I

 

Mrs Nicoletis kam gerade die Treppe vom Untergeschoss herauf, wo es ihr soeben gelungen war, sowohl Geronimo als auch die launische Maria zur Weißglut zu bringen.

»Lügner und Diebe«, sagte Mrs Nicoletis mit lauter, triumphierender Stimme. »Alle Italiener sind Lügner und Diebe!«

Mrs Hubbard, die gerade die Treppe herunterkam, seufzte bekümmert. »Es ist etwas ungünstig«, sagte sie, »sie zu verärgern, während sie gerade das Abendessen kochen.«

»Was stört mich das?«, sagte Mrs Nicoletis. »Ich werde nicht hier essen!«

Mrs Hubbard unterdrückte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag.

»Ich komme dann am Montag wieder rein, wie immer«, sagte Mrs Nicoletis.

»Ja, Mrs Nicoletis.«

»Und bitte sorgen Sie dafür, dass am Montag früh gleich jemand kommt, der meine Schranktür repariert. Und die Rechnung wird an die Polizei geschickt, ist das klar? An die Polizei.«

Mrs Hubbard sah sie zweifelnd an.

»Und ich will neue Glühbirnen in den dunklen Fluren haben – stärkere. Die Flure sind zu dunkel.«

»Sie hatten aber doch extra gesagt, dass Sie schwächere Glühbirnen auf den Fluren haben wollten – aus wirtschaftlichen Gründen.«

»Das war letzte Woche«, schnappte Mrs Nicoletis. »Die Lage hat sich völlig geändert. Wenn ich jetzt über den Flur gehe, dann schaue ich über die Schulter und frage mich: ›Wer ist da hinter mir?‹«

Mrs Hubbard fragte sich, ob ihre Arbeitgeberin sich nur wichtig machen wollte, oder ob sie tatsächlich vor irgendetwas oder irgendjemandem Angst hatte. Da Mrs Nicoletis die Angewohnheit hatte, alles und jedes zu übertreiben, ließ sich schwer abschätzen, wie ernst ihre Ansagen zu nehmen waren.

Mrs Hubbard sagte zweifelnd: »Sind Sie sicher, dass Sie allein nach Hause gehen wollen? Möchten Sie, dass ich Sie begleite?«

»Jedenfalls bin ich dort sicherer als hier, das kann ich Ihnen sagen!«

»Aber wovor haben Sie denn Angst? Wenn ich das wüsste, vielleicht könnte ich…«

»Das geht Sie nichts an. Das werde ich Ihnen nicht auf die Nase binden. Ich finde es einfach unmöglich, was Sie mir dauernd für Fragen stellen!«

»Entschuldigung. Aber ich wollte…«

»Jetzt sind Sie beleidigt.« Mrs Nicoletis schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Ja, Sie haben Recht, ich bin launenhaft und unhöflich. Aber ich habe auch so viele Sorgen. Und vergessen Sie nicht, dass ich Ihnen vertraue und mich ganz auf Sie verlasse. Was sollte ich ohne Sie tun, liebe Mrs Hubbard? Das weiß ich wirklich nicht. Ich bewundere Sie. Schönes Wochenende. Gute Nacht!«

Mrs Hubbard sah ihr nach, wie sie hinausging und die Haustür hinter sich zuzog. Und indem sie ihre Empfindungen mit einem nicht ganz angemessenen »Nein, wirklich!« beruhigte, wandte sich Mrs Hubbard der Treppe zur Küche zu.

Mrs Nicoletis ging die Stufen zur Straße hinunter, trat durch die Gartentür und wandte sich nach links. Hickory Road war eine ziemlich breite Straße. Die Häuser standen in ihren Vorgärten etwas zurückversetzt. Mrs Nicoletis ging mitten auf dem Bürger steig und warf von Zeit zu Zeit einen nervösen Blick über ihre Schulter, aber niemand war zu sehen. Hickory Road wirkte an diesem Abend ungewöhnlich verlassen. Wenige Minuten zu Fuß von Nummer 26 kam man an eine der großen Durchgangsstraßen, durch die auch Busse fuhren. An der Ecke gab es eine Verkehrsampel und einen Pub, The Queens Necklace. Mrs Nicoletis beschleunigte ihre Schritte ein wenig, als sie sich The Queen’s Necklace näherte. Nachdem sie sich noch einmal hastig umgesehen hatte, schlüpfte sie schuldbewusst in die Gaststube.

Während sie an dem doppelten Brandy nippte, den sie bestellt hatte, kehrten ihre Lebensgeister zurück. Sie sah jetzt nicht länger aus wie eine besorgte, verängstigte Frau. Aber ihre Wut auf die Polizei hatte sich nicht verringert. Sie murmelte vor sich hin: »Gestapo! Das sollen sie mir bezahlen. Ja, das sollen sie bezahlen!«, und trank aus. Sie bestellte ein zweites Glas und brütete über den jüngsten Ereignissen. Unglücklich, äußerst unglücklich, dass die Polizei so taktlos gewesen war, ihr geheimes Versteck aufzudecken. Sicher war kaum zu hoffen, dass sich das nicht unter den Studenten und Angestellten herumsprechen würde. Mrs Hubbard würde diskret sein – vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Denn im Ernst: Konnte man irgendjemandem vertrauen? Solche Dinge sprachen sich rasch herum. Geronimo wusste davon. Er hatte es wahrscheinlich schon seiner Frau erzählt, und die würde es der Putzfrau sagen, und so ging es weiter und weiter, bis – sie fuhr heftig zusammen, als eine Stimme hinter ihr sagte:

»Nanu, Mrs Nick, ich hab ja gar nicht gewusst, das dies Ihr Stammlokal ist!«

»Ach, Sie sind das«, sagte sie. »Ich dachte…«

»Was haben Sie denn gedacht, wer ich wäre? Der große böse Wolf? – Was trinken Sie denn? Nehmen Sie noch einen auf meine Rechnung.«

»Es sind all die Sorgen«, erklärte Mrs Nicoletis mit Würde. »Diese Polizisten durchsuchen mein Haus, bringen alles durcheinander. Mein armes Herz. Ich muss sehr vorsichtig sein mit meinem Herzen. Ich mache mir nichts aus Alkohol, aber ich habe mich plötzlich so matt gefühlt. Da habe ich gedacht, ein bisschen Brandy…«

»Es geht nichts über Brandy, Mrs Nicoletis. Hier, trinken Sie.«

Als Mrs Nicoletis einige Zeit später The Queen’s Necklace verließ, fühlte sie sich wiederbelebt und rundum glücklich. Sie entschloss sich, nicht den Bus zu nehmen. Es war solch ein herrlicher Abend, und die frische Luft würde ihr gut tun. Ja, ganz bestimmt, die Luft würde ihr gut tun. Sie fühlte sich nicht schwach auf den Beinen, nur ein bisschen unsicher. Vielleicht wäre es klüger gewesen, einen Brandy weniger zu trinken, aber an der frischen Luft würde ihr Kopf schnell wieder klar werden. Und überhaupt, warum sollte eine Dame nicht ab und zu in ihrem eigenen Zimmer etwas trinken dürfen? Was war daran zu beanstanden? Es war ja schließlich nicht so, dass sie sich jemals betrunken hätte. Betrunken? Natürlich war sie niemals betrunken. Und wenn schon, wenn die das nicht mochten, wenn die ihr das ankreiden wollten, dann würde sie denen sehr schnell klar machen, was sie davon haben würden. Sie wusste schließlich auch das eine oder andere, oder etwa nicht? Wenn sie den Mund aufmachen würde! Mrs Nicoletis warf ihren Kopf streitlustig in den Nacken und machte einen abrupten Schlenker, um einem Briefkasten auszuweichen, der sich ihr bedrohlich genähert hatte. Kein Zweifel, ihr war ein bisschen schwindlig. Vielleicht, wenn sie sich nur einen Augenblick gegen diese Mauer hier lehnte? Wenn sie die Augen einen Moment lang schloss…

 

Wenig später wurde Constable Bott, der gerade seine Streife ging, von einem schüchtern aussehenden Passanten angesprochen: »Da ist eine Frau, Constable. Ich weiß nicht – ihr ist vielleicht schlecht geworden oder so. Sie ist zusammengesackt.«

Constable Bott ging energischen Schrittes in die angegebene Richtung und beugte sich über die zusammengesunkene Gestalt. Ein starker Schnapsgeruch bestätigte seine erste Vermutung.

»Völlig weggetreten«, sagte er. »Betrunken. Machen Sie sich keine Sorgen, Sir, wir werden uns darum kümmern.«