Prolog

 

»Brennen sollen sie!«

»Ja, genau! Sie haben uns das Virus gebracht!«

Eine Frau kreischte. Ihre Stimme war dabei so hoch, dass die Worte aus ihrem Mund zu einem unartikulierten Schrei verschmolzen, aus dem man keine menschliche Sprache mehr heraushören konnte. Die Stimmen der aufgebrachten Dorfbewohner sammelten sich zu einem Chor.

Brennen … brennen … brennen …

Levi Kleinmann drehte sich langsam um die eigene Achse, sah sich auf dem Marktplatz um, spürte die Blicke der Menschen auf sich ruhen. Ihre Angst, die in Hass umschlug, legte sich wie eine schwere Decke um ihn. Ja, er wollte die Kontrolle behalten, wollte seine kleine Gemeinschaft vor den Gefahren der neuen Welt da draußen beschützen. Aber um diesen Preis?

… brennen … brennen … brennen …

Langsam hob er die Hände. Die Menge wurde leiser, aber von Ruhe oder gar klarem Denken war weiterhin nichts zu spüren.

»Meine Freunde«, begann er seine Rede. »Lasst uns bitte nichts überstürzen!«

»Wenn du nicht vorneweg gehst, dann bist du keinen Deut besser als die!«, brüllte ein rotgesichtiger Mann.

»Aber Leute …«

»Nein!«, brüllte der Rotgesichtige dazwischen. »Mir ist es egal, ob es Zigeuner sind, die über den bösen Blick verfügen, oder eine Gruppe Pfadfinder, die sich rein zufällig das Virus eingefangen hat! Sie sind eine Gefahr, und es gibt nur eine Möglichkeit, wie man dieser Gefahr begegnen kann! Du bist Arzt, du weißt es!«

Der Mann riss eine Fackel hoch. Die Menge murmelte und nahm leise wieder ihren Chor auf.

… brennen … brennen … brennen …

Doktor Levi Kleinmann schluckte. Das hier konnte alles nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein! Wie konnte aus diesen Menschen, vernünftigen, zivilisierten Männern und Frauen, in so kurzer Zeit ein Mob werden, wie er im Mittelalter durch die Straßen und Gassen gezogen sein mochte, um vermeintliche Hexen zu verbrennen?

Levis Blicke streiften die Eingartners. Anna Eingartner war es, die so hysterische kreischte, während ihr Mann Peter seine Motorsäge schwang, als sei er König Artus, der seine Ritter mit Excalibur auf den Kampf gegen Mordred einschwor. Eingewanderte, wie man sie hier im Dorf bezeichnete, Aussteiger würde man sie in der Stadt nennen. Ausgebrannte Stadtmenschen, die hier vor dem Ausbruch der Seuche die Ruhe und den Frieden des Landlebens gesucht hatten, und ökologischen Ackerbau betrieben. Jetzt waren sie nur noch ein Teil des blutrünstigen Mobs. 

… brennen … brennen … brennen …

So wie Harald »Harry« Westmann. Er schritt die erste Reihe des Mobs entlang, wie ein General seine Truppen inspizieren mochte. Sein ohnehin schon rotes Gesicht bekam im Licht der Fackeln und Campingleuchten etwas Dämonisches, während er den Mob mit rudernden Armen und brennendem Blick anfeuerte.

… brennen … brennen … brennen …

Harry drehte sich langsam zu Levi um, musterte ihn mit seinem hasserfüllten Blick. Für einen verrückten Moment musste Levi sich ein hysterisches Kichern verbeißen. Harry sah mit seinen derben Cordhosen, den dicken Gummistiefeln und dem karierten Hemd nicht unbedingt wie ein Napoleon aus. Dann trat Harry ganz nah an ihn heran, und der Moment verflog.

»Also, mein Freund«, sagte der Rotgesichtige ganz leise, ja nahezu zärtlich, wobei in seiner Stimme Drohung und Misstrauen mitschwangen. »Bist du für uns, oder bist du gegen uns?«

Levi schluckte trocken. Harrys Atem war geschwängert vom scharfen Aroma des Selbstgebrannten, den der Bauer in seiner Scheune zubereitete. Man konnte das Zeug auch zum Desinfizieren von Wunden sowie dem Reinigen von Kacheln in Schweineställen nutzen, und nur die todesmutigsten unter den Dorfbewohnern tranken den Rachenputzer auch.

»Harry, du weiß …«

»Für uns, oder gegen uns?«, fuhr Harry dem anderen ins Wort.

Die Menge schwieg.

Levi sah noch einmal in ihre Gesichter.

Es hatte keinen Zweck. Wollte er überleben, gab es nur eine Antwort.

»Für euch.«

 

***

 

Aus den unruhigen Schatten zwischen den Häusern beobachteten Annika und Thilo das Geschehen. Thilo wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. Annika nahm ihn vorsichtig in die Arme.

»Thilo, es …« Annika stockte. Würde es helfen, wenn sie ihm sagte, dass es ihr leid tat? Kaum, aber es war besser, ein paar Worte des Trosts auszusprechen, als schweigend hier zu hocken. »Es tut mir leid. Thilo.«

Der Junge nickte stumm. Annika sah, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, während er um seine Fassung rang. Zitternd holte der Junge tief Luft.

»Meine Eltern … ein tobender Mob …«

Annika strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Geht es?«, fragte sie.

»Ja.«

»Dann komm! Wir sollten sie warnen.«

Thilo sah Annika tief in die Augen, und das Mädchen zuckte zurück. In Thilos Augen war etwas erloschen, was sie vorher dort immer gefunden hatte, egal was auch passierte war.

Hoffnung. Sie war erloschen, wie eine Kerzenflamme bei einem Windstoß.

»Wir werden weggehen, oder?«

Annika nickte.

»Ohne unsere Eltern, richtig?«

Erneutes Nicken. Annika spürte, wie auch ihr die Tränen in die Augen stiegen. Auf dem Marktplatz wurde es ruhiger. Es gab einen leisen Wortwechsel, den sie hier nicht verstehen konnten, ohne ihre Fähigkeiten zu nutzen. Thilo straffte sich und stand langsam auf.

»Dann lass uns gehen.« Seine Stimme klang zittrig, verriet das Kind, dass er trotz seines ernsten Aussehens noch war. »Es wird eine Flucht ohne Abschied werden.«

Annika erhob sich ebenfalls, und wie zwei Schatten verschwanden sie in der Dunkelheit.

Hinter ihnen zog auch der Mob los.

Er wollte die Fremden brennen sehen …

 

 

Kapitel I

Gastfreundschaft

 

10 Stunden zuvor

 

Sandra saß neben Jörg auf dem Notsitz des Beifahrers und sah nachdenklich aus dem Fenster. Die herbstliche Landschaft zog an ihnen vorbei, als sei sie eine Leinwand, auf der ein göttlicher Künstler seine gesamte Farbpalette ausprobiert hatte. Satte Rot- und Goldtöne zwischen dem dichten Grün von Nadelbäumen und regennassen Wiesen, ein strahlend blauer Himmel ohne eine einzige Wolke … es war, als hätte es den regnerischen Sturm der vergangenen drei Tage nie gegeben.

Sandras Finger trommelten unbewusst einen hektischen Rhythmus auf ihren Knien. Jörg schielte aus den Augenwinkeln zu ihr herüber. Sanft legte er ihr eine Hand auf den Arm.

 »He, alles in Ordnung?«

»Ja. Warum?«

»Du wirkst nervös.«

Sandra grinste schief.

»Das ist nur der Trieb der Zugvögel«, versuchte sie, witzig zu sein.

Jörg spürte, dass Sandra sich nur mit Mühe beherrschen konnte und wie ihr aufbrausendes Temperament hinter ihrer vorgeblichen Ruhe brodelte.

»Bist du sicher?«

»Ja, verdammt!«, fand Sandra beinahe wieder zu ihrer alten Form zurück. »Ich will einfach nur weg hier, verstehst du das?«

Jörg zog seine Hand zurück und konzentrierte sich auf die Straße.

»Ich bin auch froh, dass wir wieder unterwegs sind«, murmelte er. »Der Hof war zwar als Rastplatz okay, aber dort haben wir irgendwie auch wie auf dem Präsentierteller gesessen. Wäre im schlimmsten Fall nicht zu verteidigen gewesen. Ich mache mir nur Sorgen wegen Martin und Stephan.« 

»Stephan kann von mir aus abkratzen.«

Jörg seufzte herzhaft.

»Was läuft da zwischen euch beiden? Muss ich mir Sorgen machen?«

»Was laufen? Mit dem? Vergisses!«

»Was ist es dann?«

»Der hat sowas Schmieriges an sich, wenn die Kinder in seiner Nähe sind, vor allem bei den Mädchen.«

»Vielleicht will er einfach nur nett sein?« Jörg zuckte mit den Schultern. »Aber wir können ihn ja auch aus dem Bett in Lemmys Bus hierher verfrachten. Dann steckt er zwar mit großer Wahrscheinlichkeit die anderen mit seiner Erkältung an, aber du hättest ihn im Auge, und Lemmys Laune würde sich auch bessern …«

Sandra brummte etwas Unverständliches. Jörg sah vorsichtig noch einmal genauer hin. Ihr Blick hatte etwas von einem Kriegsveteranen. Dieses legendäre Tausend-Yard-Starren, das oftmals auch Flüchtlinge aus Kriegsgebieten in den Augen hatten.

Plötzlich versteifte er sich, bremste den Bus ab. Auch Sandra sah sich aufmerksam um. Lemmys Tourbus kam leicht versetzt hinter ihnen zum Stehen.

»Hörst du das?«, fragte Jörg.

Sandra schwieg und legte den Zeigefinger vor die Lippen. Schwere Schritte erklangen, als Roland nach vorne stapfte.

»Alles okay?«

»Klappe!«, fuhr Sandra auf, und legte lauschend den Kopf schief.

Da war ein leises Geräusch, über dem Nageln der Dieselmotoren kaum zu vernehmen. Aber es wurde allmählich lauter. Ein zischendes Dröhnen das …

Jörg beugte sich vor und spähte durch die Windschutzscheibe in den Himmel. Dann sah er es! Ein kleines, silbrig glänzendes Etwas, das mit hoher Geschwindigkeit über sie hinwegzog und einen weißen Kondensstreifen in das helle Blau des Himmels ätzte. Es flog entgegen der Richtung, in der die Pilger unterwegs waren.

Jörgs Augen brannten.

 »Ein Jet«, sagte er leise. Seine Stimme klang belegt.

»Ja«, flüsterte Sandra. Auch in ihrer Stimme schwang so etwas wie Sehnsucht mit. »Das letzte Mal, als ich so …«

Ein Schrei unterbrach sie unsanft. Gleichzeitig knallte ein blutiges, halbverwestes Ding, das einmal ein Mensch gewesen sein mochte, mit Wucht gegen die Seitentür des Busses. Jörg schreckte hoch und Sandra hatte ihre Pistole bereits im Anschlag, als ihr bewusst wurde, dass da Glas zwischen ihr und dem Ding da draußen war.

»Heilige Scheiße!«, entfuhr es Roland. »Jetzt hat meine Unterhose doch tatsächlich ein paar Rostflecken abbekommen.«

Jörg grinste über die schräge Metapher, Sandra verzog das Gesicht.

»Weichei.«

Jörg fuhr langsam wieder an und behielt dabei die Umgebung im Auge. Die Straße bog sich in eine langgezogene Rechtskurve. Ein bewaldeter Hügel versperrte den Blick auf das, was hinter der Kurve lag, weshalb er die niedrige Geschwindigkeit von knapp 30 Stundenkilometern beibehielt. Sicher war sicher. Sie konnten es sich nicht leisten, bei voller Fahrt gegen einen umgestürzten Baum zu rauschen.

»Ob das ein Einzelgänger war?«, überlegte Roland laut.

»Steig aus und frag ihn«, brummte Sandra.

Roland ging auf ihre launige Bemerkung nicht ein, stattdessen murmelte er: »Ich wünschte, wir wären in Texas.«

»Warum?« Jörg runzelte die Stirn.

»Weil dort rein statistisch sogar jeder zweite Säugling mindestens eine Schusswaffe hat.«

Plötzlich stieg Jörg in die Eisen. Roland sah überrascht auf, und seine Kinnlade fiel herab.

Vor ihnen führte die Straße in ein dichtes Waldgebiet. Drei Traktoren waren als Sperre quer über die Straße verteilt. Vor der improvisierten Barrikade standen etwa zehn Männer in der derben Kleidung von Bauern, alle hielten Flinten und Jagdgewehre schussbereit in Händen. Roland sah sogar einen Mann, der sich breitbeinig wie Django aufgebaut hatte. An seinen Hüften hingen zwei schwere Revolver in einem klischeehaft wirkendem Pistolengürtel. Roland schluckte trocken.

»Willkommen in Texas, mein Freund«, murmelte Jörg.

....

 

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