarteten. Da brach plötzlich ein paar hundert Meter weiter draußen die friedliche, dunkler werdende Oberfläche des Meeres auf, als ein Wal hoch in die Luft schoss. Seine riesige Gestalt hing schwarz in der Dämmerung, die Schwanzflosse gespreizt wie offene Arme. Dann krachte er wieder herab, so tief, dass er wie in Zeitlupe fiel. Das Wasser dümpelte weiter wie zuvor, und die Silhouette auf meiner Netzhaut verblich, während das Bild in meinem Kopf bereits stilisiert und überdimensional wurde. Doch fünfzig Meter weiter nördlich teilte sich das Wasser erneut, und der Wal sprang wieder hoch und flog schwarz und spritzend vor die verschwommene Sonne.

Ich winkte und schrie den Jungs im Wasser zu: «Hey! Seht mal, da draußen ist ein Wal!»

Oh, ich konnte es nicht fassen, im Wasser so dicht an einem solchen Ding dran gewesen zu sein, ohne es zu wissen. Ich ließ mein Board fallen und rannte südwärts den Strand hinunter, um den Wal auf seinem Weg nach Norden nicht aus den Augen zu verlieren, und schlitterte über den trockenen Sand. Hundert Möwen, die an der Mündung des Flüsschens gehockt hatten, stoben hoch in die Luft, und dann noch einmal! Ausgelassenheit? Vielleicht, aber nur wenn wir das Wort in einer neutralen, gefühllosen Bedeutung verstehen, als ein Übermaß an Energie, das sich dadurch ausdrückte, dass es zehntausend Pfund Masse in die warme Abendluft schleuderte. Mit einem Krampf im Bein und schon längst nicht mehr hüpfend, hielt ich an und ging die halbe Meile, die ich gelaufen war, wieder zurück. Mir fiel ein, dass mir einmal ein Surfer beschrieb, wie er einen Wal ganz aus der Nähe gesehen hatte. Er hatte auf seinem Board gesessen, trieb high in der Abenddämmerung eines nicht gerade spektakulären Tages, als plötzlich ein ausgewachsener Grauwal fast direkt unter ihm aufgetaucht war. Er erzählte mir, er sei viel zu überrascht gewesen, um Angst zu haben, war aber danach eine ganze Zeit lang zu keiner Welle mehr hinausgepaddelt. Im Dezember nach Süden, im April nach Norden, unternehmen diese Wale die längste Migration der Welt – zwölftausend Meilen hin und zurück. Frühen Berichten nach waren die Grau-, Pott-, Buckel- und Finnwale so zahlreich und sammelten sich so nah an der Küste im Kelp, dass sie die Navigation behinderten. Während die Walfänger aus Neuengland noch immer mit Harpunen jagten, hatten die Kalifornier im 19. Jahrhundert Kanonen und Lanzen mit explodierenden Bomben. In den stillen, seichten Lagunen von Baja California, den Zufluchtsstätten der trächtigen Leviathane, wurden Tausende kalbende Grauwale in die Luft gesprengt. Stationen entstanden an der Nordküste, kleine Barackensiedlungen, in denen ein Dutzend Portugiesen mit ihren Familien wohnten. Wenn die Küstenwache Wale ausmachte, wurden kleine, offene Boote zu Wasser gelassen, in denen die Männer zum Jagen manchmal meilenweit hinausfuhren. Wenn sie nicht zerschmettert wurden, zerrten sie einen Grauwal hinter sich her auf den Strand und schnitten ihm in einer kontinuierlichen Spirale den tranigen Speck ab, schälten ihn wie eine Orange. Ein Mann auf einer Klippe am Pazifik auf vorübergehend besetztem Territorium signalisierte seinen Landsleuten in den kleinen Holzbooten mit Fahnen; und jetzt am Ende des 20. Jahrhunderts schrie ein Vollidiot einer Gruppe Männer im Wasser etwas zu. Aber diesmal ist es für das halbe Dutzend Mannschaft und die Küstenaufsicht, vielleicht auch für den Wal nur ein Spiel.

Auf dem Parkplatz traf ich zwei Burschen aus dem Wasser; sie waren ziemlich freundlich und beide starke Surfer. Ich fragte sie, ob sie den Wal gesehen hätten.

«Ach, darum warst du so aufgeregt?», fragte ein stämmiger Bursche mit rotem Flanellhemd. Sein Freund gluckste und sah in seinen Jeep Cherokee. «Wir dachten schon, du hättest einen Flashback.»

 

Surfen bestimmt deinen Lebensstil», schreibt der ehemalige professionelle Surfer Mike Doyle in seiner Autobiographie Morning Glass, «wie kein anderer Sport, den ich kenne … Die Brandung ist nur zu einer gewissen Zeit gut… Wenn du also ein ernsthafter Surfer bist, musst du dein Leben drum herum organisieren.» Vince hatte mir das Buch empfohlen; ihm war Doyle als ein interessanter Typ in Erinnerung. Also hatte ich es mir im Santa Cruisin' besorgt – einem hiesigen Longboard-Laden und Tempel für alles im goldenen Zeitalter des Surfens Notwendige (das im Kopf der heutigen Weisen anscheinend Mitte der 60er Jahre anzusiedeln ist, als sie zufällig alle jung waren). In der Surfer-Welt konnte Doyles Leben bestimmt nicht als repräsentativ bezeichnet werden. Er wurde 1941 in Inglewood als Sohn einer allein stehenden, werktätigen Frau geboren und hatte mit fünfzehn, schreibt er, «bereits die alte polynesische Tradition des Wassermanns als seine eigene angenommen und den langen Weg zur Beherrschung aller Geschicklichkeiten des Wassermanns beschritten», wie Surfen, Paddeln, Rudern, Wildwasserschwimmen, Angeln und Speerfischen. All das war damals die spezielle Pazifik-Rim-Variante männlichen Pioniergeistes, als die Sitze der Surfer-Trucks noch mit polynesischen Tüchern bezogen waren und die Typen in Tiki-Hütten aus Treibholz wohnten und vom Colaflaschen-Sammeln und -Zurückbringen lebten. Nach der Highschool zieht Doyle in eine gemeinschaftliche Quonset-Hütte an der Nordküste von Oahu. Rettungsschwimmer in Santa Monica, Katamaransegeln nach Tahiti, Riesenwellen vor Hawaii surfen, die gesamten zwanzig Meilen von Kauais Na-Pali-Küste abschwimmen, mit Perus Machtelite herumhuren, zahllose Wettbewerbe gewinnen und 1964 zum besten Surfer der Welt gewählt werden – und doch erfüllt sich Doyles ersehntes Leben nicht ohne Opfer.

Während Freunde wie Hobie Alter ein enormes Vermögen in der boomenden Beach-Lifestyle-Industrie machen, Tom Morey das Boogie-Board erfindet und Howey Sweitzer das Windsurfbrett, während Jim Jenks die Ocean-Pacific-Klamottenkollektion herausbringt und Bruce Brown seinen Endless Summer dreht, tut Doyle nichts von alledem. Er schmeißt seinen lukrativen Job bei Catalina Swimwear, weil «ich sonst heute in einer festungsartigen Villa in Del Mar verschanzt säße, mit riesigen Hypotheken auf dem Buckel, zu hohem Blutdruck und einem Job, den ich hasse». In Ordnung! Er gründet dann Surf Research und verkauft das erste Surf-Wachs, einen speziellen Aufsatz für Nose-Riding sowie Surfer-Müsli. Doch wenn das Geschäftliche in die Freizeit fiel, hieß das für Doyle und seine Partner: Schluss. «Wir wollten keine Surfmogule sein», schreibt Doyle, «wir wollten nur unseren Spaß im Wasser, wollten gesund und glücklich sein.» Er erfindet den ersten Monoski, entwickelt ihn aber nicht weiter, stellt Endless Summer Suntan Oil her und verkauft wieder seinen Anteil; eröffnet einen Laden für Surferklamotten und lässt sich erneut auszahlen. Er verkauft sogar Motivationskurse auf Video im Auftrag seiner Freundin Terry Cole-Whitakker, «Hohepriesterin des Yuppietums» – keine Ehre in Armut, bestimme dein eigenes Schicksal, Wohlstand als göttliches Recht. Aber ihr wachsender Mystizismus treibt ihn schließlich hin zu anderen Dingen. Zwei Ehen enden schnell, und mit achtundvierzig zieht Doyle allein nach Baja California, erfindet sich neu und erfolgreich als Künstler und verkauft Ölbilder an Touristen. «Mein ganzes Leben lang war ich von den Mustern und Strukturen des Ozeans umgeben», reflektiert er, «und musste eine Menge Kritik dafür einstecken. Ich habe ein paar Frauen unglücklich gemacht, ebenso ein paar Arbeitgeber und zeitweise auch mich selbst, aber ich kann nicht anders, ich wusste immer, wo meine Prioritäten lagen … Wenn die Bedingungen richtig sind, lasse ich jeden Job und jede Frau im Stich, um einen Tag mit meinen Freunden im Wasser zu verbringen.»

Obwohl er kein professioneller Surfer war, hatte auch Vince sein Leben um die Muster und Strukturen des Ozeans herum organisiert und im Winter nur Morgenseminare angeboten, damit er für die abendlichen Optimalzustände auf dem Wasser, die «Glass-offs», frei war. Nachmittagsseminare unterrichtete er im Frühjahr, damit er arbeiten konnte, während die Nordwestwinde bliesen. Geschäftszeiten und Termine wurden so gelegt, dass man es zu den abfallenden Tiden schaffte. Vince hatte sogar einmal versäumt, ein Schlussexamen abzunehmen, weil die Brandung einfach zu toll war, aber ich nehme an, er war nicht einfach so auf und davon gerannt. Auf dem Weg zur Uni hatte er wohl angehalten, um einen Blick auf die Brandung zu werfen, war gebannt von dieser leeren Perfektion vor seinen Augen gewesen und hatte das Examen ganz einfach vergessen. Erst als er ein paar Stunden später aus dem Wasser kam, regte sich plötzlich dieses nagende Gefühl. Während er ziellos über das Unigelände lief, mit nassem Haar und tropfender Nase, sah er sich plötzlich mit einem sehr besorgten Institutsleiter konfrontiert. Doch das war ein seltener Lapsus: Vince hatte den Job seit fünfzehn Jahren und war noch länger mit derselben Frau verheiratet. Auch wenn er vielleicht die ein oder andere Verabredung mit ihr zum Mittagessen sausen ließ, so würde er sie doch niemals verlassen.

Kein noch so surfbesessener Teenager im County hatte mehr Wellen erwischt als Vince; einmal am Tag musste er unbedingt surfen, manchmal sogar zweimal, selbst unter kältesten, verregnetsten, rundum elendesten Umständen, sogar dann, wenn andere einen Tag aussetzten und sich lieber zu Hause Videos ansahen. Ich war sehr gerne mit ihm zusammen, schätzte unsere endlosen Gespräche und das unerschütterliche Gefühl, dass diese ziemlich unmögliche Zeitnutzung von Bedeutung war. Einen Tag in dem Winter, den wir gemeinsam verbrachten, habe ich besonders deutlich in Erinnerung behalten. Es war kurz nachdem ich den Wal gesehen hatte. Vince wirkte manchmal frustriert oder deprimiert, wenn er surfte, aber für gewöhnlich, so auch an jenem Morgen, strahlte er und zitterte vor kindlicher Begeisterung. Als ich den Wagen auf dem Kies anhielt, sprintete er schon den Sandweg hinunter. Alter fünfundvierzig, saubere Khakihosen und Schirmmütze, Board unterm Arm, Rucksack auf dem Rücken, so lief er an einem Montag voller Schwung über die Felder. Ich hupte, aber er winkte nur über die Schulter zurück und rannte weiter. Es war ein herrlicher Tag zum Fliegen, erkannte ich, als zwei große Habichte ohne Flügelschlag saubere Kreise über all dem Kleingetier zogen, mehr aneinander interessiert als an einem Frühstück. Sie umkreisten sich elegant in einem winterlichen Licht, das Farben und Formen von innen heraus zum Strahlen zu bringen schien. Frösche quakten in den stehenden Pfützen auf den Wegen, und ein grausiger Haufen toter Fische lag im Gras, der Abfall achtloser Fischer und irgendwie ziemlich profan: Auf einer Plastiktüte faulten sie vor sich hin, von Fliegen umsurrt, so dicht neben ihrem Meer. Vince stand bereits halbnackt im frischen Gras, als ich zur Klippe kam, umgeben von gelb blühendem Sauerklee, der überall die mit Disteln bewachsenen Ackerfurchen sprenkelte.

«Na», sagte er und sah mich voller Verachtung an, «wie lange wollen wir denn noch herumtrödeln?» Rasch wischte er seinen Neoprenanzug ab, griff in einen Arm und stülpte die Außenseite heraus. «Du hast hoffentlich bemerkt, dass diese reizenden kleinen Wellen völlig ungestört heranrollen, oder?»

Das stimmte, keine Menschenseele im Wasser, aber die Tide war noch zu flach.

Er beschimpfte sich selbst, als wir den Weg hinunterhasteten; «Meine arme vernachlässigte Frau», sagte er, «muss mit einem solchen Drückeberger wie mir verheiratet sein.» Dann widmete er sich wieder mir und sagte, ja, das Wasser sei tatsächlich noch etwas flach, aber schon bald würden die Wellen mehr Kraft haben. Ein Sturm hatte den wuchernden Seetang aus seiner Verwurzelung gerissen und diesen Unterwasserwald am Strand zu einem verfaulenden, stinkenden Haufen aufgetürmt. Unsere Füße versanken in einem Gase verströmenden Bett verwesender Meeresfauna und -flora; Wolken von kleinen Fliegen und Sandflöhen stoben auf, um gleich wieder in den feuchten Schatten des Haufens zurückzukehren. Diese kleine Nische gehörte ihnen, eine enge, wohnliche Welt. Tiefer vergraben in den Algen waren Krabben, Spinnen, Würmer und Schwämme, die alle einen jahreszeitenbedingten Tod starben. Ein kleiner Schwarm weißer Strandläufer trippelte am Rande des triefenden Treibguts, pickte in den Sand wie Spechte in Baumrinde und hüpfte dann vor dem zurückfließenden Schaum davon; eine Bewegung wie die der herbstlichen Wolken aus Spatzen im Nordosten, wie ein Körper ohne Kopf, in Erwiderung einer Matrix aus Wind und Reflex. Meine Großmutter hatte meinem Vater, bevor sie starb, erzählt, sie habe sich immer wie eines dieser winzigen Tiere gefühlt, die überall herumstöbern, die immer wer weiß was hinterherjagten. Dad selbst hatte mir ihre Namen gesagt und was sie fraßen. Kurz nachdem meine Eltern geheiratet hatten, zogen sie nach Balboa Island in der Nähe von Los Angeles. Er hatte in einer Zementfabrik gearbeitet, und wenn diese an regnerischen Tagen schloss, ging er am Strand spazieren und beobachtete Vögel. Dad hatte nie eine besondere Naturverbundenheit verspürt; er ordnete sein Leben eher nach Geschichten und Gelächter als nach der Sicherheit einer sorgfältig benannten Welt; also fand ich es schwierig, mir die Ruhe und Melancholie vorzustellen, die es braucht, um offen für solche Details zu sein. Doch als ich mir jetzt ansah, wie die Vögel im Sand pickten, kam mir der Verdacht, dass ihm die Zelebrierung des Weltlichen in ihrem winzigen Leben, ihr liebenswürdiges, wenn auch sisyphosartiges Überleben gefallen hatte.

«Derelictus!», sagte Vince, als wir um eine große Felsecke herumsprinteten, und ahmte damit Willie nach.

«Wirklich, derelictus in flagrante.» Wir hatten es nicht richtig abgepasst und standen in einer tropfenden Höhle, genau als eine Welle sie bis zu unseren Hüften füllte. Kleine Insekten krochen zu Tausenden über die schleimige schwarze Decke, und als das Wasser wieder abfloss, rumpelten rund geschliffene, kopfgroße Kiesel hinterher wie gebrochene Knochen. Über ein paar Felsblöcke hinweg kamen wir vorbei an einem über die Klippen hinausragenden Felsvorsprung, der bei Flut ein perfekter Absprungplatz war. Doch jetzt war Ebbe, und man konnte direkt zum Point marschieren, ohne jedes Paddeln; über nasse schwarze Felsen und Miniaturstrände hinaus ins Wasser, um einen großen Felsbrocken zu umrunden, dann wieder zurück, immer weiter am Sandsteinkliff entlang. Die Felswände waren voll von triefendem Moos, und wieder ein Mikrokosmos: Verkrustungen, die winzige Sandhöhlen bildeten, Röhrenwurmkolonien, deren größere Löcher jetzt von violetten Krebsen bewohnt wurden. Millionen junger Seeanemonen überzogen einen anderen Felsen, ihre nassen, pfenniggroßen Münder gegen die ausdörrende Luft verschlossen. Vince sagte, dieses Jahr sei mehr Sand da als gewöhnlich; er füllte Felsspalten, verschloss kleine Wasserlöcher. Bis zu den Hüften im Wasser wateten wir zwischen zwei bröckelnden, mit Vogelkot bedeckten Felssäulen hindurch, dann eine natürliche Treppe aus Felsvorsprüngen hoch bis zur äußersten Spitze des Point: ein Boden aus gefurchtem, zerfressenem Stein unter überhängenden Klippen voll violett blühendem Eiskraut. Dann die Überbleibsel eines kürzlich eingestürzten Teils eines Felsvorsprungs: ein fast zwanzig Meter hoher Turm aus Sedimenten, absurd vom Kontinent abgetrennt, das Gras obenauf schwindend, alles Getier zweifellos geflohen. Die Flut hatte bereits die Verbindung zum Festland weggespült, und der Rest stand da wie ein erodierender, irdener Totempfahl, ein Stück Kerngehäuse angeschwemmter Prärie. Eines Tages würde es eine Schiefersäule sein, strotzend vor Rankenfußkrebsen und zweischaligen Muscheln, letzten Endes würde es zu einem Unterwasserriff werden.

Einmal, nachdem ich etwas weiter nördlich im Morgengrauen gesurft hatte – ich glitt direkt in die blendende Sphäre der Sonne hinein, paddelte auf von vorne beleuchtete Surfer zu, die golden vor einem schwarzen westlichen Sturmhimmel glühten –, nahm ich eine Welle zum Strand und griff meinen Rucksack. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen ohne eine Menschenseele an einem meilenlangen weißen Strand, und ich war zu ebendem Turm hochgeklettert. An seinem Sockel lag an jenem Tag ein fast zwei Meter langer, geköpfter zylindrischer Körper mit hervorquellenden Organen, zerfetzten Muskeln und zerschmetterten Knochen: ein von einem sehr großen Hai geschlachteter See-Elefant. Über mir flogen Spatzen, ein paar Wildblumen wehten um einen alten Windschutz herum, und nur das Rauschen des Meeres war zu hören, das man eigentlich gar nicht mehr als Geräusch wahrnimmt. Kein Gemetzel heute, als wir an der Seite des Turms entlangkletterten und über sein Felsfundament hinaus zu einem weiteren separaten kleinen Planeten voller Leben spazierten: die Stelle des Meeressaums, die nie wirklich überflutet wird, die oftmals trocken ist und Organismen beherbergt, die nur gelegentlich befeuchtet werden müssen. Überall lagen Vogeldreck, Möwendaunen, kleine Stücke Abfall von der nahegelegenen Müllkippe, die zum Fressen angeschleppt worden waren. Ebbesiele füllten erodierte Stellen in den weicheren Gesteinsschichten des hoch aufragenden Felsens, und riesige grüne Seeanemonen umrandeten diese Schichten wie ungeheure Rachen, besetzt mit Hunderten lebenden, haftenden Zähnen. Kleine Krebse krochen vorsichtig zwischen ihnen hindurch, um Muscheln zu erbeuten. (Die Anemonen hatten sich zwar festgesetzt, waren aber nicht verwurzelt, sondern konnten langsam weiterziehen, genau wie die Kreiselschnecken mit ihren kleinen konischen Häuschen.) Ein vorzeitlicher Mollusk mit rotem Rücken war hier in der Sonne fehl am Platz.

Vince legte sein Board ab, um sich zu strecken, sah ständig zurück zum Kliff, entzückt über die Leere der Brandung und voller Angst, es könne jemand kommen. Er glaubte gesehen zu haben, dass sich auf dem Weg etwas bewegt hatte: «Eindringlinge?», fragte er.

Ich sah hinüber. «Nee.»

«Keine Eindringlinge?»

«Keine Eindringlinge.»

«Also nur wir beide, ohne Eindringlinge?»

Vince war bei seinen vielen guten Freunden für zwei Dinge berüchtigt. Zum einen für seine Gier nach Wellen. Rücksichtslos trat er gegen jeden um jede Welle an, wobei ihm alle Mittel recht waren, auch Aggressivität oder sogar schmutzige Tricks unter Freunden; du musstest ganz schön auf Zack sein, um deinen Teil abzubekommen. Und zum anderen hatte er die fast pathologische Neigung zu schwören, wo immer er gerade (ohne dich) gesurft hatte, war's perfekt gewesen. Auf jeden Fall besser als dort, wo du zur selben Zeit warst. Sogar wenn du nur eine Stunde nach ihm ankamst, musstest du dir mit Sicherheit anhören, dass diese Stunde die beste seit Jahren gewesen war. All dies bedeutete Vince mehr, als dass er nur seinen Spaß haben wollte; es war das Qualitätsbarometer seines Lebens. Wenn du mehr Wellen bekamst als er oder dir einen besseren Surfspot ausgesucht hattest, überkam ihn das Gefühl, dass ihm die wenige Macht entglitt, die er noch hatte. Immerhin hätte ich ein Leben lang gebraucht, um das zu lernen, was ich von Vince in einem einzigen Jahr lernte, nämlich sein erschöpfendes Wissen über das komplexe Zusammenspiel von Gezeiten, Winden und Dünungen für jeden einzelnen Riffbrocken und jede einzelne Sandbank in der Gegend, die Wellen produzierten, auf denen man reiten konnte. Doch bei all dieser grimmigen Inbrunst im Wasser war Vince ein wunderbarer Gefährte: sehr sarkastisch und ziemlich sensibel in Bezug auf die Gefühle und Meinungen anderer. Er wusste wann er jemandem auf die Füße trat, und oft schien ihm das Leid zu tun. Aber er hörte dennoch nicht damit auf – Surfen war der Teil seines Lebens, in dem er nie an Boden verlor.

Eine halbe Meile weiter nördlich hatte sich eine große Wellengruppe gebildet. Es gab insofern keinen Grund, jetzt schon ins Wasser zu springen, also sahen wir uns einfach ein bisschen um. An der dem Meer zugewandten Kante des Felsens hatten sich Rankenfußkrebse und Muscheln festgesetzt, Gemeinschaften, die immer wieder bei Ebbe zum Vorschein kamen und bei Flut abtauchten und der vollen Wucht der Brandung ausgesetzt waren. Violette Seeigel sträubten an den Wänden eines badewannengroßen Wasserlochs ihre Stacheln, verkrochen sich in ihre privaten, kleinen Höhlen, die sie in den Felsspalten gefunden hatten. Die organischen Türen der Rankenfußkrebse waren jetzt geschlossen, um die Feuchtigkeit zu halten, würden sich aber bei Flut öffnen – ein vom Rhythmus der Gezeiten geregeltes Leben, gewaltsames Eindringen und Rückzug. Eine neue Gruppe von Wellen erhob sich über den jetzt überschwemmten Klippen, krachte auf die Plattform und versprühte Schaum über uns und die Wasserlachen. Vince wurde ungeduldig und begann auf und ab zu gehen. Er sah sich nach einem Platz um, den er ansteuern konnte, ärgerte sich über Konsistenz und Länge der Wellen. Dann ging er einfach los und kletterte über die gefährlichen Muschelkämme. Als er auf einem kleinen Muschelwulst frei dastand, rollte eine grüne Wand auf ihn zu; er machte einen Satz, sie stürzte vor ihm nieder wie ein Stier vor dem Torero und krachte dann in die Felswand hinter ihm. Bäuchlings auf seinem Brett warf er sich auf die Brandung und legte sich hart ins Zeug, als eine andere Welle ihn in eine Strömung drängte und ihn nach links in eine brodelnde Suppe spülte. Dann kam eine Flaute, und er schaffte es hinaus. Brett in der linken Hand, mit der rechten in die Muscheln greifend, kletterte ich hinunter in den Bereich der aufschlagenden Brandung, durch tiefe Wasserlöcher mit kleinen Wasserfällen, die von den Felsterrassen herabprasselten, und hinaus auf einen muschelüberwachsenen Bug. Genau wie Vince wartete ich darauf, dass eine Welle an der Felswand entlang zu mir heranrollte, dann sprang ich. Leider verfing sich die Leash meines Bretts an einer Felsnase und riss mir das Board mit einem Ruck aus den Händen, gerade als ich lossprang. Ich landete ohne Brett in der Brandung, blieb im jetzt fallenden Wasser dieses Schindangers stecken, einer Senke voller unberechenbarer Felsblöcke. Ich kraulte zurück und griff nach dem Felsen und lag flach darauf, als die erste Welle auf meinen Rücken krachte und mein Board gegen den Stein schleuderte; die nächste warf es mir an die Schulter, dann war Flaute. Ich griff nach der verfangenen Leine, gerade als eine andere große Gruppe Wellen draußen auftauchte; Vince schrie mir zu, ich solle in Bewegung kommen.

Die Leash kam los, und ich wollte gerade springen, da verfing sie sich erneut, also streckte ich mich bäuchlings über dem muschelbewachsenen Steinwulst aus, zerrte an der Leine, bis meine Fingerknöchel bluteten, und stellte fest, dass mir keine Zeit mehr blieb. Der Wasserspiegel sank um gut einen Meter, die grünlich-graue Wand schwoll an und kam brodelnd auf mich zu. Ich stieg etwas weiter hoch, hechtete in ein gemütliches Loch und hielt mich fest, als der Schaum über jenes Bollwerk hinwegdonnerte. Das Wasser prallte gegen meine linke Seite und zerrte mich über die Klippe, einfach so – in freiem Fall rückwärts mit schrecklicher Unvermeidlichkeit in die Senke. Ich wusste, wenn mein Kopf oder Genick auf einen der Felsen da unten aufschlagen würde, wäre es das Ende. Aber dann war ich tief unter Wasser, wirbelte umher, ohne gegen etwas zu stoßen; kam bei meinem Brett an die Oberfläche, zog mich hoch und paddelte hysterisch kichernd hinaus; eine typische reflexhafte Reaktion auf eine Katastrophe, der ich knapp entgangen war. Vince wollte wiederholt wissen, ob ich verletzt sei. Er fand, mein Lachen sei wahrscheinlich ein Hinweis darauf, dass ich ein Trauma oder einen Schock erlitten hatte. Als ich mich wieder beruhigt hatte, sagte er, ich solle in Zukunft vorsichtiger mit meiner Leine sein.

Eine nahezu zwei Meter hohe Welle rollte durch das stille Wasser. Sie stieg steil an und brach nicht zufällig genau an einem Streifen Seegras, der an einem Felsen unter Wasser festgewachsen war. Genau gesagt, so unter Freunden, gehörte diese Welle mir, aber Vince paddelte hart an meinem Bug vorbei, um Position zu beziehen, und in mir steckte kein großer Kämpfer mehr. Ich überließ sie ihm einfach, griff nach dem Luftsack eines Kelpstrangs und leistete meinen Beitrag zur Entropie, zerdrückte ihn zwischen den Fingern, um das Aufplatzen zu spüren, verschmierte seinen klaren Schleim in meiner Handfläche und überlegte, wie viele Anläufe es wohl gekostet hatte, bis die Evolution dieses System hervorgebracht hatte: Luftsäcke, die sich mit Blättern abwechselten, damit die Pflanze weit genug oben schwamm für die Photosynthese. Viele Leute haben mir schon gesagt, was für eine Plage ich sein kann – eigensinnig, selbstversunken, ein schlechter Zuhörer –, und mögen mich dennoch wegen meiner Vorzüge, beispielsweise, dass ich gerne die gesamte Geschichte eines Menschen erfahren will. Vince verbrachte seine Zeit auf dem Wasser nur zum Teil aus Liebe zum Surfen; der weitaus gewichtigere Grund – das gilt auch für viele andere Surfer – ist der, dass er keine andere Wahl hatte. Kein Soldat kam entzückt über das, was er gesehen hatte, aus dem Vietnamkrieg zurück, und schon gar nicht ein resolut antimilitaristischer Surfer wie Vince. Alles, was ich über seinen Pflichteinsatz wusste, hatte ich von Willie erfahren: Nach einem Jahr im Feld brachte Vince seine Antikriegsagitation sechs Monate Knast im Marine Corps ein. Bis heute leistete er sich keine Veteranen-T-Shirts oder -Autoaufkleber und nur wenige Meinungsäußerungen über Kriege, ob große oder kleine. Hin und wieder machte er eine unheimliche Bemerkung wie: «Mal sehen, wie lange es her ist, seit ich jemanden umgebracht habe … zwanzig Jahre?» Doch nie erging er sich in Einzelheiten. Vielleicht hatte Krieg nichts mit Vinces Anspruch, den er auf die Wellen erhob, zu tun, mit der Art, in der er auf dem Wasser nach der Nummer Eins Ausschau hielt, aber es wäre eine angemessene Erklärung für mich. Eine Erklärung, warum er täglich stundenlang in die Weite starrte, mit dem Meer stieg und fiel, Dampf abließ und dabei aufrichtig und egoistisch Spaß hatte. Sogar eine Erklärung, warum er mich ab und an auch einmal hinterhältig austrickste.

Ein Seetaucher neben mir versuchte eine halbe Stunde lang, einen überdimensionalen Karpfen zu schlucken; er hatte buchstäblich den Mund viel zu voll genommen. Der 30 Zentimeter lange Fisch ragte 20 Zentimeter aus seinem Schnabel heraus und zappelte wie wild. Jedes Mal, wenn ich aus einer Welle herauspaddelte, war der Fisch drei oder vier Zentimeter tiefer in seinen anschwellenden Rachen gerutscht. (Man stelle sich die Unverdaulichkeit vor! Als schlucke man eine ganze Katze.) Der Otter schwamm auf dem Rücken vorbei, und ich kriegte mehrere schnelle, kleine Wellen, die über brodelnde Strudel und hervorstehende Felsen rollten. Dann wieder Flaute; warten, treiben lassen, auf und ab, über Milliarden kleine Dramen hinweg plätschernd. Immerhin gibt einem dieses Spiel eine ausreichend kleine Linse, um einen winzigen Teil der Welt genau betrachten zu können: Ein Küstenstreifen wie dieser bietet die ältesten Formen gemeinschaftlichen Lebens auf der Erde; seine Kliffe durchlaufen Abschnitte geschichteter Vergangenheit, geologische Zeitalter zwischen Ascheschichten und Muschelhaufen. Und Surfen hinterlässt keine Spuren: Die gemeißelte Wand löst sich ohnehin auf, die Welle bricht sowieso. Ich stürzte in eine Welle, gerade als eine Kette von dreiunddreißig Pelikanen abhob und über Dünung und Wellental flatterte, verspürte dann einen heftigen Ruck, und mein Brett brach aus: Eine im Debakel am Point angeknackste Finne war abgerissen. Aber der Wasserstand war ohnehin zu sehr gestiegen. Die Wellen waren jetzt durch die zusätzliche Tiefe viel zu träge, und Vince wollte die Verabredung zum Mittagessen mit seiner Frau einhalten. Wir schnappten noch ein paar letzte Wellen, und gerade als meine sich über einen Felsen hob, plumpste ich runter. Als ich wieder auftauchte, hatte ich zwei Boards. Mein Baby, mein Shaped for Dan», war entzwei. Vince bemerkte es erst nicht, stand einfach keuchend auf dem Schiefer und wickelte die l.eine um die Finnen. Er sah mich mit verlegener Neugier an und fragte sich vermutlich, ob er nicht etwas zu aggressiv im Wasser gewesen war. Dann bemerkte er die Tragödie, und ich sah ein kleines Grinsen; ich wartete auf einen Kommentar dazu, dass er nie auch nur ein einziges Surfboard zerbrochen hätte, dass ich nie hätte tun sollen, was immer ich getan hatte. Er behandelte seine Bretter wie Kinder und verlieh sie niemals. Als wir den ausgetretenen Pfad hochstiegen, wurde das Rauschen immer schwächer. Ich konnte meine Schritte hören. Das Zwitschern eines Vogels ertönte klar zwischen den Brombeersträuchern und Hemlocktannen, den Farnwedeln und Schachtelhalmen. Dann schien Vince sich zu fangen. Es gab keinen Ratschlag, und er sprach von einem Ersatzbrett in seiner Garage, das ich unbedingt nehmen sollte, bis ich wieder ein neues hatte.

 

Eine Krankheit, nehme ich an, oder als solche erschien es jedenfalls meinen Mitbewohnern, die mich normalerweise als ernsthaften jungen Mann ansahen. Es ist schon schlimm genug, schlechte alte Spielfilme im Fernsehen wegen ihres Kitschgehalts anzuschauen, sie aber gleich im Dreierpack auszuleihen? Mitten in der Woche mittags dazusitzen und sich Geschichten anzusehen, die schon, als sie rauskamen, nicht gut waren und die niemand mehr verabscheute als die Surfer selbst? Wie gesagt, jeder Verstand tut, was er tun muss. In diesem Fall entscheidet er sich angesichts einer Woche Regen und dem mehr oder weniger ausgelesenen Stapel von Surf und Abenteuerbüchern für Kunst anstelle von Leben, tritt dem East-Cliff-Video-Verleih bei und ruft ein privates Surf-Filmfestival aus. So, wie man vielleicht von einem Laden in Manhattan erwartet, dass er eine Riesenauswahl an Woody-Allen-Filmen vorrätig hat, gibt es hier einen bemerkenswerten Fundus an alten Surfstreifen auszuleihen, die, was nicht unbedingt überrascht, mehr über Hollywood, wo sie produziert wurden, aussagen als über das Surfen. Zuerst: Surfen und Krieg. Mit Vince im Hinterkopf lieh ich mir Francis Ford Coppolas Apocalypse Now! mit Robert Duvall als Captain Kilgore («Ich liebe den Geruch von Napalm am Morgen»), aber Apocalypse Now! zählt sicherlich nicht zu den Surf-Streifen, also ging ich zum Genre selbst und seinem wahren Thema über: Surfen und Liebe, eine Konstellation, die meinem eigenen Herzen näher steht. Vinces Frau Fran gibt da ein glänzendes Beispiel für gesunden Menschenverstand ab, weil es ihr rundweg lieber ist, wenn er jeden Tag surft, denn dadurch hat sie selbst mehr Zeit, und er ist ihr gegenüber wesentlich ausgeglichener, abgesehen von den fürchterlichen Tagen, an denen er überall herumgefahren und leer ausgegangen war. Und Willies Frau, die früher darauf beharrt hatte, dass Surfen «eine andere Frau» war, machte vor kurzem eine große symbolische Geste, indem sie ein Göttinnen-Festival mit dem göttlichen Titel «Tsu» wie Tsunami besuchte. Und meine Susan? Na, sie war kürzlich so weit gegangen, die verbotene Frage zu stellen: Was liebst du mehr, mich oder …? Also sah ich die Klassiker durch, darunter die Liebesgeschichten Ride the Wild Surf (1964) und The North Shore (1987), sogar die echten Kracher wie Muscle Beach Party (1964) mit Annette Funicello und Frankie Avalon, zu dem Stevie Wonder seinen ersten Soundtrack geschrieben hatte. Das Sahnehäubchen war schließlich Gidget (1959), in dem das zeitlose und abgedroschene Thema aller Liebesgeschichten, der Kampf zwischen männlichem Individualismus und weiblichen Zwängen, strapaziert wurde. Der gemalte Ozean-Hintergrund wogt unter einer Studio-Brise, und die Panorama-Aufnahmen vom Surfen – mit Mickey Muñoz in Bikini und Perücke als Gidget – wirken wie von einem anderen Kontinent. Die leuchtenden Primärfarben dieser frühen Farbfilme lassen Gidget aussehen wie eine bunte Bonbonschachtel, und die Herumtreiber am Strand sind joviale Seemänner direkt aus alten Piratenfilmen. Das einzige Anliegen der sentimentalen Handlungen, ausgehend von europäischen Romanen des 18. Jahrhunderts und perfektioniert in den amerikanischen Liebesgeschichten des 19. Jahrhunderts, ist, dass nette Mittelstandskinder auch ganz bestimmt andere nette Mittelstandskinder heiraten und bis dahin allen Versuchungen widerstehen. Im Allgemeinen kommt die Versuchung in Gestalt dessen daher, was der Kultur der Zeit insgesamt nicht geheuer war – Unterschicht, Indianer, Sklaven, Piraten, Motorradfreaks –, und Surfer passen genau da rein.

Frances, gespielt von der spröden, blauäugigen Schönheit Sandra Dee, ist ein wohlbehütetes süßes junges Ding, das einfach nicht den richtigen Jungen trifft. Der fürsorgliche Daddy will sie mit dem Sohn eines wohlhabenden Geschäftspartners zusammenbringen, aber Frances will davon nichts hören. Wie alle dickköpfigen, idealistischen Mädchen will sie Abenteuer und wahre Liebe, also zieht sie alleine los und bahnt sich beim Strandtempel – einer polynesischen Hütte mit Strohdach – mit Charme ihren Weg in eine Gruppe von Surfern. Das ist der Albtraum des Mittelstands: Deine Tochter hängt mit den Taugenichtsen herum und nimmt zudem noch deren Spitznamen an – Gidget. Und natürlich wird sie auf zwei von ihnen ganz heiß, und alles weist daraufhin, dass sie sich der verbotenen Liebe hingeben und unter Stand heiraten wird. Ihre Wahl sind der dunkle, gefährliche Kahuna – der viel ältere Häuptling des Surfer-Stammes – und der flotte, wagemutige, jüngere und sauberere Moondoggie. Gidget und Kahuna hegen eindeutig tiefe Gefühle füreinander; aber er sieht nicht nur gnadenlos gut aus, sondern ist auch gnadenlos dem Surfen verbunden. Coopers Natty Bumppo, Spurenleser und Lederstrumpf, hat dasselbe Problem: stets der offensichtliche männliche Held, aber nie der Bräutigam am Ende des Romans. Kahuna sieht toll aus in seinen verwaschenen Jeans, dem zerrissenen Hemd und dem ausgefransten Strohhut, aber ihre Liebe ist ebenso unmöglich, ja unerhört wie die Rassenmischung zwischen Uncas und Cora in Der letzte Mohikaner. Gleich zu Anfang teilt Kahuna Gidget mit, er sei ein edler Wilder, der «der Sonne folgen müsse».

«Du meinst doch nicht etwa …», sagt sie entsetzt.

«Doch», knurrt er, als gestehe er ein Schwerverbrechen, «ich bin ein Surf-Fanatiker: Wellenreiten, essen, schlafen, nichts anderes interessiert mich.»

Gidget, süß wie sie ist, fragt genau das, was ich Vince und Willie gefragt hatte: «Es mag zwar schrecklich neugierig von mir sein, aber wann arbeitest du?»

«Das habe ich einmal versucht», erwidert ihr Kahuna, «aber es gab zu viele Stunden und Regeln und Reglementierungen.» Ein verbitterter Pilot aus dem Korea-Krieg – wieder musste ich an Vince denken – verkörpert einen Weißen, der zum Eingeborenen wird. «Für sie», sagt er über Moondoggie und die anderen, «ist es eine Sommer-Romanze, für mich eine Vollzeit-Leidenschaft.» Das erinnert an John Waynes The Searchers: Kahunas mysteriöse, gewalttätige Vergangenheit hat ihn so sehr verbittert, dass er zum ewigen Rebell und für die Ehe völlig untauglich wird. Gidget fragt Kahuna unumwunden, wie er sich denn selbst so genug sein könne. «Du brauchst niemanden», teilt sie ihm mit und lässt ihn wissen, wie einsam sie wäre, würde sie so leben wie er. Man spürt, wie der amerikanische Mittelstand seine Randgruppen befragt: Würdest du nicht lieber mit einem wunderbaren Mädchen wie mir ausgehen, als dich die ganze Zeit allein herumzutreiben? Zu Hause auf der Ranch bleiben, anstatt hinter Indianern herzujagen? Diese Argumentation ist der thematische Magnet des Films: Surfen mag sexy sein und eine Menge Spaß machen, aber so gebräunt und sorglos und gut aussehend diese Surfer auch sein mögen, sie sind und bleiben Außenseiter und geben einfach keine guten Ehemänner ab. Gidget spürt, dass Kahuna anders ist als andere Menschen – «… das musst du, wenn du imstande bist, dem Leben, das die anderen leben, den Rücken zuzukehren», lässt sie ihn wissen. «Also, ich denke, jeder arbeitet doch in seinem Leben auf irgendein Ziel hin. Wobei, also, du musst ja nicht unbedingt ein Ziel haben … Oh, es tut mir Leid!»

Genau das, was mich auf der Hochzeit meines Freundes so genervt hat – das «Ziel» –, aber Kahuna bleibt standhaft, genau wie Vince: «Was soll dir denn Leid tun?», erwidert er und führt einen wilden inneren Krieg. «Ich selbst habe dir doch gesagt, dass ich ein Surf-Freak bin.»

Beim Luau am Ende des Sommers – mit Anspielungen auf eine Orgie, in Wirklichkeit aber ein harmloses Bacchanal – spielen tadellos saubere Kinder die Ukulele und machen miteinander rum, als Gidget zu einer List à la Shakespeare greift. Sie bringt Moondoggie – ihren angemessenen Partner – dazu, sie zu küssen, unter dem Vorwand, es würde Kahuna eifersüchtig machen, und anschließend lässt sie sich von Kahuna küssen – ihre offensichtliche Wahl, aber viel zu gefährlich um nun Moondoggie auf die Palme zu bringen. Der Schuss geht nach hinten los, und in dem Glauben, dass Moondoggie sie aufgegeben habe, gibt sich Gidget ganz den Versuchungen des Strandlebens hin; im Gefühl völligen Nihilismus, ohne jede Hoffung, wahre Liebe zu finden, abgeschnitten von ihrer Familie, willigt sie ein, mit Kahuna für sie-weiß-schon-was mitzugehen. Er entzündet ein Feuer, legt Jazz auf, hat plötzlich diesen fiesen Blick und macht das Licht aus. Gidget gibt sich sogar die Blöße und trinkt. Es ist ein zwiespältiger, angespannter Augenblick – der Höhepunkt des Films –, in dem dieser gesetzlose Surf-Freak den gesamten Vertrag mit dem Mittelstand in Gefahr bringt. Zum Glück stürzt Moondoggie herein und greift Kahuna an, und während sie sich balgen, läuft Gidget hinaus in die Nacht – unsere amerikanische Jungfrau ist gerettet.

Wieder zu Hause, ist die arme Gidget ohne ihre beiden Rebellen so deprimiert, dass sie nicht mehr daran denkt, ein aufregendes Leben führen zu wollen. Sie willigt ein, dass Daddy sie mit dem zweifellos streberhaften Freund der Familie zusammenbringt. Und siehe da, es ist niemand anderes als Moondoggie. Doch der heißt jetzt «Jeffrey» und trägt Jackett und Krawatte und geht wieder aufs College, anstatt sich auf ein Surf-Abenteuer im Südpazifik zu verdünnisieren. Nachdem sie jede Hoffnung aufgegeben hat, sich ihre eigene Identität zu schmieden, und sich der elterlichen Variante von einer guten Zukunft unterwirft, entdeckt Gidget jetzt, dass Mom und Dad es schließlich wirklich am besten wussten und dass es keinen Ruin bedeutet, sie den Partner fürs Leben auswählen zu lassen, sondern eine Abkürzung zur wahren Liebe. Nachdem Moondoggie Gidget verloren und Kahunas (bösen) Charakter erkannt hat, begreift auch er, was für ein Fehler diese ganze Surfer-Rebellion war; um sich von seinen Sommerphantasien zu läutern, gibt auch er seinen Eltern nach. Und als Moondoggie Gidget die Anstecknadel seiner Studentenverbindung schenkt, tauscht sie fröhlich das Surfen wieder gegen die Liebe ein und sagt über ihre Romanze, was sie schon einmal über das Surfen gesagt hatte: «Das ist das Tollste!»

 

Es überrascht nicht, dass Vince Moondoggies Hochzeit als einen krassen Ausverkauf ansah, ein Abdanken von allem, für das sich zu leben lohnte, und es überrascht ebenfalls nicht, dass ich ihm beipflichtete. Und das, obwohl Vince verheiratet war und zudem einen Universitätsabschluss hatte, und ich hatte zumindest Letzteres und immerhin Hoffnung auf Ersteres. «Et tu?», fragte er Willie, als wir alle an einem warm herandämmernden Wintermorgen gen Süden sausten, nackte Haut und Jeans eng aneinander gepresst auf dem Kunstleder der durchgehenden Bank. Die Bretter waren sorgfältig hinten aufgestapelt, jeweils mit Handtüchern dazwischen, die Finnen sorgfältig abgepolstert. Das Radio war uns kürzlich gestohlen worden, sodass wir in aller Stille Mitleid mit dem verstopften Verkehr hatten, der sich qualmend nach Norden quälte.

«Et moi was?», wollte Willie wissen.

«Kinder. Pascale. Setzt sie dich noch immer unter Druck?»

«Überhaupt nicht», entgegnete Willie und wollte offensichtlich nicht mitspielen. Er schob seine Ray Ban wieder auf die Nase und rieb sich das kantige Kinn.

«Lass ihr Zeit.»

Willie grinste in sich hinein, schüttelte leicht den Kopf – keiner von den Typen, die sich für frauenfeindliches Gerede hergeben, schon gar nicht auf Pascales Kosten. «Nein, nein», sagte er, «wir sind uns einig, was Kinder angeht.» Ein weißer Ford Truck, hinten drauf ein Longboard mit nur einer einzigen Finne, schoss an uns vorbei. Auf seiner Stoßstange: «Ein Gott, ein Land, eine Finne.»

«Einig inwiefern?», fragte ich. Irgendwo da draußen braute sich eindeutig ein Dilemma für mich zusammen.

«Oh … du weißt schon», sagte Willie, «du unterjochst dich in allen Punkten, und dann ist das kleine Programm an der Küste immer schwieriger aufrecht zu erhalten, und …»

«Als ich klein war», begann Vince und schob mein Bein zur Seite, um zu schalten, «sah ich meinem Dad zu, wie er sich umbrachte, damit Mom es sich im Club gut gehen lassen und mit den anderen Weibern ihren kleinen Lunch einnehmen konnte. Nichts für mich. Nada. Die ganze Patriarchen-Chose? Totales Gewäsch. Stell dir selbst die Frage: Wer macht die Arbeit in unserer Gesellschaft? Wer stirbt vorzeitig am Herzinfarkt? Nicht die Frauen!»

Mein Wecker war an diesem Morgen in völliger Dunkelheit losgegangen. Ich war die knarrenden Stufen der Holztreppe hinuntergeeilt und hatte meinen Neoprenanzug von einem Wäscheständer in der Nähe des Ofens gezerrt. Und dann hatte ich mich auf diesen einzigartigen, herbeigesehntem Tag gefreut: blauer Himmel, hohe Dünung und das ungestörte Zusammensein mit Vince und Willie. Ich toastete wie gewöhnlich meine drei Sauerteig-Muffins, beschmierte sie mit Butter und Marmelade, füllte eine Thermosflasche mit Earl Grey (der Verzicht auf Koffein war gescheitert) und konnte gerade noch eine Birne einstecken, als Vinces Scheinwerfer auftauchten. Der Vollmond hing in einem sich violett färbenden Himmel, und der Horizont im Osten hinter Salinas glühte, Willie fuhr direkt hinter Vince und parkte seinen El Camino auf meiner Straße, damit Pascale ihn nicht auf ihrem Weg zur Arbeit sehen musste, nicht mit Willies Freiheit konfrontiert wurde; immerhin konnte sie, ungeachtet Vinces Theorie, sich nicht einfach den Tag freinehmen, wenn ihr gerade danach war. Willie hatte auch eines seiner Boards in Vinces Wagen gelassen, damit Pascale nicht unbedingt herausfand, dass er sich, trotz finanzieller Engpässe, zwei neue gekauft hatte; und so waren wir überhaupt auf Gidget gekommen, auf Surfen und Liebe. Vince fand, dass Willies Zwang zu Betrug und Täuschung in einer ansonsten gesunden Beziehung eher ein Hinweis auf gesellschaftliche Missstände war als auf persönliche. Denn Männer schämten sich aller Aktivitäten, die Frauen und/oder Kindern keinen direkten Nutzen brachten. Jedenfalls hatte er darauf bestanden, dass wir auf dem Weg an einer bestimmten Bäckerei hielten, denn Fran liebte deren Zimtschnecken, also kaufte er ein paar davon für sie; und wir putschten uns mit Espresso auf, was ziemlich riskant ist bei drei höchst angespannten Menschen in einem kleinen Wagen. Dann fuhr Vince mit uns auf einer kurvenreichen Strecke durch eine neue Siedlung mit antiseptischem Asphalt und glatten Bordsteinen und gerade genügend architektonischer Abwechslung, damit es nicht ganz nach Neubausiedlung aussah. Er hielt den Wagen vor einem zweistöckigen grauen Haus mit breiter Rasenfläche ohne Zaun wie in der Vision eines Landschaftsarchitekten von suburbanem Grün. Am Strand darunter plätscherte eine perfekte kleine Welle über eine Sandbank, die letzte Woche noch nicht dagewesen war und zweifellos nächste Woche wieder weg sein würde: sie war durch den Regen angespült und von der ablandigen Küstenströmung noch nicht abgetragen worden. Alles schien ruhig; im Wasser waren keine Einheimischen. Die Dünung kam von weit her, völlig ohne atmosphärische Störungen wie ein Anruf aus Übersee mit perfekter Verbindung.

«Sollen wir uns woanders umsehen?», fragte Vince. «Oder einfach die Ängste des Tages im Keim ersticken?»

«Ersticken», sagte Willie.

Vince blinzelte nach Norden, als ob man dreißig Meilen weiter die Mündung der Bucht sehen könnte.

«Fang erst gar nicht damit an», sagte Willie. «Ich kann nicht erst um die ganze Welt fahren.»

«Also los.»

Und so war's dann auch; zurück zum Wagen, nackt auf der Straße. Ein Mann in grauem Anzug glotzte uns aus seinem silbernen japanischen Viertürer heraus an, wie wir halb nackt in aller Halböffentlichkeit dastanden, und Vince schüttelte gedankenverloren den Kopf aus Mitleid. «Seht ihr, es macht die Leute fertig, Jungs wie uns zu sehen, die die Gaben des Ozeans genießen, während sie selbst sich umbringen, um die dicke Kohle zu raffen, und das Meer nur nachts hören. Vielleicht noch mal am Wochenende mit der besseren Hälfte im Partnerlook am Strand spazieren gehen und Muscheln sammeln.»

Besorgt sah Willie ihn an. «Hey, hey», sagte er. «Ruhig Blut, Alter. Sind auch nur Leute, die ihr Leben leben.»

«Was ich nur sagen will», beharrte Vince und schüttete den Rest Kaffee in sich rein, «während Frauchen ihrem Männe den Seestern zeigt, ist der in Gedanken nur beim Schmusekätzchen seines Nachbarn.»

«Meinst du?», fragte ich.

«Na, jedenfalls wenn er gesund ist – aber wahrscheinlich hat er's am Herzen.»

«Was hast du heute bloß getrunken?»

Ein Schild blockierte die Holztreppe hinunter zum Strand: «Weg geschlossen, Rutschgefahr bei Regen.» Wir stiegen darüber hinweg, und als wir eine baumbestandene ausgewaschene Rinne hinunterstiegen, rief Vince über die Schulter zu uns hoch, dass er all den Feministinnenquatsch über Arbeit als totale Heuchelei ansah. Man sollte ihm eine Frau zeigen, die sich mit einem Mann einließe, der nicht arbeitet. «Ganz im Ernst», sagte er. «Sogar die glühendsten Feministinnen kommen damit zurecht, weniger als ihr Mann zu verdienen, und auch, genau so viel zu verdienen wie er – auch wenn es sie garantiert hart auf die Probe stellt –, wenn er aber weniger verdient als sie, ist sie weg.» Kein schöner Gedanke, wenn das wahr ist: Susan würde bald befördert werden und dann jährlich zehntausend Dollar mehr als ich verdienen. Wir sprangen von der Treppe auf einen ausgehöhlten Lehmweg durch Farne, Weiden und Eichen; eine üppig bewachsene, stille Rinne mit der hohen Vegetation eines Regenwaldes. Der Regen hatte den Weg fast völlig aufgeweicht, und so rutschten wir den matschigen Abhang hinunter und stiegen über Bachbetten, die sich tief eingeschnitten hatten, die jetzt aber trocken waren. Vince fragte Willie nach Pascales Unzufriedenheiten im Laufe der Jahre, und Willie gab zu, dass es diese gab.

Während Vince vorsichtig um einen öliggrünen Giftsumachbusch herumging, hielt er inne, um darüber nachzudenken. Er gab zu, dass er Fran nicht genug Achtung entgegenbrachte. Mir fiel ein, wie ich Vince einmal draußen auf seinem sonnigen Rasen mein Longboard gezeigt hatte, während Fran in einem Korbstuhl saß und Tschechow las. Irgendwann einmal sah sie auf, und verborgen hinter ihrer schwarzen Sonnenbrille fragte sie mich geistesabwesend, ob ich schon einmal auf einem Longboard mit Doppelfinne gesurft sei. Und das von einer Doktorandin in Philosophie, die nicht einmal Krocket spielte – geschweige denn jemals surfte – und weder überhaupt wusste, wie sich ein Longboard mit Doppelfinne verhielt, noch sich dafür interessierte. Doch in ihrem Ton war keine Spur von Ironie oder Spott; sie machte sich nicht über unsere Kleinejungenspiele lustig. Sprachbegabt wie sie war, hatte sie einfach den Jargon gelernt, ihn als einen wichtigen Bestandteil des Mannes, den sie liebte, angenommen, und die Frage dem neuen Freund ihres Mannes aus Höflichkeit gestellt.

Die Rinne führte auf den langen, offenen Strand, der voller Treibholz lag und nach Seetang roch. Die Wellen schimmerten milchig grün; rasche, kleine Abfolgen, auf denen wir uns abwechselten. «Und los geht's», sagte Vince und nickte Willie und mir zu, als er erneut lospaddelte: «Religiöse Fanatiker am Werk!» Mehrere Stunden später gingen wir todmüde zum Auto zurück und fuhren in ein mexikanisches Restaurant zum Mittagessen; stabile Fahrräder mit breiten Reifen lehnten an einer Bank, von der Terrasse sah man über die blaue Bucht, in die der Südpazifik rauschte, und die Restaurantbesitzerin brachte uns Tacos mit Kabeljau und hausgemachter Salsa, schwarze Bohnen, Chips und Bier mit Zitronenschnitzen. An einem anderen Tisch saßen drei junge Surfer-Paare, jedes mit einem ganz kleinen Baby. Ein großer Mann mit vorspringender Nase und Adamsapfel sah etwas verwirrt und glücklich drein, drehte seinen Kaffeelöffel zwischen den Fingern und erwähnte einen weiteren Surfer-Bekannten, der gerade Vater geworden war. Nasal gedehnt, die Augen halb geschlossen sagte er: «Jeeeda hat jetz eins.»

Als ich Mango-Habanero-Salsa auf meinen letzten Taco löffelte, musste ich an Susan denken und wie sehr sie sich wünschte, dass die Dinge, die wir zusammen unternahmen, mir denselben Kick gaben wie das Surfen.

«Na ja», sagte Willie, «sie hat's wohl auf den Punkt gebracht. Du wünschst dir wahrscheinlich dasselbe.»

«Genau das habe ich ihr gesagt.»

«Du hast ihr das gesagt? Mann, echt abgebrüht.»

«Genauer gesagt», fuhr ich fort, «lautet ihre Lieblingslitanei zurzeit, ich wolle geradezu, dass sie vom Surfen genervt sei.» Es stimmte – sie hatte mich durchschaut. «Sie hat jetzt die fixe Idee, sich über mein Surfen aufzuregen, würde mir erlauben, mich rebellisch und männlich zu fühlen, und sie würde mir somit etwas liefern, über das ich mich dann bei euch beschweren könnte.»

Willie nickte bestätigend und zog sein Hemd aus. An der Küste Kaliforniens gibt es diese seltene mittwinterliche Wärme, für die man einfach nur dankbar ist: sanft, zugleich kühl und warm, eine völlig unbedrohliche Sonne, smogfreier Himmel so klar, dass wir in der Ferne windzerzauste Bäume entlang der Santa Lucia Mountains erkennen konnten.

«Mann», sagte Vince, versunken in den Anblick einer erstaunlich großen Reihe blauer Wände, die von der Klippe abdrehte und über die ganze Bucht Bögen zog. «Oh, là là… die sind ganz schön breit gezogen.»

«Jungs, seid ihr bereit für das Familien-Psychodrama?», fragte Willie, die Hände über dem gebräunten Bauch gefaltet. «Bei dem du als Baby zwischen deine Beine schaust», er führte es vor, «und dann dasselbe bei Mama, und da hast du dann ein Problem am Hals –, la différence. Du weißt Bescheid, Dan, oder? Die Wunde der Männer?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Deine Mama ist zu der Zeit deine ganze Welt, stimmt's? Dein Universum. Und da musst du feststellen, dass du anders bist. Offenbar haben Frauen dieses Problem nicht, denn sie werfen nur einen Blick auf Mama und sagen, hey, wir sind gleich, du und ich. Nicht nötig, dass sie ihre Existenz weiter rechtfertigen.»

«Lasst uns zahlen», sagte Vince und versuchte, die Aufmerksamkeit der Kellnerin auf sich zu ziehen.

«Seht ihr, beim Surfen kommt die Wunde ins Spiel», fuhr Willie fort. Er bediente sich aus unserem dritten Körbchen Tortilla-Chips. «Das große Loch, stimmt's? Diese Leere im Innern der großen Wunde, na, sie muss halt ausgefüllt werden.»

«Hat dich Pascale damit indoktriniert?», fragte Vince und zog seine Brieftasche heraus.

«Nein, nein», beharrte Willie. «Weißt du, die Theorie besagt – und du musst dich damit befassen, Vinnie. Ich meine, eine Wunde? Du könntest letzten Endes den Opferstatus für dich in Anspruch nehmen! Hör zu, der Mann zieht aus diesem klaffenden Loch unerschöpfliche Energie für intime Obsessionen», er sah uns beiden in die Augen, «und das trifft wohl auf ein paar der Jungs, die wir kennen, zu: besessen von nicht-menschlichen Aktivitäten … von gedanklichen Systemen … und warte, Vinnie. Wechsel jetzt nicht das Thema, wir alle sehen, wie sich die Wellen auftürmen. Gib's einfach zu. Du bist ein ziemlich verwundeter, kaputter Typ, oder etwa nicht?»

Vinnie rieb sich die Augen.

«Und du, Dan?»

Ich nickte. Absolut verwundet.

«Darum kann die Frau», sagte Willie und stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch, «wahrscheinlich keinen Bezug zu deinem Bedürfnis haben, dein Ding ständig durchzuziehen. Sie hatte nie eine solche Wunde. Sie musste sich nie sagen, hey, mio isolato. Einfach nur: ‹Mama sieht aus wie ich, die Welt sieht aus wie ich.› Sie holen sich weiter all die Intimität von anderen Menschen. Insofern ist ihr Blick auf etwas anderes gerichtet als …»

«Surfen.»

«Surfen oder Physik oder Segeln oder was immer… Gott noch mal, das ist echt eine Wahnsinnswelle.»

Vince erhob sich von seinem Stuhl: «Können wir jetzt gehen?»

Tortilla-Chips aufgegessen, Rechnung bezahlt, Kekse und Kaffee beim nächsten Straßenstand besorgt, und ab geht's direkt zum Point, den schönen Lehmpfad hinunter mit all dem nassen Grün, reines Chi am Wegesrand: hochaufgeschossenes Fuchsschwanzgras, lila und weiß blühender wilder Rettich, kleine blaue Glockenblumen und wuchernde Senfpflanzen zwischen Brombeersträuchern. Eine Staude wies sechs perfekte, voll aufgegangene Mohnblüten auf, jede mit vier orangefarbenen Blütenblättern, die ein leuchtendes, wirbelndes Feuer aus orangen Staubgefäßen einfassten; alle zuoberst auf einem einzigen grünen Stängel mit kleinen violetten Scheiben direkt unter den Blüten – wahnsinnig zart und perfekt. Und das Beste von allem: Es ging keine Brise, sodass die Wasseroberfläche still dalag und der Nebel sich verdichtete. Windstille Wärme gibt es in jedem Frühling und Herbst nur ein paar Tage lang; insgesamt zehn solche Tage, vielleicht zwölf, im Jahr. Sie machen einem bewusst, wie geschäftig es sonst an der Küste zugeht: Der Himmel hetzt von einem Ort zum anderen, gierig saugt sie den Nebel ein oder holt einen Sturm von weit her, der dann genau hier losbricht… wie ausgedörrt sind ihre Pflanzen im Sommer, wie matschig und durchnässt mitten im Winter. Diese Tage waren die drei Prozent des Jahreszyklus, in denen die Küste einmal nicht im Begriff war, sich hastig zu verändern und einfach glücklich und lebendig blieb.

Und als wir uns dem Bahndamm näherten, sprang ein großer Luchs mit kurzem Schwanz und dicken Hinterbeinen aus dem Gebüsch, überquerte die Straße und blieb dann stehen. Er sah über die Schulter zurück zu uns mit seinem flachen Gesicht und den spitzen Ohren, so wie Katzen dies oft tun: Sie greifen nicht an, aber sie sind zum Sprung bereit. Er machte noch einen Schritt auf die Schienen zu und war verschwunden.

«Jungs, seht euch das an», murmelte Vince, als die Wellen in Sicht waren, «das Meer kriegt Gänsehaut.» Er fing an, seine Klamotten abzustreifen. «Seht-seht-seht-nur! Oh, die reinste …»

«Sag's nicht», bat Willie.

«Aber warum nicht?», jammerte Vince.

«Bitte.»

«Muschi?»

«Du blöder Hund!»

In voller Montur kletterten wir die Klippe entlang hinauf zur Plattform und standen da wie auf dem Bug des Kontinents, ein Bug, der sich seinen Weg durch die entgegenströmende See bahnte. Bei der absoluten Regelmäßigkeit der Wellenformen und Klarheit der Wellenlinie fühlte sich der Moment ziemlich genau so an, wie ich mir das in den Monaten erhofft hatte, in denen «die Dünung keinen Sinn ergab». Der Moment, wenn der Ort, dem du so viel Liebe entgegengebracht hast, wenn das Riff, das du so intim kennen gelernt hast, endlich die perfekte Sprache sprechen, von der du wusstest, sie können sie sprechen. Wir warteten auf eine lange Flaute, da es eine Katastrophe wäre, von einer dieser Wellengruppen erfasst zu werden. Als es so weit war, sprangen wir und erreichten trockenen Haupts die äußerste Spitze. Die Wellen waren ungefähr dreimal so hoch wie ich, aber das Wasser war so weich und die Wellen so rein, dass man mit gleichmäßigen Stößen vorankam, weitergleiten, aufstehen und schreiend die lange Fläche hinabsausen konnte. Wenn man zum Fuß der Welle kam, musste man die Kante des Boards schräg ins Wasser neigen und alle Energie dazu nutzen, die Wellenwand wieder hochzukommen und in langen, offenen Bogen kreuz und quer über die Bucht zu surfen. Die Dünung baute sich den ganzen Nachmittag über auf, und es kam zu keiner Fortsetzung unseres Gesprächs: Zu selten trafen wir an derselben Stelle zusammen, viel zu vieles, an das zu denken war, nichts, worüber man sich hätte beklagen und austauschen wollen. Die langsam untergehende Sonne verwandelte die Welt nach und nach in einen gläsernen Planeten aus hochrotem Dunst, und die einsetzende Ebbe verschob den Ausgangspunkt immer weiter hinaus aufs Meer: Von hinten bildeten die Wellenrücken, die auf die Küste zurollten, meilenlange Wände aus lichtdurchlässigem Kristall. Als die größeren Wellengruppen einsetzten, erschienen sie zunächst als dunkle Unregelmäßigkeiten in der Ferne. Vince wusste genau, wo sie sich brechen würden, und hielt ihnen jedes Mal stand; widerstand der Versuchung, den hereinkommenden Wellen entgegenzupaddeln und somit hinein in die Sicherheit, die hinter ihnen lag. Als es schon fast dunkel war, sah ich, wie Vince die Vorderseite einer Welle hinabglitt, die ihn winzig klein erscheinen ließ, und ich brauchte lange, um über sie hinauszugelangen. Konzentriert, wie er war, winkte er mir nicht zu, aber er grinste im Vorüberfliegen. Als ich selbst meine letzte Welle gesurft hatte, fühlte es sich an, als stiege ich mühelos aus einem Zug bei hoher Geschwindigkeit, und ich ging als Letzter an Land, gerade als die Sonne unterging. Auf dem Grasstreifen erzählte Willie Vince, er müsse dringend nach Hause, da er zwei Heilbuttsteaks im Kühlschrank liegen habe, die er zubereiten wolle, ehe Pascale von der Arbeit heimkam. Ehe ich mich umzog, saß ich eine Weile da, blickte über meine Lieblingsbucht und empfand etwas, was man im Leben nur selten empfindet, das Gefühl, dass ich präsent und vorbereitet war für einen Moment der … – was war gleich das Wort? Überfülle?»

«Die Wunde», dachte Willie gerade laut, splitternackt in der Dunkelheit neben seinem am Boden liegenden Brett.

«Glaubst du, deshalb wird dir dein Board zum Fetisch, Vince? Kastrationsängste?»

Vince sah kurz auf, deutete dann hinaus aufs Meer, wo sich die größte Welle, die wir bislang gesehen hatten, aufbaute und eine Schaumkrone ansetzte. Vince murmelte etwas, was ich nicht verstand, sah weiter der golden vibrierenden Welle über dem Riff zu. Hinter den schwarzen Wolken bog sich die Sonnenscheibe über den Horizont zurück und hinterließ einen orangefarbenen, geisterhaften Schimmer als unbestimmtes Vorzeichen eines heraufziehenden Sturms.

 

Ich war einmal mit einem Freund in einem fast verwaisten Hotel in einem Hochhaus in Wichita, Kansas, in dem es einen heruntergekommenen Tiki-Saal voller Topfpalmen und strohbedachter Bars aus Bambus gab. Als wir nach dem Abendessen durch dunkle, menschenleere Straßen zum Hotel zurückgingen, kamen wir an einem verlassenen Parkplatz vorbei; dort hörten wir das vertraute Klick-Klack schleifender Skateboardhecks und schreddernder Rollen auf dem Beton. Ich verbrachte eine fürchterliche, schlaflose Nacht; unser Zimmer auf dem einzigen belegten Stockwerk pulsierte blutrot im blinkenden Neonlicht der Uhr eines benachbarten Bürogebäudes, einem fast halluzinogenen Leuchtfeuer der Moderne inmitten all der Leere der Hochebene. Am nächsten Morgen spazierte ich hinüber zum Kongresszentrum, um mir die Zeit zu vertreiben, und stieß auf eine Autoaussteilung, die ausschließlich dem VW-Käfer gewidmet war. Dort in Wichitas sterbender Innenstadt – ein Relikt aus seinen Tagen als mächtiges Zentrum der Rinderzucht –, auf diesem Ausstellungsgeschoss tausend Meilen von der Küste entfernt, lag ein gebrauchtes, doppelfinniges Shortboard von 1970 auf dem Rücksitz eines leuchtend gelben Cabriolets. Der Gebrauch des Bretts – sein Leben als funktionelles Instrument – war irrelevant für seinen Status als Talisman für die verträumteste amerikanische Vision von Freizeit. Und das war gar nicht so überraschend, denn schließlich war Wichita die erste Stadt im Landesinnern, in der man Bruce Browns Endless Summer sehen konnte, den erfolgreichsten Surffilm aller Zeiten und der nächste in meinem privaten Filmfestival.

Selbst wenn du den Film nie gesehen hast, weißt du, worum es geht: Südkalifornien, ewige Kindheit – Peter Pan. Bei der Premiere in Santa Monica im Sommer 1964 spielte The Endless Summer sieben Abende vor ausverkauftem Haus. Um zu beweisen, dass sich der Film auch außerhalb von Los Angeles verkaufen ließ, mietete Brown ein Kino in Wichita: mitten im geographischen Zentrum des Landes, mitten im frostigen Winter. Volltreffer. Weiter nach New York und begeisterte Besprechungen – Bruce Brown als «der Bergman der Bretter», «Fellini der Brandung». Newsweek nannte den Film «atemberaubend … eine mitreißende und aufregende Geschichte über das menschliche Geschick, es mit dem Ozean aufzunehmen». The New York Post schrieb, der Film sei «etwas ganz Besonderes … All diejenigen, die nicht seine Schönheit und seinen Nervenkitzel erkennen, haben keine Augen im Kopf», und The New York Times erklärte: «Schwung und Spaß, hypnotische Schönheit und fortwährende Spannung». Mike Doyle fand, er zeige die reine Freiheit des Sports: «Da gibt es keine Klingel, keine Stoppuhren … nur dich, ein Surfboard und das Wasser. Die Surfer im Film schadeten nichts und niemandem. Sie betrieben nur etwas, das sie wirklich liebten, etwas so Einfaches wie die Suche nach der perfekten Welle.» So trivial der Film heute erscheinen mag, The Endless Summer spielte bei einem Budget von 50000 Dollar über 30 Millionen Dollar ein; Bruce Browns hausgemachter Dokumentarfilm hatte nicht einmal Dialoge, nur einen später eingespielten Kommentar, und er brachte ihm ungefähr 8 Millionen Dollar ein. Die Macher früherer Surffilme mieteten sich Säle in Küstenstädten, verkauften Eintrittskarten an der Tür, spielten Schallplatten zu den Filmen und moderierten von der Bühne herab, während die Menge johlte und pfiff. Keine Handlung, kein Sex, keine Gewalt; Robert und Mike reisten einfach in neunzig Minuten um die Welt und verhielten sich in den wildesten und fremdesten Kulturen genau so, als seien sie immer noch in Malibu. Absolut kein mystischer Unterton von Wahrheitssuche – einfach der Hedonismus der Fünfziger mit gesundem, entspanntem Spaß.

Viel von dem Charme, der The Endless Summer ausmacht, liegt in dem Gelächter der vom Surfen verblüfften und aufgekratzten Leute, in den Sequenzen fröhlicher Kinder aus dem Senegal, die mit Surfboards spielen, herumtollen und gelegentlich einmal auf die Füße kommen. Der Film zeigt eine sehr ansprechende Vision von globaler Gemeinschaft, geprägt vom kalifornischen Sinn für Spaß. In einer Szene paddelt eine Gruppe von Senegalesen in einem kunstvoll geschnitzten Kanu hinaus, um Netze zum Fischen auszuwerfen. «Sie sprachen kein Englisch», erklärt der Erzähler, «und Mike sprach nicht ihre Sprache, so paddelten sie heran und sagten so etwas wie ‹Unga wamungi wungo›. Mike lächelte und erwiderte: ‹Yeah, Mann, häng zehn.› Das fanden sie toll. Sie paddelten weiter und sangen: ‹Häng zehn, häng zehn.›» Später stehen sie dann alle lachend am Strand, die Senegalesen um die Amerikaner herum, und stellen nicht übersetzte Fragen; die Jungs antworten auf Englisch, und beide Seiten vertiefen sich in einen fröhlichen, zu nichts führenden Austausch. Spielen transzendiert nicht nur die Kultur, sondern die Sprache selbst. Mit den Augen der 1990er Jahre gesehen, ist die koloniale Dummheit der 60er Jahre peinlich: Zwei gesunde, wohlhabende Jungs aus dem Westen auf einer unvergleichlichen Reise des Kulturimperialismus – die ganze Welt ist ihr Vergnügungspark. Im Flugzeug nach Afrika überlegt Robert, ob sie wohl Brandung vorfinden, sich Malaria einfangen, von den Speeren der Eingeborenen durchbohrt würden. In Nigeria jagt ein schwarzgesichtiger Eingeborener sie durch «einen Dschungel mit allem Drum und Dran, sodass sie jeden Moment erwarten, Tarzan an einer Liane heranschwingen zu sehen»; und in einem senegalesischen «primitiven Fischerdorf» haben die Jungs Angst, «Surfen könnte irgendwelche religiösen Tabus der Einheimischen verletzen, sodass sie angreifen könnten». Über diese Fischer, die hinaus auf See rudern, sagt der Sprecher: «Wenn du da draußen bist und sie paddeln auf dich zu, dann denkst du, sie kommen mit ihren Spießen, um dich zum Abendbrot zu verzehren.» Die Burschen in ihrem Kanu haben keine Schwierigkeiten, ein paar Wellen zu ergattern, und tragen natürlich alle T-Shirts und Jeans. Eine Welt, die kurz davor steht, durch soziale und militärische Konflikte in Trümmer gelegt zu werden, gibt sich vor My Lai und Watergate fröhlich einer letzten Phantasie von einer Pax Californica hin.

Und vielleicht verspürte ich etwas von dieser Phantasie, als ich zum ersten Mal auf einem Surfboard stand. Ich war zwölf, mitten im Nebel Südkaliforniens; Dad und ich waren von Berkeley hinuntergefahren, um mit Onkel Jim zu surfen und auf dem Parkplatz in der Nähe des Atomkraftwerks bei San Onofre zu kampieren. Jim war gerade von einer mehrjährigen Weltreise zurück; er hatte in Indonesien gesurft und war in Nepal gewandert. Ein Typ, der als Teenager in den späten Sechzigern an der Waimea Bay gesurft hatte und sogar an der Banzai Pipeline, ein paar Jahre nachdem dort zum ersten Mal Phil Edwards gesurft hatte. Als die legendäre Dünung von 1969 in der Examenswoche über die Universität in San Diego hereinbrach, hatte sein Zimmergenosse gerade das Studium abgebrochen – drei Tage vor dem Abschluss; er hatte sich bei klarem Verstand eindeutig Prioritäten gesetzt. Und bei San Onofre, obwohl einer der tollsten frühen Surfspots, war es an jenem Abend zu kalt gewesen, um alte Tiki-Hütten, Ford-Trucks und Longboards aus Redwoodholz und damit die Atmosphäre der Zwanziger und Dreißiger heraufzubeschwören; zu viel Asphalt, als dass man das New Polynesia, das es einmal war, noch hätte spüren können. Trotzdem bereiteten Dad und Jim auf einem Campingherd Quesadillas zu, schenkten dem Jungen einen kleinen Jack Daniel's ein und sprachen über das Wasser. Ich war ein blasser Stadtjunge, mehr an elektrischen Gitarren interessiert als am Meer, war aber Feuer und Flamme, als Dad sich an sein Bodysurfen in Windansea erinnerte – keine Menschenseele draußen, das Wasser warm und klar. Mein Vater ist einer der besten Geschichtenerzähler, denen ich je zugehört habe, und als wir aßen, beschrieb er den Sonnenuntergang, den die beiden Brüder vom Wasser aus beobachteten, und wie er nach vielen Stunden des innigen Gleitens auf den Wellen beschlossen hatte, den Sonnenuntergang aus einem anderen Blickwinkel einzufangen. Er tauchte zwei bis drei Meter tief hinab und drehte sich dann auf den Rücken, sodass er sehen konnte, wie das rosa Licht der Abenddämmerung meergrün durch die wogenden Stiele der Kelpwälder sickerte.

«Sofort nach der Highschool», fuhr Dad fort, «haute ich ab nach Hawaii. Ich war zwar kein großer Surfer oder so, wusste aber, dass da drüben etwas los war.» Sein Onkel Johnny Morrissey war in Pearl Harbor stationiert; Dad hatte erfahren, dass Angehörigen der Navy gratis Surfboards zur Verfügung gestellt wurden. «Also nahm ich einen Bus durch die Zuckerrohrfelder, und ich weiß noch, wie mich dieser riesige Scheiterhaufen schockierte, der da in der Hitze loderte und auf dem die sterblichen Überreste japanischer Zuckerrohr-Arbeiter zurück nach Japan gesandt wurden. Ich lernte Surfen, Sporttauchen, erlegte einen Aal mit dem Speer. Aber um euch zu zeigen, was für ein Idiot ich doch war, folgendes: Ich lernte auf einer Navy-Party Miss Waikiki kennen, und sie rief mich um nächsten Morgen an und sagte: ‹Hör mal, ich habe heute den ganzen Tag ein Auto zur Verfügung… wir könnten zur anderen Seite der Insel fahren und ein Picknick machen.› Wisst ihr, was ich erwidert habe? ‹Weißt du, das wäre echt toll, aber hier bekommt man diese Surfboards, und … na ja, also … tut mir wirklich Leid.› Während ich so dasaß und zuhörte, musste ich daran denken, dass ich am Nachmittag auf die Füße gekommen war; genau wie den kleinen Burschen am Pleasure Point durchzuckte es mich plötzlich: Himmel, ich kann's! Ich surfe tatsächlich! Und jetzt war es für mich von Bedeutung, dass mein Vater damals in Hawaii gesurft war; ich ertappte mich sogar bei dem Gedanken, dass ich ihm wünschte, er wäre dort geblieben und hätte sein Leben lang so gelebt – etwas, das er gar nicht für sich wollte.

Eine halbe Stunde Autofahrt liegt zwischen Berkeley und dem nächstgelegenen Surfspot, und der ist nichts für Anfänger. Die Alternative an Land war, mit dem Skateboard Asphalt zu schreddern oder durch leere Swimmingpools zu heizen. Tim Heathcliffs Mutter korrigierte Hausarbeiten in einem Diner, während wir über Betonwellen ratterten und durch tiefe Senken sausten, Freestyle Bowls, Buckelpisten und Slalomparcours fuhren, glatte Wände entlangschossen, uns in die Tiefe stürzten und wieder herauf. Als Tim merkte, dass blaue Cordhosen für 35° C Hitze im Central Valley nicht sonderlich gut geeignet waren, skatete er runter zum Einkaufszentrum, machte einen Bogen um den Diner, stahl eine Schere und – Bingo – kam in Shorts wieder. Wenn man rief: «Dropping in», hieß das, eine Senke zu durchqueren; mit zwölf wiederholte ich das abends im Bett. «Dropping in!» war das Geltendmachen einer Zugehörigkeit – ich gehöre dazu. Einer wirkenden Kraft – ich tue. Sommernachmittage auf einem Tennisplatz auf einem Dach, wo wir Sperrholzplatten am Drahtzaun festgezurrt hatten, um die ansteigende Betonkrümmung zu verlängern: Schwung holen, die Wand hoch, drehen und wieder runter. Wie über den Rand der brechenden Welle. Dann fünfundzwanzig Cents und den Nummer-7-Euclid-Bus rauf zu den Hügeln von Berkeley, im Gepäck eine Hand voll Doughnuts und so energiegeladen, dass wir alles hätten bewegen können. Wir bretterten schmale Bürgersteige hinunter, zogen enge Kurven. Im Handumdrehen konnte man in den Petunien von jemandem landen. Wieder in der Innenstadt, rein in den Shuttlebus – gratis für Studenten der Universität und Zwölfjährige mit Skateboard – und hoch zum Campus. Wenn es dunkel wurde, stiegen wir aus dem Bus, rauchten im Gebüsch einen Joint, richteten unsere Bretter hügelabwärts und überließen uns der Schwerkraft. Surfer sagen: «Gott muss ein Surfer sein»; der Architekt der Universität in Berkeley muss ein Skateboarder gewesen sein. Fast eine Meile lang schlängelten sich makellose Asphaltwege durch gepflegte Rasenflächen. Kalte Luft im Gesicht, die Jeans vom Sandpapierstreifen auf dem Brett schon durchgescheuert. «Roller!» – ein Bullenwagen lauerte irgendwo vorne im Schatten, und das Wort flog von Mund zu Mund. Wir brachen zur Seite hin ins Gras aus, purzelten übereinander und rutschten über den feuchten Rasen.

Asphalt aber ist hart: der Fuß eines Kids wurde in einer Senke völlig nach hinten verdreht; Adam Crowley brach sich das Bein («Mann, du hättest es sehen sollen, der ganze Knochen stand raus. Also, ich kann ihn zwar nicht ausstehen, aber irgendwie tat er mir doch Leid»); Skateboard-Held Ivor Brown sprang von einem großen Hügel, um seinen Schwung auslaufen zu lassen, schlug mit den Hacken gegen seinen Hintern, fiel herunter und glitt auf dem Kinn über den Boden wie ein Schlitten aus Fleisch. Also bremste ich an Kreuzungen ab, war feige und schaute nach rechts und links. Reed Deleuth, ein Wahnsinniger wie aus dem Comic und später Geschwindigkeitsfreak in Hell's Kitchen, erzählte mir, wie er den Verkehr an einer Kreuzung sah. «Ich scheiß auf sie», sagte er, durch und durch Kalifornier, «wenn sie mich anfahren, verklage ich ihren Arsch und werde reich.» Und natürlich einer, der dabei blieb; Luke Marcus, professioneller Teenager und Skateboarder, wurde Cross-Country-Skirennfahrer und zog in eine Stadt hoch oben in der östlichen Sierra Nevada. Als Endorphin-Junkies und strenge Vegetarier liefen er und seine Frau an den meisten Samstagen zwanzig Meilen in großer Höhe und legten die fünfzig Meilen von Mammoth nach Yosemite einmal auf Skiern an einem Tag zurück. An Wochentagen folgte sie ihm um zwei Uhr morgens mit dem Wagen, während er fünfzehn Meilen lang und weit über tausend Höhenmeter zurücklegend auf dem Skateboard den Asphalt der June Lake Road hinabbretterte, durch die pinienduftende alpine Luft flog, sich in weite, sanfte Biegungen legte und die Wellen im Kontinentalriff bis hinunter in öde Wüstenlandschaften ritt. Und als ich endlich einen Führerschein hatte, fuhr ich über die Bay Bridge nach San Francisco, vorbei am Golden Gate Park und unzähligen, mit Stuck verzierten Viktorianischen Häusern bis zur Zementpromenade, wo der breite Ocean Beach eine kosmopolitische Metropole von der Wildnis trennte. Prompt wurde ich von der Brandung niedergemacht und zurückgespült, ohne eine Welle ergattert zu haben. Ich saß am Strand zwischen Bierdosen, Transvestiten und Fischern und fragte mich, was eigentlich mit mir verkehrt war.

Den endgültigen Ausschlag gaben dann die Schulausflüge entlang der Küste, Camping an einsamen Stränden und Barbecue im Sand. Der Surf-Mythos hat gewiss Geschichten über die Tapferkeit von Pionieren vorzuweisen – die ersten Burschen, die je an der Waimea Bay surften und damit als Erste den makellosen, tropischen Zugang über das Riff fanden –, aber die meisten Spots sind nicht unbedingt tödlich, also zählen eher Geschichten darüber, wer zuerst das Vergnügen an dieser Welle hatte, wie zauberhaft sauber und menschenleer es war, Geschichten über billiges Benzin und unbebautes Land, ehe du und deinesgleichen kamen und alles verpfuschten. Es ist weniger ein Mythos der Eroberung als vielmehr der Mythos eines Gartens. Das bezeugt der Film Big Wednesday von 1978, in dem das Südkalifornien der Surfer – das meines Vaters und meines Onkels – von seiner Unberührtheit in den Fünfzigern bis in die Siebziger hinein gezeigt wird. Erst war das Paradies, das wir in der «Süddünung im Sommer 1962» verlieren sollten, eine sanft beleuchtete Szenerie mit schönen jungen Männern und Frauen, die am Strand erwachten. Klares Wasser, knisterndes Lagerfeuer, eine Hintergrundstimme, die uns daran erinnert, wie «in den Tagen damals … ein Wind … durch die Canyons wehte … am stärksten vor dem Morgengrauen. Meine Freunde und ich schliefen im Wagen, oft weckte uns der Geruch ablandigen Windes, und wir wussten, dies würde ein ganz besonderer Tag werden.» Unsere drei Helden gehen dann eine brüchige Treppe hinunter zum buchstäblich klassischen Strand: Der tragische, gut aussehende Matt stolpert betrunken voran, während ihn der wilde Leroy aufrecht hält und der blonde, blauäugige Jack Matt auffordert, sich selbst auf den Füßen zu halten. Vor dem roten Abendhimmel zeichnet sich die Silhouette des Tempels ab: eine alte Pier mit einer Hütte, in der Bear wohnt, ein bärtiger, alter Seebär, Guru und Boardschnitzer, Kahuna. Im Hintergrund sieht man unbebaute Hügel und ein Eisenbahnviadukt Symbole für Kalifornien als Eden und ein Flachsblonder erzählt Bear, wie sehr er Matt verehrt; Bear stimmt zu, dass Matt ein großartiger Surfer werden könnte, wenn er dabei bliebe.

«Was meinen Sie damit?», will der Blonde wissen. «Die Jungs sind so begeistert, dass sie immer surfen werden.»

«Niemand surft für immer», verkündet Bear grimmig und bestimmt damit das wahre Thema des Films, während er eine Schicht Fiberglas auf das Balsaholz eines Big-Wave-Boards aufträgt, ein Totem der Macht. Die Jungs fragen, wann das tolle Board eingeweiht werden soll, und Bear erwidert: «Dafür bedarf es eines großen Tages … einer Dünung so groß und stark, einer, die alles wegwischt, was vorher war…» Akt 2, «Westdünung 1965», beendet das Idyll: Jack und seine süße Freundin Sally finden Bear in betrunkenem Dämmerzustand vor, er weint und ist dabei, seine Hütte abzureißen, und dabei betet er die Litanei des Abtrünnigen: «Landeinwärts ziehen … Steuern … Ehe … Scheidung. Die ganze verdammte Chose.» Laut lallt er, dass die Moderne über uns gekommen ist und man der Pier einen Fluch auferlegt. «Ihr werdet unter der Knute eines Rettungsschwimmer-Staats leben», stöhnt er, und prompt beginnt der Film die Leben voller Schmerz und Frustration aufzutürmen, die von Bears prophezeiter großer Dünung weggewaschen werden. Jack wird tatsächlich Rettungsschwimmer und verjagt Matt vom Strand am Tag, als die Einberufung zu einem Krieg eintrifft, dessen Namen der Film nicht nennt. Matt und Leroy täuschen gesundheitliche Untauglichkeit vor, aber Jack bekennt sich zu seiner Pflicht gegenüber Gott und Vaterland. Matt gründet eine Reinigungsfirma für Swimmingpools und heiratet seine schwangere Freundin, und Leroy zieht nach Hawaii, um seinen Traum zu verwirklichen. Aber genau wie Bear vor so langer Zeit versprochen hatte, kann das Meer (fast) alles zurückbringen, was wir verloren haben. Jack kommt als Offizier und Gentleman aus dem Krieg zurück (aber Sally hat nicht auf ihn gewartet), Leroy kehrt als heldenhafter Surfer von den Inseln heim, und «Die große Dünung 1974» bringt die große Lebenswende und die große Dünung, die Bear vorausgesagt hat. Die Reiter sitzen wieder auf: Der ergrauende Matt hebt auf der Großen Welle ab und schwebt durch eine tödliche Tube nach der anderen, bis eine Wand aus Wasser über ihn hereinbricht und ihn in einer Unterwelt aus Schaum und Luftblasen ertränkt. Jack und Leroy springen herbei, um ihn zu retten; und einander eng verbunden durch ihre Jugendfreundschaft halten die drei in die Jahre gekommenen Surfer auch im sprichwörtlichen Strudel des Lebens zusammen.

Der Surfer hält sich auf der Hitliste der größten amerikanischen Charaktere ganz oben, zusammen mit dem Cowboy und dem Puritaner, und er gilt als ziemlich blöde. Nehmen wir Jeff Spicoli, gespielt von Sean Penn, in Fast Times on Ridgemont High von 1985: ein unbekümmerter, ohne viele Worte handelnder Sklave seiner Sinne (zugleich aber auch liebenswert und sehr witzig). Oder, noch bezeichnender, die in den Medien häufig gebrauchte Bezeichnung für den Zeugen Brian «Kato» Kaelin im O.J.-Simpson-Prozess: der «Inbegriff des alternden Surfers». Das Magazin Surfer berichtete, Kaelin aus Milwaukee habe noch nie auf einem Surfboard gestanden; offenbar bekam er von der Presse den Titel, weil er blond war und sich nicht ausdrücken konnte. Auch für Tom Wolfe ist der Surfer eine leicht zu treffende Schießscheibe. Nach dem Erfolg seines ersten Buchs The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby unternahm Wolfe die Art journalistischer Pilgerfahrt, die die Betroffenen immer zusammenzucken lässt; einen Bericht über unsere exzentrischen Provinzler. Wolfes Surfer in The Pump House Gang (1968) führte eine ganze Truppe von Exzentrikern an: die vollbusige Carol Doda, Hugh Hefner vom Playboy, Prominente aus England, die sich unstandesgemäß amüsierten. Die Verachtung von Teenagern für alle Älteren – darunter wahrscheinlich auch für den sich in seinen Dreißigern befindenden Tom Wolfe selbst – beherrscht den Text; die einzige Beschreibung des Surfens stammt von Jackie Haddad, «Tochter eines staatlich geprüften Buchhalters». Anstatt es selbst einmal zu versuchen, exzerpiert er ihre Geschichte voller Verachtung und erzählt uns, sie «schrieb es nur für sich unter dem Titel ‹Meine ultimative Reise›». Eine schöne Beschreibung von Windansea, die aber für Wolfe nur Lokalkolorit ist. Er hingegen beschreibt zwei Burschen im Wasser, die «hinaus aufs Meer starren wie phrygische Küster, die auf ein Zeichen warten», und sogar das reduziert er auf ein gesellschaftliches Merkmal: keine Beschäftigung mit einem eigenen Wert, sondern nur «ein Boot mit Glasboden», das über die ‹reale› Welt treibt». (Surfboard-Neid?) Wolfe schreibt auch, dass die Surfer «das Mysterium des ‹Oh so mächtigen, kolossalen Pazifischen Ozeans und alles›» als «mysterioso» bezeichnen, und doch kommt es ihm überhaupt nicht in den Sinn, dass dies mehr als eine Pose sein könnte. Er erzählt die Geschichte von Bob Simmons' Tod im Wasser als ein Beispiel für die Faszination, die das Unbekannte auf die Jugend ausübt. «Das mysterioso Ding», lässt Wolfe sie denken, «war, wie Simmons überhaupt sterben konnte. Wäre er einer der alten verspotteten Erwachsenen gewesen, hätte er sicherlich getötet werden können. Aber Simmons war genauso alt wie man selbst, er gehörte zu der Art von Jungs, die in der Pump-House-Gang waren, er war … immun, war ein Teil des Musters, konnte das ganze Oh so mächtige, kolossale Meer spüren, musste es nicht Schritt für Schritt durchdenken. Aber er wurde ausgelöscht und getötet. Sehr mysterioso.»

Übergehen wir die Tatsache, dass Simmons wirkliches Handicap sein kranker Arm war und nicht, wie Wolfe berichtet, sein krankes Bein; vergessen wir, dass Wolfes «Simmons Boy» nicht nur nicht im selben Alter wie man selbst war, als er starb, sondern fünfunddreißig; mit Wolfes Worten: selbst ein Panther. Lassen wir außer Acht, dass Wolfe offenbar nicht wusste, wer Simmons war oder dass er vierzehn Jahre vor Wolfes Worten gestorben war. Wolfes wahrer Irrtum ist, das Staunen der Surfergemeinde als Eitelkeit auszulegen: der legendäre Surfer Robert Simmons, der jahrelang in seinem Wagen wohnte und den ganzen Staat hoch und runter surfte, war tatsächlich Teil des ganzen Musters und musste wirklich nicht alles Schritt für Schritt durchdenken. Das ist kein Mysterium, sondern die Kenntnis des Wassers aus lebenslanger Erfahrung. Und zu sagen, dass ein Panther – ein Tourist mittleren Alters aus einem von Land umschlossenen Staat – wahrscheinlich eher in einer Riesenwelle ums Leben käme als ein Mann, der sein Leben dem Verständnis des Meeres gewidmet hat, ist weder eine Frage des Alters noch Fremdenfeindlichkeit, sondern einfach gesunder Menschenverstand. Wolfe hätte wissen müssen, dass man in einem Interview im Umkleideraum wenig über Baseball erfährt; warum will man nicht zulassen, dass Surfer, wie so viele von uns, sich über die wichtigsten Dinge in ihrem Leben nicht zu äußern vermögen? War er denn überhaupt nicht neugierig zu erfahren, was sie tatsächlich im Wasser machten? Hatte er keine Bedenken, nicht einmal einen von ihnen beim Wellenreiten zu beschreiben? C. R. Stecyk schreibt in The Surfer's Journal, dass Wolfe bei seinen Nachforschungen über die Westküste als typischer Mann von der Ostküste erst einmal nach Malibu ging. Ein klug ausgesuchter Ort für einen Exklusivbericht über das Surfen; besagte Gidget und die Beach-Party-Filme hatten Malibu bereits weltberühmt gemacht. Doch als der New Yorker in seinem weißen Anzug hinunter zum «Abgrund» spazierte, wurde er «begrüßt wie alle Außenseiter», schreibt Stecyk. «Er wurde kurzerhand mit Kieseln, Flaschen und menschlichen Exkrementen bombardiert.» Sicherlich ein erbärmliches Verhalten, aber es erklärt Wolfes Groll gegenüber den Jüngeren, die Wut des ultimativen Insiders über seine eigene Irrelevanz; man mag sich fragen, warum Wolfe uns nicht selbst etwas darüber erzählt.

Auf jeden Fall sollte man noch erwähnen, dass Wolfe Material übersehen hat, das für seine Zwecke äußerst tauglich gewesen wäre. Wäre er ein bisschen länger in Malibu geblieben, hätte er den unumstrittenen King, die graue Eminenz des Surfens der 60er Jahre kennen gelernt: Mickey «Da Cat» Dora. Obwohl Dora nicht mehr in den USA lebt, sprayt man bis heute «Da Cat» auf Malibus Hafendamm, und es kommt immer wieder zum Vorschein, wenn es übermalt wird. Mike Doyle erinnert sich, «welch Charisma und welchen Stil» Dora hatte, und der legendäre Riesenwellen-Surfer Greg Noll erinnert sich seiner als «einen Wahnsinnsathleten, der in schönem, geschmeidigem, natürlichem Stil surfte». Doras katzenhafte Geschmeidigkeit und Anmut sticht aus der Malibu-Gruppe heraus und ist in den alten Filmen nicht zu übersehen. Er ist einer der Burschen, die auf Teufel komm raus immer cool aussehen. Er war der Sohn eines Weinimporteurs und hatte seine Ausbildung in Militärakademien erhalten, und er setzte gerne geheimnisumwobene Geschichten in Umlauf. So äußerte er die Vermutung, dass sein Stiefvater, der bei einem Bootsunfall ums Leben kam, ermordet wurde, und beharrte darauf, dass das Attentat auf John F. Kennedy Kaliforniens besten Surfspots den Fluch kleinerer Wellen eingebracht hat. Viel von seiner Bekanntheit erwarb Dora, indem er sich als Purist in Bezug auf die Kommerzialisierung des Surfens gab. In The Surfer's Journal (publiziert als Fiktion, aber in einem redaktionellen Vorwort von Noll als wahr beschworen) erinnert sich Bruce Savage, wie er Dora zu einer Vorführung von Nolls Search for Surf mitnahm. Zu Beginn des Film bemerkte Dora, dass eine hochschwangere Frau vor ihm saß, und er nahm einen großen Feuerwerkskörper aus der Tasche, zündete ihn an und legte ihn unter den Sitz der Frau. Savage schreibt, dass Dora sofort darauf entwischte, die Frau in den Gang geschleudert wurde, wo sie sich in Schmerzen wand, während ihr Mann schrie und schluchzte. Egal, ob die Geschichte wahr ist oder nicht, sie trägt zur Legende Doras bei.

Doch trotz alledem und trotz Doras tatsächlichen Auftritten in Hollywood-Beschiss-Filmen wie Gidget Goes to Rome und Ride the Wild Surf (in dem er als Stuntman erstmals beeindruckend mühelos an der North Shore surft), sieht Greg Noll in ihm immer noch «einen der wenigen Burschen, die ehrlich an ihre Seele glauben und daran, dass sie einen Teil von sich aufgeben, wenn sie eine Verpflichtung eingehen». Noll war natürlich derjenige, der Doras puritanischen Anspruch mit dem Greg-Noll-Surfboard – Modell Mickey Dora, genannt «Da Cat» und kürzlich in großem Stil gefälscht – vermarktete. Eine Werbung – ohne jede Ironie – zeigte Dora an einer Mülltonne, in die er gerade seine Duke-Kahanamoku-Trophäe aus dem Wettkampf von 1966 warf. «Metallener Erinnerungsnippes als schäbige Abfindung», stand auf dem Werbeplakat zu lesen, «um mich in Reih' und Glied und meinen Mund geschlossen zu halten. Solcher Druck von außen wird aus mir nie einen Schoßhund für die tief verwurzelten Kontrollinteressen machen, die den einstmals großartigen Individualsport zu einer kitschigen Karikatur werden ließen.» Ein anderes Werbeplakat riecht nach Nietzsches Geringschätzung des Durchschnittsmenschen. «Ich will keinen verpickelten Teenager in Pratt Falls, Iowa», stand da zu lesen, «der aus Da Cat eine Autoverzierung macht, oder einen Showbiz-Scheißkerl in Malibu, der Da Cat als Couchtisch benutzt. Da Cat ist zu rein und sensibel für den plumpen Kontakt mit einem gelegentlichen Pseudo-Surfer.» Ein drittes Plakat stellte Dora an die Spitze der Evolutionskette und präsentierte ihn in erkennbar faschistischen Begriffen als schlechteren Surfern genetisch überlegen. Etwas von alledem trifft das Herz der Surfer, die eine größere Welt und ihre korrumpierenden Absichten verabscheuen; es war genau die Art von Fremdenfeindlichkeit, die ich genoss, wenn ich mit Vince herumfuhr und zuhörte, wie er über die Barneys auf der anderen Seite des Hügels fluchte, die per Autotelefon ihre Einschätzung der Brandung an befreundete Software-Techniker weitergaben, oder über die Johnny-come-lately-Typen, die glaubten, ein Recht zu haben, am Point zu surfen (irgendwie war mein eigener Status noch nicht zur Sprache gekommen). Solche Gefühle mögen einfach nur die gewöhnliche menschliche Rivalität aufzeigen, scheinen aber auch mit dem Preis verbunden, den jeder hingebungsvolle Surfer gezahlt hat. Bei so viel Hingabe für so wenig materiellen Gewinn oder Status kommt jeder Gelegenheitssurfer einer Anmaßung gleich, der all die investierte Zeit in ihrem Wert zu mindern droht.

In Surfers, the Movie erklärt Dora seine Abneigung gegenüber dem modernen Leben: «Ich kann auf der nördlichen Hemisphäre nicht leben. Ich muss weit zurück in die Zeit, als all diese Tiere, all dieses Leben, die Austern, die Schalentiere, das Ganze ein Teil dieses Geruchs war, Teil dieses Mittelpunkts … Die ganze Herrlichkeit des Wellenreitens ist dieses lebendige Wesen, die Kommunikation zwischen dir und der gesamten Wirklichkeit und Existenz auf diesem Planeten.» Die Verbindung zwischen Natürlichkeit und Xenophobie tritt in einer weiteren Facette von Doras zweifelhaftem Anspruch auf Ruhm klar zu Tage: als archetypischer Surf-Nazi. Jahrelang hatten Surfer mit dem äußerlichen Firlefanz des Nazismus gespielt. In den 1930ern warb «The Swastika Surfboard Company» mit Plakaten im Stil des Realismus für ihre mit Hakenkreuz verzierten Bretter, und 1959 berichtet C.R. Stecyk in The Surfer's Journal, der amerikanische Meister im Surfen, Jack Haley, und sein als «Wehrmacht» kostümiertes Gefolge seien barfuß im Gänsemarsch ins Point Loma Theater einmarschiert, hätten sich hingesetzt, Böller angezündet und «Sieg heil» gerufen. Stecyk erklärt den Nazi-Fimmel der Surfer zur harmlosen Spielerei mit dem Kram, den alle Väter aus dem Krieg mitgebracht hatten – Schwerter, Helme, Offiziersuniformen der Deutschen und Noll sieht Doras Bemalung der Surfboards mit Hakenkreuzen im selben Licht: Er tat es, weil er wusste, dass es die Leute ärgern würde. Das hat sicherlich eine gewisse Plausibilität, da die Täter zumeist Kids waren, die wenig über den Holocaust wussten. Aber Mike Doyle erinnert sich auch daran, dass Dora zum Tennisspielen nach Beverly Hills kam – wo viele Juden wohnen – und dabei einen langen Trenchcoat voller Nazi-Kriegsorden, eine Militärmütze und ein Hakenkreuz an einer Halskette trug. Und auch an Doras Plan, die Strandhütte in San Onofre niederzubrennen und Hakenkreuze auf die Schuppen zu malen – um dem Inselstil seinen Surfnazismus entgegenzusetzen –, konfrontierte die ursprüngliche, ethnische Surferästhetik mit weißer Überheblichkeit und Arroganz. Doyle schreibt, dass Dora 1973 dabei erwischt wurde, wie er ungedeckte Schecks ausstellte. Seine Freilassung auf Bewährung nutzte er dazu, zu verschwinden, und Jahre später wurde er in Biarritz verhaftet und saß ein paar Monate in französischen Gefängnissen, ehe man ihn auswies. (Kurz zuvor hatte Vince ihn in einer Surferherberge in Spanien getroffen, dann noch einmal auf den Kanarischen Inseln; und er erinnerte sich, dass ihm an dem Burschen nicht viel lag.) Nachdem er seine Gefängnisstrafe in den Staaten abgesessen hatte, zog Dora offenbar (ausgerechnet!) nach Südafrika. Viel später wird Dora für Surfers, the Movie interviewt und fasst es so zusammen: «Mein ganzes Leben ist diese Flucht, ist diese Welle, in die ich stürze … und ich kämpfe um mein Leben, riskiere alles, Mann; und hinter mir rutscht mir die ganze Scheiße den Buckel runter… die kreischenden Eltern … schreiende Lehrer, Polizisten, Priester, Politiker, Windsurfer … sie alle fallen hinten runter und zwar kopfüber … auf das verdammte Riff… Rumms! Und ich kämpfe um mein Leben, und wenn die Welle abgeritten ist, ziehe ich einen Bogen, reite eine neue Welle und fange die ganze verdammte Chose von neuem an.»

 

Das Ende des Winters kommt langsam, die Tage werden länger und die Dünungen kürzer, und du fragst dich, wann die gefürchteten auflandigen Nordwestwinde am Nachmittag einsetzen und die Brandung vom Frühlingsanfang im März bis zum Herbstanfang im September ruinieren werden. An einem Tag im späten Februar mit üppig grünem Gras, das noch nicht verbrannt war von der Sommersonne, rief ich meinen Onkel an und erzählte ihm von meiner Theorie, dass Surfen keine Geschichte sei, die man erzählen könne. Ich hatte ihn seit unserer Klettertour im vorangegangenen Sommer nicht gesehen, aber wir telefonierten von Zeit zu Zeit und tauschten uns über die Dünung aus. Ich habe nie jemanden mit solch müheloser Präzision über die Formen und das Verhalten der Wellen reden hören wie Jim, und obwohl er einen knallharten Sinn für Fakten hat, gründet sein Wissen über Wellen auf reiner Erfahrung.

«Nee», erwiderte Jim auf meine Theorie, «das stimmt irgendwie nicht. Die Geschichte darüber ist eigentlich die von der Suche nach dem Gral.»

«Wie der Heilige Gral?»

«Hör mal, eines Morgens wachst du auf mit einem Kater von all dem Mescal, den du in einem Loch in Ensenada gesoffen hast; du fragst dich, warum du unbedingt noch den zweiten Wurm essen musstest, und dann … fällt dir dieser merkwürdige Traum wieder ein, den du in der Nacht hattest. Ja, der Traum, in dem ein irrer Alter vorkam, der an der Bar saß und ohne Ende über perfekte, leere Wellen an irgendeinem geheimnisvollen Spot unten im tiefsten Baja California schwadronierte.» Er räusperte sich, und ich nahm einen Stift zur Hand. «In deinem Traum – war's überhaupt ein Traum?, überlegst du – greift der Alte nach einer Serviette und einem Bleistiftstummel und fängt an zu kritzeln; na du weißt schon: ungefähr zweihundert Meilen einen Sandweg runter, vielleicht links abbiegen bei dem gebogenen Kaktus, bläh bläh bläh, und als du dann aus dem Bett rollst, um nach Aspirin zu suchen, liegt da vor dir auf dem Boden die Serviette! Er machte eine Pause, und wir lachten beide, dann fügte er hinzu: «Also fährst du am selben Morgen los, und nach einer tollen Fahrt findest du vielleicht perfekte Wellen, oder» – seine Stimme bekam einen spöttisch-geheimnisvollen Ton – «vielleicht auch etwas, wonach du gar nicht gesucht hast.»

Die andere Geschichte ist natürlich die von der großen Welle, die ich selbst schon im Kopf hatte. Seit Jahren sah ich mir Bilder von hohen Wellen an und stellte mir vor, sie seien einfach Riesenausgaben all der freundlichen kleinen Wellen, die ich geritten hatte – derselbe lockere Spaß, nur wesentlich mehr davon. Natürlich ist das falsch, und wenn die Suche nach guter Brandung der Suche nach dem Gral entspricht, dann ist die Geschichte von der großen Welle die vom Drachentöter. Der endlose Sommer ist vergessen, die ewige Jugend wird ignoriert, denn für den Drachentöter läuft alles in einem Augenblick der Bewährung zusammen, eine lineare Sage mit unabwendbarem Ausgang. Kein Surfer lebte näher an diesem Mythos als Greg Noll, den Fred Hemmings in seiner wunderbaren Biographie Da Bull, Life over the Edge beschreibt als «einen modernen Mann der Berge wie die legendären Charaktere der Rockies in den Tagen des Wilden Westens … Nicht die Art von Burschen, die sich was aus Quiches machen.» Noll erinnert sich an das Gefühl, «dass es keine von Gott geschaffene Welle gab, die ich nicht reiten konnte. Ich stellte mir die Männer vor, die zu Zeiten von König Artus in die Schlacht gezogen waren und nicht wussten, ob sie leben oder sterben würden, aber vor Zuversicht und Lebendigkeit strotzten …» Ken Bradshaw, ein weltberühmter zeitgenössischer Surfer großer Wellen, bemerkt: «Ich hänge derselben ‹Lehre› an wie Greg. Ich glaube, dass man genau so surfen sollte, wie es von Anfang an gedacht war: der Mensch gegen das Meer» (meine Hervorhebung). Die Riesenwelle, die Noll 1969 in Makaha ritt, steht bis heute für die Erfüllung des Archetypus, die ultimative Story. Noll war bereits legendär als Surfer von großen Wellen, Board-Hersteller und rundum wilder Mann, lebte in Südkalifornien und besaß eine sehr erfolgreiche Surfboardfirma mit -laden und produzierte Surffilme; er war eigens für diese Dünung nach Oahu geflogen, eine, die groß genug war, die seltene, legendäre Brandung von Makaha Point zu produzieren. «Das Wasser war fast so glatt wie Glas», erinnert sich Noll, «und die Wellen waren so hoch, dass sie in mir buchstäblich Gottesfurcht erweckten» – über 15 Meter am äußersten Punkt. Die Polizei sperrte die Straße und evakuierte die Häuser.

«Im tiefsten Innern», schreibt Noll, «wollte ich immer eine Welle reiten, die größer war als alle, auf denen andere bisher geritten waren. Das hier war meine Chance. Nachdem ich ein Leben lang daraufhingearbeitet hatte», erklärt er mit typischer Direktheit, «war endlich der Zeitpunkt gekommen, wo es hieß: entweder scheißen oder vom Pott aufstehen.» Draußen am Line-up, so erinnert er sich, tanzten Wasserperlen auf seinem Board, die von der Wucht der Welle eine Viertelmeile entfernt stammten, wo die brechende Kante der Welle drei Sekunden brauchte, ehe sie unten aufschlug. Über die Welle, die schließlich für ihn hereinkommt, sagt Noll: «Man hätte vor der Vorderseite zwei neunachsige Sattelschlepper übereinander stapeln können und trotzdem noch mehr als genug Platz gehabt, sie zu reiten.» Er vollzieht einen sehr, sehr langen Drop – genau wie er erhofft hatte –, und dann beginnt ein Wellenabschnitt, «eineinhalb Häuserblocks lang», an, sich zu brechen. Die Welle «warf mir eine Wasserfläche über den Kopf und verschlang mich», erinnert sich Noll. «Dann brannte sich im Bruchteil einer Sekunde die ganze Szene in mein Gehirn: Da war ich in dem flüssigen, grünen Hohlraum der Tube … Ich war schon oft in eine große Röhre hinein- und aus ihr herausgefahren, nur war dies hier viel größer und machte mir viel mehr Angst, mit dem Donnergrollen des Meeres, das von den Wänden widerhallte. Mir wurde klar, dass ich nicht am anderen Ende hinaus ins Tageslicht fliegen würde.» Hemmings nennt dies eine «Todeswunschwelle» und sagt, «ein anderer wäre darin ums Leben gekommen». Und als Noll dann erstaunlicherweise unverletzt an Land schwimmt, reicht ihm sein Freund Buffalo ein Bier und sagt: «Gut, dass du die gekriegt hast, Bruder, denn da wär ich nie hinterher gekommen; ich wollte dir schon bye-bye sagen und Aloooha.» Und es passt genau zu der Sache mit dem Drachentöter, dass Noll mit dem Surfen Schluss macht. Der Entschluss legt Zeugnis ab von seinem Verhältnis zum Wasser als auch von der Kenntnis seiner selbst: Er tat, was er tun musste, und widmete sich dann anderen Dingen.

Fünfundzwanzig Jahre nach Noll wiederholte der auf Oahu lebende Mark Foo jene Suche, aber in entgegengesetzter Richtung. Foo war professioneller Surfer, Sportmoderator im Fernsehen und Surf-Journalist, der seine Karriere darauf gegründet hatte, dass er die größten Wellen ritt. Aus diesem Grund kaufte er ein Flugticket von Honolulu nach San Francisco, um für eine große Dünung bei Mavericks, einem Surfspot zwischen Santa Cruz und San Francisco, der für seine hohen Wellen bekannt war, an Ort und Stelle zu sein. Er machte schließlich den richtigen Sturm über dem Pazifik aus, flog über Nacht hinüber und war am Mittag tot. Seine Leiche trieb fast eine Stunde lang im Wasser, ehe man sie nahe der Hafeneinfahrt fand. Laut Jenkins hatte Foo «alles aufgegeben, sogar die Beziehung zu seinen Eltern, um einen zielgerichteten Kampf mit den großen Wellen aufzunehmen.» Seine Schwester bemerkte einem Journalisten gegenüber: «Surfen ist nichts, was brave chinesische Jungs tun. Sie studieren und werden Ärzte oder Rechtsanwälte. Aber Mark war mit sich im Reinen. Oft hat er mir erzählt, er würde jung sterben, und genau so wollte er abtreten.» Er war nach einem Wipeout zurückgesogen worden und hatte eine Platzwunde am Kopf – wahrscheinlich von seinem Brett, das in mindestens drei Stücke zerbrochen war. Aber Foo war offenbar ertrunken, hatte sich vielleicht mit seiner Rückholleine am Riff verfangen. Dr. Renneker von Ocean Beach untersuchte die Leiche: «Er lag im Heck des Boots», erzählte Renneker den Zeitungen, «den Neoprenanzug bis über die Brust heruntergezogen. Ich stand da und sah ihn an. Seine Muskulatur war perfekt. Seine Kondition war perfekt. Er sah aus wie ein gefallener Held.» Aber es war kein wirklich großes Drama. Der Tag bei Mavericks war eher klein ausgefallen mit wesentlich kleineren Wellen als jenen, die Foo hundertmal in der Waimea Bay geritten war. Foo hatte 1989 einem Kolumnisten einer haiwaiianischen Zeitung erzählt: «Aus irgendeinem Grund bin ich am meisten mit mir im Reinen, wenn sie richtig groß sind. Obwohl sie dich einschüchtern, musst du deine Angst überwinden und akzeptieren, dass du sterben könntest.» So unbeständig ist das Schicksal: Noll ritt eine wahre Todeswelle und überlebte, während Foo, der viel größere Wellen mit Bravour bewältigt hatte, auf einer kleineren umkam. Es ruft die unvermeidlichen Ikarus-Assoziationen in uns auf, taugt aber letzten Endes nicht zum Mythos.

Mavericks, Kaliforniens einziger Surfspot mit wirklich «großen Wellen», wies eine solche Brandung in meinem Jahr dort auf, gerade an einem Morgen, an dem ich zufällig vorbeifuhr. Es ist ein Spot, an dem sehr tiefes Wasser rasch sehr viel seichter wird, sodass sich die offene Meeresdünung in riesigen Wellen bricht; bei Mavericks brachen die Wellen so nur ein paar Mal im Jahr, in manchen Jahren überhaupt nicht. Über ein Jahr lang hatte dort ein Einheimischer namens Jeff Clark mehr oder weniger allein gesurft, aber in den letzten Jahren hatte es internationalen Status auf derselben Linie mit Waimea Bay auf Oahu und Todos Santos in Baja California erlangt. Ich war übers Wochenende in Berkeley gewesen, um Susan zu besuchen, und hörte auf dem Freeway Richtung Westen Radiowarnungen für Kleinflugzeuge, die auf eine hohe Brandung an den State Beaches hinwiesen. Südlich von San Francisco verließ der Highway verkommene Vororte und führte an 300 Meter hohen Steilufern und Treibhäusern voller Blumen vorbei, an strotzenden Artischockenfeldern, windgeschützt von knorrigen Zypressen, und darunter brach die größte Brandung, die ich je gesehen hatte, über die mit Vogelkot bedeckten Felsen und bröckelnden Plattformen. Da sich brechende Wellen die von der Tiefe des Ozeans abhängige Topographie zum Ausdruck bringen, offenbart eine Riesenbrandung sonst nie geahnte Konturen im ganz tiefen Wasser; während ich vorüberfuhr, krachten große blaue Wände über Riffe, die ich dort nie vermutet hätte. Ich fuhr langsamer, um mir das anzusehen, ließ ein Auto nach dem anderen ärgerlich überholen. Seit kurzem schlachtete mein Kassettenrecorder jede Kassette kurzerhand ab, sodass mir bei Ausfall des Radioempfangs nichts anderes übrig blieb, als mich still zu freuen. Drei Millionen Menschen bewohnten den Küstenstreifen, und doch war dies eine Illusion von großem Rückzug: zwei Asphaltspuren, die saubere Dünen von einer glasigen Lagune trennten, eine Frau mit blauer Jacke, die im Schilf stand und Wasservögel beobachtete, während hundert Meter weiter die Brandung schäumend brauste und Gischt versprühte. Ich fuhr neben anderen Fahrern, denen diese magische Dünung nicht das Geringste bedeutete (warum auch). An einer Klippe saß ein großer schwarzer Raubvogel zusammengefaltet auf einem Strommast: patronenförmig, dickbrüstig, mit gebogenem Schnabel. Und obwohl der Highway diese Ecke des Kontinents wie ein Korridor beschleunigter Zeit durchlief, thronte alle ein, zwei Meilen ein weiterer Raubvogel auf einem Masten oder einer Stromleitung in Erwartung der Wärme des Tages – alle in gleichmäßigen Abständen, mit denen sie einander genügend Raum für ihr zeitloses, blutrünstiges Leben zugestanden.

Ein mit weißen Pflöcken umzäuntes Gebiet, genannt Ocean View Farms, erstreckte sich unter riesigen, ausladenden Monterey-Pinien – festen Bäumen wie aus dem Gebirge, die nicht raschelten oder wogten – und zwischen schindelgedeckten, organisch geformten Hütten einer Hippieenklave, die in Gruppen bei der alten Schiffswerft am Pillar Point standen, der Mavericks vorgelagert war. Der ungepflasterte Parkplatz war überfüllt mit Autos und Ultralongboards: Rhino-Chasers, Elephant-Guns (benannt nach den übergroßen Waffen für die Großwildjagd). Wenn sich die Vorderfront der Welle acht, neun Meter auftürmt, wird das Heranpaddeln von unten her durch das Riesenvolumen an Wassermasse, das nach oben strebt, ziemlich schwierig. Durch die Größe des Boards kann der Surfer die Oberflächenreibung dahingehend überwinden, dass er eine Paddelgeschwindigkeit erreicht, die in etwa der Geschwindigkeit der Welle entspricht. Diese Gun-Boards unterscheiden sich sehr von den klassischen, abgerundeten Longboards, werden an Bug und Heck spitz wie ein Stilett und durch zentimeterdicke Stringer verstärkt. Von ihnen geht auch eine gewisse Ernsthaftigkeit aus; allein eins davon zu besitzen, weist auf ganz bestimmte Absichten hin. Ein solches Brett, das das ganze Jahr über in deiner Abstellkammer verborgen lauert, wird dich ständig daran erinnern, was für einen Kampf du angezettelt, aber noch nicht ausgefochten hast. Auf dem Sandboden stand eine Menge älterer Surfer zwischen ihren Pick-ups und Kleintransportern, wachste Bretter und stopfte Neoprenanzüge in Rucksäcke. Die meisten von ihnen trugen Mützen und Sonnenbrillen und sprachen kaum miteinander.

Ich ging den Pfad weiter bis zur Spitze, kletterte einen ausgetretenen, in Erosion begriffenen Abhang hoch zu einer großen Installation der Air Force mit drei Satelliten/Radar-Schüsseln und einem Zaun aus Maschendraht, gekrönt von Stacheldraht. (Offenbar sollte das Radar feindliche Langstreckenraketen und Marschflugkörper ausmachen – kriegerische, ernste Militärs drinnen; kriegerische, ernste Sportler draußen.) Entlang der Klippe standen zwanzig oder dreißig Zuschauer, die auf zehn, fünfzehn Surfer starrten – auf und ab wogende schwarze Pünktchen, die leicht für einen Schwarm schwimmender Vögel gehalten werden konnten. Die meisten Zuschauer waren Männer, aber auch ein paar Frauen waren darunter; mehrere Videokameras, eine Filmkamera. Geredet wurde kaum – Surfer sind im Allgemeinen nicht gerade jovial und gesellig Fremden gegenüber; sie wollen nichts Dummes sagen, zu viel steht für sie auf dem Spiel. Zwei zerbrochene Boards lagen im nassen Sand, und ziellos und wirr lief ein Surfer im flachen Wasser hin und her, seinen Neoprenanzug bis zur Hüfte abgestreift. Er schien unter Schock zu stehen, wie er so durch das aufgewühlte Brackwasser stapfte und mit den Fingerspitzen übers Wasser strich. Ein kleiner Zeppelin, der für einen Zimtlikör warb, umkreiste die Surfer, während zwei Boote mit Fotografen in der Tiefwasserrinne im Süden warteten. Ein Mann in weiten Hosen und Kapuzen-Sweatshirt erzählte mir, gerade sei ein Teenager mit einer über sieben Meter hohen Welle in freiem Fall heruntergekracht; sein Board sei zerbrochen, er habe sich ein neues geholt und sei wieder hinausgepaddelt. Solche Szenen mit anzusehen ist immer wie eine uralte Mischung aus Drama und Antiklimax; ich stand sicher an einer windstillen Steilküste, während die Pünktchen da draußen, fast eine Meile entfernt, sich kaum bewegten. Ohne die Surfer als Größenvergleich hätte ich niemals erkannt, wie groß die Wellen waren. Viele davon waren etwa zehn Meter hoch, ein paar sogar noch höher, und alle waren von einer völlig anderen Größenordnung als die, in denen ich fast ertrunken wäre. Aber hier und da tauchte einer dieser schwärzlich-grünen Festungswälle zwischen den Hoffnungsvollen auf, einer von ihnen brachte sein Board in Fahrt, sprang auf die Füße und fuhr die Welle hinab; wurde hin und wieder von der Lip hinunter ins Leere geworfen, als springe er von einem dreistöckigen Gebäude (das sich zufällig mit 25 Knoten vorwärts bewegte). Jeff Clark hat gesagt, wenn du stürzt, hält Mavericks dich unter Wasser, als schuldetest du ihm Geld; es hatte den Anschein, als seien ein paar Unglücksraben für lange Zeit aus dem Bild, abgetrieben auf ein Riff unter zehn Meter kaltem schwarzem Wasser. Aber aus so großer Entfernung waren Gefahr, Geschwindigkeit und Kraft kaum zu spüren.

Doch dann bemerkte ich eine Störung eine halbe Meile vor der Surfergruppe, eine Stelle, an der das Meer eine Vertiefung oder Falte zu haben schien, eine unerklärliche Verwerfung an der Oberfläche. Die Surfer suchten sich in Sicherheit zu bringen, und als diese Phasenverschiebung das tief unten liegende Stück Riff erfasste, richtete es sich zu einer gewaltigen dunkelgrünen Kathedralenmauer auf. Ultralongboards sahen aus wie winzige Splitter, als sie zum Wellengipfel, an dem Wasserfahnen abrissen, aufstiegen – höher, immer höher, vielleicht zwölf, dreizehn Meter stiegen diese im Wellental gefangenen Männer steil empor. Doch einer von ihnen lag noch auf seinem Board, paddelte kaum, während die Welle über ihm zu beängstigender Größe anschwoll, und vertraute auf seinen Platz in dieser Krümmung. Gerade als die Welle zu brechen begann, als sie ihre promethische Ausdehnung erreicht hatte, stieg er zu ihrem Kamm empor und setzte sich auf; nicht um zu surfen, sondern um zuzusehen, wie ihr Gipfel grandios und mit tödlicher Rasanz nach vorne kippte, weit vor der sich neigenden Wand. Eine halbe Meile entfernt stand ich inmitten eines Rauschens, das alle harten Töne milderte, und die Wucht der Lip schallte deutlich und hart herüber wie eine Erschütterung, die ich einmal in der nächtlichen Stille der High Sierra vernommen hatte, das raue Dröhnen, als ein ganzes Stück eines Bergs auf dem Boden eines abgelegenen Tals zerschmetterte.

Der Blick dieses Mannes zurück, die optimistische Neugier, derer es bedurfte, in einen solchen Abgrund zu schauen, erschien mir wie eine charakteristische Reaktion auf solche Kräfte; wie ein Bergsteiger, der angesichts eines gefrorenen Wasserfalls zuerst von seiner Schönheit angetan ist und ihn erst später als Gegner begreift. Und welchen Geistes es auch immer bedurfte, Mark Foo hatte ihn besessen. «Ich paddelte über eine solide fast acht Meter hohe Welle», erinnert Foo sich in Drew Kampions The Book of Waves, «… und da sah ich dieses Ding … das größte Ding, das ich je gesehen hatte.» Ding, nicht Welle; es war mehr als ein Sport, mehr sogar als Wasser. Er tauchte unter der weit über fünfzehn Meter hohen Welle durch und überlebte: «Das Lustige ist, ich glaube, ich habe gelacht … so unglaublich war's, fast ein Comic.» Vielleicht ist das die Bedeutung fernab aller Handlungen und Geschichten: die Bedeutung, die ein nacktes Wunder hervorbringt. John Severson erinnert sich an einen aberwitzigen Tag in Makaha auf Oahu, wo er sich auf eine fast acht Meter hohe Welle schwang und hinter die große Makaha-Bowl geriet. Vom herabstürzenden Wasser mitgerissen, wird er zehn Meter tief auf den Grund gewirbelt; und als ihn die Welle dort festhält, durchdenkt er sein ganzes Leben, sagt ihm adieu, erkennt, dass «ich für mein großes Abenteuer mit dem Leben bezahlte, aber es kam mir vor wie ein fairer Tausch». Und genau wie bei Foo ist seine Erinnerung an die Welle selbst ganz anders und entschieden ohne jede Selbststilisierung: Während er in Richtung des «großen Todes» rauscht, hat er plötzlich einen Moment von Klarheit, in dem er sieht, wie die Wellenkante in die leere Weite springt. «Wie schön und schrecklich das ist», ging ihm durch den Kopf, «… wenn die Sonnenstrahlen von der gläsernen blauen Oberfläche reflektiert werden …»

George Downing hat eine ähnliche Erinnerung an denselben Tag. Er bemerkte «weit am westlichen Horizont Richtung Kaena Point einen sehr ungewöhnlichen schwarzen Schatten. Zuerst dachte ich, es sei ein Lichteffekt von Sonne und Wolken, dann erkannte ich die Wellengruppe». Er ließ sich aus dem Line-up heraustreiben (in diesem Fall eine Dreiecksformation von Punkten an Land, die dem Surfer sagen, wo über dem seichter werdenden Riff er sich befindet), dann weiter hinaus aufs Meer, wobei er glaubte, so tiefes Wasser unter sich zu haben, dass sich die Wellen hier unmöglich brechen könnten. Zweihundert Meter weit draußen, paddelt er über vier Wellen hintereinander, jede größer als die vorausgegangene, die er alle als die größten beschreibt, die er je gesehen hat. Als er die vierte überwunden hat, «war vor mir eine noch größere Welle als all die anderen. Sie begann sich oben schon zu kräuseln, hoch über mir. Ihre Vorderfront war steil, pockennarbig durch den Sog auf das Riff tief unten. Ich war jetzt schon eine Zeit lang gepaddelt, aber es war nicht die Müdigkeit, die mich anhalten ließ. Es war etwas anderes, das schwer in Worte zu fassen ist. Ich kam hoch aus diesem schrecklichen Wellental, wurde die Vorderfront emporgehoben, und als ich nach rechts schaute, sah ich, dass diese schier unglaubliche Welle sich bereits brach, einen dicken und mächtigen Überhang auswarf, der über meinen Verstand ging. Und der Raum, den sie umschloss, die riesige Tube, war so massiv, auf einer so anderen Skala von allem, was ich je gesehen hatte, dass es einfach zu viel war. Dann erkannte ich, dass die Welle mich tatsächlich an ihrer Vorderseite emporsog. Ich stieß mein Board weg und tauchte hinab.»

Schließlich fuhr ich zurück nach Süden. Ich dachte, ich könnte mir noch einmal die großen Wellen am Point ansehen – könnte die Szene, in der ich vor zwei Jahren so blöde mitgespielt hatte, jetzt mit anderen Augen betrachten. An der Stelle, wo die Straße nach Mavericks auf den Highway traf, kampierten Fischer in Wohnwagen am Straßenrand bei einem Schulgebäude mit nur einem Klassenraum. Zurück im Verkehr raste die Welt vorüber, während die groß angelegte Zeichensetzung der einen Erzählung wieder belanglos in jeder anderen wurde. Das Nurserymen's Exchange und seine Treibhäuser voller Setzlinge und Knollen – amerikanische Flaggen wehten in der ablandigen Brise in Richtung Meer. Und dann empfing mein Radio diese freischwebende Geräuschspur, die fragmentarische Wiedergabe einer Talkshow hinter den Hügeln, eine Frauenstimme, die sich über Giftstoffe in Nahrungsmitteln als Verursacher verschiedener Krebsarten aufregte. Genau als ihre Stimme schwächer wurde, stieß ein Habicht in den Wind, folgte einer unten durch die abgeweideten Grasstoppeln trippelnden Maus; war einfach da und tat es, immer wieder, Tag für Tag, kreisen, schweben, flattern, emporschwingen, zuschlagen. Südlich von Half Moon Bay beleuchtete die Sonne die weißen Dächer der Coastside-Lutheraner- und der Baptistenkirche, und ein einsames weißes Haus stand weit entfernt in den Artischockenfeldern, hob sich klar ab vor den hügeligen Viehweiden. Aufgestapelte Paletten verfaulten zwischen verrosteten alten Lkw. Ein verloren wirkender Mann spazierte den Highway entlang, wollte nicht etwa mitgenommen werden und schaute nicht einmal auf (resigniert und völlig desinteressiert an Menschen? Ein weltfremder Misanthrop?). Wieder ein Senffeld, weite Flächen Gelb zogen inmitten braunen Grases am Meer vorbei. Wo die Straße sich sehr hohe Klippen hinaufwand, hing ein Strauß aus Calla-Lilien und verwelkten Wildblumen herab von einem verrosteten eisernen Pfosten am Straßenrand – möglicherweise eine Erinnerung an jemanden, der von hier das letzte Mal hinausgesehen hatte. Der weite Pescadero Creek mäanderte aus seinem breiten Tal heraus, und ein paar halb ertränkte, halb vertrocknete Bäume lagen entwurzelt im Matsch, während Brandung über die Ebbelachen schäumte. Über Meilen fiel die Straße zu Stränden hin ab, über die Rinnsale ins Meer abflössen, stieg entlang der Klippen wieder auf und schlängelte sich um Hügel mit frischem Gras. Bei Bean Hollow jagte eine schlanke Kornweihe im Sturzflug über jungem Fuchsschwanzgras, wobei Primärfarben das Spektrum beherrschten: Sauerklee sprenkelte Gelb zwischen die Millionen Finger der Schalotten, die vor dem strahlend blauen, weißgekrönten Meer wogten. Ein Marktstand verkaufte Mais, Erbsen, Erdbeeren, Artischocken. Plötzlich sah ich hinter der Insel Año Nuevo (auf der Herden von Seelöwen – von Weißen Haien umkreist – einen verlassenen Leuchtturm bewohnten) klar und deutlich die andere Seite der Bucht, wo die verschwommene Silhouette der Santa Lucia Mountains die Berge schlechthin verkörperte. Wanderarbeiter in gelben Öljacken verpackten grüne Zwiebeln in der Nähe einer Ranch, auf der meine Mutter einst als Betreuerin eines Jugendcamps Pferde geritten hatte. (Sie kann sich noch gut daran erinnern, wie sie eines Nachmittags in der Sonne saß und Erdbeeren aß, als der Sohn eines Farmers sie zu einem Flug in seiner kleinen Cessna einlud. Im Sturzflug waren sie über Buchten hinuntergegangen, hatten sich über Stränden emporgeschwungen, und sie erzählte die Geschichte stets wie eine Beichte, wobei sie erstaunt schien, wie unbeschwert und glücklich eine kalifornische Kindheit sein konnte.)

Bei einem Gefälle unterhalb einer bröckelnden Sandsteinklippe überquerte ich ein über die Ufer tretendes Flüsschen (der Strand war völlig überwältigt von der Dünung), wo einst ein Bär einen frühen Rancher in Stücke gerissen hatte. Früher zogen hier Elche und Antilopen und Wolfsrudel entlang; über drei Meter große Grizzlybären ernährten sich von dreißig Meter langen, gestrandeten Walen. An einem Platz, wo Holz gelagert wurde und wo seit dreißig Jahren Surfer Ausschau hielten, zeichneten sich Trampelpfade zwischen den Sukkulenten ab – eine obskure, durch und durch bekannte Stelle dieser Erde. Davenport, ein kleines viktorianisches Dorf: Krämerladen, Schule, zwei Kaffeestuben; der Erinnerung meiner Mutter zufolge weiß bestäubt von der Zementfabrik des Ortes. Die das Dorf dominierende, weiße Presbyterianerkirche war noch immer gen Westen gewandt und sah weiterhin zu, wie die Wale vorüberzogen, aus dem arktischen Sommer in den Winter von Baja California. Südlich davon, dort, wo früher ein Dorf der Ohlone gewesen war, standen zwei Surfer auf einem Bahndamm und schauten passiv auf die aufgewühlte See. (Der Schutzdamm des Dorfes, fast 90 Meter lang, 27 Meter breit und sechs Meter hoch, sollte Muschelschalen, Weichtierschalen, Meeresschnecken, rote Abalones, violette Seeigel, abgesplitterten Feuerstein und Obsidian enthalten, zehntausendjähriges Geröll.) Ich hielt in der Nähe an, stieg über zerbrochenes Scheinwerfer- und Autoscheibenglas, kletterte auf die von Händen und Füßen polierten Äste einer Zypresse unweit des Point: Hinter der Lagune, die von der weißen Kornweihe patrouilliert wurde, brandeten obszön große Dünungen über die Bucht, brachen sich gewaltig an den Klippen und versprühten Gischt bis in zehn, zwölf Meter Höhe. Ich schaute auf die Straße, die ich blind hinuntergelaufen war, und sah den Strand, wo ich angespült worden war – das alles war jetzt so sehr ein Teil meines Lebens wie ein Bürgersteig für jeden anderen Menschen. Und die Katastrophe, an der ich vorbeigeschrammt war, schien bedeutungslos, nur eine Fehleinschätzung in meiner Freizeit; der Triumph, so es einen gab, lag darin, sich hier inzwischen zu Hause zu fühlen. Mein Blick folgte dem Vogel: Mir fiel auf, dass ich weder ihn noch irgendeinen anderen Raubvogel jemals draußen über dem Wasser gesehen hatte. Sie spähten das Gebüsch an den Klippen aus, ohne je einen Schlenker übers Meer zu machen, und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Nicht im Geringsten.