Kapitel I

Perspektiven

 

Das Wetter war herrlich. Martin fläzte sich auf eine Wiese und genoss die wärmenden Strahlen der Sonne auf seinem freien Oberkörper. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah auf einem Grashalm kauend den Schäfchenwolken beim Vorbeitreiben zu.

In den nahen Bäumen sangen Vögel, und eine sanfte Brise ließ die Blätter leise rascheln. Am Ufer des nicht weit entfernten Sees flanierten Menschen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Immer wieder war fröhliches Lachen zu hören, und die Geräusche spielender Kinder ritten auf dem leichten Wind vom nahegelegenen Spielplatz zu Martin herüber.

Plötzlich wurde er von etwas angestupst. Martin hob den Kopf und sah, dass ein Ball gegen seine Seite gerollt war, und zwei Mädchen, die vielleicht sechs oder sieben Jahre alt sein mochten, auf ihn zuliefen.

»Na, ihre beiden?« Martin grinste. »Wer von euch hat denn den Ball nicht fangen können, hm?«

Die Mädchen blieben vor ihm stehen und begannen zu kichern.

»Das war Susi«, erklärte eines von ihnen schließlich und zeigte dabei auf seine Spielkameradin. »Vielleicht habe ich aber auch ein wenig zu fest geworfen.«

»Das wird schon noch mit dem Werfen und Fangen.« Martins Gesicht nahm einen zuversichtlichen Ausdruck an. »Als ich so alt war wie ihr, musste ich das auch noch üben.«

»Bekommen wir jetzt unseren Ball bitte wieder?«, fragte Susi schüchtern. »Wir versprechen auch, künftig besser aufzupassen.«

»Kein Problem, es ist ja nichts passiert«, erwiderte Martin, während er dem Mädchen den Ball zurollte. »Ich finde es schön, wenn ihr miteinander spielt.«

»Danke«, sagten Susi und das andere Mädchen gleichzeitig, dann sausten sie auch schon wieder davon.

Martin sah ihnen hinterher, bis seine Aufmerksamkeit von einer Passantin in der Nähe des Seeufers auf sich gezogen wurde. Unwillkürlich richtete er sich auf. Konnte das sein?

Die Passantin schien ihn jetzt ebenfalls entdeckt zu haben und kam auf ihn zu.

»Sie ist es«, murmelte Martin. »Sie ist es tatsächlich!«

Er erhob sich und winkte der jungen Frau zu. »Karin! Wie ich mich freue, dich zu sehen. Wie lange ist es her?«

Etwas durchzuckte Martins Geist. Karin? War die nicht …? Er schüttelte sich, um diesen merkwürdigen und unangenehmen Gedanken, der da eben in ihm aufgeblitzt war, wieder zu vertreiben.

Die junge Frau öffnete den Mund und bewegte ihn, als würde sie sprechen, aber es kam kein einziger Ton daraus hervor.

»Ha, ha, sehr witzig, Schatz.« Martin feixte. »Ich habe doch gar keine Ohrhörer auf. Du kannst also ruhig normal mit mir reden.«

Doch Karin reagierte anders, als er es erwartet hatte. Statt mit ihm gemeinsam über den kleinen Spaß zu lachen, schien sie ihre Anstrengungen zu verdoppeln. Ihre Augen bekamen einen ängstlichen, fast panischen Ausdruck, und sie begann zu gestikulieren.

»Was ist denn los, Karin? Was willst du mir sagen? Also wenn du mir Angst machen willst, dann hast du es fast geschafft.«

Noch einmal gab sich die junge Frau alle Mühe, sich Martin verständlich zu machen, doch als es gerade den Anschein hatte, es würde ihr gelingen, fiel ein Schatten auf das bis dahin friedliche und sonnendurchflutete Land.

Martin sah erschrocken auf, und der Schatten biss sich in das zarte Fleisch seiner Seele, riss gierig große Stücke aus dem hellen und freundlichen Licht über dem Land heraus. Überall dort, wo die Dunkelheit sich breitmachte, verdorrte das Grün, zerfielen die Menschen zu Staub, und das Dunkel ließ nur Hoffnungslosigkeit, Angst und Verzweiflung zurück.

Martin wollte fliehen, doch etwas hielt ihn auf der Stelle fest, zwang ihn, den Untergang des Friedens mit anzusehen. Mehr und mehr wurden die freundlichen Bilder durch solche des Schreckens und des Todes abgelöst.

Flüssiges Eis schien durch Martins Adern zu rinnen, als er erkannte, jetzt Zeuge davon zu sein, wie Bonn von einer Armee des Grauens eingenommen wurde, deren Soldaten keine Gnade kannten, sondern nur die Gier nach warmem, lebendem Fleisch.

 

***

 

Stephan rappelte sich hoch. Der Schrei Starks, den dieser ausgestoßen hatte, als die anrückenden Zombies über den Geistlichen hergefallen waren, hallte immer noch in Stephans Ohren nach. Kurz kämpfte er mit der aufkommenden Übelkeit, dann hatte er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle und sah zu, dass er sich weiter Richtung Stadtmitte zurückzog. Sein Auftrag war noch nicht erledigt, dies war erst der Anfang, und er wollte eigentlich gar nicht so genau wissen, was noch alles folgen würde.

»Gottverdammte Freaks!«, fluchte Stephan. »Ich hätte gute Lust, euch allen höchstpersönlich eure hässlichen Schädel einzuschlagen, würde ich euch nicht noch brauchen.«

Ihm war klar, dass er sich mit diesen markigen Worten nur selbst Mut machte, denn zum einen hatte er seinen Baseballschläger nicht bei sich, zum anderen würde er von der schieren Masse der Untoten im Zweifelsfall einfach erdrückt werden, selbst wenn er zuvor noch so vielen von ihnen die stinkende, schleimige Hirnmasse aus den Köpfen drosch.

Nach etwa fünfzig Metern hielt er keuchend in einem Hauseingange inne. Die Zombies rückten nur langsam nach. Stephan war versucht, sie durch Winken und Rufen auf sich aufmerksam zu machen, als eine Gruppe Soldaten aus der nächsten Querstraße kam und ohne Vorwarnung das Feuer auf die Untoten eröffnete.

»Verdammte Scheiße!« Stephan zog erschrocken den Kopf ein, als ein Querschläger um Haaresbreite an seinem Ohr vorbeisirrte. »Das nennt man wohl ›friendly fire‹, aber darauf habe ich keinen Bock. Die Arschlöcher sollten besser aufpassen, wo sie hinzielen!«

Doch die »Arschlöcher« hatten ganz andere Sorgen, denn der Strom der Untoten hatte wieder Fahrt aufgenommen und bewegte sich, so schnell es die angefaulten Beine vermochten, auf sie zu. Das ständige Schmatzen, Kreischen, Röhren, Klappern und Grunzen, das dabei zu hören war, raubte Stephan beinahe den letzten Nerv, und er musste erneut darum kämpfen, seinen rebellierenden Magen unter Kontrolle zu halten.

»Verdammt, was ist mit mir los?« Keuchend stützte er sich an der Haustür ab. »Sonst bin ich doch auch nicht so zimperlich. Das liegt bestimmt am ›Transport‹ hierher. Martin, du Arsch, du wirst dir was anhören müssen, wenn ich wieder bei dir bin.«

Dann hatten die Zombies die Soldaten erreicht. Denen war es zwischenzeitlich zwar gelungen, mindestens eine dreistellige Zahl der Untoten endgültig vom Nicht-Leben zum Tod zu befördern, aber der Zustrom neuer gieriger Mäuler schien kein Ende zu kennen.

Dem ersten der Soldaten wurde das leergeschossene Gewehr aus den Händen gerungen, während sich bereits mehrere faulige Kiefer in dessen Arme und Beine verbissen. Fast im selben Moment starben zwei seiner Kameraden unter entsetzlichen Schreien, von denen einer noch versucht hatte, ein hölzernes Kreuz hervorzuholen und es den Zombies entgegenzurecken.

»Das sind keine Vampire, du Idi«, kommentierte Stephan die Szene, dann machte er sich daran, sich unbemerkt weiter Richtung Stadtmitte abzusetzen.

 

***

 

Martins materieller Körper warf sich schweißgebadet auf seiner Lagerstatt hin und her. Immer wieder ging ein Beben durch seine Glieder, und seine Gesichtszüge verkrampften sich zu Fratzen der Abscheu. Er biss die Zähne aufeinander, bis sie knirschten. Ein klägliches Wimmern entschlüpfte seiner Kehle und wand sich zwischen den zusammengepressten Kiefern hervor.

Noch einmal ging ein Ruck durch den ausgemergelten Leib, dann lag er still. Rasselnde Atemzüge sogen gierig die muffige Luft der Gefängniszelle in die Lungen. Langsam beruhigte sich auch der Herzschlag, der bis eben ein wahres Trommelfeuer gewesen war.

Doch der Frieden täuschte. Obwohl Martins Körper jetzt Ruhe gefunden zu haben schien, war sein Geist noch immer aufgewühlt – gefangen in den Schreckensszenen, die sich seinen omnipräsenten mentalen Augen boten.

Kurz verschwamm das Bild, das er bis eben gesehen hatte, dann richtete sich der Fokus seiner Wahrnehmung auf eine andere Stelle Bonns. In einer kleinen Seitenstraße kämpfte eine Gruppe Soldaten ums nackte Überleben, in ihren Blicken war blanke Panik zu erkennen.

Doch so sehr sie sich auch wehrten, der Ring der Zombies zog sich immer enger um sie zu. Für jeden der Untoten, der einem gezielten Schuss zum Opfer fiel, rückten zwei weitere nach. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Soldaten all ihre Munition verschossen hatten, dann würden sie noch einen kurzen Moment mit Hilfe ihrer Messer und Klappspaten standhalten können, bevor sie bei lebendigem Leib gefressen wurden.

Der erste der Männer schrie mit einem unmenschlich scheinenden Laut der Verzweiflung auf, als ihm einer der Zombies den rechten Arm aus dem Schultergelenk riss, während sich ein zweiter der Untoten erst gar nicht diese Mühe machte, sondern einfach zubiss.

Aus aufgerissenen Augen starrte der Soldat auf das, was einmal seine Schulter gewesen war, doch bevor er ein weiteres Mal schreien konnte, wurde seine Kehle von gierigen Klauen zerfetzt, und sein Leben verrann zusammen mit dem leiser werdenden Blubbern, das von der Stelle kam, wo einmal die Luftröhre gewesen sein musste.

Martins Geist war gerade im Begriff, auch von dieser Szene wieder fortgerissen zu werden, als er in der Dunkelheit eines nahen Hauseingangs etwas wahrnahm, das noch schwärzer zu sein schien als eine mondlose Nacht. Unwillkürlich stemmte sich sein Bewusstsein gegen den Druck, der es an eine andere Stelle spülen wollte. Tatsächlich ließ das Zerren nach und verschwand schließlich ganz.

Der Schatten war immer noch da, und obwohl es eigentlich unmöglich schien, vermeinte Martin, die Kontur eines Mannes zu erkennen, der der grausigen Szene auf der Straße mit Interesse, wenn nicht gar Begeisterung, zu folgen schien.

Täuschte er sich, oder bewegte sich der Schattenmann? Ja, er sah es jetzt ganz deutlich: Der Schwarze rieb sich die Hände und nickte beifällig.

Bevor Martin jedoch weitere Einzelheiten erkennen konnte, wurde das Bild mit einem Mal wieder unscharf. Ein kurzer Ruck, und er fand sich auf einer breiten Straße am Ortsrand wieder.

 

***

 

Mitten in dem Strom aus untotem Fleisch ging ein einzelner Mann. Seine Haltung war aufrecht, und die Art, wie er sich bewegte, hatte nichts mit dem Torkeln und Hinken der Zombies gemein. Es machte ganz den Eindruck, als wäre er ein normaler Mensch, aber obwohl er keiner der Untoten war, gehörte er auch nicht zu den Lebenden.

Immer wieder stieß der Mann einen der Zombies unsanft zur Seite, wenn sie ihm im Weg waren oder auch nur zu nahe kamen. Diese ließen sich das gefallen, ohne ihn zu attackieren, wie sie es bei jedem anderen getan hätten.

Der Mann hatte seinen Kopf in der Art der Wüstennomaden verhüllt, sodass sein Gesicht im Schatten lag und nicht zu erkennen war. Trotzdem verriet die verbrannte Haut seiner Hände, dass es sich um Frank, den General der Zombie-Armee, handelte.

Mit grimmiger Entschlossenheit trieb er seine Soldaten immer wieder an, peitschte die Gier nach frischem Fleisch in ihnen zu immer neuen Höhen, und ließ sie unnachsichtig gegen den Widerstand der verzweifelten Verteidiger anbranden.

Jedes Mal, wenn wieder ein Mensch seinen Zombies zum Opfer fiel, spürte Frank ein kurzes Gefühl der Befriedigung, denn er hatte seinem Herrn und Meister eine weitere Seele zugeführt. Darüber hinaus wurde jeder überwundene Verteidiger nach kurzer Zeit ein neues Mitglied in Franks Armee, sodass sich das Kräfteverhältnis immer mehr zu Gunsten der Untoten verschob.

Heute Nacht lief es gut für ihn – sehr gut sogar. Bald würde er vor Sandra stehen, und ihr würde nichts anderes übrigbleiben als zu erkennen, dass eine neue Weltordnung begonnen hatte, eine Weltordnung, in der er zu den Mächtigen gehörte, die das Sagen hatten. Und Macht hatte auf Frauen zu allen Zeiten anziehend gewirkt, das würde bei ihr nicht anders sein, da war er sich sicher.

 

***

 

Der Donner einer gewaltigen Detonation rollte durch die Richard-Wagner-Straße, dicht gefolgt von zwei weiteren Explosionen. Die Vorderfront eines größeren Gebäudes stürzte ein, ergoss sich auf den Strom der Zombies und brachte ihn zum Erliegen.

Aus zwei Seitenstraßen kamen etwa fünfzig Soldaten hervor und eröffneten das Feuer auf die Untoten, die nicht unter den Trümmern begraben waren und stupide nachdrängten. Ein paar Handgranaten flogen durch die Luft, landeten inmitten der lebenden Leichen und rissen eine Sekunde später mehrere Löcher in deren Reihen.

Für ein paar Minuten sah es so aus, als hätte die Gegenoffensive der Soldaten Erfolg. Vor dem Schutthaufen, der einmal eine Hauswand gewesen war, wurde der Berg der endgültig Toten höher und höher. Nur noch wenige der Zombies schafften es, diesen zu überklettern, was ihnen jedoch sofort gezielte Schüsse einbrachte, unter denen ihre Bewegungen endgültig erstarben.

»Ich hoffe, unsere Kameraden haben an anderer Stelle ebenso Erfolg.« Hauptfeldwebel Clemens wischte sich in einer unbewussten Geste über die Stirn. »Wenn wir es schaffen, diese Stellung noch ein paar Minuten zu halten, kann hinter uns ein neuer dauerhafter Verteidigungsring gezogen werden. Dahinter werden wir wieder in Sicherheit sein.«

»Ihr Wort in Gottes Gehörgang, Herr Hauptfeldwebel.« Stabsunteroffizier Blistel wirkte bei weitem nicht so zuversichtlich wie sein Vorgesetzter. »Sie wissen genau, dass die neue Verteidigungslinie mehr oder weniger nur ein Provisorium ist, hinter dem General Dupont unsere Kräfte für eine Gegenoffensive sammeln will. Und den ursprünglichen Ring um die Stadt haben diese Biester ja auch irgendwie überwunden.«

»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Schwarzmalereien, Blistel. Beten Sie lieber zum Herrn, dass Duponts Strategie aufgeht.«

Doch Gottes Ohren schienen derzeit keine Gebete entgegenzunehmen, oder die Anzahl der eintreffenden frommen Wünsche war im Moment einfach zu groß, um allen nachgehen zu können. Auf jeden Fall kam neuerliche Bewegungen in den Berg der toten Untoten auf den Trümmern, als mehrere Zombies sich daranmachten, diesen gleichzeitig zu überklettern.

»Aufpassen, Männer!«, wies Blistel die Soldaten an. »Gleich gibt es für euch wieder etwas zu tun. Und zielt mir sauber, denn wir haben nicht unbegrenzt Munition!«

Als Antwort war das Klacken der Sicherungshebel zu vernehmen, als diese von S auf E gestellt wurden. Die Soldaten hoben ihre Gewehre und legten an.

»Was hat der da?«, entfuhr es einem Gefreiten in diesem Moment.

»Wer hat was, Kirchner?«, fauchte Blistel den Mann an. »Halten Sie das etwa für eine ordnungsgemäße Meldung?«

»Nein, Herr Stabsunteroffizier.« Kirchner räusperte sich. »Gefreiter Kirchner, ich melde, dass einer – korrigiere – mehrere der Zombies einen Gegenstand in der Hand halten, der verflucht nach einer Handgranate aussieht.«

»Scheiße, jetzt sehe ich es auch!« Clemens riss die Augen auf. »Schießt, Männer, schießt!«

Wie ein Mann rissen Clemens und Blistel ihre Pistolen nach oben und schossen ebenfalls auf die Untoten, die auf dem Berg der toten Leiber aufgetaucht waren.

Tatsächlich gelang es den Soldaten, die Angreifer am Werfen der Handgranaten zu hindern, und jeden von ihnen auszuschalten. Doch mit dem, was jetzt passierte, hatten sie nicht gerechnet.

Als die Zombies von den Schüssen niedergestreckt wurden, fielen ihnen die Granaten aus den Händen, mitten zwischen die aufgetürmten Leichen. Dort detonierten sie und rissen, begleitet von einem ekelhaften Schmatzen, eine Lücke in die Barriere der Toten.

Als hätten ihre Kameraden dahinter nur darauf gewartet, ergossen sie sich jetzt durch diese Lücke, dabei trug jeder von ihnen ein geeignetes Körperteil eines der endgültig Toten wie einen Schutzschild vor sich her.

»Scheiße, was machen die denn da?« Blistel konnte es nicht fassen. »Als ob ihnen jemand sagen würde, was sie zu tun haben.«

»Bericht!«, forderte Clemens lautstark. »Wie viele Granaten

haben wir noch?«

»Keine mehr, Herr Hauptfeldwebel. Die haben wir alle vorhin beim ›Auftürmen‹ verbraucht.«

»Worauf wartet ihr dann noch? Schießt sie in Stücke, los!«

Die Männer taten ihr Bestes. Immer wieder gelang es einem von ihnen, einen Wirkungstreffer zu landen, der einem der Zombies entweder seine Deckung entriss, oder ihn sogar direkt endgültig ausschaltete. Trotzdem kamen ihnen die Untoten näher und näher, ihr Zustrom an Nachschub schien weiterhin unbegrenzt zu sein.

»Verdammte Biester!« Mit grimmiger Miene ließ Blistel das leere Magazin aus seiner P1 fallen, rammte ein neues hinein und ließ den Schlitten der Waffe wieder nach vorne schnellen. »Wir müssen sie zurückdrängen. Los, Männer, gebt alles!«

In diesem Moment änderte die erste Reihe der Angreifer ihre Strategie. Anstatt sich weiter in Richtung der Soldaten zu bewegen, begannen sie, diese mit Leichenteilen zu bewerfen. Die Männer waren im ersten Moment derart überrascht, dass sie aufhörten zu schießen.

»Weiterfeuern!«, brüllte Clemens. »Lasst euch doch davon nicht beirren, ihr Idioten!«

Dann traf ihn ein herrenloser Schädel am Kopf und schickte den Hauptfeldwebel ins Land der Träume. Auf diese Weise bekam er nicht mehr mit, wie seine Stellung vollends überrannt wurde, und auch den Biss, der ihn die Seiten wechseln ließ, war nur ein kurzes Aufleuchten in seinem Unterbewusstsein, bevor es vollends erlosch.

 

***

 

Martin schwebte über der Szene und bekam jedes grausige Detail in aller Deutlichkeit mit. Das Knacken brechender Knochen fraß sich ebenso in seine Seele wie die angsterfüllten Schreie der Sterbenden und das Schmatzen, Geifern, Grunzen und Knirschen der Untoten. Aber im Gegensatz zu den Soldaten dort unten bemerkte er den verhüllten Mann, der ein wenig abseits der Zombies stand und diese mit seinen Gedanken lenkte.

Frank!, durchzuckte es Martin. Ich hätte es mir ja denken können, dass die Knirscher nicht von alleine auf die Idee mit den »Schutzschilden« kommen. Verdammt, sie sind auch so schon gefährlich genug, ohne ihren General … 

Dann bemerkte er die Präsenz eines weiteren Mannes, der ebenfalls nicht zu den Soldaten gehörte – Gabriel! Dieser schien sich an dem Spektakel zu ergötzen, ganz so, als sei das Schlachten und Morden einzig zu seinem Vergnügen inszeniert worden.

In merkwürdiger Klarheit erkannte Martin das Band, welches den dunklen Mann mit seinem General verband. Er erfasste sogar ein Stück weit, was in den beiden vorging, und das, was er empfing, ließ ihn schaudern. Da war nichts Menschliches mehr in den Emotionen, die Gedanken waren nur auf Hass und Zerstörung ausgerichtet.

Für einen kurzen Moment vermeinte Martin sogar, tiefer in die Abgründe ihrer Seelen schauen zu können, die wahren Absichten und Motive hinter ihren Taten zu sehen, dann wurde er ein weiteres Mal von einer unbekannten Macht fortgerissen.

 

***

 

Frank sah irritiert auf. Seine Augen suchten den Himmel ab, doch er konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. Dabei hätte er schwören können, soeben beobachtet worden zu sein.

»Ich darf mich nicht ablenken lassen«, rief er sich selbst zur Ordnung. »Diese Nacht ist meine Nacht, und daran wird irgendein merkwürdiges Gefühl nichts ändern können!«

Er blieb stehen und bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er den blutigen Fetzen einer Schulterklappe in Händen. Die Überreste des Rangabzeichens waren markant, die Schulterklappe hatte einem Hauptfeldwebel gehört.

»Willkommen in meiner Armee.« Frank kicherte. »Wer weiß, vielleicht mache ich dich sogar zum Spieß einer meiner Kompanien. Aber nur, wenn du dich nicht zu dämlich anstellst.«

Sein Geist griff hinaus, tastete nach den Untoten, die sich ganz frisch in den Reihen seiner Soldaten eingefunden hatten, dabei projizierte er das Bild des Rangabzeichens in ihre Gehirne und hoffte auf eine Reaktion. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er dieses Unterfangen wieder aufgab, denn jeder der ehemaligen Soldaten reagierte in irgendeiner Weise auf das Abbild, doch nichts daran verriet, ob es sich um den einstigen Besitzer der Schulterklappe handelte.

Achtlos ließ Frank das Stoffstück wieder fallen. Was kümmerte ihn, was ein Mitglied seiner Armee zu Lebzeiten gewesen war? Jetzt zählte nur noch, dass sie ihm zu folgen hatten, er war ihr General, ihr Gott, ihr Heiland.

»Findest du nicht, dass du es ein wenig übertreibst?« Gabriels Stimme klang belustigt. »Deine beginnende Hybris ist zwar interessant und auch ein gutes Stück weit unterhaltsam, aber pass besser auf, dass sie dich nicht wertlos für mich werden lässt.«

»Musst du immerzu in meinen Gedanken herumschnüffeln?« Frank starrte die dunkle Gestalt, die sich aus dem Schatten eines Hauseingangs geschält hatte, hasserfüllt an.

»Na, na, na, wer wird denn aufmucken wollen?« Gabriel schüttelte missbilligend den Kopf. »Muss ich dich ein weiteres Mal daran erinnern, wem du deine Treue geschworen hast?«

»Treue bist zum Tod, wie?« Frank lachte trocken auf. »Leider bin ich über diesen Zustand schon hinaus, also sag mir: Was kommt als nächstes?«

»Ich sehe, du bist wieder einmal in Philosophierlaune. Du weißt, dass ich unsere kleinen Geplänkel durchaus zu schätzen weiß, aber im Moment fehlt mir leider die Zeit, sie zu genießen.«

»Oooch, das ist aber schade.« Franks Stimme troff vor Häme. »Macht dir gerade wieder jemand einen Strich durch deine allmächtigen Pläne? Womöglich ein Menschlein

»Heute hast du – zumindest bisher – gut Arbeit geleistet, daher will ich dir deinen Spott nachsehen.« Gabriel legte den Kopf schief. »Aber sei gewiss, dass wir ein andermal auf dieses Thema zurückkommen werden, und ich hoffe sehr für dich, dass du bis dahin nicht neuerlich zu einer Enttäuschung geworden bist. Aber nun muss ich fort, meine Anwesenheit ist auch noch an anderer Stelle auf diesem fauligen Ball, den ihr ›Planeten‹ nennt, erforderlich.«

»Sag bloß, die Pflicht ruft auch einen wie dich? So klang es nämlich gerade.«

»Man könnte es durchaus so nennen, ja.« Gabriel nickte. »Aber sei versichert, dass das, was als Pflicht beginnt, als Vergnügen enden wird – zumindest für mich. Das Spiel ist nämlich noch lange nicht vorbei, es gibt noch einige Züge zu tun.«

»Na, dann wünsche ich dir doch viel Erfolg.« Frank grinste. »Ich werde mich derweilen weiterhin um dieses Städtchen hier kümmern.«

»Das will ich dir auch geraten haben.« Von Gabriels Körper ging für einen Moment eine Welle der Kälte aus. »Du weißt, was du zu tun hast, denn deine Armee wird bald eine Größe erreicht haben, bei der du Unterstützung benötigst. Du brauchst so etwas wie einen Adjutanten, also kümmere dich darum!«

»Ja, großer Meister, alles was du sagst.«

Doch Gabriel hatte Franks Worte schon nicht mehr gehört. So schnell wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden.

 

 

Kapitel II

Befreiung

 

Das blonde Mädchen lag fiebernd in einem Bett auf der Isolierstation des Krankenhauses. Auf seiner Haut glänzte Schweiß, und seine Gliedmaßen wirkten aufgedunsen. Hinter den geschlossenen Lidern zuckten die Augen hin und her.

Plötzlich bebten die Lippen des Mädchens, und ein einzelnes Wort, das mehr wie ein Seufzen klang, kam dazwischen hervor: »Eden …«

Die Atemzüge des Mädchens wurden hektisch und der Herzschlag beschleunigte sich, dann beruhigte es sich langsam wieder. Noch einmal warf es den Kopf von einer Seite zur anderen, dann schien es wieder friedlich zu schlafen.

 

***

 

Gabi stand auf einer duftenden Sommerwiese. Sie reckte ihre Arme in die Höhe und begrüßte freudig die Strahlen der Sonne, die wärmend ihre Haut streichelten.

Lachen drang an Gabis Ohren, und sie wandte den Kopf, um dessen Quelle auszumachen. Erst jetzt bemerkte sie, dass überall um sie herum fröhliche, glückliche Menschen waren, die den verschiedensten Freizeitbeschäftigungen nachgingen. Unweit von der Stelle, wo sie stand, spielte eine Gruppe Kinder mit einem Ball.

»Lasst ihr mich mitspielen?«, fragte Gabi ein Mädchen mit langen, schwarzen Zöpfen, das ihr am nächsten stand.

»Gerne«, antwortete die Angesprochene und warf Gabi den Ball zu. »Hier, fang!«

Einen kurzen Moment war Gabi unsicher, denn sie wusste, dass Ballspiele eigentlich nicht zu dem gehörten, was sie besonders gut konnte, ihr Körper und auch ihre schlechten Augen spielten ihr dabei immer wieder Streiche. Doch diesmal war es anders. Geschickt fasste sie zu und hatte den Ball perfekt im Griff. Spielerisch ließ sie ihn von einer Hand zur anderen hüpfen, dann warf sie ihn einem der anderen Kinder zu. Der Wurf war dabei so exakt ausgeführt, dass der Fänger nur noch direkt vor seiner Brust zugreifen musste.

»Du kannst aber toll mit einem Ball umgehen«, meinte das Mädchen mit den schwarzen Zöpfen. »Wo hast du das denn gelernt?«

»Ich habe das nicht gelernt.« Gabi lächelte. »Ich kann das einfach so. Aber jetzt muss ich weiter. Vielen Dank, dass ihr mich habt mitspielen lassen.«

Mit einem Mal wurde Gabi alles klar. Sie war wieder in ihrem Traum, das hier war Eden. Hier hatten ihre Beschränkungen noch nie eine Rolle gespielt, hier war sie schon immer »normal« gewesen.

Aber heute war es anders. Sie spürte eine Kraft in sich pulsieren, die sie niemals zuvor gehabt hatte. Und noch etwas wurde ihr klar: Sie war jetzt totlebend.

»Genau, totlebend«, murmelte Gabi und lauschte eine Zeitlang dem Klang des Wortes nach …

 

***

 

Stephan stolperte und fiel der Länge nach hin. Sofort rappelte er sich wieder auf und wollte eben weiterlaufen, als etwas von hinten nach ihm grapschte. Gleichzeitig spürte er einen durchdringenden Schmerz am linken Oberarm.

»Du gottverdammter Freak!«, schrie Stephan, während er dem Zombie einen fulminanten Tritt verpasste. »Lass los!«

Doch der dachte gar nicht daran, dieser Aufforderung Folge zu leisten, sondern versuchte weiterhin, mit seinen maroden Kiefern den Ärmel der Jacke zu durchdringen.

Gehetzt sah sich Stephan um, dann entdeckte er einen einzelnen Pflasterstein am Straßenrand liegen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, denn die Kollegen seines »Anhängsels« würden nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Noch einmal trat er nach dem Untoten, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Entnervt schleifte Stephan den stinkenden Körper hinter sich her, während er versuchte, den Pflasterstein in seine Reichweite zu bekommen.

Als er nahe genug heran war, ließ er sich einfach fallen. Der Zombie folgte der Bewegung ohne nennenswerten Widerstand zu leisten, offenbar war ihm alles recht, solange er nur seine Kiefer nicht öffnen musste.

»Du dumme Sau!«, schrie Stephan ihn an. »Das gibt wieder große blaue Flecken, du Arsch!«

Gleichzeitig bekam er den Pflasterstein zu fassen und drosch damit auf den Schädel des Untoten ein. Schon beim ersten Schlag knackte der Knochen gänsehauterregend, doch es bedurfte dreier weiterer kräftiger Hiebe, bis der Kopf des Getroffenen vollends aufplatze und sich seine breiige Hirnmasse über Stephans Schulter ergoss.

»Zum Glück ist das nicht meine Jacke«, erklärte Stephan dem jetzt reglosen Körper, während er sich vollends unter diesem hervorarbeitete. »Andernfalls würde ich mir nämlich noch etwas Hübsches für dich einfallen lassen. Aber ich finde sicher nochmal einen von euch Freaks, der eine stabile Lederjacke anhat, die er jetzt nicht mehr braucht, weil er ohnehin nicht friert. Hast also nochmal Glück gehabt, Schweinebacke.«

Angewidert zog er die Jacke aus und ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Die anderen Zombies hatten ihn inzwischen fast erreicht, es war also höchste Zeit, wieder ein gutes Stück Weg zwischen sich und deren gierige Mäuler zu bringen.

 

***

 

Gabi sah den Schmetterlingen nach, die aufstoben und davonflogen. Sie winkte ihnen noch einmal hinterher, dann wandte sie sich lächelnd dem dunklen Mann zu.

»Hallo«, begrüßte sie die vernarbte Erscheinung. »Es ist schön, dass du mich wieder einmal besuchen kommst.«

»Hast du denn gar keine Angst mehr vor mir?«

»Ich weiß nicht.« Gabi zuckte mit den Schultern. »Vielleicht noch ein ganz kleines bisschen.«

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, ich will dir doch nur helfen.«

»Das haben die Ärzte auch gesagt, dass sie mir helfen wollen.« Gabis Miene verfinsterte sich. »Aber das Gegenteil war der Fall. Sie haben mir wehgetan und mich anschließend sterben lassen.«

»Du bist nicht tot, Gabi.«

»Doch, bin ich. Okay, nicht wirklich, ich bin totlebend, das buchstabiert man t-o-t-l-e-b-e-n-d.«

Der dunkle Mann lächelte, was sein entstelltes Gesicht zu einer Fratze werden ließ, doch das Mädchen lächelte zurück.

»Ich finde das gar nicht so schlecht«, erklärte Gabi. »Ich bin jetzt viel geschickter als früher, und mein Kopf arbeitet auch viel besser. Ich verstehe auf einmal Dinge, die mir sonst immer unklar waren. Das finde ich schön.«

»Möchtest du mehr davon? Willst du richtig stark werden und alles tun können, wozu du Lust hast? Nicht nur hier, sondern überall auf der Welt?«

»Wie meinst du denn das?«

»Soll ich dich befreien, dir zu einem neuen Leben verhelfen?«

»Kannst du das denn?«

»Glaubst du, dass ich es kann?«

»Ich denke schon.«

»Dann kann ich es auch. Also, möchtest du?«

»Ja, das wäre sehr schön.« Gabi nickte eifrig und strahlte dabei.

Der dunkle Mann nickte ebenfalls, dann begannen seine Hände zu leuchten. Gleichzeitig setzt ein Flüstern und Summen wie von zehntausenden Stimmen ein.

»Was tust du da?« Gabi sah sich unsicher um. »Wird es wehtun?«

»Nein, wird es nicht. Es ist gleich vorbei. Nur noch einen kleinen Moment.«

Das Summen und Flüstern wurde immer lauter, steigerte sich zu einem regelrechten Orkan. Überganglos wurde Gabi von dem dunklen Mann fortgerissen, überschlug sich wild wirbelnd und verlor jegliche Orientierung.

Dann wachte sie auf.

Für ein paar Sekunden saß sie einfach nur da, lauschte nach innen und befühlte ihren Körper. Ja, der dunkle Mann hatte nicht gelogen. Ihr Körper war endlich nicht mehr tumb und träge, ihre Gedanken nicht mehr schwer. Der dunkle Mann hatte sie wirklich befreit, und Gabi war ihm unendlich dankbar dafür.

 

***

 

»Hey! Hier bin ich!« Stephan brüllte aus Leibeskräften und winkte dabei mit beiden Armen. »Hier drüben, wo die Hand leuchtet!«

Doch die Masse der Zombies nahm keine Notiz mehr von ihm. Zwar hielten einzelne noch auf ihn zu, aber das waren nur die, die sich sowieso schon in seiner Nähe aufgehalten hatten.

»Dann halt nicht, ihr blöden Affen.« Stephan reckte seinen Mittelfinger in Richtung des Stroms der Untoten. »Sucht euch euer Fresschen doch alleine. Aber kommt nachher nicht, um euch zu beschweren, wenn ihr nichts gefunden habt.«

Seine markigen Worte sollten darüber hinwegtäuschen, dass er sich Sorgen darum machte, ob Martins Plan trotzdem noch aufgehen würde. Stephan musste es gelingen, den Junkie – wie er Martin gerne nannte – und die Kinder zu befreien, denn nur gemeinsam hatten sie eine Chance, lebend aus dieser Apokalypse zu entkommen.

Ein Teil des Planes war es dabei, mit Hilfe der Zombies die Bewacher des Gefängnisses zu überwinden, oder zumindest so viele von Duponts Einsatzkräften in Kämpfen binden zu können, dass es möglich wurde, den Rest der Wachen zu besiegen. Dummerweise spielten die Untoten auf einmal nicht mehr mit, ließen sich nicht mehr von Stephan locken, sondern gingen eigene Wege.

»Auf euch paar Hansel ist auch geschissen«, erklärte er den verbliebenen drei Zombies, die noch versuchten, ihn zu erreichen. »Oder könnt ihr mir erklären, warum die anderen Freaks sich einen eigenen Weg suchen? Habt ihr sowas wie einen Oberguru, der euch sagt, was ihr zu tun habt, und ihr drei seid die Tauben in eurer Truppe, oder riechen die anderen nur besser als ihr und gehen einfach von alleine der größten Ansammlung warmen Fleisches nach, hm?«

Grunzen, Keuchen und Schmatzen war die Antwort, doch Stephan hatte auch nicht ernsthaft etwas anderes erwartet. Kurz überlegte er, ob er sich an den drei »Verirrten« noch austoben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er hatte jetzt wichtigeres zu tun, denn es war langsam an der Zeit, die Kinder zu befreien.

Sofort fiel ihm Gabi ein. Sie hatte lange blonde Haare, so wie seine ehemalige Freundin Julia oder diese Jessica. Lange blonde Haare gefielen ihm, auch wenn er mit Gabi ansonsten nicht viel anfangen konnte. Trotzdem würde er versuchen, sie zuerst zu befreien, denn die anderen in der Gruppe hatten von Anfang an ein besonderes Aufhebens um das Mädchen gemacht. Durch ihre Rettung würde er im Ansehen der anderen sicherlich ein gutes Stück steigen, was sich später noch auszahlen konnte. Außerdem tat ihm das Mädchen irgendwie leid.

»Dann mal ran an den Speck!«, sprach sich Stephan selbst Mut zu. »Gabilein, ich komme. Ein weißes Pferd kann ich zwar nicht zu deiner Rettung aufbieten, aber ich denke, du und die anderen werden mir auch so dankbar sein.«

 

***

 

Zackig wie immer betrat Jens Dahlbusch das Büro von General Dupont. Er grüßte militärisch, dann wartet er darauf, dass ihn sein Vorgesetzter ansprach.

»Nun, Dahlbusch, was gibt es?« Das Gesicht des Generals wirkte fahl, die Falten hatten sich tief darin eingegraben. »Bringen Sie mir zur Abwechslung eine gute Nachricht?«

»Excusez-moi, mon Général, ich kann leider nur mit weiteren Hiobsbotschaften aufwarten. Die Stellung von Hauptfeldwebel Clemens wurde überrannt, die Kräfte von …«

»Keine Einzelheiten, Dahlbusch.« Dupont wedelte mit der rechten Hand. »Die bringen uns jetzt nicht weiter. Lassen Sie den Ring der Verteidiger noch enger zusammenziehen.«

»Sie wollen die Außenbezirke aufgeben?« Die Augen des Adjutanten weiteten sich. »Dort leben auch Zivilisten.«

»Das ist mir bekannt. Und denjenigen unter ihnen, deren Glauben fest genug ist, wird der Herr Gnade zuteil werden lassen.«

»Bien sûr, mon Général!« Dahlbusch schlug mit versteinertem Gesicht die Hacken zusammen. »Den Ring der Verteidiger enger ziehen, jawohl!«

»Und noch etwas, Dahlbusch.«

»Mon général?«

»Geben Sie an diejenigen, die sich in den vergangenen Tagen als wahrhaft gläubig erwiesen haben, Waffen aus. Sie sollen die Soldaten unterstützen.«

Kurz zuckte es in Dahlbuschs Gesicht, dann salutierte er abermals, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum ebenso zackig, wie er ihn betreten hatte.

 

***

 

Das Knallen mehrerer Schüsse peitschte durch den künstlichen Rauch, dann war Ruhe.

»Sandra?« Jörg Weimers Stimme klang ein wenig verhalten, als er nach der jungen Frau rief. »Alles okay bei dir?«

»Ja, alles klar. Wir haben die beiden erwischt.« Sandra schluckte trocken, dann sicherte sie ihre P90 wieder. »Weißt du, wohin wir jetzt müssen?«

»Da entlang.« Jörg deutete den Gang hinunter.

»Ich mach das Fenster auf, damit der Rauch abziehen kann.«

»Nein, auf keinen Fall!«

»Warum denn nicht? Das Zeug hat doch seinen Dienst getan.«

»Das schon, aber wir hatten bislang ohnehin Glück, dass das Sirenengeheul unsere Geräusche überdeckt hat. Aber wenn jetzt Rauch aus einem der Fenster aufsteigt, wird garantiert irgendjemand darauf aufmerksam, dass hier etwas vor sich geht, was nicht im Sinne des Generals ist. Die Sicht wird ohnehin gleich wieder besser, weil sich der künstliche Nebel nach und nach verteilt und dabei dünner wird.«

»Fein, dann machen wir solange ein Päuschen.« Sandra grinste. »Kaffee?«

»Wie?« Jörg sah sie entgeistert an.

»Na, da!« Sandra zeigte auf eine Stelle in der Wachstube. »Dort steht eine Thermoskanne. Ich könnte wetten, dass Kaffee drin ist.«

»Danke, aber mir ist jetzt nicht nach einer Kaffeepause. Dazu bräuchte ich ein bisschen mehr Ruhe.«

»Hast ja recht. Lass uns lieber zusehen, dass wir endlich die Kinder rausholen.«

 

***

 

»Dahlbusch! Wo stecken Sie?«

Zum wiederholten Mal hieb Dupont mit Wucht auf den Taster der Gegensprechanlage, die ihn direkt mit dem Schreibtisch seines Adjutanten verband, doch es erfolgte weiterhin keine Reaktion. Schließlich erhob sich der General und riss die Tür zu seinem Vorzimmer auf. Niemand war darin zu sehen.

Dupont sog hörbar die Luft ein. Es entsprach gar nicht Dahlbuschs Art, seinen Arbeitsplatz für längere Zeit zu verlassen, ohne vorher Bescheid zu geben. Der General lauschte, doch außer dem Geräusch der Sirenen war nichts zu hören.

»Es ist wohl an der Zeit, diese Dinger wieder abschalten zu lassen«, murmelte er vor sich hin. »Inzwischen wird auch der Letzte Bescheid wissen.«

Mit schnellen Schritten durchmaß er das Vorzimmer und öffnete die Tür zum Gang. Dieser war ebenfalls verlassen.

»Dahlbusch!«

Wieder erfolgte keine Antwort.

Mit säuerlicher Miene durchquerte der General den Gang und riss die Tür zur Herren-Toilette auf.

»Dahlbusch? Sind Sie hier?«

Keine Antwort.

»Das ist Insubordination!«, fauchte Dupont. »Dafür werde ich ihn zur Rechenschaft ziehen, sobald er wieder auftaucht. Aber zuerst muss ich mich um die Koordination der Truppen kümmern.«

Er knallte die Tür zu den Sanitärräumen mit Wucht hinter sich zu und eilte zu seinem Vorzimmer zurück. Dort setzte er sich an das Funkgerät, mit dem sein Adjutant normalerweise die Befehle an die Einsatzkräfte gab.

»Achtung, an alle! Hier spricht General Dupont. Ziehen Sie sich sofort auf Position Rot-Delta-Drei zurück. Ich wiederhole: Sofortiger Rückzug auf Position Rot-Delta-Drei. Hiermit tritt Plan Echo-88-Alpha in Kraft. Möge Gott uns alle beschützen!«

Eine Weile blickte er einfach nur aus dem Fenster. An immer mehr Stellen in der Stadt loderten Brände auf. Schließlich verstummten die Sirenen.

Dupont erhob sich, ging zum Fenster und öffnete es. Ohne das permanente Geheul, das bis eben das dominierende Geräusch gewesen war, konnte er wieder hören, was draußen vor sich ging. Doch diese Arie des Schreckens war nicht das, was er erwartet hatte. Zwischen dem Rattern automatischer Gewehre waren immer wieder beinahe unmenschliche Schreie zu vernehmen, die nur eines bedeuten konnten: Eine Stellung nach der anderen fiel den Angreifern zum Opfer.

Der General wurde noch bleicher, obwohl das kaum noch möglich schien. Sie waren so kurz davor gewesen, einen neuen, gottgefälligen Staat zu errichten, und nun dies. Das Fleisch seiner Männer schien schwach, die Stärke des Angreifers einfach zu groß.

»Und die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren«, murmelte Dupont, dann verhärteten sich seine Gesichtszüge wieder.

Noch war nicht alles verloren, noch hatte er das Kommando sowie Männer, die seine Anweisungen ausführten. So schnell würde er nicht aufgeben!

Er setzte sich wieder ans Funkgerät und gab neue Befehle aus. Wieder und immer wieder. Irgend einer davon würde schon zum Ziel führen, irgendwann …

 

***

 

»Hilf mir mal mit dieser blöden Tür!« Sandra hatte sich an einer der Zellentüren zu schaffen gemacht und blickte sich nun hilfesuchend nach Jörg um. »Das Ding will einfach nicht aufgehen.«

»Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass unsere Chancen besser stehen, wenn wir es zu zweit versuchen.«

»Dann schau dir das Schloss doch wenigstens einmal an. Vielleicht hast du ja eine Idee, wie man es aufbekommt.«

Jörg tat der jungen Frau den Gefallen und beugte sich zu dem Türschloss hinunter.

»Du weißt doch noch nicht einmal, ob wir an dieser Zelle richtig sind«, brummte er, während er ins Schlüsselloch spähte. »Da kann wer-weiß-wer drinsitzen.«

»Na und? Ist doch völlig egal, welches arme Schwein wir zuerst befreien. Egal, wen dieser übergeschnappte General hat einsperren lassen, ich bin mir ziemlich sicher, dass derjenige es nicht verdient hat.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein? Manch einer ist auch einfach nur ein Verbrecher. Heeeyyyyy!?!«

Jörg spürte, wie er mit Macht nach hinten gerissen wurde. Instinktiv rollte er sich zusammen und entging auf diese Weise um Haaresbreite einem zuschnappenden Kiefer. Hektisch machte er zwei Schritte zur Seite, um sich Raum zu verschaffen. Aus dem Augenwinkel erkannte er, wer ihn da angegriffen hatte. Es waren Bernd und Hans, die beiden Wächter, die er und Sandra vor nicht einmal zehn Minuten erschossen hatten.

»Verdammt!«, fluchte Jörg, während er nur mit Mühe einem weiteren Angriff entging. »Wo kommen die denn her? Die waren doch tot, ich habe es kontrolliert!«

»Mir war klar, dass die wieder aufstehen würden«, erwiderte Sandra mit ernster Miene. »Nur dass es so schnell geschieht, verwundert mich ehrlich gesagt auch.«

Jörg grunzte etwas unverständliches, dann zog er seine P1 und legte den Sicherungshebel um. Doch bevor er die Pistole abfeuern konnte, wischte Hans’ Arm mit einer gezielten Bewegung durch die Luft und schlug sie ihm aus der Hand.

»Schieß!«, gellte Jörgs Schrei durch den Korridor. »Gleich haben sie mich!«

»Ich kann nicht!« Sandras Stimme war die Anspannung der jungen Frau deutlich anzuhören. »Das Scheißding hat Ladehemmung!«

Während Sandra verzweifelt an ihrer P90 herumfummelte, schaffte es Jörg, sich durch ein paar Tritte ein wenig Luft zu verschaffen.

»Verdammt, ich kenne mich mit der Knarre nicht gut genug aus!« Sandra riss mit all ihrer Kraft am Ladehebel, aber es rührte sich rein gar nichts. »Ich hätte doch lieber die P1 nehmen sollen, da weiß ich wenigstens, wo ich hinfassen muss.«

Sie schielte zu der Pistole, die jetzt am Boden lag. Allerdings musste sie sich in Reichweite der Untoten begeben, um sie zu fassen zu bekommen. Sandra focht einen inneren Kampf aus.

Jörg hatte es inzwischen geschafft, sich einen der Stühle zu schnappen, die auf dem Gang herumstanden. Mit wuchtigen Schlägen drosch er damit auf das Monstrum ein, das einmal auf den Namen Bernd gehört hatte. Für einen Moment sah es so aus, als würde er die Oberhand gewinnen, dann gelang es dem Hans-Zombie, ihn von den Beinen zu holen. Fast im gleichen Moment waren die beiden ehemaligen Wächter über ihm …

 

 

Kapitel III

Einmischung

 

Die Isolierstation des Krankentrakts schien verwaist zu sein. Offenbar war das gesamte medizinische Personal beim Einsetzen des Alarms geflohen. Niemand stellte sich dem Dunklen Mann in den Weg, als er – eine Welle der Kälte hinter sich herziehend – den eigentlich abgeschotteten Bereich betrat.

Gabriels Gesicht zeigte eine zufriedene Miene. Im Moment verlief alles nach Plan.

»Ihr seid ja so berechenbar«, höhnte er in die jetzt leeren Ärztezimmer hinein. »Und in der Angst um euer erbärmliches kleines Leben vergesst ihr alles, was ihr ansonsten mit Worten hochhaltet. Aber ich habe auch nichts anderes von euch erwartet.«

Noch einmal sah er sich lächelnd um, dann ging er gezielt auf die Tür zu einem der Isolierräume zu. Eine kurze Geste mit der Hand genügte, das Schloss entriegelte sich und die Tür schwang auf.

Gabriel betrat den Raum und ging auf das Krankenbett zu, das in der Raummitte stand. Darin lag ein blondes Mädchen von vielleicht zwölf Jahren. Ihre Augen waren geöffnet und starrten reglos an die Decke.

»Komm, es ist an der Zeit.« Ungewohnt behutsam hob Gabriel das Mädchen aus dem Bett und setzte es auf dem Boden ab. »Es wartet Arbeit auf dich, du musst doch meinen General unterstützen. Verstehst du das?«

»Ich … ich denke schon.« Gabi nickte bedächtig. »Bringst du mich jetzt zu ihm?«

»Natürlich.«

Der Dunkle Mann nahm Gabi bei der Hand und führte sie aus dem Krankenzimmer. Als sie den Gang erreichten, blieb er mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung stehen und musterte den Neuankömmling.

»Ah, eines der Paradeexemplare des menschlichen Gezüchts.« Gabriel lachte auf. »Dunkle Neigungen, Lug und Trug im Herzen. In den Armen 20 000 Volt, aber im Kopf leuchtet nicht einmal eine kleine LED.«

Stephan sah Gabi an, dann blickte er zu dem Dunklen Mann. »Nimm die Finger von der Kleinen!«

»Sonst was? Willst du mir andernfalls – äh, wie sagt ihr doch gleich? – das Esszimmer sanieren?«

Bevor Stephan etwas erwidern konnte, erschien neben ihm ein großer weißer Hund. Dessen Knurren klang so tief, dass es förmlich in Stephans Beinen vibrierte. Verblüfft blickte er auf das Tier, dann ergriff er die Gelegenheit beim Schopf.

»Nein, ich werde dir Nero auf den Hals hetzen!«

»Nero?« Gabriel schüttelte sich vor Lachen.

Es war ihm anzumerken, dass er noch mehr sagen wollte, aber das Lachen nahm ihm beinahe die Luft zum Atmen.

»Wirst schon sehen,« knurrte Stephan, dann wandte er sich an den weißen Hund: »Los, Nero, fass!«

Doch des Befehls hätte es nicht bedurft, denn der weiße Hund befand sich schon in der Luft, die Zähne gebleckt und Gabriels Kehle fest im Blick. Gleichzeitig setzte sich Gabi in Bewegung und lief auf Stephan zu.

»Schnell, Gabi, komm zu mir!«, feuerte Stephan das Mädchen an. »Ich bring dich hier raus und in Sicherheit.«

Dann sah er Gabis Augen. Irgend etwas war falsch damit, aber er konnte nicht sagen, was es war.

Als Gabi ihn fast erreicht hatte, riss sie den Mund auf und schnappte nach Stephans Bauch. Dieser konnte den zupackenden Kiefern nur durch eine schnelle Drehung entkommen, wobei er einen Fetzen seines T-Shirts zwischen den Zähnen des Mädchens zurückließ.

»Spinnst du jetzt vollends?!?« Entgeistert schaute er auf das Mädchen, dann schlich sich die Erkenntnis wie ein hinterhältiger Attentäter in sein Denken. »Du … du bist jetzt eine von denen! Du bist ein Freak geworden wie die anderen! Scheiße!«

Den Stand der Dinge erkennen und sich zur Flucht wenden war eins. Stephan rannte den Korridor der Isolierstation in einer Geschwindigkeit entlang, dass man meinen konnte, an seinen Ohren würden sich jeden Augenblick Kondensstreifen bilden. Zwei Sekunden später fiel die Tür zum Treppenhaus mit einem »Kabumm!« hinter ihm zu.

Das Gabi-Ding sah ihm kurz hinterher, dann wandte es sich Gabriel und dem weißen Hund zu, die inzwischen eine Art Knäuel bildeten. Gabi streckte ihre Arme nach »Nero« aus und griff in den Kampf ein.

 

***

 

Auf dem Gang vor den Gefängniszellen herrschte beinahe gespenstische Ruhe. Sämtliche Kampfgeräusche waren verstummt, und Sandra kauerte zitternd an der Wand. Jörg stand nicht weit von ihr entfernt, hatte seine Arme auf die Oberschenkel aufgestützt und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Schließlich wischte er sich den Mund ab und drehte sich zu der jungen Frau um.

»Kannst du mir erklären, was das eben war?« Jörg wischte seine Hand geistesabwesend am Hosenbein ab. »Ich … ich meine, die Köpfe der beiden, sie … sie sind einfach zerplatzt! Hast du so etwas schon einmal erlebt?«

»Ja, habe ich.« Sandra nickte, aber es wirkte gehetzt. »Als wir aus Köln geflohen sind, haben uns die Zombies auf einem Acker angegriffen. Ich habe geschossen und getroffen wie nie zuvor in meinem Leben, trotzdem sind einige von ihnen, auf die ich definitiv nicht einmal gezielt hatte, mit zerplatzten Köpfen umgekippt – einfach so. Ich hatte den Vorfall fast vergessen, und jetzt das.«

Sandra vergrub den Kopf in ihren Armen. Das Beben, welches durch ihren Körper lief, verriet, dass sie weinte.

»Ist schon merkwürdig«, murmelte Jörg vor sich hin. »Aber ich will mich nicht wirklich darüber beschweren.«

Er gab Sandra noch einen Moment, um sich ein wenig zu beruhigen. Dann legte er ihr bedächtig die Hand auf die Schulter und meinte: »Kommt jetzt, wir müssen weiter. Die Kinder brauchen unsere Hilfe.«

Sandra schüttelte trotzig den Kopf. »Wir bekommen die Türen ohnehin nicht auf.«

»Irgendwie müssen sie ja aufgehen, denn die Eingesperrten sind auch dort hineingekommen. Warte, ich habe eine Idee.«

Während Sandra langsam den Kopf hob, um zu sehen, was Jörg vorhatte, begann dieser damit, die kopflosen Leichen der beiden Soldaten zu durchsuchen. Es dauerte nicht lange, und er zog aus einer der Jackentaschen einen großen Schlüsselring mit etlichen Schlüsseln daran hervor.

»Fast wie in einem alten Piratenfilm.« Jörg grinste. »Der Schlüsselring ist bald größer als der Kerkermeister selbst. Als ob man nicht in alle Zellen die gleichen Schlösser einbauen könnte …«

Sandra zwang sich zu einem Lächeln. Ihr fiel eine Szene aus »Fluch der Karibik« ein, in der die Helden in einem Kerker eingesperrt waren. Sie hatte diese Filme gemocht und sich immer wieder einmal einen auf DVD angeschaut. Aber das war in einem anderen Leben gewesen.

»Dann haben wir ja, was wir brauchen.« Sandra rappelte sich hoch. »Worauf warten wir noch?«

»Ich denke, es ist der hier.« Jörg hielt ihr einen großen Schlüssel mit einem markanten Bart unter die Nase. »So, wie das Schloss vorhin auf mich gewirkt hat, könnte der passen.«

Tatsächlich ließen sich alle Zellen auf diesem Flur mit dem Schlüssel öffnen. Es blieb also die spannende Frage, für was all die anderen an dem stattlichen Ring gut waren. Jörg beschloss, den Schlüsselbund erst einmal mitzunehmen. Hatte man Bonn hinter sich gelassen, konnte man ihn immer noch einfach aus dem Fenster werfen, ohne dafür wegen Umweltverschmutzung belangt zu werden.

Nach und nach versammelten sich die Kinder auf dem Korridor. Sie waren zwar alle deutlich geschwächt, aber wohlauf. Lediglich Tom und Melanie, die zusammen in einer Zelle gesteckt hatten, waren nicht bei Bewusstsein, aber ihr Zustand schien stabil, soweit Jörg das nach einer schnellen Überprüfung sagen konnte.

»Also los jetzt«, drängte Sandra zum Aufbruch. »Sehen wir zu, dass wir hier rauskommen. Ich trage Melanie, du Tom.«

 

***

 

Martins mentales Auge schwebte in der Isolierstation. Mit Entsetzen betrachtet er die Szene, die sich ihm dort bot. Gabi, die er immer hatte beschützen wollen, war jetzt eine von ihnen. Der Dunkle Mann hatte sie unter seine Fittiche genommen, und das Mädchen schien sich dabei auch noch wohlzufühlen.

Auf dem Boden des Korridors lag der weiße Hund. Er war offenbar tot. Erst jetzt erkannte Martin, dass das beruhigende und Kraft gebende Leuchten, das ihn die ganze Zeit unterstützt hatte, von diesem schönen Tier ausgegangen war, denn zusammen mit dessen Tod hatte auch das Leuchten aufgehört zu existieren.

Langsam entfernte sich Martins Bewusstsein von der Isolierstation. Ziellos trieb es umher, während immer wieder ein Zucken durch seinen materiellen Körper lief und vereinzelte Tränen aus seinen Augen kamen.

Es sah alles danach aus, als würde der Dunkle Mann gewinnen. Mit dem weißen Hund war offenbar auch der einzige wirklich ernstzunehmende Widersacher Gabriels ausgeschaltet worden. Einfach so. Knips – aus.

Gab es jetzt überhaupt noch eine Chance für die Menschheit? Und vor allem: Was würde aus den Kindern werden? Er hatte sich doch geschworen, auf sie aufzupassen, endlich etwas Nützliches aus seinem Leben zu machen. Nur das hatte ihm bislang die Kraft gegeben, seinen Entzug durchzustehen.

Martins Bewusstsein lachte auf, und es klang über Gebühr schrill. Was faselte sein umnebelter Geist denn da zusammen? Die Kinder beschützen? Wie denn? Im Moment fand er ja nicht einmal zu seinem Körper zurück, geschweige denn konnte er mit diesem Wrack irgend etwas Vernünftiges anfangen.

Vielleicht hatte Stephan ja schon immer recht gehabt, und er war einfach nur ein nutzloser Junkie, Müll, Abfall, der Bodensatz der Gesellschaft. Er konnte ja noch nicht einmal auf sich selbst aufpassen, wie also sollte es ihm gelingen, für andere Verantwortung zu übernehmen? Ein Häuschen im Grünen und eine glückliche Familie? Nicht für ihn, und vor allem nicht mehr jetzt. Diese Zeiten waren vorbei, und nach allem, was er heute erlebt hatte, würden sie auch nie mehr wiederkehren.

»Nun lass mal nicht den Kopf hängen.«

Martins Bewusstsein fuhr förmlich herum und sah auf die Erscheinung, die eben gesprochen hatte. Vor ihm schwebte ein leuchtender Mann, der schon rein äußerlich das genaue Gegenteil von Gabriel zu sein schien. Die warme freundliche Stimme, mit der er gesprochen hatte, tat ein Übriges, um diesen Eindruck noch zu verstärken.

»Wie sagt ihr Menschen doch so schön?« Im Gesicht des Hellen Mannes entstand ein Lächeln, obwohl das in dem Leuchten eigentlich gar nicht hätte zu sehen sein dürfen. »Die Oper ist erst zu Ende, nachdem die dicke Dame gesungen hat.«

»Wer bist du?«

»Ich bin Luzifer.«

»Der Antichrist?«

»Nein. Zumindest nicht wirklich. Meine Motive und Handlungsweisen sind schon des Öfteren missverstanden worden, was mir leider mit der Zeit einen Ruf eingetragen hat, den ich offenbar nicht mehr loswerde.«

»Und was willst du von mir? Soll ich mich ebenfalls in die Armee der Dunkelheit einreihen?«

»Wie es aussieht, habe ich es offenbar einmal mehr versaut. Könnten wir nochmal von vorne anfangen? Etwa bei der Stelle, wo du ›Wer bist du?‹ fragst?«

»Meinetwegen.« Martin zuckte mit den Schultern, denn inzwischen war ihm eh fast alles egal. »Also, wer bist du?«

Luzifer räusperte sich, dann sagte er: »Nun, äh, mein Name tut erst einmal nichts zur Sache. Darüber können wir später noch sprechen. Wichtig ist im Moment nur, dass ich nicht tot bin.«

»Dass du nicht tot bist, sehe ich. Andernfalls könntest du wohl kaum mit mir sprechen. Aber warum sollte das wichtig sein?«

»Okay, das war jetzt wohl zu indirekt. Martin, ich bin es, der weiße Hund. Spürst du es denn nicht?«

Der Angesprochene wollte schon den Kopf schütteln, als ihm klar wurde, was der andere meinte. Er hatte es die ganze Zeit gespürt, aber aus irgendeinem Grund nicht wirklich wahrgenommen, fast schon verdrängt. Das Leuchten des Hellen Mannes hatte die gleiche Struktur, dieselbe Schwingung wie dasjenige, welches ihm die Kraft gegeben hatte, bis der weiße Hund gestorben war. Nur war dieses Gefühl jetzt viel schwächer.

»Du hast uns schon öfter geholfen, nicht wahr?« In Martin machte sich mehr und mehr die Erkenntnis breit, wer der andere war. »Bist du so etwas wie ein Gegenpol zu Gabriel? Mann, was frage ich überhaupt so blöd? Wenn eure Namen auch nur einen Hauch der Bedeutung haben, die ich kenne, dann seid ihr beide die unterschiedlichen Seiten einer Medaille. Allerdings hätte ich erwartet, dass die Rollen genau andersherum verteilt sind.«

»Nun, das ist eine lange Geschichte. Ich sagte ja schon, dass es da eine Reihe von Missverständnissen gegeben hat, an denen ich zugegebenermaßen teilweise auch selbst schuld war. Aber Gabriel hat auch seinen Teil dazu beigetragen, denn er kann sehr verschlagen sein, wenn es seinen Zielen dienlich ist.«

»Was sind denn seine Ziele?«

»Darüber kann ich nicht sprechen.«

»Kannst du nicht, oder willst du nicht?«

»Ich darf nicht. Das muss dir im Augenblick genügen.«

»Ich habe wohl keine andere Wahl, oder? Also gut, belassen wir es für den Moment dabei. Du bist – besser: warst – also der weiße Hund. Da bin ich zunächst einmal froh, dass du nicht wirklich tot bist und uns weiterhin helfen kannst.«

»Das ist der Punkt, über den ich mit dir reden wollte, denn genau das kann ich im Moment nicht tun. Ich bin zu stark geschwächt, ihr müsst es die nächste Zeit ohne mich schaffen.«

»Aber wie …?«

»Keine Zeit mehr. Ich muss fort. Aber ich kann dir noch einen letzten Hinweis geben. Öffne deinen Geist!«

Während der letzten Worte hatte Luzifer begonnen, immer mehr zu verblassen.

Martin tat, wie ihm geheißen wurde, und versuchte sich zu öffnen. Tatsächlich empfing er einen Hinweis, ein Ziel, eine Ahnung, wohin die Pilger mussten. Dann wurde er aus seinem Traum in tiefe Dunkelheit gerissen.

 

***

 

Stephan stürmte wie von Furien gehetzt aus dem Gebäude, in dem die Isolierstation untergebracht war – direkt in die Arme einer größeren Horde Untoter.

»Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

Gehetzt blickte er sich um. Zurück konnte er nicht mehr, denn drinnen warteten das Gabi-Ding und der Dunkle Mann auf ihn, und er war sich ziemlich sicher, dass diese ihn nicht zum Fünfuhrtee einladen würden, sondern ganz etwas anderes mit ihm vorhatten.

Er atmete noch einmal tief durch, dann preschte er mit »Geronimoooooo!« auf die Phalanx der Zombies zu. Mit Wucht rammte er dem ersten von ihnen seine Schulter in den Solarplexus. Die angefaulte Gestalt war dermaßen ausgezehrt, dass sie kaum noch fünfzig Kilo wog und von dem Aufprall nach hinten geschleudert wurde.

»Kommt nur her, ihr verdammten Freaks!«, machte sich Stephan selbst Mut. »Wenn es sein muss, nehme ich es mit euch allen auf!«

Geschickt nutzte er die Kraftreserven, die der Adrenalinstrom in seinen Adern in ihm freisetzte. In einem Moment tauchte er unter einem zupackenden Paar Armen hinweg, im nächsten teilte er einen kräftigen Tritt aus, der ihm weiteren Raum verschaffte. Als ihn einer der Angreifer von der Seite packen wollte, brach er ihm kurzerhand den Arm.

Aber Stephan wusste auch, dass dieser Energieschub nicht lange anhalte würde und er ihn hinterher teuer zu bezahlen hatte, wenn er kraftlos und zitternd am Boden saß. Doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er hatte so gut wie keine Chance, und die galt es zu nutzen.

Ein weiterer Tritt, und in der Reihe der Zombies entstand eine Lücke, die groß genug war, Stephan hindurchschlüpfen zu lassen. Er hechtete nach vorne und rollte sich auf dem Boden ab. Dabei nutzte er den Schwung, um sofort wieder auf den Beinen zu sein.

»Fickt euch, ihr Arschlöcher!« Stephan zeigte den Zombies seinen Mittelfinger, dann rannte er um sein Leben.

Was hätte er darum gegeben, jetzt ein paar der Soldaten an seiner Seite zu haben, die ihm den schmatzenden, geifernden Mob vom Hals hielten. Aber von denen waren inzwischen sicherlich nur noch wenige übrig, dazu hatte sein Auftrag einen nicht unwesentlichen Teil beigetragen.

Als er um die nächste Hausecke bog, wäre er beinahe in einen Mann hineingerannt, der ein Kind über die Schulter gelegt trug. Fast wäre er auf den anderen losgegangen, dann erkannte Stephan, dass dieser offenbar ebenfalls ein normaler Mensch war, so wie er selbst. Außerdem war der Mann in Begleitung von Sandra, und die Kinder, die hinter den beiden hertrotteten, kamen ihm auch alle bekannt vor.

»Mann, bin ich froh, euch zu sehen.« Stephan keuchte wie ein asthmakranker Grubengaul. »Habt ihr Knarren dabei? Wir bekommen nämlich gleich Besuch.«

Bei den letzten Worten hatte er mit dem Daumen über seine Schulter gedeutet, wo auch soeben der erste Zombie um die Ecke kam.

Sandra griff nach hinten und holte die P90 vor. Sie riss den Abzug durch und löste das sich anbahnende Problem – fürs Erste. Der jetzt endgültig tote Untote hatte den Boden noch nicht richtig berührt, als drei seiner Blutsbrüder auftauchten und gierig fauchend nach dem Fleisch seiner Mörder verlangten. Doch den dreien erging es nicht anders als ihrem Voraustrupp. Ein paar gezielte Feuerstöße machten ihrer Existenz ein Ende.

»Los, Jörg, wir müssen weiter, bevor noch mehr kommen«, verlangte Sandra.

»Du bist Jörg?« Stephan sah den Soldaten, den er schon auf dem Treck von Nörvenich nach Bonn kennengelernt hatte, erstaunt an. Obwohl man zwei Tage auf engstem Raum zusammen gewesen war, hatte man sich einander nicht vorgestellt, und der Hauptmann trug auch kein Namensschild, wie es sonst eigentlich üblich war.

»Sie – du bist dann sicherlich Stephan, oder?«

»Boar, ich fasse es nicht!« Sandra verdreht die Augen. »Darf ich die Herren einander bekannt machen? Gestatten, Jörg, das ist Stephan. Stephan, das ist Jörg. Können wir jetzt weiter, bevor noch mehr von denen da auftauchen?«

»Soll mir recht sein.« Stephan zuckte mit den Schultern. »Ich wundere mich eh schon, dass es nur die vier bis hierin geschafft haben. Mir waren nämlich mindestens zwanzig von der Sorte auf den Fersen. Aber beklagen will ich mich deshalb auch nicht. Wo geht’s lang?«

»Zum Treffpunkt, wo das Fluchtfahrzeug steht«, erklärte Jörg, dann setzte er sich wieder in Bewegung, und die anderen folgten ihm.

Hätte sich einer in der Gruppe die Mühe gemacht, noch einmal hinter die Hausecke zu sehen, um die Stephan vor knapp einer Minute gerannt gekommen war, hätte er eine interessante Entdeckung gemacht. Dort lagen nämlich rund zwanzig Zombies reglos auf dem Boden – allesamt mit geplatzten Schädeln.

 

***

 

»Ist er tot?« Gabi blickte auf den reglosen Körper des weißen Hundes, der zu ihren Füßen lag.

»Ja, das ist er.« Gabriel nickte. »Gegen unsere vereinten Kräfte konnte er nicht bestehen. Du brauchst also keine Angst mehr zu haben, er kann dir nichts mehr tun.«

»Ich habe keine Angst.« Das Mädchen lächelte. »Ich bin jetzt viel stärker als früher. Ich glaube, ich brauche vor gar nichts mehr Angst zu haben.«

Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher, dachte der Dunkle Mann. Laut sagte er: »Du hast doch sicherlich Hunger, nicht wahr? Nähre dich an ihm, das wird dir neue Kraft geben.«

Gabi zögerte kurz, dann spürte sie, dass Gabriel recht hatte. Das warme Fleisch des toten Hundes übte eine geradezu unglaubliche Anziehungskraft auf sie aus. Das war es, was sie brauchte und wollte: Frisches, warmes Fleisch!

Gierig grub sie ihre Zähne in die Seite des Tieres, riss große Brocken heraus und schlang sie hinunter, ohne recht zu kauen. Wärme breitete sich in ihren Eingeweiden aus, wohltuende Wärme und Kraft.

Der Dunkle Mann sah ihr eine Zeit lang zufrieden dabei zu. Schließlich sagte er: »Komm, wir müssen weiter. Es ist jetzt an der Zeit, dass du dich meinem General anschließt.«

»Du hast diesen General vorhin schon einmal erwähnt, bevor der böse weiße Hund kam. Sagst du mir jetzt, wer es ist?«

»Oh, mein General ist ein alter Freund von jemandem, den du einst kanntest.« Gabriel lachte leise, und für einen Moment klang es beinahe ein wenig sympathisch. »Ich bin sicher, dass ihr euch hervorragend verstehen werdet.«

»Wenn du es sagst, stimmt das bestimmt.« Gabi lächelte erneut. »Das buchstabiert man b-e-s-t-i-m-m-t.«

»Ich sehe schon, meine Wahl war doch nicht so schlecht, wie ich anfangs befürchtet hatte. Ihr macht euch beide sehr gut. Aber nun muss ich fort, denn ich habe mich jetzt dringend um andere Aufgaben kümmern. Das Auftauchen unseres Hündchens hier hat mich doch ein bisschen länger aufgehalten, als ich dachte. Ich werde dir noch den Weg weisen, den du als nächstes zu gehen hast, den Rest schaffst du von ganz alleine.«

Der Dunkle Mann berührte das Mädchen kurz an der Stirn, dann löste er sich lautlos auf. Gabi nickte zum Zeichen, dass sie seine Anweisungen verstanden hatte, dann folgte sie dem Weg, den auch Stephan vor nicht allzu langer Zeit genommen hatte.

 

 

Kapitel IV

Flucht

 

»Leise!« Stephan legte den Zeigefinger vor seine Lippen und sah die anderen dabei bedeutungsvoll an. »Da ist jemand!«

Die Gruppe blieb stehen und lauschte angestrengt in die Nacht.

»Ich weiß nicht, was du gehört hast«, flüsterte Sandra. »Da ist nichts. Wie es aussieht, haben sogar die Zombies unsere Spur verloren.«

»Aber nur, weil es woanders mehr Happa-Happa für sie gibt.« Stephan verzog das Gesicht und deutete grob in die Richtung, aus der Kampflärm zu hören war. »Trotzdem bin ich mir sicher, eben etwas gehört zu haben.«

»Also gut, wir sehen nach«, entschied Jörg.

Vorsichtig setzte er Tom auf den Boden und bedeutete Sandra, Melanie ebenfalls herunterzunehmen. Die beiden entsicherten ihre Waffen und schlichen dann auf die Einmündung der nächsten Seitenstraße zu. Stephan wirkte für einen Moment unschlüssig, ob er ihnen folgen sollte, entschied sich dann aber dafür, bei den Kindern zu bleiben.

»Hätte ich nur meinem Baseballschläger wieder …«, murmelte er. »Oder wenigstens eine Knarre.«

Er sah sich um, dann hob er aus dem Kiesbett eines nahen Hauses einen größeren Stein auf und wog ihn prüfend in der Hand.

»Besser als nichts«, stellte er schließlich fest und zuckte dabei mit den Schultern.

In der Zwischenzeit hatten Jörg und Sandra die Hausecke erreicht, und ersterer schob vorsichtig den Kopf nach vorne, um sehen zu können, was dahinter war. Fast im selben Moment riss er den Kopf wieder zurück, und aus der Seitenstraße war ein Kreischen und Fluchen zu hören. Steine flogen durch die Luft.

»Hey, cool bleiben!«, rief Jörg. »Wir sind keine Zombies, sondern ebenfalls auf der Flucht.«

»Gehört ihr zu Duponts Leuten?«, antwortete eine dunkle Männerstimme, deren Besitzer, dem Klang nach zu urteilen, schon älter war.

»Und wenn es so wäre? Wäre das gut oder schlecht?«

Sandra hob ihre P90 und machte sich schussbereit, doch Jörg schüttelte stumm den Kopf.

»Sag du es mir!«, rief der Mann hinter der Hausecke. »Was hältst du davon, was der General aus Bonn gemacht hat?«

»Nun, er hatte sicherlich viele gute Absichten, ist aber an einigen Stellen wohl ein wenig übers Ziel hinausgeschossen.«

»Eine sehr diplomatische Antwort.« Der andere lachte rau. »Aber ich denke, ich verstehe, was du mir damit sagen willst.«

»Das freut mich.« In Jörgs Stimme lag ein gewisser Sarkasmus. »Können wir uns dann jetzt wie zivilisierte Leute von Angesicht zu Angesicht unterhalten, ohne aufeinander loszugehen und vor allem ohne die verdammten Zombies mit unserem Geschrei auf uns aufmerksam zu machen?«

»Einverstanden. Ihr haltet eure Flossen ruhig, und wir tun es ebenfalls.«

Jörg und Sandra zogen sich ein paar Schritte von der Seitenstraße zurück, blieben aber wachsam. Kurz darauf bog ein Mann von vielleicht 50 Jahren um die Ecke. Er war groß, hatte kurzgeschnittene graue Haare und wachsame Augen.

»Ich bin Roland, Roland Gerber«, stellte er sich vor. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Ich heiße Jörg, Jörg Weimer. Das hier ist Sandra, und unser Freund, der dort hinten bei den Kindern wartet, heißt Stephan.«

»Habt ihr einen Kinderhort geplündert?« Roland gluckste. »Nee, ist nur Spaß. Offenbar gibt es auch noch andere Leute, die in diesen Zeiten ihren Verstand nicht verloren haben. Aber sag, wenn mich mein Verstand nicht täuscht, sind das doch die Kinder, über die morgen ein Tribunal gehalten werden sollte, oder nicht?«

»Ja, das sind sie.« Jörg nickte bedächtig und sah dabei aus dem Augenwinkel, wie sich Sandras Körperhaltung versteifte. »Ist das ein Problem?«

»Nein, ganz im Gegenteil.« Der andere lachte. »Es zeigt mir, dass ihr – zumindest für meine Begriffe – auf der richtigen Seite steht. Moment …«

Roland hob den Zeigefinger in einer »gebt mir eine Sekunde«-Geste, dann blickte er über die Schulter in Richtung Seitenstraße und rief: »Ihr könnt kommen. Die sind in Ordnung.«

Rolands Begleitung entpuppte sich als eine Gruppe von 35 Menschen, die sich aus mehreren Familien mit Kindern zusammensetzte. Alle von ihnen hatten seit Ausbruch der Seuche auf verschiedenste Weise Angehörige verloren und sich teils nur durch Glück nach Bonn retten können.

»Wie geht es jetzt weiter?«, erkundigte sich Roland bei Jörg. »Habt ihr einen Plan, wie wir hier lebend rauskommen?«

»Sie … du bist der Anführer eurer Gruppe?«, stellte der Angesprochene eine Gegenfrage.

»So würde ich das nicht nennen wollen. Aber ich war in jungen Jahren längere Zeit bei der Luftwaffe, so wie du, Hauptmann.« Beim letzten Wort zwinkerte er, bevor er fortfuhr: »Und beim Uffz-Lehrgang lernt man halt so einiges, was man heutzutage wieder ganz gut brauchen kann, also hören die anderen auf mich – meistens jedenfalls. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Habt ihr einen Plan?«

»Sogar mehr als das.« Jörg nickte. »Wenn nicht irgendetwas ganz Saudummes passiert ist, verfügen wir sogar über ein Fluchtfahrzeug, das groß genug ist, damit wir alle hineinpassen.«

»Kling gut. Ich denke, wir sind dabei. Was mich darauf bringt: Habt ihr zufällig noch eine Waffe für mich übrig? P1, G3, Uzzi, ganz egal, Hauptsache, ich muss nicht mehr nackig rumlaufen.«

»Nein, tut mir leid. Meine Pistole und Sandras P90 sind das einzige, über das wir im Moment verfügen. Und ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, jetzt erst noch nach Waffen zu suchen, bevor wir die Stadt verlassen. Noch sind die Zombies mit Duponts Truppen beschäftigt, aber irgendwann wird auch das vorbei sein, und dann suchen sie sich die nächste Ansammlung warmen Fleisches. Bis dahin sollten wir hier verschwunden sein.«

»Du hast recht.« Roland nickte. »Lass und hier abhauen, solange es noch geht.«

 

***

 

»Gut so, Männer, wir schaffen es!« Die Stimme von Stabsfeldwebel Hörger trieb die Soldaten zu Höchstleistungen an.

»Sollten wir uns nicht besser zurückziehen?«, wagte sein Zugführer, Feldwebel Wilkes, einzuwerfen. »Im Augenblick sieht es zwar so aus, als hätten wir den Ansturm an dieser Stelle unter Kontrolle, aber ich habe ein schlechtes Gefühl dabei.«

»Sie und ihre Gefühle, Wilkes.« Hörger verzog das Gesicht. »Die können Sie zuhause bei Muttern ausleben, hier hingegen wird gekämpft. Mensch, kapieren Sie’s doch endlich! Das ist kein kuscheliger Blauhelmeinsatz, bei dem ein Lazarett oder Brunnen bewacht wird, sondern es geht uns allen an den Kragen. Und jetzt laden Sie gefälligst nach und schießen weiter, kapiert?«

»Jawohl, Herr Stabsfeldwebel! Nachladen und weiterschießen!«

Wilkes war versucht, die Hacken zusammenzuknallen, unterließ es dann aber und beschäftigte sich lieber mit dem Magazin seiner Uzzi. Altes raus, neues rein, den Ladeknubbel nach hinten reißen – alles Bewegungen, die er blind beherrschte, denn unter der Ägide von General Dupont hatte der Begriff »drillmäßiges Üben« eine ganz neue Dimension erreicht.

Der Feldwebel wollte gerade seine Maschinenpistole wieder in Anschlag bringen, um dem unendlich scheinenden Strom der Zombies einen weiteren Bleihagel entgegenzuschicken, als er aus dem Augenwinkel bemerkte, wie zwei seiner Männer Anstalten machten, ihren Posten zu verlassen. »Meier und Kowalski, was gibt das, wenn’s fertig ist?«

»Wir, äh, wir wollten mal nachsehen, ob da hinten noch mehr Munition ist«, erklärte Meier, wobei seinem Gesicht mehr als deutlich anzusehen war, dass er sich ertappt fühlte. »Unsere ist nämlich fast alle, und Steine auf die Angreifer zu werfen, kommt wohl eher nicht so gut, oder?«

»Reden Sie keinen Unsinn, Mann!«, fauchte Hörger, der nun ebenfalls auf die Situation aufmerksam geworden war. »Sie wissen ganz genau, dass ich den Hauptgefreiten Bremer wegen Nachschub losgeschickt habe, und es noch keine fünf Minuten her ist. Sofort zurück auf ihren Posten, oder ich erschieße Sie hier und jetzt wegen Desertion!«

In den Gesichtern der beiden Gefreiten arbeitete es. Offenbar wussten Sie nicht so recht, was größer war: ihre Angst vor den Zombies, oder die vor Hörgers P1. Kurz zögerten sie noch, dann begaben Sie sich murrend auf ihre Positionen zurück.

»Na also, geht doch«, murmelte der Stabsfeldwebel zufrieden. »Der General hat recht, die Leute brauchen klare Regeln und eine strenge Hand, nur so kann wieder ein blühendes Gemeinwesen entstehen. Morgen Abend, wenn wir diesen Ausbund der Hölle endgültig aus unserer Stadt vertrieben haben, werden wir im gemeinsamen Gebet Erbauung finden und dabei auch der heldenhaft Gefallenen gedenken.«

Den Seitenblick, den ihm Wilkes zuwarf, bemerkte er nicht, ebenso wenig wie die Uzzi, die in seine Richtung schwenkte. Als der Abzug der Maschinenpistole durchgerissen wurde, kam die Erkenntnis bei Hörger zu spät. Er war soeben unfreiwillig selbst zum Fahnenflüchtigen geworden, auch wenn er sich der anderen Seite erst in einigen Minuten vollständig anschließen würde.

»Was glotzt ihr denn so?«, fuhr Wilkes seine Männer an. »Erzählt mir jetzt bloß nicht, dass das nicht in eurem Sinne gewesen sei. Nehmt lieber die Beine in die Hand, denn wir hauen von hier ab!«

Das ließen sich die anderen nicht zweimal sagen. Zusammen mit ihrem neuen Gruppenführer zogen sie sich, so schnell es ging, zurück und schlugen dann einen Weg ein, der sie aus der umkämpften Stadt hinausführen würde. Bonn war verloren, und nur noch Fanatiker wollten es nicht wahrhaben – zumindest sah das Wilkes so, und die erleichterten Mienen seiner Leute gaben ihm recht.

 

***

 

»Ist es noch weit?« Rosis Stimme klang weinerlich. »Ich habe Angst, und meine Füße tun weh.«

»Nein, es ist nicht mehr weit.« Sandra zwang sich zu einem Lächeln. »Gleich haben wir es geschafft. Du warst bislang richtig tapfer, und die anderen natürlich auch.«

»Keine 500 Meter mehr.« Jörg nickte. »Der Bus müsste eigentlich jeden Moment zu sehen sein.«

»Und wenn er nicht mehr da ist?« Stephan sah Jörg von der Seite an.

»Warum sollte er nicht mehr da sein? Ich habe ihn abgeschlossen und alles sorgfältig kontrolliert, bevor ich mich wieder vom Acker gemacht habe.«

»Weil es ja auch gar so schwer ist, einen Bus zu knacken, wenn man unbedingt einen fahrbaren Untersatz braucht, nicht wahr?«

»Was soll das, Stephan?«, mischte sich nun Sandra ein. »Musst Du den Kindern unbedingt noch mehr Angst machen, als sie ohnehin schon haben? Wenn Jörg sagt, dass der Bus noch da sein wird, dann ist es auch so, basta!«

»Ach, und wenn nicht, dann hältst du mir halt einfach nochmal eine Knarre an den Kopf, oder wie? Hat ja das letzte Mal auch bestens funktioniert.«

Im Gesicht der jungen Frau arbeitete es. »Jetzt sei kein Arsch, Stephan. Wir haben es doch fast geschafft.«

»Ich will ja eure kleine Rangelei nur ungern stören«, ließ sich Roland vernehmen, »aber könnte das große dunkle Ding da vorne vielleicht der Bus sein, um den es geht?«

»Ich habe doch gesagt, dass er noch da ist.« Jörg grinste.

In diesem Moment tauchte in einiger Entfernung ein grelles Leuchten auf.

»Verdammt!«, fluchte Stephan. »Was ist denn das jetzt schon wieder?«

»Jetzt mach dich mal locker.« Roland sah den anderen kopfschüttelnd an. »Wenn du immer gleich so verkrampfst, stirbst du noch irgendwann an einem Herzinfarkt. Das Licht da vorne gehört zu einem Fahrzeug. Das sieht doch’n Blinder mit Krückstock.«

»Ich hoffe nur, dass das nicht Duponts Leute sind«, knurrte Jörg, während er seine Pistole entsicherte. »Andernfalls haben wir gleich ein paar Probleme.«

»Ach, wer ist denn jetzt der Schwarzmaler?«, giftete Stephan, um dann gleich im Falsett zu flöten: »Lasst uns doch lieber positiv in die Zukunft sehen, ihr Kinderlein.«

»Du bist ein Arsch.« Sandra verdrehte die Augen.

»Das mag ja sein, aber auf jeden Fall einer, der noch am Leben ist und auch schon dabei geholfen hat, die eurigen zu retten.«

Inzwischen war das Leuchten nähergekommen und hatte sich dabei als ein Tourbus mit Anhänger entpuppt, wie er oft von Bands auf Tournee benutzt wurde.

»Sieht nicht nach Dupont oder seinen Schergen aus«, stellte Stephan überflüssigerweise fest.

Der Bus hielt mit quietschenden Reifen vor der Gruppe an. Am Steuer saß ein großer, schlaksiger Kerl, der die 40 auch schon deutlich überschritten hatte, und dessen Gesicht von einem ergrauten Bart verziert wurde.

»Fehlt nur noch die Krücke, dann sieht er aus wie eine ungepflegte Version von Dr. House«, witzelte Stephan. »Wie in der Folge, als er in der Klapse saß«.

»Du guckst, Pardon, gucktest zu viel fern«, stellte Sandra mit einem strafenden Seitenblick fest. »Bist du deshalb immer wieder so schräg drauf?«

Bevor Stephan etwas erwidern konnte, ließ der Fahrer des Tourbusses die Scheibe herunter.

»Tach, ich bin Lemmy. Dachte mir, dass ihr ’was Hilfe brauchen könntet. Da hab ich mir gedacht, ich komm mal gucken, wie’s hier aussieht, nich’ wahr?« Der leicht verschleierte Blick des zotteligen Mannes schweifte umher. »Da fehlt aber noch wer, oda? Ohne den Mann läuft hier gar nix. Den tun wir brauchen!«

»Es fehlt einer?«

Sandra und Jörg hatten wie aus einem Mund gesprochen und sahen sich nun überrascht an, dann streifte sie das Licht der Erkenntnis.

»Scheiße!« Sandra patschte sich gegen die Stirn. »Wir haben in dem ganzen Durcheinander völlig vergessen, nach Gabi und Martin zu sehen!«

»Nach Gabi habe ich schon geschaut«, erklärte Stephan mit einem »ich bin eben nicht so vergesslich«-Blick.

»Und, wo ist sie?«

»Bei ihren neuen Brüdern und Schwestern. Ich konnte ihr gerade noch vom Frühstücksteller hüpfen.«

»Sie ist ein Zombie geworden?« Jörg schluckt. »Das arme Ding.«

»Armes Ding?!? Kuck mal, was sie mit meinem T-Shirt gemacht hat!« Stephan streckte dem anderen das Loch im Stoff entgegen. »Eigentlich wollte sie mir ein Stück aus dem Bauch beißen, aber ich konnte ihr gerade nochmal entwischen.«

»Ich bleibe dabei: Sie ist ein armes Ding.« Jörgs Miene verfinsterte sich. »Aber offenbar können wir ihr im Augenblick nicht helfen, Martin hingegen schon.«

»Meint ihr wirklich, dass es eine gute Idee ist, den Junk…, äh, nochmal in die Höhle des Löwen zu gehen?« Stephan knetete nervös den Saum seiner Hose.

»Nein, natürlich nicht, aber wir können ihn doch nicht einfach hierlassen.« Sandra sah Stephan mit finsterem Blick an. »Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst, aber du bist auch nicht gerade Mamas Liebling, also halt jetzt besser die Klappe. Außerdem bleibst du eh hier bei den Kindern, solange Jörg und ich Martin da rausholen.«

»Sandra, ich fürchte, Stephan hat recht«, warf Jörg vorsichtig ein. »Jetzt nochmal in die Stadt zurückzugehen, ist glatter Selbstmord.«

»Ich denk, da kann ich ’was helfen, oda?« Lemmy grinste, während er ein Scharfschützengewehr hervorholte. »Ich halt euch die Kollegen von der fauligen Truppe vom Leib.«

»Was denkst du?« Sandra sah Jörg fragend an.

»Wenn Lemmy mit dem Ding gut umgehen kann, sollte es klappen.«

»Aber hallo!« Lemmy zwinkerte ihm zu.

»Also gut, holen wir Martin da raus. Weiß jemand, wo er ist?«

»Sie haben uns eine Etage unter den Kindern in eine Zelle gesteckt«, erklärte Stephan.

»Ihr wart zusammen in einer Zelle?!?« Sandra sah den anderen mit großen Augen an. »Wie kommt es, dass du hier bist und er nicht, hm?«

»Das ist eine lange Geschichte. Hey, lass die Knarre unten, ich kann nichts dafür. Es war alles Martins Idee, also gib mir jetzt nicht die Schuld dafür, okay?«

»Na, auf die Erklärung bin ich echt mal gespannt. Und wehe, sie gefällt mir nicht, dann haben wir noch eine Ente miteinander zu rupfen.«

»Eine Ente?«

»Ja, denn ein Hühnchen wäre zu klein dafür.«

»Dann geht ma’. Ich deck euch die Ärsche«, sagte Lemmy mit einem anerkennendem Blick auf Sandras Po. »Ich such mir ma’ ’ne erhöhte Position, von der aus ich euch im Auge behalten kann, nich’ wahr?«

Während Sandra und Jörg loszogen, begannen die anderen Flüchtlinge zu murren.

»Was soll’n der Terz?«, fuhr Lemmy sie an. »Hier haut keiner ab, bevor der Meister da ist, klar?«

»Ist mit ›Meister‹ dieser Martin gemeint?«, erkundigte sich Roland. »Und in was ist er denn Meister, dass er so wichtig für uns ist?«

»Er ist Meister aller Klassen, verstehste?« Lemmy gluckste. »Und wennde nicht verstehst, ist’s auch egal. Für euch heißt es jetzt ersma einsteigen.«

Kurz wurde noch hie und da gemurrt, aber dann fügten sich alle in ihr Schicksal und stiegen in die Fahrzeuge.

»Nee, du gehst nich’ da rein, kapiert?«, hielt Lemmy Stephan zurück, als dieser in den Militärbus zu den Kindern steigen wollte.

»Red’ keinen Scheiß, Mann! Ich passe auf die Kleinen auf, seit sie mir in Königsdorf mehr oder weniger zugelaufen sind, also nimm deine Pfoten von mir, bevor ich dir ’nen Finger breche, klar?«

»Na, wenn du meinst …«

Lemmy zuckte mit den Schultern, dann krachte seine Faust gegen Stephans Kinn und schickte dessen Besitzer ins Land der Träume. Anschließend lud er sich Stephan auf und verfrachtete ihn in den Tourbus.

 

***

 

Dupont saß in seinem Vorzimmer und maß das Funkgerät mit versteinerter Miene. Inzwischen bekam er keinerlei Rückmeldungen mehr, seine Männer waren offenbar alle tot – oder geflohen.

Ruckartig erhob er sich, sodass der Stuhl nach hinten umkippte und seine Rückenlehne polternd auf dem Boden aufschlug. Der General nahm davon keine Notiz, sondern ging zum Fenster und sah hinaus.

Bonn war zu einem wahren Flammenmeer geworden. Überall wüteten Brände, nur noch vereinzelt waren Schüsse zu hören.

»Wie einst Sodom und Gomorrha so versinkt diese Stadt durch den Zorn des Herrn«, sinnierte er, dann bildete sich eine steile Unmutsfalte auf seiner Stirn. »Aber es waren nicht wir, die sich gegen Ihn versündigt haben, denn wir führten ein Leben im Glauben. Es war diese unheilige Brut, deren Gegenwart wir in diesen Mauern schon viel zu lange geduldet haben! Dafür wird dieses entartete Pack bezahlen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

Er schnaubte noch einmal, dann machte er sich auf den Weg zum Gefängnis.

»Mit diesem Martin fange ich an«, murmelte er. »Dieser langhaarige Hippie ist die Wurzel allen Übels, die ich aus dem Fleisch der Welt reißen werde, bevor ich mich um die anderen eiternden Geschwüre der Höllenbrut kümmere.«

 

***

 

Sandra und Jörg hatten den Bau mit den Zellen fast erreicht. Wie durch ein Wunder waren sie bisher kaum einem Zombie begegnet, und das eine Mal, bei dem es eng geworden war, hatte Lemmy vorzügliche Arbeit geleistet und ihnen mit präzisen Schüssen den Rücken freigehalten. Jetzt standen sie vor dem Gebäude, in dem die Zellen untergebracht waren und lauschten angestrengt in die Dunkelheit.

»Scheint alles ruhig zu sein«, stellte Jörg nach einer Weile fest. »Ich denke, wir können rein.«

»Was glaubst du? Hat Stephan gelogen?« Sandra sah ihn fragend an.

»Bei was soll er gelogen haben?«

»Na, wegen Gabi, dass sie jetzt eine von denen sein soll.«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Es beschäftigt mich schon die ganze Zeit, seit wir unterwegs sind. Also, was denkst du?«

»Warum sollte er gelogen haben? Ich kenne ihn ja noch nicht wirklich gut, aber er schien mir in dem Moment ehrlich gewesen zu sein.«

»Ich weiß nicht, warum er diesbezüglich lügen sollte, aber Stephan kann – wie soll ich sagen? - er kann irgendwie komisch sein. Mit dem stimmt was nicht, dass weiß ich genau, auch wenn ich dir nicht sagen kann, welche Schraube bei ihm locker ist.«

»Hm.« Jörg wirkte nachdenklich. »Bislang hat er sich vorbildlich um die Kids gekümmert, da gibt es nichts zu meckern.«

»Ja, er hält sich gerne in der Nähe der Kinder auf, verhält sich aber nicht wie jemand, der mit Kindern gut kann, weißt du, wie ich meine? Und dann seine ständigen Reibereien mit Martin. Das sei so ein Männerding, hat er mir erklärt, aber ich denke, dass da mehr dahinter steckt.«

»Schwer zu sagen. Aber weißt du was, ich behalte ihn mal genauer im Auge, wenn wir hier raus sind. Jetzt sollten wir erst einmal zusehen, Martin zu befreien. Alles andere findet sich, okay?«

»Ja, gut, machen wir es so. Ich hoffe nur, dass er wegen Gabi nicht gelogen hat.«

»Vertrau mir.« Jörg räusperte sich. »Ich habe eine gute Menschenkenntnis – meistens zumindest. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er diesbezüglich die Wahrheit gesagt hat, aber wenn es dich beruhigt, gehen wir auf dem Rückweg an der Isolierstation vorbei.«

»Einverstanden.« Sandra nickte, dann hielt sie Jörg noch einmal zurück, der gerade im Begriff war, weiterzugehen.

»Noch etwas?« Jörg sah sie fragend an.

»Mir wird es erst jetzt bewusst, vorhin bei den Bussen ging alles so schnell, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe. Was hältst Du denn von diesem Lemmy? Ich meine, der taucht einfach auf, als sei es das Natürlichste von der Welt, und keiner von uns fragt sich, wieso. Und überhaupt: Woher weiß er von Martin?«

»Interessante Frage.« Jörg fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. »Aber es scheint mir richtig zu sein. Was ich damit sagen will: Dieser Lemmy ist in Ordnung, denke ich. Und er hat ja auch recht. Außerdem hat er sich bereits bewährt, findest Du nicht? Bei Stephan und Roland haben wir uns doch auch keinen Kopf gemacht, sondern waren froh, dass sie unsere Gruppe verstärken.«

»Ja, schon, aber …«

»Aber?«

Sandra schien einen Moment lang mit sich zu ringen, dann sagte sie: »Lass es uns so machen: Du behältst Stephan im Auge und ich Lemmy.«

»Klingt nach einem guten Plan.« Jörg nickte. »Aber jetzt holen wir endlich Martin raus, und anschließend schauen wir bei der Isolierstation vorbei.«

 

***

 

Ein Vaterunser auf den Lippen eilte General Dupont in die Nacht hinaus. Als er an dem Gebäude vorbeikam, in dem die Isolierstation untergebracht war, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Dupont fuhr herum und sah ein Mädchen mit langen blonden Haaren vor sich.

»Sieh an, der böse Mann«, höhnte Gabi. »Das buchstabiert man M-A-N-N. Wohin willst du denn so eilig? Anderen Menschen wehtun, so wie du es am liebsten machst?«

»Die Teufelsgöre!«, schnappte der General, und seine Stimme lief dabei Gefahr, jeden Moment in einen schrillen Diskant umzukippen. »Du kommst mir gerade recht, du Ausgeburt Satans!«

»Lass den aus dem Spiel, der hat damit rein gar nichts zu tun.«

»Deine Worte können mich nicht täuschen, denn es ist offensichtlich, dass der Gehörnte hinter all dem steckt. Der Herr sei mein Zeuge, während ich das Antlitz der Welt von einem Schandfleck wie dir befreie!«

Übergangslos hatte Dupont eine Pistole in der Hand und zielte auf das Mädchen. Doch diese hatte gleichzeitig ein paar schnelle Schritte nach vorne gemacht und schlug ihm die Waffe aus der Hand, bevor er abdrücken konnte.

»Wie? Warum? Wieso bist du auf einmal so schnell?«

»Dreimal darfst du raten«, fauchte Gabi und versetzte dem Mann einen Stoß, der ihn mehrere Schritte zurücktrieb. »Na, bist du auch ohne dein Schießgewehr noch mutig? Hast du immer noch Spaß daran, kleinen Mädchen wehzutun?«

»Du leibhaftige Dämonin!«, kreischte der General. »Du bist nur eine weitere Prüfung des Herrn, die ich ebenfalls bestehen werde, so wie alle anderen zuvor!«

Langsam zog er ein Messer hervor und wog es prüfend in der Hand. Dann stürzte er sich mit einem Schrei auf Gabi. Diese wich jedoch geschickt aus und ließ ihn ins Leere laufen.

»Ich bin dran«, erklärte sie und funkelte den anderen böse an.

»Ja, komm und hol mich!« schrie Dupont. »Aber an mir wirst du dich verschlucken, das kann ich dir jetzt schon sagen!«

Doch Gabi machte keine Anstalten, erneut auf den Mann loszugehen. Stattdessen begannen ihre Augen leicht zu glühen.

»Was … was ist das für eine Teufelei? Ich …«

Dann erstarb Duponts Stimme mit einem Krächzen. Ein Zittern bemächtigte sich seiner. Der ganze Körper des Mannes begann unkontrolliert zu zucken, dann fiel er zu Boden. Blubbern und Gurgeln drangen aus seiner Kehle, dann platzten seine Augen, sodass nur zwei dampfende Höhlen in dem Schädel zurückblieben.

»Na, gefällt es dir?«, höhnte Gabi. »Macht es auch noch Spaß, wenn man es selbst ist, dem Schmerzen zugefügt werden? Du willst ein Mann Gottes sein? Ein selbstgerechter Scheißsadist bist du, nichts sonst!«

Das Mädchen spuckte auf das zitternde Bündel, das einmal der neue Herrscher Bonns gewesen war. Allein mit der Macht ihrer Gedanken zerfetzte sie seine Kehle, griff in seine Brust, hielt sein Herz an und riss seine Bauchdecke auf. Als er sich nicht mehr rührte, warf sie sich über ihn und grub ihre Zähne in das dampfende Fleisch seiner Eingeweide.

 

***

 

Ein Schuss krachte durch die Nacht. Sandra und Jörg fuhren herum und sahen einen Zombie reglos auf dem Boden liegen. In der Vorderseite seines Schädels befand sich ein kreisrundes Loch, der hintere Teil des Kopfs war als schleimige Masse über die Wand des Korridors verteilt.

»Lemmy!« Sandra atmete hörbar aus. »Offenbar hat er uns einmal mehr den Hintern gerettet.«

»Deiner scheint es ihm ja auch angetan zu haben.« Jörg grinste.

»Wie’s aussieht, nicht nur ihm.« Sandra grinste zurück.

»Wir sollten weiter, bevor noch mehr von den Untoten hier auftauchen.«

Kurz darauf standen sie an der Zelle, in der sich Martin befinden musste.

»Nur gut, dass ich den Schlüsselbund noch habe.« Jörg zog den großen Ring aus der Tasche und klimperte damit vor Sandras Nase herum. »Ich bin der Schlüsselmeister. Willst du mein Torwächter sein?«

»Das ist aus ›Ghostbusters‹, nicht wahr?«

»Ja.« Jörg kicherte. »Auch wenn die zugehörige Passage ein wenig anders geht, wenn ich mich recht erinnere. So, jetzt aber genug mit den Albernheiten, wir haben noch Arbeit vor uns.«

Mit einem leisen Quietschen drehte sich der Schlüssel im Schloss, dann war die Tür offen. Die beiden sahen einen Raum mit kahlen Wänden vor sich, der von zwei Betten dominiert wurde. In einem davon lag ein ausgezehrter, leichenblasser Mann, der reichlich ungepflegt wirkte. In der Zelle stank es nach Schweiß und Erbrochenem.

»Boar, wie das hier riecht!« Sandra hielt sich ostentativ die Nase zu. »Wir werden Martin wohl erst durch eine Waschanlage schieben müssen, bevor wir ihn wieder auf den Rest der Menschheit loslassen können.«

»Wenn du eine findest, die noch funktioniert, bin ich dabei.«

Jörg schluckte seinen Ekel hinunter und trat an das Bett heran. Er überzeugte sich davon, dass der Mann darin noch lebte, dann versuchte er, den anderen aufzuwecken.

»Zwecklos«, stellte er schließlich fest. »Was auch immer hier genau vorgefallen sein mag, den bekommen wir erst einmal nicht wach. Wir werden ihn tragen müssen, so wie die Kinder.«

»Nur dass Martin deutlich größer und schwerer ist.« Sandra verzog das Gesicht. »Aber was tun wir nicht alles für den Kerl? Schließlich hat er sich trotz seiner Drogenprobleme bislang größtenteils als zuverlässig erwiesen.«

»Größtenteils?« Jörg schaute sie mit großen Augen an. »Was war den Rest der Zeit?«

»Da hatte er Turkey, war am Kotzen, am Zittern oder am Jammern.« Sandra lachte rau. »Trotzdem denke ich, dass er in Ordnung ist. Also los jetzt, schaffen wir ihn raus.«

 

***

 

»Wir müssen da vorne nach rechts«, flüsterte Jörg und deutete auf eine Seitenstraße, die etwa 20 Meter entfernt abzweigte.

»Aber wir sind von links gekommen«, widersprach ihm Sandra ebenso leise.

»Das weiß ich auch. Aber wenn du noch nach Gabi schauen willst, müssen wir in die andere Richtung, denn dort geht es zur Isolierstation.«

»Was ist nur heute mit mir los? Es ist, als ob ich Löcher in meinem Kopf hätte, durch die all das entschlüpft, was ich mir eigentlich merken sollte.«

»Das ist der Stress«, erklärte Jörg. »Die ganze Aufregung, und auch die Verantwortung für die Kinder, die du wieder übernommen hast. Das zehrt an den Nerven.«

»Und davon wird man dumm, ja?« Sandra sah ihn skeptisch an. »Außerdem habe nicht ich die Verantwortung übernommen, sondern wir. Schon vergessen?«

»Nein, das weiß ich sehr wohl. Außerdem hat Vergesslichkeit unter Stress nichts mit Dummheit zu tun. Ich habe da mal eine Studie gelesen, die besagt …«

»Ist ja hochinteressant«, unterbrach ihn Sandra. »Aber meinst du nicht, dass wir diese Unterhaltung auf später verschieben sollten? Außerdem wird mir Martin langsam schwer. Meine Arme fühlen sich so an, als seien meine Hände kurz davor, beim Gehen über den Boden zu schleifen.«

»Dann lass ihn doch runter.« Jörg lachte leise. »Hier ist eine gute Ecke, da können wir ihn ein paar Minuten liegenlassen, solange wir uns auf der Isolierstation umsehen. Die ist nämlich gleich da vorne, und Lemmy hat freies Sicht- und Schussfeld hierher, sodass er Martin vor ungewolltem Besuch beschützen kann.«

Mit einem »Uff« setzte Sandra die Beine des ausgemergelten Körpers auf dem Boden ab. Jörg ging langsam zurück und ließ den Oberkörper vorsichtig hinunter, bis Martin vollends im Gras lag. Noch einmal versicherten sich die beiden, dass keine Zombies in der Nähe waren, dann bogen sie in die Seitenstraße ein, die zum Trakt mit der Krankenstation führte.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als Jörg Sandra mit einer Geste zurückhielt und ihr bedeutete, sie solle in die Hocke gehen.

»Da vorne geht etwas vor«, flüsterte er.

Vorsichtig begaben sich die beiden in den Schatten eines nahen Hauses und arbeiteten sich dann langsam weiter in Richtung des Gebäudes. In dem die Isolierstation untergebracht war.

Schließlich blieb Sandra stehen und schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott, das ist Gabi!«

»Und der andere, das ist Dupont. Was machen die da?«

In diesem Moment fiel der General hin, und Gabis Stimme war zu hören: »Na, gefällt es dir? Macht es auch noch Spaß, wenn man es selbst ist, dem Schmerzen zugefügt werden? Du willst ein Mann Gottes sein? Ein selbstgerechter Scheißsadist bist du, nichts sonst!«

»Das … das ist doch nicht Gabi!«, stammelte Sandra. »Zumindest nicht die Gabi, die ich kenne …«

Einen Moment lang war nicht genau zu erkennen, was das Mädchen tat, dann stürzte es sich auf den am Boden liegenden Körper und begann offensichtlich damit, Teile davon zu fressen.

»Ich glaube, mir wird schlecht.« Sandra presste sich die Hand vor den Mund und kämpfte gegen die in ihr hochsteigende Übelkeit an.

»Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt zum Kotzen.« Jörg packte sie am Arm und zog sie mit sich. »Wir müssen zu Martin zurück und dann schleunigst von hier verschwinden, bevor dieses Ding bemerkt, dass hier zwei weitere Lunchpakete herumlaufen.«

 

 

Kapitel V

Regelverstöße

 

Dunkelheit.

Stille.

Nichts.

Doch halt, war da nicht ein Seufzen?

Langsam schälte sich aus dem Nichts ein formloses Etwas heraus, versuchte Gestalt anzunehmen, zerfloss dann aber wieder.

Nach einer schier endlos scheinenden Zeitspanne wiederholte sich der Vorgang, und dieses Mal gelang es dem Etwas, zumindest in Form eines löchrigen Nebels existent zu bleiben.

Wieder war ein Seufzen zu hören, dann kehrte erneut Stille ein.

Kälte breitete sich aus, unwirkliche, alles durchdringende Kälte, die sich schließlich wie in Zeitlupe zu einer humanoiden Form manifestierte.

»Luzifer, mein Freund, du siehst nicht gut aus.« Gabriels Stimme troff vor gespieltem Mitgefühl. »Sag, was hat dir denn so zugesetzt?«

Das Seufzen erklang erneut, schwoll an, wurde zu einer Art Gurgeln und schließlich zu einer kraftlosen Stimme.

»Das weißt du genau, Gabriel. Tu nicht so, als seist du nicht selbst schon in der Situation gewesen, in der ich mich im Augenblick befinde.«

»Sieh an, du kannst ja immerhin wieder sprechen. Dann wird auch dein Zeitgefühl sicherlich bald wieder zu dir zurückfinden.«

»Als ob es nichts Wichtigeres gäbe als das.«

»Gibt es etwas wichtigeres als Zeit?« Gabriel legte in einer übertrieben wirkenden Geste des Nachdenkens die zur Faust geschlossene Hand an sein Kinn. »Heißt es nicht bei den Menschen, die du ja so sehr liebst, dass Zeit alle Wunden heilt? Sag, was kann es Wichtigeres geben, als Wunden zu heilen und den Schmerz zu vergessen?«

»Erst gar keinen Schmerz zu erfahren. Wie wäre es damit?«

»Ts,ts, jetzt enttäuschst Du mich aber. Du weißt doch genau, was aus Wesen wird, die in stumpfsinniger Glückseligkeit existieren – was sage ich? - dahinvegetieren. Sie werden träge, beginnen zu degenerieren, stumpfen ab und verlieren schließlich jeglichen Willen, ihre Existenz fortzusetzen. Kampf bedeutet Leben, Stagnation Tod. Aus diesem Grund kann auch nur aus Kampf und Konfrontation eine Weiterentwicklung entstehen. Das ist ein universelles Gesetz, auch wenn du es nicht wahrhaben möchtest.«

»Auf einmal kommst du mir so?« Der formlose Nebel schien den anderen mit nicht wahrnehmbaren Blicken zu taxieren. »Auf einmal bringt der Kampf also Fortschritt, aber wenn du eine Rechtfertigung suchst, um die Menschen abzuschlachten, dann ist dir ihr kriegerisches Wesen gut genug dafür. Du widerst mich an!«

»Das ist nichts Neues.« Gabriel lächelte. »Schließlich hast du aus deinem Hass mir gegenüber nie einen Hehl gemacht.«

»Du verwechselst da etwas, aber vermutlich kannst du gar nicht anders, denn in dir ist alles auf Hass ausgerichtet. Ich hasse dich nicht, Gabriel, sondern ich bemitleide dich, weil du keine Augen mehr für die Schönheit Seiner Schöpfung hast, sondern nur noch das Schlechte und Hässliche darin siehst.«

»Ach, und weil du Mitleid mit mir hast, widere ich dich also an, ja? Wenn das mal nicht scheinheilig ist …«

»Denk doch, was du willst, das tust du ohnehin. Aber du befindest dich im Irrtum, und das schon seit sehr langer Zeit.«

»Also ich sehe das nicht so.« Gabriel gluckste. »Im Moment läuft alles nach Plan, und wer gewinnt, hat recht, findest du nicht?«

»Als ob es nur um Gewinnen oder Verlieren ginge. Es steht doch viel mehr auf dem Spiel, und das weißt du ganz genau. Dein Weg ist ein Irrweg, sieh es doch endlich ein!«

»Sonst was? Mischst du dich wieder ein und holst dir eine blutige Nase, so wie eben? Hast du denn immer noch nicht genug, Luzifer? Warum bist du so verblendet und denkst, dass ausgerechnet du derjenige bist, der den rechten Pfad beschritten hat?«

»Weil es richtig ist, was ich tue.«

»Woher nimmst du nur diese Sicherheit? Wer ist denn jetzt der Verblendete von uns beiden, hm?« Gabriel schüttelte den Kopf. »Nun gut, vielleicht kannst du ja wirklich nicht anders. Aber wie auch immer, ich muss dich jetzt leider verlassen, auf mich wartet ein dringendes Meeting, denn auch anderswo gibt es noch ein paar Reste dieser kümmerlichen Gestalten, die du so liebst. Bis bald, mein Lieber, und lass den Kopf nicht hängen.«

Gabriel lachte dröhnend, als hätte er eben den besten Witz seines Lebens gerissen, dann wandte er sich ab und entschwand.

 

***

 

Luzifer, der immer noch als formloser Nebel in der Zwischenwelt schwebte, nahm all seine Kraft zusammen. Tatsächlich gelang es ihm, seine Gestalt ein wenig zu verdichten.

Er richtete all seine Sinne auf den Weg aus, den der Dunkle Mann genommen hatte. Mühsam folgte er ihm Stück für Stück und erkannte schließlich, wohin dieser gegangen war.

»Was willst du bloß in Russland?«, wisperte er mehr, als dass er sprach. »Dort sieht es doch auch nicht anders aus als hier. Welche Schurkerei hast du nun wieder ausgeheckt, mein Bruder?«

Dann wurde ihm mit einem Mal alles klar.

»Die Atomwaffen in der Tundra!«, keuchte der Nebel. »Das ist nicht dein Ernst, Gabriel!«

Verzweiflung begann sich in Luzifer breitzumachen. Sein Gegenspieler war offensichtlich im Begriff, sich eine »Mannschaft« zusammenzustellen, die in der Lage war, diese todbringenden Waffen zu bedienen. Sollte ihm das gelingen, war das das Ende für Eden, noch bevor dessen Existenz überhaupt begonnen hatte. Alle Träume, alle Hoffnungen würden durch ein sonnenhelles Feuer ausgelöscht werden. Das durfte nicht passieren, auf keinen Fall!

Schweren Herzens beschloss Luzifer, die Regeln des Spiels ein weiteres Mal zu brechen. Verzweifelte Situationen rechtfertigten verzweifelte Maßnahmen.

Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Sinnen griff er hinaus und suchte eine Quelle, die ihm neue Kraft geben konnte. Schließlich fand er eine, deren Namen ihm inzwischen wohlvertraut war – Martin.

 

***

 

Eine gute Viertelstunde nach dem Zwischenfall vor dem  Krankenhaus trafen Sandra und Jörg mit ihrem »Päckchen« am Treffpunkt der Flüchtlinge ein.

»Dolle Show habt ihr da gerissen«, wurden sie von Lemmy begrüßt. »Hab alles durchs Zielfernrohr von meinem Schätzchen hier beobachtet.«

»Freut mich, wenn wir dich gut unterhalten haben.« In Jörgs Stimme schwang eine gehörige Portion Sarkasmus mit. »Ich hoffe, du hast auch Verständnis dafür, dass es uns von der ersten Reihe aus nicht ganz so gut gefallen hat.«

»Mach dich mal locker.« Lemmy grinste. »War ja nicht böse gemeint. Wie geht es dem Meister?«

Sandra und Jörg hatten Martin inzwischen vorsichtig abgesetzt und beugten sich jetzt über ihn, um ihn noch einmal zu untersuchen.

»Ich glaube, er kommt zu sich«, stellte Sandra überrascht fest. »Wurde ja auch langsam Zeit.«

Jörg kramte eine Wasserflasche hervor, schraubte den Deckel ab und setzte sie Martin an die Lippen. »Trink, das wird dir guttun. Aber langsam, sonst verschluckst du dich.«

Doch für die Warnung war er schon zu spät. Hustend spuckte Martin gut die Hälfte des Wasser wieder aus, der Rest davon schien es immerhin in seinen Magen zu schaffen.

»Danke«, keuchte er. »Mein Mund fühlt sich an, als ob eine ganze Armee in Schweißsocken hindurchmarschiert sei.«

»Noch so ein Vergleich, und ich lasse dich hier liegen.« Sandra verzog angewidert das Gesicht. »Für heute hatte ich genug Ekligkeiten.«

Kurz berichtete sie, was sie vor dem Gebäude der Krankenstation beobachtet hatten. Martin nickte und verfluchte sich im selben Moment innerlich für seine unbedachte Reaktion. Doch Sandra schien sie gar nicht bemerkt oder für eine unkontrollierte Bewegung von ihm gehalten zu haben. Nur Jörg war nicht entgangen, dass Martin es bereits gewusst zu haben schien.

Mit einem Mal verdrehte der am Boden liegende die Augen und sein Körper wurde von krampfartigen Zuckungen durchlaufen.

»Tut ihn ma’ bei mir rein«, meinte Lemmy. »Ich denk, nu’ isses Zeit, dass wir losfahr’n tun.«

Jörg und Sandra hoben Martin hoch und schleppten ihn zu Lemmy in den Bus. Als sie an dem schlaksigen Mann vorbeikamen, riss Martin plötzlich die Augen auf und röchelte: »Nach Süden! Wir müssen nach Süden!«

Dann kippte sein Kopf zur Seite und er schien erneut das Bewusstsein verloren zu haben.

 

***

 

Der Nebel verdichtete sich zusehends. Das Löchrige in ihm verschwand, als er sich weiter und weiter zusammenzog. Als das immer noch formlose Etwas die Grenze zwischen den Welten passierte, war erneut das Seufzen zu hören.

Einen Moment lang schwebte der Nebel über einem Acker vor den Toren Bonns, dann sank er langsam Richtung Boden und formte sich immer mehr zu einer Gestalt. Schließlich stand ein weißer Hund auf dem Feld und bellte den Mond an.

 

***

 

»So, der Meister ist gebettet.« Lemmy grinste zufrieden, was so gar nicht zu dem sonst eher mürrisch wirkenden Mann passen wollte. »Dann könnwa ja jetzt los, oda nich’?«

»Einen Moment noch«, hielt Sandra ihn zurück. »Ich glaube, da kommt noch jemand, den wir ebenfalls mitnehmen sollten.«

»Hm? Wen meinste denn? Sind doch alle da. Sogar dein Jörg wartet schon zappelig darauf, in sei’n Bus zu kommen.«

»Erlaube mal!«, empörte sich Sandra. »Das ist nicht mein Jörg.«

»Na, du musst’s ja wissen.« Lemmy kicherte. »Also, was ist jetzt? Könnwa?«

In diesem Moment trat ein großer weißer Hund in den schwachen Lichtkreis, der vom Standlicht der beiden Fahrzeuge gebildet wurde.

»Der Hund kommt auch mit«, erklärte Sandra.

»Was willste denn mit dem Vieh?« Lemmy sah das Tier mit unverhohlener Skepsis an. »Der bringt doch nur Flöhe mit.«

»Wieso, hast du Angst, die könnten in deinen zerzausten Bart springen?«

»Quatsch nich’, Mädel, das hat damit nix zu tun, nich’ wahr. Ich hab bloß kein gutes Gefühl bei der Töle. Irgendwie kommter mir bekannt vor, und ich mag ihn nich’, alles klar?«

»Klar ist nur, dass er mitfährt, ob es dir nun passt oder nicht, capice? Andernfalls darfst du den ›Meister‹ gerne wieder ausladen und dich alleine vom Acker machen.«

»Isja schon gut, tu dich ma’ nich’ so aufregen tun, das haut dir bloß auf’n Blutdruck. Wenn dir soviel an der verwanzten Töle liegt, kanner wegen mir auf’m Anhänger mitfahr’n.«

 

 

Kapitel VI

Aufbruch

 

Thilo stand auf einer Anhöhe und blickte in die Nacht hinaus. Es war ruhig hier draußen – zu ruhig, wie er fand. Bald würde die Ernte beginnen, doch das Wetter machte ihm Sorgen. Vielleicht würden sie nicht schnell genug sein, und einen Teil der Ernte verlieren, weil die Herbststürme zu früh einsetzten. Interessanterweise machten sich die Erwachsenen diesbezüglich offenbar keine Sorgen. Für sie schien alles wie immer zu sein, und das, obwohl inzwischen doch auch dem Letzten klargeworden sein musste, dass sich alles verändert hatte.

»Erwachsene …« Thilo seufzte.

Wenn er in eine normale Welt hineingeboren worden wäre, dann hätten seine Eltern und die anderen im Dorf die Zeichen ebenfalls erkannt. In diesem Fall wäre es ihrer normalen Fürsorge entsprungen, Ängste und Sorgen ein Stück weit vor den Kindern verborgen zu halten. Aber in Wirklichkeit war es anders. Thilo wusste, dass sie sich nicht sorgten. Aus irgendeinem Grund hatte die Seuche einen Bogen um dieses – zugegebenermaßen relativ abseits liegende – Kuhdorf gemacht, und nun dachten sie, es sei alles vorbei. Zwar musste man auf einen guten Teil der Annehmlichkeiten verzichten, die einem die technisierte Welt geboten hatte, aber dafür lebte man jetzt endlich wieder im Einklang mit der Natur, und alles würde gut werden. Zumindest redeten sie sich das ein, und die drei Aussteigerehepaare, die sich vor ein paar Jahren hier niedergelassen hatten, bestärkten die anderen Dörfler noch in diesem Glauben.

»An was denkst du?«

Thilo hatte seinen Bruder Bernhard nicht kommen gehört und drehte überrascht den Kopf.

»Musst du dich immer so anschleichen?« Thilo sah den anderen vorwurfsvoll an. »Du weißt genau, dass ich es nicht leiden kann, wenn du dich abschirmst, um mich zu erschrecken.«

»Bist halt doch ein Mädchen.« Bernhard lachte »Ein richtiger Mann hat keine Angst – sagt zumindest Papa.«

»Ja, an den musste ich auch gerade denken – und an die anderen Leute im Dorf. Sie wollen es nicht erkennen.«

»Ja, ich weiß.« Bernhards Seufzer war mindestens ebenso tief wie der seines Bruders vorhin. »Sie stecken den Kopf in den Sand und spielen Vogel Strauß. Und wenn wir etwas sagen, dann heißt es, wir verstünden nichts davon, schließlich seien wir noch Kinder. Dabei bin ich schon 14 und du sogar 15. Manchmal denke ich, wir haben mehr im Kopf als alle Erwachsenen des Dorfes zusammen.«

»In mancherlei Hinsicht trifft das auch zu.« Thilo kicherte. »Und wenn wir noch Annika, Mareike und Belinda dazunehmen, dann auf jeden Fall.«

»Denkst du, sie ahnen etwas?«

»Wer? Die Mädchen?«

»Blödmann.« Bernhard gab seinem Bruder einen Stoß. »Du weißt genau, dass die so sind wie wir. Ich spreche von den Erwachsenen.«

»Die haben nicht den Hauch einer Ahnung. Denen ist bis heute nicht klar, dass wir es sind, die bislang alle verirrten Knirscher abgefangen haben, wenn sie unserem Dorf zu nahe kamen.«

»Beim alten Joseph wäre ich mir da nicht so sicher. Der macht manchmal so Andeutungen …«

»Die olle Schnapsnase?« Thilo lachte. »Der halluziniert viel, wenn er getankt hat, was unser Glück ist.«

»Ja, aber ich konnte ihn auch schon hören

»Sicher?«

»Was heißt schon ›sicher‹? Du weißt genau, dass ich es nicht wirklich gut kontrollieren kann.«

»Aber die anderen hast du schon gehört, oder?«

»Klar, so wie du und die Mädels auch. Sie sind ja immer wieder laut genug.«

»Ich denke, sie werden hierher kommen.«

»Nicht gut.« Bernhards Miene verfinsterte sich.

»Warum? Ist doch klasse, wenn noch andere wie wir da sind.«

»Ich weiß nicht recht. Das gibt sicher nur Ärger. Du weißt doch, wie die Leute in unserem Dorf drauf sind, seit alle Verbindungen nach draußen abgebrochen sind.«

»Ja, weiß ich. Na ja, wir werden sehen, was passiert, wenn die anderen hier vorbeikommen.«

»Wieso bist du so sicher, dass sie das überhaupt tun werden?«

»Weil ich es gesehen habe.«

»Ach komm, du weißt genau, dass dein Sehen ebenso unzuverlässig ist wie mein Hören. Außerdem: Wenn du es gesehen hast, dann weißt du doch auch, wie unsere Leute darauf reagieren werden.«

»Eben nicht. Und genau das macht mich zappelig.«

 

***

 

»So, der Köter hat offensichtlich ein Plätzchen gefunden«, grunzte Lemmy. »Könnwa dann jetzt endlich los?«

»Wo willst du denn hin?«, wollte Jörg wissen, der immer noch keine Anstalten machte, in seinen Bus zu steigen. »Dieses ›ihr müsst nach Süden‹ finde ich doch reichlich unspezifisch.«

»Also wenn der Meister sagt, dasses nach Süden geht, dann fahma nach Süden, klar?«

»Nein, nichts ist klar. Ich finde es sogar einen ausgesprochenen Fehler, sich jetzt auf einen bloßen Verdacht hin in Richtung Süden zu begeben. Wir haben Herbst, und es dürfte demnächst empfindlich kalt werden. Bei dem, was uns unterwegs aller Voraussicht nach erwartet, schaffen wir es keinesfalls vor Einsetzen der ersten Schneefälle, dicht genug ans Mittelmeer heranzukommen, damit uns das egal sein kann. Gleich, welchen Weg wir auch einschlagen, wir werden mitten im Winter in irgendeinem Gebirge festsitzen und uns dort im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode frieren.«

»Und haste ein’n and’ren Vorschlag, Chef?« Lemmy sah sein Gegenüber herausfordernd an. »Hierbleiben könnwa nich’, und überall anners tut’s irgendwann auch schnei’n, oda?«

»Lemmy hat recht«, beteiligte sich nun Sandra an dem Gespräch. »Wir müssen hier weg, das Wohin ist doch erst einmal egal. Hauptsache keine Zombies mehr und einen Unterschlupf ohne größenwahnsinnige Generäle. Vielleicht irgendeine dünnbesiedelte Küstenregion.«

»Das ist mir alles zu unsicher«, beharrte Jörg. »Mensch, versteht doch! Wir haben die Verantwortung für rund 50 Leute übernommen, da können wir nicht so tun, als seien wir alleine, und einfach aufs Geratewohl irgendwohin düsen, frei nach dem Motto ›wenn’s dort nix ist, gehen wir halt in die nächste Bar‹.«

»Du tust ja gerade so, als seien wir dumme Kinder.« Sandra maß Jörg mit einem schwer zu deutenden Blick. »Also gut, wenn dir Lemmys Vorschlag nicht passt, dann mach einen besseren!«

»Suite 12/26«.

»Ha, ha, sehr witzig.«

»Nein, Sandra, ich meine es ernst. Wir müssen uns zur ›Suite 12/26‹ durchschlagen. Das ist unsere beste, wenn nicht gar einzige, Chance.«

»Und wo liegt diese Suite 08/15? Etwa im Ritz oder gar im Walldorf-Astoria?«

»Manchmal vergesse ich, dass ihr Zivilisten sein.« Jörg machte eine entschuldigende Geste. »Das ist natürlich ein Code.«

»Hömma, Kot hattenwa schon genug.« Lemmy kicherte.

»Ich meine es ernst, verdammt noch mal!«, brauste Jörg auf.

»Ach, und wir etwa nicht?« Aus Sandras Augen schienen Giftpfeile zu schießen. »Also hör mit dem Drumrumgerede auf und sag endlich, was Sache ist! Andernfalls machen wir, was Lemmy gesagt hat, und fahren nach Süden. Also?«

Jörg schluckte sichtlich eine geharnischte Antwort hinunter, dann erklärte er: »Das 12/26 steht für den zwölften und sechsundzwanzigsten Buchstaben im Alphabet, also das L und das Z.«

»Aha.« Sandras Miene verfinsterte sich noch mehr, obwohl das kaum noch möglich schien. »Und was soll uns das jetzt sagen?«

»Ich war ja noch nicht fertig.« Jörg verdrehte die Augen. »Das LZ steht für ›Letzte Zuflucht‹. Damit ist ein geheimer Nato-Bunker aus der Zeit des Kalten Kriegs gemeint Das Ding ist atombombensicher, verfügt über reichlich Vorräte und ist groß genug, dass wir uns nicht gegenseitig auf dem Schoß hocken müssen. Kurz: Es ist der ideale Ort, um dort zu überwintern.«

»Sonst noch was?«

»Wenn du so fragst, ja. Ist dir an den Zombies nichts aufgefallen?«

»Sie haben gestunken, und sie wollten uns fressen, also nein, alles so wie immer.«

»So kann man es natürlich auch sehen.« Jörg lachte trocken auf. »Ich hingegen hatte das Gefühl, dass sie bei weitem nicht so hirnlos vorgegangen sind wie die Male zuvor.«

»Sie lernen also dazu, oder was willst du damit sagen?« Sandras Unmut machte einer gewissen Nachdenklichkeit Platz. »Wenn ich’s mir recht überlege, hatte ich diesen Eindruck in Köln auch schon einmal, allerdings nur ganz kurz. Was vermutest du also?«

»Sie werden gelenkt, aber frag mich nicht von wem oder was. Bei dem, was ich von dem Sturm auf die Stadt mitbekommen habe, verhielten sie sich teilweise wie Soldaten, die einer bestimmten Strategie folgen. Da muss einfach so etwas wie eine zentrale Kraft dahinterstecken, anders kann ich mir das nicht erklären.«

»Hm, wäre möglich. Aber was hat das alles mit deinem Luxusbunker zu tun?«

»Nun, es scheint doch für jeden logisch zu sein, dass wir nach Süden fliehen müssen, um dem Winter zu entkommen, nicht wahr?«

»Schon, und weiter?«

»Der Bunker liegt aber nördlich, genauer: nordöstlich von uns. Wer oder was auch immer hinter den Zombies stecken mag, damit rechnet es garantiert zuletzt, dass wir genau die entgegengesetzte Richtung einschlagen.«

»Du erzählst gerade ein’n vom Pferd, Chef.« Lemmy schüttelte unwillig den Kopf. »Du hast gar nix davon mitbekommen, was hier los war oda immer noch is’. Also woher willste das wissen, mit den gelenkten Zombies, hm? Oda willst du mir was dazu sagen?«

Der letzte Satz war an Sandra gerichtet gewesen, die nun unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Schließlich gab sie sich einen Ruck und erklärte mit gesenkter Stimme: »Ich weiß, dass es so ist. Frank hat es mir erzählt, als wir in Nörvenich miteinander gesprochen haben. Und Jörg hat es wohl mitbekommen.«

»Na siehst ma’.« Lemmy griente. »Wusst ich’s doch, dass ihr mir mit eurem ›wie kommst du darauf?‹-Theater nur einen Bären aufbindet wolltet. Aber das Argument hat echt was für sich. Alla hopp, wir düsen nach Norden – oder wo auch immer das Nato-Hotel so genau is’ …«

 

***

 

Gabi folgte der Richtung, die ihr der Dunkle Mann genannt hatte, bevor er verschwunden war. Immer wieder traf sie dabei auf Zombies, von denen die meisten einen respektvollen Abstand zu ihr einhielten.

Manchmal beobachtete sie, wie sich die Untoten über die Leichen der einstigen Verteidiger Bonns hermachten. Dabei verfielen immer wieder auch einige in eine Art Raserei, bei der sie wahllos um sich bissen und auch vor ihren Artgenossen nicht Halt machten.

Einmal hatte Gabi versucht, einzugreifen. Es fühlte sich nicht richtig für sie an, wenn man Seinesgleichen anfiel.

»Hört sofort damit auf!«, hatte sie mit ungewohnt kräftiger Stimme befohlen.

Tatsächlich hielten die Untoten für einen Moment inne, nur um dann mit einem Gurgeln, Fauchen und Zischen auf das Mädchen loszugehen.

Gabi wischte mit der Hand durch die Luft, und die Angreifer wurden mehrere Meter zurückgeschleudert.

»Ihr sollt aufhören! Das buchstabiert man A-U-F-H-Ö-R-E-N.«

Sie konzentrierte sich, versuchte den Zombies ihren Willen aufzuzwingen. Tatsächlich beruhigten sich daraufhin zwei von ihnen und gingen einfach wahllos in irgendeine Richtung davon. Doch die anderen dachten gar nicht daran, in ihrem Blutrausch innezuhalten. Die Gier nach Fleisch schien alles in ihnen regelrecht zu überspülen, für nichts anderes mehr Platz zu lassen.

Noch einmal fauchten sie, dann rannten sie erneut auf Gabi zu. Deren Augen glühten kurz auf und verengten sich dabei zu Schlitzen. Fast im selben Moment brachen die Zombies zusammen. Dort wo vormals ihre Köpfe gewesen waren, sah man jeweils nur noch ein Stück Hals, aus dem ein dünner Rauchfaden aufstieg.

 

***

 

Die beiden Busse hielten nebeneinander auf einer Anhöhe. Die Augen aller, die bei Bewusstsein waren, klebten förmlich an den Scheiben und betrachteten das Bild, dass sich ihnen bot.

Das, was einst Bonn gewesen war, glich einem einzigen Flammenmeer. Denjenigen, die es bis jetzt noch nicht geschafft hatten, aus dem Inferno zu entkommen, war vermutlich nicht mehr zu helfen. Sofern sie überhaupt noch am Leben waren, würden sie einen qualvollen Tod sterben – nur um anschließend für ein Nicht-Leben wieder aufzuerstehen.

»Bonn versinkt wie einst Babylon in einem Meer aus Blut, Flammen und Schmerz«, sinnierte Jörg mit finsterer Miene. »Selbst die Ausrufung dieses neuen Gottesstaates konnte das offenbar nicht verhindern.«

»Was ist das nur für ein Gott, der so etwas zulässt?« Sandra spie die Worte förmlich aus. »Hat er etwa Spaß daran, seine Kreaturen zu quälen, oder ist er einfach nur ein rachsüchtiger, kleinkarierter Arsch, der Freude daran hat, wenn ganze Städte in Tod und Verderben versinken?«

»Rachsüchtig?« Lemmy, der für den kurzen Halt zu den anderen in den Bus gestiegen war, sah die junge Frau von der Seite an, während er ganz ohne die sonst bei ihm übliche Schnodderigkeit weitersprach: »Eher nicht. Kleinlich? Vielleicht. Die Menschen sind wie Kinder. Erst nachdem sie sich die Finger verbrannt haben, lernen sie, dass ein heißer Herd gefährlich ist.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder?« Sandra sah den bärtigen Mann mit aufgerissenen Augen an. »Ist das jetzt diese ›jeder ist seines Glückes Schmied‹-Nummer, oder was? Verdammt, was haben denn die ganzen rechtschaffenen Leute verbrochen, und was die unschuldigen Kinder, dass sie jetzt so einer Scheiße ausgesetzt sind? Tickst du eigentlich noch ganz richtig?«

»Ich denke, ich weiß, was er meint.« Jörg sah Lemmy nachdenklich an. »Über viele Generationen hinweg haben alle miteinander die großen und kleinen Warnungen ignoriert, die sie erhalten haben, und einfach munter weitergemacht wie bisher. Der erste und zweite Weltkrieg, Tschernobyl, die eine oder andere Ölpest, sterbende Urwälder, Krieg und Hunger in den Entwicklungsländer, den der ach so zivilisierte Westen mit satten Bäuchen mitangesehen hat, Subventionen für die eigenen Betriebe, die die Armut in Afrika noch weiter verschlimmert haben, Streit um Rohstoffe und andere Ressourcen, und wofür das alles? Richtig: Nur für Geld und Macht.

Und wir alle haben dieses System direkt oder indirekt mitgetragen. Denk doch nur mal daran, wie es in unserem eigenen Land gelaufen ist. Wir waren froh, wenn die Armut uns nicht erwischt hat, oder haben sogar auf ›die da unten‹ herabgeschaut, sie gerne als Sozialschmarotzer betrachtet, die zu faul zum Arbeiten sind. Wer hat denn schon erkannt, dass die wahren Sozialschmarotzer in der Oberschicht saßen? Dort haben sie es sich gutgehen lassen, haben sich mit der Deckelung von Sozialbeiträgen in Form von ›Bemessungsobergrenzen‹ und Zweitsystemen wie zum Beispiel privater Krankenversicherung ein feines Leben auf Kosten der Solidarität gemacht. Aber das dumme Wahlvieh war ja zu bequem, sich mal gründlich zu informieren, hat immer weiter die korrupten Parteien gewählt, die dieses faulige System am Leben erhalten haben. Nur ja nichts ändern, bis jetzt hat man ja Glück gehabt, uiui, bloß nichts riskieren und ja nicht nachdenken, denn davon könnte man ja Kopfschmerzen oder einfach nur das große Kotzen bekommen.«

»So war es nicht.« Sandra schüttelte entschieden den Kopf, dann setzte sie leise hinzu: »Zumindest nicht so ganz. Viele waren doch einfach zu sehr in die tägliche Scheiße dessen eingespannt, was man ›sich den Lebensunterhalt verdienen‹ nannte. Immer mehr haben zu ihrer eigentlichen Arbeit noch einen Nebenjob gebraucht, um überhaupt über die Runden zu kommen. Da hat man einfach keinen Kopf mehr, um sich politisch zu informieren.«

»Das mag sein, aber wählen gegangen sind sie trotzdem, und auf die Straße zum Demonstrieren hat es auch keiner geschafft, zumindest nicht hier in Deutschland. Man kann das Falsche auch dadurch unterstützen, indem man es geschehen lässt, wegsieht, einfach nichts tut.«

»Ja, das gilt vor allem für die Kinder.« Sandras Stimme troff vor Sarkasmus. »Die hätten mal demonstrieren gehen sollen, und vor allem ihren Eltern den Arsch versohlen, weil sie bei der letzten Wahl das Kreuz schon wieder an der falschen Stelle gemacht haben.«

»Ich weiß, was du meinst.« Jörg nickte traurig. »Wie bei jeder Scheiße, die auf diesem verkackten Planeten stattfindet, trifft es ausgerechnet wieder jene am härtesten, die am wenigsten dafürkönnen. Was das anbelangt, teile ich deine Kritik an ›dem da oben‹, auch wenn ich persönlich nicht an seine Existenz glaube.«

»Da wär’ ich mir an deiner Stelle nich’ so sicher.« Lemmy hatte zu seiner gewohnten Sprechweise zurückgefunden und grinste die anderen jetzt schief an. »Abba das Rätsel tun wir heut’ nich’ mehr lösen tun. Lasst uns ma’ lieber weiterfah’n, denn wenn ich’s recht verstand’n hab’, hammwa noch bisschen Weg vor uns, oda?«

Jörg wollte noch etwas sagen, klappte dann aber den Mund zu und nickte nur stumm. Sandra tat es ihm gleich, und so machten sich die Pilger wieder auf den Weg in eine ungewisse Zukunft, die Überreste Bonns hinter sich zurücklassend.

 

***

 

Gabi bog um eine Hausecke und traf plötzlich auf einen Mann, der offenbar weder ein Soldat noch ein Zombie war. Dieser stand einfach nur da und sah sie an. Gabi konnte es deutlich erkennen, obwohl sein Gesicht in der Art der Wüstennomaden verhüllt war.

Dann bemerkte sie die vernarbten Hände und lächelte. »Du bist also mein General? Du hast so viel für mich getan.«

»Findest du?« Frank schien unsicher zu sein. »Ich … ich dachte nicht, dass du so werden würdest, wie du jetzt bist. Ich … ich wollte eigentlich helfen und …« Seine Stimme stockte.

»Aber das hast du doch.« Gabi strahlte ihn an. »Ich weiß was du fühlst, doch es ist halb so schlimm, wie es dir vielleicht erscheinen mag. Ganz im Gegenteil sogar, es ist alles viel besser als vorher! Ich war gefangen in einem schwachen Körper, aber du und der Dunkle Mann, ihr habt mich befreit. Das buchstabiert man B-E-F-R-E-I-T.«

 

 

Kapitel VII

Dorfidylle

 

Das Brummen der Dieselmotoren hallte durch die Nacht. Jörg, der vorausfuhr, hatte die großen Straßen und vor allem die Autobahnen von Anfang an gemieden. Dort standen massenweise Autos und andere Fortbewegungsmittel herum, von denen nicht wenige sicherlich auch mit Zombies besetzt waren, die nur darauf warteten, dass endlich Essen auf Rädern vorbeikam.

Doch auch so gestaltete sich das Vorankommen schwierig. Immer wieder mussten die Busse auch die Landstraße verlassen und sich einen Weg über mehr oder weniger geteerte Feldwege suchen. Das zehrte nicht nur an den Nerven, sondern auch an den wenigen Vorräten und vor allem am Treibstoff, der den Fahrzeugen zur Verfügung stand. Schließlich hielt Jörg am Rande eines kleinen Kaffs an und stieg aus.

»Ich denke, wir sollten Pause machen«, erklärte er den anderen, die ihn fragend ansahen. »Wir sind jetzt weit genug gefahren, um vor den Zombie-Horden aus Bonn erst einmal sicher zu sein. Außerdem weiß ich nicht, was deine Tankuhr sagt, Lemmy, aber meine steht auf ›viertel‹, es wäre also nicht schlecht, wenn ich ein paar Liter dazubekommen könnte.«

»Sieht bei mir nich’ anners aus.« Der Angesprochene nickte. »Also nix wie rein in das Nest, und gucken, ob die hier ’ne Tanke haben.«

»Ich halte das für keine gute Idee«, meldete sich Roland zu Wort, der der Unterhaltung bislang schweigend gefolgt war. »Wenn es dort Zombies gibt, kann das für uns alle sehr gefährlich werden.«

»Hast du etwa Schiss?« Stephan war in der Tür des Tourbusses aufgetaucht und rieb sich das Kinn. »Wenn’s in dem Kaff Freaks hat, dann legen wir sie eben um, so wie sonst auch, wenn sie uns zu nahe gekommen sind. Also ich bin für reinfahren, alles einsammeln, was wir brauchen können, und dann weiter im Text, wohin auch immer die Reise gerade gehen mag.«

»Das sind markige Worte, Stephan.« Jörg sah den anderen an und wusste nicht recht, ob er lachen oder sauer sein sollte. »Aber dir ist vermutlich entfallen, dass wir keine Truppe von Kämpfern sind, sondern unsere Gruppe inzwischen zum Großteil aus Familien  besteht.«

»Als ob Frauen nicht kämpfen könnten.« Sandra blickte Jörg giftig an. »Ist zwar angeblich eine neue Welt – wenn auch keine schöne – aber die Vorurteile sind immer noch die alten.«

»Ich habe ja nicht gesagt, dass Frauen das nicht könnten, aber ich bezweifle, dass die Mütter in meinem Bus eine militärische Ausbildung genossen haben.«

»Das habe ich auch nicht, und trotzdem schieße ich jedem den Arsch ab, wenn es sein muss!«

»Ich störe ja nur ungern euren Geschlechterkampf«, ließ sich Roland mit einem Augenzwinkern vernehmen. »Aber die Kids haben Hunger, und vom Reden alleine füllen sich die Treibstofftanks auch nicht wieder auf. Wollen wir nicht lieber darüber sprechen, was für Möglichkeiten wir haben?«

»Ein Kommandotrupp-Unternehmen scheidet von vorneherein aus«, machte Jörg mit einem Ton klar, der keinen Widerspruch duldete. »Zum einen können ein paar Leute nicht genug Material tragen, zum anderen haben wir zu wenig Waffen, so dass diejenigen, die sich auf den Weg machen, den Rest schutzlos zurücklassen müssten.«

»Aber hier ist doch keine Sau.« Stephan machte eine Geste, die das Dorf und die umliegenden Felder umfasste. »Roland, Lemmy, Sandra und du geht das Zeug holen, und ich passe solange auf die Kinder auf.«

»Das hätt’ste wohl gerne, wa’?« Lemmy sah ihn finster an. »Für dich is’ der annere Bus tabu, klar? Oda muss ich dir erst nochma’n Ding verpassen?«

»Danke, das eine hat vollkommen genügt. Ich weiß zwar nicht, was in dich gefahren ist und was das Ganze überhaupt soll, aber offenbar muss man sich heutzutage auch mit weniger zivilisierter Gesellschaft zufriedengeben.«

»Du hast’s gerade nötig«, brummte Lemmy, was ihm von Sandra einen »könnt ihr bitte endlich damit aufhören«-Blick einbrachte.

»Also, ich fasse mal zusammen«, ergriff die junge Frau dann das Wort. »Aufteilen geht nicht, zusammenbleiben ist aber anscheinend auch gefährlich, wir haben also die Wahl zwischen nass werden oder nicht trocken bleiben, sehe ich das richtig?«

»So kann man es wohl ausdrücken, ja.« Jörg nickte.

»Dann bleiben wir am besten zusammen, damit wir gemeinsam das Weite suchen können, falls es uns in dem Kuhnest tatsächlich an den Kragen gehen sollte. Ende der Diskussion.«

»Hugh, Sitting Cow hat gesprochen«, murmelte Stephan und feixte dabei.

»Was hast du gesagt?«

»Dass du recht hast, Sandra, so wie immer.«

»Dann ist’s ja gut. Also weiter jetzt, ich will aus dem Dorf wieder raus sein, bevor die Sonne aufgeht.«

 

***

 

»Tatsächlich, hier gibt es eine Tankstelle«. Sandra sah staunend aus dem Fenster des Busses, den Jörg soeben auf einer Art Dorfplatz angehalten hatte. »Und sie sieht auch nicht geplündert aus. Aber wo sind all die Leute, die hier eigentlich wohnen sollten? Zombies haben wir nämlich auch keine gesehen.«

»Vermutlich alle nach Bonn gegangen. Die einen, um vor der Seuche zu fliehen, und die anderen später, um beim Sturm auf die Stadt zu helfen.«

»Du meinst, wir sollten Frank dankbar dafür sein, dass er alle Untoten zu sich gerufen hat?«

»Sieht fast so aus.«

»Auf was warten wir?« Roland war nach vorne gekommen und gesellte sich nun zu Jörg und Sandra. Ihre Unterhaltung hatte er nicht hören können, denn dafür war sie zu leise geführt gewesen. »Während ihr die Busse auftankt, gehe ich mit den anderen Männern dort drüben in den kleinen Supermarkt und schaue nach Vorräten.«

»Es gibt da ein kleines Problem.« Jörg rieb sich nachdenklich über die Nase.

»Das da wäre?«

»Strom. Die Pumpen der Zapfsäulen laufen nicht ohne Strom, und es würde mich schon sehr wundern, wenn es hier noch welchen gäbe.«

»Stimmt, daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Roland patschte sich an die Stirn. »Dabei hätte ich es eigentlich wissen sollen. Fahrt die Busse schon mal an die Tanke, ich regele das.« Dann drehte er sich um und rief nach hinten in den Bus: »Gregor, komm mal, es gibt Arbeit für uns!«

 

***

 

Während Jörg und Lemmy die Busse an den Zapfsäulen in Position brachten, hatten sich Roland und Gregor in Begleitung von Sandra auf den Weg gemacht. Letztere sollte ihnen »Feuerschutz« geben. Auf die Frage, was er denn vorhabe, hatte Roland nur mit »wirst gleich sehen« und einem breiten Grinsen geantwortet.

Tatsächlich mussten die beiden Fahrer nicht lange warten, bis die Dreiergruppe wieder auftauchte. Roland trug einen Werkzeugkasten, Gregor ein Notstromaggregat und Sandra die Verantwortung.

»Jetzt brauchen wir nur noch ein bisschen Sprit für das Schätzchen hier, dann können wir volltanken«, erklärte Roland, während er mit dem Daumen auf das Notstromaggregat deutete. »Wir haben extra eins genommen, das Diesel säuft, damit wir nicht mit verschiedenen Spritsorten rummachen müssen.«

»Wo hast du denn das her?«, mischte sich Stephan ein. »Hier gibt es doch gar keinen Baumarkt, und wenn, dann wäre er mit Sicherheit längst leergeräumt.«

»Wer redet denn von Baumarkt?« Das Grinsen in Rolands Gesicht wurde immer breiter. »Schonmal ’nen anständigen Bauernhof ohne so’n Ding gesehen? Und das Werkzeug, das wir brauchen, um es an die Zapfsäulen anzuschließen, stand in der Scheune freundlicherweise direkt daneben. Also, was ist jetzt mit Sprit? Hat einer von euch einen Ersatzkanister im Bus?«

Die letzte Frage war an Lemmy und Jörg gerichtet gewesen. Diese sahen sich kurz an, dann schüttelten sie gleichzeitig die Köpfe.

»Nein«, erklärte Jörg dann, »die sind von Duponts Leuten alle eingezogen worden.«

»Na toll.« Sandra kickte einen Stein davon. »Und mit was haben sie das nun wieder begründet? Sind Ersatzkanister vom Teufel besessen oder so?«

»Nein, natürlich nicht.« Jörg konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Zum einen diente das wohl der Rationierung, zum anderen dem Schutz vor Diebstahl, falls mal ein Fahrzeug irgendwo unbewacht abgestellt werden muss.«

»Was ist bei dir, Lemmy? Dein Bus gehört doch nicht dem Militär.«

»Hat ihn aber auch nich’ davor bewahrt, durchsucht zu werden.«

»Klasse, und jetzt? Ohne Sprit bekommen wir keinen Sprit, klingt ganz nach einem Henne-Ei-Problem.«

»So etwas hatte ich mir fast schon gedacht.« Roland grinste. »Schließlich weiß ich, wie die Kommissköppe ticken.«

Er stellte den Werkzeugkasten ab, öffnete ihn und kramte kurz darin herum. Schließlich holte er ein Stück Schlauch daraus hervor und hielt es Sandra unter die Nase.

»Ansaugen heißt die Devise«, erklärte er.

»Und was streckst du mir das Ding so hin? Willst du damit etwa sagen, als Frau können ich das besonders gut, oder was?«

»Öh, so war das doch gar nicht gemeint.« Roland wurde rot. »Ich wollte dir doch bloß zeigen, dass wir an alles gedacht haben.«

»Na, dann bin ich wohl nicht mehr der einzige Fettnäpfchentreter hier.« Stephan feixte. »Willkommen im Club.«

Doch der andere ging gar nicht darauf ein, sondern machte sich stattdessen daran, mithilfe des Schlauchs Diesel aus dem Militärbus zu saugen und direkt in den Tank des Notstromaggregats zu leiten. In der Zwischenzeit hatte sich Gregor an der ersten Zapfsäule zu schaffen gemacht und deren Verkleidung entfernt. Als Roland mit dem betankten Aggregat zu ihm kam, war er bereits soweit, dass er es am Innenleben der Säule anschließen konnte.

»Zum Glück hat die Batterie noch genug Saft«, murmelte Gregor, als das Notstromaggregat bereits beim zweiten Versuch ansprang, dann wandte er sich an Jörg: »Kannst schon mal den Zapfhahn in den Tankstutzen stecken, geht gleich los.«

Es dauerte nicht lange, und die Pumpe der Zapfsäule erwachte ratternd zum Leben. Mit leisem Gurgeln schoss der Treibstoff in den Tank des Busses, bis die automatische Abschaltung mit einem deutlich hörbaren »Klack!« verkündete, dass das Fahrzeug nun genug getrunken hatte.

Während Jörg den Tankdeckel schloss, machten sich die anderen daran, Lemmys Bus ebenfalls vollzutanken. Alle schienen im Moment äußerst zufrieden zu sein, nur Sandra trug eine nachdenkliche Miene zur Schau.

»Was hast du denn?«, fragte Jörg sie, als er ihren Blick bemerkte. »Läuft doch im Moment alles bestens, oder nicht?«

»Schon, aber ich überlege halt gerade, wie lange diese Glückssträhne wohl anhalten mag. Wie weit kommt so ein Bus, bevor man ihn wieder auftanken muss?«

»Bis 12/26 reicht das auf jeden Fall locker. Geht ja einiges rein in so einen Tank.«

»Und reicht es auch, wenn man viele Umwege fahren muss, der Motor vielleicht auch im Stand läuft, weil man eine Heizung braucht und all sowas?«

»Auf was willst du hinaus?«

»Darauf, dass wir versuchen sollten, so viel wie möglich Diesel mitzunehmen. Wer kann schon sagen, wann wir das nächste Mal an eine Tankstelle mit Sprit und ohne Zombies kommen? Soviel Glück hat man nicht so oft, oder?«

»Du hast recht.« Jörg nickte. »Wenn Lemmys Bus voll ist, machen wir uns auf die Suche nach Reservekanistern.«

 

***

 

Gut eine Stunde später waren Heiterkeit und Zuversicht auch aus der letzten Miene verschwunden. Die Pilger hatten sich in mehrere Gruppen aufgeteilt und das ganze Dorf nach Ersatzkanistern abgesucht, aber merkwürdigerweise nicht einen einzigen finden können.

»Ich würde mich nicht wundern, wenn da auch wieder eine Schweinerei von diesem ›Général Baguette‹ dahintersteckt«, mutmaßte Sandra mit finsterem Blick. »Dem traue ich inzwischen sogar zu, dass er es schafft, uns noch über seinen Tod hinaus Steine in den Weg zu legen.«

»Kann ich mir kaum vorstellen, dass er damit etwas zu tun hat«, erwiderte Jörg. »Da steckt sicher eine ganz banale Erklärung dahinter.«

»Fein. Und wenn wir die wissen, regnet es Benzinkanister vom Himmel, oder wie?«

»Schlecht geschlafen?« Jörg feixte.

»Seit vielen Stunden überhaupt nicht mehr geschlafen, wenn du es genau wissen willst. Und statt mich blöd anzugrinsen könntest du versuchen, meine Stimmung aufzuhellen, indem du eine gute Idee hast.«

»Ich habe ein paar Fässer gesehen«, meinte Roland. »Jedes so um die 200 Liter, die könnten gehen.«

»Wo und wie viele?«, wollte Jörg von ihm wissen.

»Dort hinten.« Roland wies auf ein größeres Haus, an das ein Viehstall und ein Schuppen angeschlossen war. »Und es waren zwei Fässer, um genau zu sein.«

»Ist das nicht viel zu gefährlich, volle Treibstofffässer in einem Personenbus zu befördern?«, fragte Stephan mit skeptischem Blick. »Wenn so ein Ding umkippt, haben wir den Salat.«

»Du hast zu lange in Deutschland gelebt.« Nun war es an Sandra, zu feixen. »Schön sicher in ein ganzes Bündel von Vorschriften eingepackt, dass zur Not auch die maximale Lautstärke von Fürzen vorgegeben hat, damit nur ja niemand zu Schaden kommt.«

»Aber hier geht es nicht um Fürze, sondern um Treibstoff. Ich will dich sehen, wenn das Zeug über dich drüberschwappt, während dein Nebensitzer an einem Glimmstängel zieht.«

»Stephan hat recht.« Jörg blickte Sandra ernst an. »Diese Überfrachtung mit Vorschriften ist mir auch immer gegen den Strich gegangen, aber das ist noch lange kein Grund, jetzt leichtsinnig zu werden und unnötige Risiken einzugehen.«

»Na, dann packmer die Dinger eben auf mein’n Hänger.« Lemmy zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Dort könnwa die ordentlich festzurren, und Waldi hat bestimmt auch nix dageg’n, oda?«

»Ich habe ihn zwar Nero getauft«, wandte Stephan ein, »aber meinetwegen können wir ihn auch Waldi nennen. Solange er mich nicht vollsabbert, ist mir alles recht.«

»Wenn das deine einzige Sorge ist …« Sandra verdrehte die Augen, dann wandte sie sich an Lemmy: »Kann der Hund nicht bei dir im Bus mitfahren? Irgendwie erscheint mir das richtiger zu sein.«

»Meinetwegen.« Lemmy schien nicht begeistert zu sein. »Aber wenn er mir in die Karre pisst, fliegta hochkant raus, klar?«

Nachdem das geklärt war, machten sich Jörg, Lemmy, Stephan und Gregor daran, die beiden Fässer zu holen und ebenfalls vollzutanken. Roland ging indes mithilfe einiger der anderen Erwachsenen daran, den kleinen Supermarkt näher unter die Lupe zu nehmen.

Als ein erstes rotes Glühen am Horizont den neuen Tag ankündigte, war alles soweit erledigt. Die Fässer waren randvoll und auf dem Anhänger festgezurrt, Roland und seine Gruppe wieder mit magerer Ausbeute zurück.

»Viel ist es ja nicht, aber besser als gar nichts«, stellte er fest und zuckte dabei mit den Schultern. »In diesem Dorf scheint es ja einigermaßen sicher zu sein. Wollen wir hier noch den Tag verbringen und dann heute Abend weiterfahren?«

»Keine gute Idee«. Sandra schüttelte den Kopf. »Zum einen sollten wir schauen, dass wir noch mehr Abstand zwischen uns und die Überreste von Bonn bringen, zum anderen müssen wir in einen Rhythmus kommen, dass wir tagsüber fahren und uns nachts ausruhen. Ich denke, es wird auch auf diese Weise noch schwer genug sein, sich durch die zombieverseuchte Republik zu schlagen.«

»Alles klar.« Roland tippte sich mit den Fingerspitzen von Zeige- und Mittelfinger gegen die Stirn. Wie alle anderen auch, schien er Sandras Rolle als Anführerin der Pilger zu akzeptieren, obwohl eigentlich keiner so genau sagen konnte, warum das so war.

 

 

Kapitel VIII

Landstraßen

 

Ein eisiger Wind strich über die Hügel. Thilo schloss den Reißverschluss seines Anoraks bis ganz oben hin und zog das Schild seiner Kappe tiefer in die Stirn.

»Verdammt kalt heute«, stelle Mareike fest und rieb sich dabei mit den Händen über die ebenfalls in einen dicken Anorak eingepackten Oberarme. »Und zu allem Überfluss sieht es danach als, als ob wir bald einen heftigen Sturm bekommen werden.«

»Ja, das Wetter ist dieses Jahr kein Spaß.« Thilo nickte. »Wird ziemlich schnell ziemlich ungemütlich für all jene werden, die dort draußen unterwegs sind.«

»Ist ja auch kein Wunder, dass das Wetter Kapriolen schlägt.« Mareikes Miene verfinsterte sich. »Seit die vom Menschen unbewusst vorgenommenen Manipulationen daran nach und nach zurückgehen, versucht die Natur, sich zu normalisieren und wieder ihren eigenen Takt zu finden. Dass das nicht sofort klappt, liegt irgendwie auf der Hand, findest du nicht?«

»Schon, aber ich mache mir halt so meine Sorgen.«

»Über die anderen?«

»Ja, genau.«

»Warum? Ist ihnen etwas passiert?«

»Das kann ich nicht so genau sagen.« Thilo zuckte mit den Schultern. »Aber die Bilder haben sich irgendwie verändert, auf irgendeine Weise verschoben. Ach, es ist schwer zu erklären.«

»Denkst du, dass sie jetzt doch nicht mehr herkommen werden?«

»Möglich. Ich weiß es nicht. Dabei war ich mir anfangs so sicher.«

In diesem Moment stupste ihn Mareike mit dem Ellenbogen an und deutete mit dem Kinn in Richtung Waldrand.

»Ich sehe ihn.« Thilo nickte.

»Bitte mach schnell, ja? Ich finde es jedes Mal aufs Neue eklig.«

»Fokus!«, verlangte Thilo knapp.

Mareike reichte ihm beide Hände. Der Junge umschloss sie mit den seinen und drückte sie sanft, dabei lächelte er das Mädchen mit den kurzen schwarzen Haaren an. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich. Fast im selben Moment war ein hässliches, feuchtes Geräusch zu hören, und ein moderiger Geruch wehte zu den beiden herüber.

»Du meine Güte, der war ja noch fauliger als alle anderen zuvor.« Mareike verzog angewidert das Gesicht, während sie auf den jetzt kopflosen Körper des ehemals Untoten blickte.

»Umso schneller sollten wir ihn verschwinden lassen«, brummte Thilo.

»Fokus!« war es diesmal an Mareike, die Anweisung zu geben.

Wie zuvor griffen sich die beiden an den Händen, doch dieses Mal war sie es, die die Augen schloss um sich zu konzentrieren. Mit einem leisen »Puff!« fing der Kadaver Feuer, nur um gleich hell aufzulodern und mit hellblauer Flamme innerhalb weniger Sekunden restlos zu verbrennen. Nur ein schwarzer Fleck auf dem Boden und ein bisschen Asche, die jetzt vom Wind davongetragen wurde, kündeten noch davon, dass wieder einmal ein Zombie dem Dorf der Kinder zu nahe gekommen war.

 

***

 

Sandra schreckte aus einem unruhige Halbschlaf hoch, als der Bus anhielt. Die zurückliegenden zwei Tage hatten deutlich mehr an ihren Kräften gezehrt, als sie sich selbst eingestehen wollte.

Obwohl die beiden Busse die großen Straßen mieden und auch einen Bogen um größere Ansiedlungen machten, waren die Pilger immer wieder gezwungen worden, noch weitere Umwege in Kauf zu nehmen, um sich nicht den Weg durch eine Horde Untoter erkämpfen zu müssen. Das Vorankommen gestaltete sich dadurch wesentlich mühsamer, als sie alle gedacht hatten. Zusätzlich verbrachten sie jeden Abend noch gut ein bis zwei Stunden damit, einen einigermaßen sicheren Platz für die Nacht zu finden.

Sandra rieb sich die Augen, dann ging sie nach vorne zu Jörg.

»Warum halten wir?«, wollte sie von ihm wissen. »Ist es schon wieder Zeit für eine Rast?«

»Das auch.« Jörg nickte. »Rosi und zwei der Mädchen aus Rolands Gruppe haben sich wohl eine Blasenentzündung gefangen und müssen ständig Pipi.«

»Dann sollen sie halt in einen Eimer pissen, herrgottnochmal!«

»Du kannst ganz schön eklig sein, Sandra, weißt du das?«

»Tut mir leid.« Die junge Frau sank ein wenig in sich zusammen. »War nicht so gemeint. Ich bin im Moment einfach fertig und daher wohl auch ein wenig gereizt.«

»Ist okay.«

»Du sagtest ›auch‹. Was ist noch?«

»Siehst du die Brücke da vorne?«

»Klar. Was ist damit?«

»Ich traue ihr nicht. Und bevor jetzt ein dummer Spruch kommt: Ich denke, das Ding ist vermint.«

»Wie kommst du darauf?«

»Nenne es einfach militärischen Instinkt. Eine rationale Erklärung habe ich dafür nämlich nicht.«

»Fein. Und was machen wir jetzt? Weitere drölfundneunzig Kilometer Umweg fahren?«

»Du darfst auch gerne den Minenspürhund spielen, wenn du magst.«

»Da würde ich jetzt gerne diesen Dupont drüberjagen.« In Sandras Augen trat ein gefährliches Funkeln. »Und dann genüsslich dabei zusehen, wie ihm erst das eine und dann das andere Bein abgerissen wird.«

»Du hast die letzte Zeit wirklich zu wenig Schlaf bekommen.« Jörg schüttelte missbilligend den Kopf. »Dupont war ein Arsch, keine Frage, trotzdem finde ich es unmenschlich, jemand anderem so etwas zu wünschen.«

»Die Moraldiskussion führen wir, wenn wir unsere Hintern im Trockenen haben, okay? Sag mir lieber, was wir jetzt tun sollen, mir fällt nämlich nichts ein. Außerdem bist du der Ex-Soldat.«

»Hm, ›Soldat‹ ist ein gutes Stichwort.« Jörg grinste, dann rief er nach hinten in den Bus: »Roland, komm doch bitte mal. Ich hätte da ’ne Frage.«

Der große Endvierziger ließ sich nicht lange bitten und leistete Jörg und Sandra vorne im Bus Gesellschaft.

»Du und Gregor«, fing Jörg an, »ihr scheint doch so eine Art Technik-Fuzzis zu sein.«

»So kann man das wohl nennen, ja.« Roland lachte.

»Mein Gefühl sagt mir, dass die Brücke dort vorne vermint ist. Irgendeine Idee, was wir da machen können? Umfahren kostet uns mindestens zwei Tage, das habe ich auf der Karte schon gecheckt.«

»Mhm, verstehe. Was für einen Minentyp vermutest du?«

»Dürften Annäherungsminen sein, da sie sicherlich die Zombies aufhalten sollen.«

»Sorry, da muss ich passen. Diese Dinger sind so kitzelig, da nehme ich lieber zwei Tage Umweg in Kauf.«

»Was ist denn die nächste größere Ortschaft hinter der Brücke?«, wollte Sandra wissen. »Ich habe da vielleicht eine Idee.«

»Und die wäre?« Die beiden Männer sahen sie überrascht an.

»Soweit ich das sehe, ist die Brücke ja nicht sonderlich hoch. Zu Fuß kommt man – zumindest wenn man kein Zombie ist und seine Sinne noch halbwegs beieinander hat – relativ einfach auf die andere Seite, ohne die Brücke selbst zu benutzen. Unser Problem besteht also eigentlich nur darin, dass wir unsere Fahrzeuge nicht zurücklassen wollen, oder?«

»Ja, stimmt soweit alles.« Jörg nickte. »Auf was willst du hinaus?«

Sandra grinste, dann erklärte sie ihren Plan. Zuerst waren die Männer skeptisch, ließen sich dann aber überzeugen, dass das im Moment ihre beste Option war.

 

***

 

»Ich verstehe nicht, warum ausgerechnet ich dabei sein muss«, maulte Stephan zum wiederholten Mal, während er, Sandra, Roland und der weiße Hund auf eine kleine Stadt zugingen, die knapp zwei Kilometer von der Brücke entfernt lag, an der die Busse mit den anderen warteten.

»Das habe ich dir doch schon dreimal erklärt.« Sandra verdrehte die Augen. »Weil du Erfahrung damit hast. Und jetzt halt die Klappe und spar deine Luft, die wirst du nämlich gleich noch brauchen.«

»Ja, Chef. Alles was du sagst.«

Sandra zog es vor, den provozierenden Unterton einfach zu ignorieren. Sie presste die Lippen aufeinander und ging zügig weiter.

»In Bonn bist du mir nicht so mädchenhaft vorgekommen.« Roland feixte und hieb Stephan kräftig auf die Schulter.

»Da hatte ich auch keine Wahl.«

»Ach, und hier hast du eine?«

»Offenbar auch nicht wirklich. Wäre ich doch bloß in meinem schönen, ruhigen Häuschen geblieben, anstatt mich dieser Chaotentruppe anzuschließen …«

»Hörst du, Sandra, da hat einer Heimweh.« Rolands Grinsen wurde immer breiter.

Statt einer Antwort reckte die junge Frau nur ihren Mittelfinger in die Höhe. Dann blieb sie abrupt stehen.

»Still!«, zischte sie. »Da vorne ist etwas.«

 

***

 

Tom stand auf einer grünen Wiese. Die anderen Kinder hatten einen Kreis um ihn gebildet und hielten sich an den Händen. Während sich ihre Oberkörper im Takt wiegten, sangen sie das Lied der Pilger.

 

Wir sind die Pilger nach Eden

dort wollen wir in Frieden leben

und unter Seinem hellen Licht

das Dunkel uns niemals anficht

wir sind die Vergessenen

beschimpft als die Besessenen

doch wir sind nur die Pilger nach Eden

wo in Frieden wir werden ewig leben

 

Doch obwohl es ganz den Anschein hatte, war das alles kein reines Spiel glücklicher Kinder, sondern verfolgte einen sehr ernsten Zweck. Wieder und wieder sangen sie die Strophen des Liedes, wobei ihre Stimmen lauter und eindringlicher wurden, die Bewegungen ihrer Körper immer schneller.

Schließlich nickte Tom und schloss die Augen. Fast im selben Moment spürte er, wie die Kraft der anderen in ihn zu fließen begann. Gierig nahm er sie in sich auf, sammelte sie, formte sie, um sie schließlich in einen Ruf zu kanalisieren: »Martin!«

Eine Zeitlang war nur das Lied der Kinder zu hören, dann rief Tom erneut den Namen des jungen Mannes: »Martin! Kannst du mich hören? So antworte doch!«

Es war kein Ruf, der in der physischen Welt stattfand. Vielmehr hatten sich die Kinder an ihrem Platz versammelt, um endlich zu dem Mann durchzudringen, der seit Tagen in einer Art Koma lag, dem einzigen Erwachsenen, dem sie derzeit vertrauten, der wirklich einer von ihnen war.

Tom versuchte es zwei weitere Male, doch das Ergebnis blieb dasselbe. Martins Verstand schien von einer undurchdringlichen Barriere umgeben zu sein, die selbst mit der geballten Kraft aller Kinder nicht durchdrungen werden konnte.

»Lasst es gut sein.« Der Junge winkte erschöpft ab und bedeutete den anderen, dass sie aufhören konnten. »Es hat keinen Zweck. Was auch immer mit Martin passiert ist, er wird es zuerst ein gutes Stück weit aus eigener Kraft überwinden müssen, bis wir ihm helfen können.«

 

***

 

Übergangslos hatte Sandra ihre P90 in der Hand und zielte damit auf einen kleinen Verschlag, der ein wenig außerhalb der Ortschaft am Wegesrand stand.

»Wer auch immer du bist, komm raus und zeig dich!«

»Los, Nero, fass!«, befahl Stephan dem weißen Hund. »Da gibt es ein schönes Zombie-Fresschen für dich!«

Doch der Hund dachte gar nicht daran, der Anweisung Folge zu leisten. Stattdessen ging er betont langsam einige Schritte zurück und blieb dann wieder stehen.

»Dann machen wir’s halt ohne dich.« Stephan verdrehte die Augen. »Warum füttern wir die Töle überhaupt durch?«

»Klappe jetzt!«, zischte Sandra, dann wandte sie den Blick wieder nach vorne: »Wenn du bei drei nicht draußen bist, holen wir dich! 1 … 2 …«

Knarrend öffnete sich die Tür des Verschlags. Hastig hob Stephan einen Stein auf, und Roland tat es ihm gleich.

Langsam schob sich eine Hand hinter der Tür hervor, gefolgt von einem dünnen, weißen Ärmchen, das einem Kind von vielleicht elf Jahren gehörte.

»Bi… bitte tut mir nichts«, flehte der Junge, dessen hervorstechendstes Merkmal seine großen wasserblauen Augen waren. »Ich hab nix gemacht, ehrlich!«

Sandra senkte ihre Waffe, und die beiden Männer ließen ihre Steine so unauffällig wie möglich ins Gras plumpsen.

»Wie heißt du denn?«, fragte Sandra das Kind, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen mütterlichen Klang zu geben.

»Tut ihr mir auch nichts?« Ängstlich starrte der Junge sie an.

»Sehen wir aus wie Menschenfresser?« Sandra lächelte ihr freundlichstes Lächeln. Da sie mit dem Rücken zu Roland stand, konnte sie nicht sehen, wie dieser schicksalsergeben gen Himmel blickte.

»Ihr seid keine Knirscher«, stellte der Junge fest.

»Wir sind ganz normale Menschen, so wie du. Sagst du mir jetzt deinen Namen?«

»Jo. Eigentlich Joachim, aber alle nennen mich nur Jo – zumindest solange es noch andere gab, die wussten, wie ich heiße.«

»Alles wird gut, Jo. Du bist jetzt erst einmal in Sicherheit. Ich heiße Sandra, und das sind Roland und Stephan. Roland bringt dich jetzt zu ein paar anderen Kindern, mit denen du dich sicherlich gut verstehen wirst.«

»Kommt ihr beiden denn nicht mit?« Fragend blickte der Junge zwischen Sandra und Stephan hin und her.

»Nein, erst einmal nicht. Wir haben hier noch etwas zu erledigen, kommen dann aber nach. Versprochen.«

»Ist gut.« Jo nickte. Er schien langsam Zutrauen zu den fremden Erwachsenen zu fassen. »Ich glaube, Roland ist nett, bei ihm habe ich keine Angst. Und du bist natürlich auch nett, Sandra.«

»Na, dann komm mal mit.« Roland nahm den Jungen bei der Hand und ging mit ihm den Weg zurück, denn sie eben gekommen waren.

 

***

 

»Würde mich ja schon mal interessieren, was ich ihm getan habe«, nuschelte Stephan in seinen nicht vorhandenen Bart. Zusammen mit Sandra und dem weißen Hund kauerte er hinter einem Gebüsch, von dem aus man einigermaßen beobachten konnte, was in der kleinen Stadt vor sich ging, ohne gleich selbst gesehen zu werden.

»Vom wem sprichst du?« Sandra sah ihn fragen an.

»Na, von diesem Jo, von wem denn sonst?«

»Und wie kommst du darauf, dass du ihm etwas getan haben könntest?«

»Weil er mich nicht leiden kann, deshalb.«

»Du meine Güte, vielleicht sollten wir beiden die Geschlechter tauschen, bei den Befindlichkeiten, die du heute alle so an den Tag legst. Fehlt nur noch, dass du im Baströckchen hier rumhüpfst und dir die Beine rasierst.« Sandra verdrehte die Augen. »Aber gut, weil du es bist: Warum denkst du, dass er dich nicht leiden kann?«

»Er hat es selbst gesagt. Er findet Roland nett, und dich findet er auch nett. Mich nicht. Also kann er mich nicht leiden, und dass, obwohl ich ihm gar nichts getan habe.«

»Das klingt ja fast so, als ob es eine Ausnahme wäre, dass du Kindern nichts tust.«

»Verdreh mir bitte nicht die Worte im Mund, das habe ich weder gesagt noch gemeint!«, erwiderte Stephan scharf. »Ich mag Kinder über alles und würde niemals einem etwas antun.«

»Sicher?« Sandra taxierte ihn mit ihren Blicken.

»Was soll das jetzt schon wieder heißen? Ist heute ›Alle hauen auf Stephan rum‹-Tag oder so etwas? Hast du etwa schon vergessen, dass ich mein Leben riskiert habe, um Gabi im Alleingang aus der Isolierstation zu holen? Und auch sonst habe ich mich doch immer vorbildlich um alle gekümmert, mich für sie eingesetzt und sie beschützt. Aber das zählt wohl gar nichts. Am besten sollte ich meine Sachen packen und verschwinden. So wie ihr alle tut, seid ihr ohne mich ja ohnehin viel besser dran.«

»Hast du’s dann jetzt mit deinem Moralischen? Wenn dir wirklich soviel an den Kids liegt, wie du eben behauptet hast, dann hörst du jetzt mit dem Selbstmitleid auf und hilfst mir, die Sache durchzuziehen, damit wir endlich weiterfahren können, und zwar mit dir, capiche?«

»Willst du mich denn überhaupt dabei haben?«

»Nein, Stephan, ich führe dieses tiefenpsychologische Gespräch nur deshalb mit dir, weil mir langweilig ist. Und jetzt halt die Klappe, damit wir uns endlich auf die Stadt da vorne konzentrieren können.«

»›Klappe‹ ist wohl dein neues Lieblingswort«, nuschelte der Gerügte.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts, ich habe mich nur geräuspert. Schau, da vorne kommt einer der Freaks, und wo einer ist, sind die anderen in der Regel nicht weit.«

 

***

 

Gut eine halbe Stunde später hatten Sandra und Stephan genug gesehen. In der Stadt hielten sich nach ihren Schätzungen gut und gerne 100 bis 150 Zombies auf, mehr war von den einstigen Bewohnern offenbar nicht übrig geblieben – zumindest nicht in einem Zustand, in dem sie sich noch bewegen konnten.

»Das ist perfekt«, freute sich Sandra. »Besser hätten wir es gar nicht treffen können.«

»Wenn da mal bloß kein Haken an der Sache ist«, unkte Stephan. »Irgendwie geht mir das alles viel zu glatt.«

»Können wir diese Diskussion bitte auf später verschieben?«

»Du meinst auf den Zeitpunkt, nachdem dann alles schiefgegangen ist?«

Sandras Blick brachte den anderen mit einer »Ich habe nichts gesagt«-Geste zum Schweigen, dann verließen sie die notdürftige Deckung, die ihnen das Gebüsch geboten hatte und gingen langsam auf die ersten Häuser zu. Der weiße Hund knurrte zuerst, folgte ihnen dann aber in einem gewissen Abstand.

»Denkst du, Nero hat Schiss?« Stephan feixte und deutete dabei mit dem Daumen über seine Schulter nach hinten.

»Du meinst mehr als du? Kann ich mir kaum vorstellen. Und bevor du jetzt wieder fast in Tränen ausbrichst: Ich habe Schiss, denn das, was wir vorhaben, ist nicht ganz ungefährlich.«

»Es war deine Idee.«

»Weiß ich. Und jetzt …«

»Ja, schon klar: Klappe halten.«

»Brav.« Sandra grinste. »Bist ja direkt lernfähig.«

Doch so flapsig die Unterhaltung der beiden auch geführt sein mochte, sie konnte nur bedingt die Tatsache überspielen, dass sowohl Stephan als auch Sandra im Moment äußerst angespannt waren. Tatsächlich bemerkten jetzt die ersten Zombies, dass sich vom Ortsrand her Frischfleisch näherte, und wie auf Kommando hob ein Geifern, Fauchen und Schmatzen an, das sich wie eine Kettenreaktion in Richtung Ortsmitte fortpflanzte.

»Schön, wie sie ihre Kollegen rufen«, grunzte Stephan. »Dann brauchen wir das schon nicht zu tun.«

»Ich befürchte nur, dass sie nicht auf die anderen warten werden, was wir aber sehr wohl tun müssen, damit genug zusammenkommen.«

»Siehste, da ist er, der Haken an der Sache.« Stephan fluchte unterdrückt.

Aber viel Zeit zum Schimpfen hatte er nicht, denn die ersten Untoten waren fast heran.

»Scheiße, Sandra, das macht keinen Spaß!«

»Von Spaß stand auch nichts im Vertrag. Aber wenn du das Ding gut durchziehst, bringe ich dir vom nächsten Einkaufsbummel einen neuen Baseballschläger mit, versprochen.«

»Okay, wir haben einen Deal. Ich werde dich daran erinnern.«

Damit trat Stephan dem vordersten Zombie mit solcher Wucht in den Unterleib, dass es diesen gute drei Meter zurückschleuderte. Dort sortierte der Untote kurz seine Knochen, dann ging er wieder auf die Menschen los. Inzwischen hatte Stephan zwei weiteren Zombies dieselbe Behandlung zuteil werden lassen, sodass er kurz durchatmen konnte. Dann begann das Spiel von neuem.

Sandra schaute sich das Ganze ein paar Sekunden lang an, dann entsicherte sie ihre Maschinenpistole und zerschoss einer Handvoll Untoter, die sie fast erreicht hatten, die Kniegelenke. Gurgelnd und heulend knickten die Getroffenen ein, nur um gleich darauf mit ungebremstem Elan auf die junge Frau zuzurobben.

Das Knallen der Schüsse musste in der ganzen Stadt zu hören gewesen sein. Als Antwort darauf erklang weiteres Fauchen, Heulen und Geifern, als es auch dem letzten Zombie hier in sein nur noch rudimentär vorhandenes Denken sickerte, dass sich etwas Lebendiges in seine relative Reichweite begeben hatte.

»Wie lange müssen wir noch?«, keuchte Stephan, der mittlerweile damit beschäftigt war, sechs Untote auf Abstand zu halten.

Als ob ihn der weiße Hund verstanden hätte, warf dieser sich jetzt auch ins Getümmel und verschaffte ihm eine Atempause. Dabei knurrte und bellte er laut, so als wolle er sagen: »Kommt nur alle her! Hier zeigen wir euch, wo der Bartel den Most holt.«

»Ich nehme alles Schlechte zurück, was ich über Nero gesagt habe«, japste Stephan. »Der ist ja doch prima zu gebrauchen.«

Sandra nickte nur, während sie ihre P90 nachlud. Sie zielte in die Luft und ließ zwei kurze Feuerstöße rattern.

»So, das reicht«, entschied sie dann. »Da hinten kommt der Rest der fauligen Brüder. Abflug!«

»Na endlich.« Stephan machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon, dabei rief er über seine Schulter zurück: »Komm zu Herrchen, Nero! Wir machen jetzt Verschwindibus.«

 

***

 

Zu Stephans großer Erleichterung gestaltete sich der Rückweg bei weitem nicht so hektisch, wie er befürchtet hatte. Bei Tag waren die Zombies deutlich träger als in der Dunkelheit, sodass es ihm und Sandra keine Schwierigkeiten bereitete, die Untoten auf genügend großem Abstand zu halten – kein Vergleich zu dem, was er hatte im nächtlichen Bonn erleben müssen.

Trotzdem gaben die Zombies nicht auf. Die erste Einschätzung schien recht gut gewesen zu sein, denn die Horde, die immer noch geifernd und knurrend hinter den Menschen her war, bestand tatsächlich aus rund 150 von ihnen, soweit man das überhaupt sagen konnte, denn zum Durchzählen war nicht wirklich Zeit. Außerdem spielte die genaue Anzahl für Sandras Plan keine Rolle, die Menge, die sie im Schlepptau hatten, würde dafür auf jeden Fall reichen.

Es dauerte fast eine Stunde, bis die Menschen mit ihrem »Gefolge« wieder in der Nähe der Brücke waren. Noch einmal sahen Stephan und Sandra zu, dass sie die Zombies anfeuerten, indem sie hüpften, winkten und grölten. Selbst der weiße Hund kläffte mit, was Stephan ein weiteres »Brav, Nero!« entlockte.

Als die Untoten noch gut fünfzig Meter von der Brücke entfernt waren, steckte Sandra Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in den Mund und ließ einen lauten und durchdringenden Pfiff hören. Das war das Zeichen!

»Bei Fuß, Nero!«

Stephan patschte sich mit der Hand gegen den Oberschenkel, während Sandra schon dabei war, aus dem Sichtbereich der Zombies zu verschwinden. Gleichzeitig erklang von der anderen Seite der Brücke her lautes Hupen und Johlen. Die Menschen dort führten einen ebenso aberwitzigen Tanz auf, wie es Stephan und Sandra eben selbst noch getan hatten.

Für einen kurzen Moment schienen die Untoten zu stutzen, dann wankten sie auf die Menge Frischfleisch zu, die deutlich größer war als jene, die sie soeben aus den Augen verloren hatten.

 

***

 

»Alle in die Busse!« Jörg wedelte mit den Händen, um die anderen auf sich aufmerksam zu machen. »Ich denke, das genügt, unsere Freunde wissen jetzt, wo sie hin müssen.«

Er wiederholte seine Anweisung noch ein paarmal, bis er sicher war, dass auch der letzte sie gehört und verstanden hatte, dann sah er zu, dass er selbst hinter das Steuer seines Busses kam. Mark, der bislang mit Begeisterung die Hupe bedient hatte, machte ihm bereitwillig Platz.

Als alle in den Fahrzeugen saßen, ließen Jörg und Lemmy diese langsam zurückrollen. Dabei achteten sie darauf, weiterhin die Aufmerksamkeit der Untoten mit lautem Hupen auf sich zu ziehen.

»Hoffentlich schaffen es Sandra und Stephan, sich weit genug von der Brücke zu entfernen, bevor das Feuerwerk losgeht«, murmelte Roland, der in der ersten Sitzreihe Platz genommen hatte.

»Sandra weiß, was sie tut.« Jörg klang zuversichtlich. »Und Stephan hat sich bislang auch immer wacker geschlagen. Denen wird schon nichts passieren.«

In diesem Moment betraten die ersten Zombies die Brücke. Gebannt beobachteten die Menschen, was als nächstes geschehen würde. Immer mehr der Untoten drängten nach, und schließlich erreichten die ersten von ihnen die Mitte der Brücke.

»Verd…!« Jörg zerbiss einen Fluch. »Wenn die Brücke nicht vermint ist, haben wir gleich ein großes Pro…«

Ein lautes Krachen verschluckte den Rest seines Satzes. Mehrere Sprengsätze waren gleichzeitig explodiert und verteilten das erste Drittel der Zombies als schmierigen Film aus Blut und Gedärmen über die Landschaft.

»Sammelzünder«, brummte Roland anerkennend. »Die Idee hätte von mir sein können.«

»Das Spiel ist noch nicht zu Ende.«

Jörg ließ den Bus ein paar weitere Meter zurückfahren. Durch den sich langsam verziehenden Rauch konnte man erkennen, dass der Rest der Zombies ohne zu zögern weiter über die Brücke nachdrängte.

»Derjenige, der die Minen gelegt hat, versteht offenbar sein Handwerk«, stellte Roland fest. »Es hat nur die Fauligen erwischt, die Bausubstanz selbst scheint noch vollkommen in Ordnung zu sein.«

»Alles andere wäre auch ziemlich blöd für uns gewesen, findest du nicht?«

»Jetzt wo du es sagst.« Roland grinste, dann wurde er schnell wieder ernst: »Ich hoffe nur, dass es einen zweiten Satz Ladungen gibt, andernfalls hat Sandra ein paar zu viel von denen hier angeschleppt.«

Manche Gebete wurden erhört, obwohl sie keine waren. Roland hatte den Mund noch nicht richtig geschlossen, als erneut ein ohrenbetäubendes Getöse erklang und ein weiteres Drittel der Untoten in ihre Bestandteile zerlegte.

»Das dürfte es gewesen sein.« Roland klopfte zur Bekräftigung auf den Sitz neben sich. »Los, gib Gas!«

»Nichts da!« Jörg sah ihn ernst an. »Wenn es einen dritten Satz gibt, fahren wir genau in unser Verderben.«

»Und wie lange willst du warten?«

»Bis ich mir sicher bin, kein unnötiges Risiko einzugehen.«

Die Sekunden schienen wie in Zeitlupe zu vergehen, dann erreichten die ersten Zombies die hiesige Seite der Brücke, ohne dass es zu einer weiteren Explosion gekommen war. Jörg trat das Gaspedal durch und ließ die Kupplung rüde kommen. Der Bus schoss nach vorne, genau auf den Pulk von noch vielleicht vierzig Untoten zu, die dem Fahrzeug gierig entgegenwankten.

Mit einem hässlichen »Kaflatsch!« pflügte der Bus durch die ersten Reihen der Zombies. Kräftiges Holpern und trockenes Knacken zeugten davon, dass etliche von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes unter die Räder kamen. Dann waren sie durch!

»Lemmy schafft es ebenfalls!« Roland hatte den Kopf nach hinten gewandt und beobachtete den anderen Bus durch das Heckfenster. »Gleich ist er auch durch!«

Noch einmal betätigten die beiden Fahrer die Hupen, dann hatten sie die letzten Zombies endgültig hinter sich gelassen.

 

***

 

Knapp einen Kilometer nach der Brücke hielten die Fahrzeuge an. Stephan, Sandra und der weiße Hund erwarteten sie dort bereits.

»Das hat ja ordentlich gerummst.« Stephan grinste. »Hat es alle erwischt?«

»Die meisten jedenfalls«, antwortete Jörg.

»Das sieht man den Bussen auch an.« Sandra verzog angewidert das Gesicht. »Die hätten jetzt beide einen Waschtag nötig. Mein Gott, wie das stinkt!«

»Der nächste Regen tut’s auch tun«, meinte Lemmy. »Steigt jetzt lieber ma’ ein, damit wir weiterkomm’n.«

Das Kreischen eines Kindes ließ alle Köpfe herumfahren. Einer der Zombies war auf das Dach von Jörgs Bus gelangt und hatte es irgendwie geschafft, die dortige Lüftungsklappe zu öffnen, durch die er jetzt versuchte, ins Innere zu kommen.

»Ich mach dich kalt!« Wild entschlossen entsicherte Sandra ihre P90 und war gerade im Begriff, in den Bus zu stürmen, als sie der Länge nach hinschlug. Aus dem Radkasten war eine Hand hervorgekommen, die sich im Bereich ihres Knöchels festgeklammert hatte.

»Scheiße, da sind noch mehr von denen!« schrie Stephan.

Gleichzeitig begann er, wie ein Irrer auf den Arm einzutreten, der zu der Hand gehörte, die an Sandras Fußgelenk hing. Schließlich knackte es ein paarmal trocken, und Stephan konnte die Hand des Untoten mit einem kräftigen Ruck vom Arm trennen.

Sandra, die inzwischen kreidebleich geworden war, krabbelte hektisch vom Radkasten des Busses weg und versuchte, die jetzt reglose Hand vollends von ihrem Bein zu lösen.

»Ihr schafft das hier draußen ohne mich?« Jörgs Frage hatte mehr nach einer Feststellung geklungen, und er wartete auch gar keine Antwort ab, sondern stürmte jetzt selbst in den Bus, wo es der dortige Zombie bereits geschafft hatte, vollends ins Innere zu gelangen und im Begriff war, auf den Jungen loszugehen, der ihm am nächsten saß.

Michael kreischte panisch auf und rutschte auf seinem Sitz so weit von der fauligen Gestalt weg, wie es irgend möglich war. Zwei Schüsse krachten, und der Untote sackte in sich zusammen. Seine Hirnmasse lief als klebriger Brei an der Scheibe hinter ihm herunter.

Zwischenzeitlich versuchte Stephan, dem Zombie im Radkasten des Busses vollends den Garaus zu machen, aber der Erfolg wollte sich dabei nicht so recht einstellen, denn der Kopf des Untoten war nicht frei zugänglich. Alle Attacken auf andere Körperteile quittierte der Zombie zwar mit Fauchen, Zischen und Jaulen, dachte dabei aber gar nicht daran, sich sein Unlebenslicht vollends ausblasen zu lassen.

»Geh mal zur Seite, Stephan!« Sandra hatte sich wieder berappelt und hielt ihre P90 in der Hand. »Ich mache jetzt ein Sieb aus dem Scheißkerl!«

»Halt! Nicht!« Roland wedelte wild mit den Armen.

»Und warum nicht? Hast du auf einmal Mitleid mit dem Ding?«

»Ach woher!« Roland winkte ab. »Aber wenn du ein Loch in den Reifen schießt, haben wir ein Problem. Oder hast Du Fahrradflickzeug in der Tasche?«

»Mist, daran habe ich nicht gedacht.« Sandra ließ die Maschinenpistole sinken. »Und jetzt? Warten, bis er während der Fahrt von alleine aus dem Radkasten fällt?«

»Natürlich nicht, und ich habe auch schon eine Idee. Passt auf, dass das Ding keinen Unfug macht, ich bin gleich wieder da.«

Mit diesen Worten sprintete Roland in Richtung von Lemmys Bus davon, der anscheinenden keinen Zombiebefall zu verzeichnen hatte. Manchmal war es eben von Vorteil, nicht der erste zu sein …

»Was hat er vor?« Stephan sah Sandra fragend an, während er immer wieder mit einem Auge in Richtung des Radkastens linste und jederzeit bereit war, den Zombie darin durch kräftige Fußtritte in Schach zu halten.

»Keine Ahnung.« Sandra zuckte mit den Schultern. »Aber ich schätze, wir werden es gleich herausfinden, da kommt er nämlich schon wieder.«

Tatsächlich kam Roland mit zwei großen Lappen in der Hand angelaufen. Ohne sich mit langen Erklärungen aufzuhalten hielt er einen davon dem Zombie hin, der auch sofort gierig mit seiner verbliebenen Hand danach grapschte.

»Brav«, kommentierte Roland das Verhalten des Zombies und hielt im selben Moment ein brennendes Feuerzeug an den Lappen.

Das Stück Stoff fing sofort Feuer, und jetzt konnten auch Sandra und Stephan riechen, dass es offenbar mit Benzin getränkt war. Der Zombie kreischte auf und versuchte, das brennende Etwas wieder loszuwerden, doch Roland drückte beherzt mit dem zweiten Lappen nach, der ebenfalls sofort von Flammen eingehüllt war.

Die Verhältnisse in dem Radkasten waren so beengt, dass dem Untoten nicht genügend Platz blieb, das »tragbare Tor zur Hölle« wieder loszuwerden. Kreischend und heulend schlug er um sich, dabei klangen seine Schreie fast menschlich und gingen den Umstehenden durch Mark und Bein.

Schließlich gelang es dem Zombie doch, sich so zu drehen, dass er aus dem Radkasten plumpste. Auf diesen Moment hatte Sandra nur gewartet. Eine kurze, wohlgezielte Salve aus der P90 bereitete dem Kreischen ein Ende.

»Sauberer Schuss.« Roland nickte anerkennend. »Schade, dass wir mit Munition so knapp sind, die P90 hätte ich nämlich gerne einmal ausprobiert. Aber ich sehe, dass sie bei dir in guten Händen ist.«

»Wo hast Du das Benzin her?«, wunderte sich Sandra. »Ich dachte, wir hätten nur Diesel mitgenommen?«

»Der kluge Mann baut eben vor.« Roland grinste. »Sind zwar nur ein paar Flaschen, aber ich dachte mir schon irgendwie, dass das Zeug noch nützlich werden könnte. Was mich darauf bringt, dass wir vor der Weiterfahrt vielleicht alles gründlich absuchen sollten. Nicht, dass wir in ein oder zwei Kilometern die nächste unangenehme Überraschung erleben.«

»Dann aber schnell.« Sandra nickte grimmig. »Es kann nämlich nicht mehr allzu lange dauern, bis unsere Freunde von der Brücke ebenfalls hier eintreffen. Laut genug, um sie anzulocken, war es hier ja eben.«

Hastig untersuchten Sandra, Stephan, Roland und Jörg, der mittlerweile wieder nach draußen gekommen war, die übrigen Radkästen sowie alle sonstigen Stellen an den Bussen und dem Anhänger, die sich dafür eigenen konnten, einen blinden Passagier aufzunehmen. Erleichtert stellten sie fest, dass Radkasten-Joe und Dach-James offenbar die einzigen gewesen waren, denen ein Zusteigen ohne gültigen Fahrausweis gelungen war.

Kurz darauf röhrten die Dieselmotoren los, und die Busse setzten sich wieder in Bewegung. Bis zur Suite 12/26 hatten sie noch ein gutes Stück vor sich, und der Winteranfang rückte unaufhaltsam näher.

»Von wegen ›country roads, take me home‹«, murmelte Roland, während er gedankenverloren aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft blickte. »Wenn ich aus der Nummer raus wieder bin, kann ich die nächsten Jahre vermutlich keine Landstraßen mehr sehen …«

 

 

Kapitel IX

Herbst

 

»Du wirst dir noch den Tod holen.« Annika war neben Thilo getreten und sah ihn besorgt von der Seite an. »Willst du nicht lieber reinkommen?«

Thilo stand wie so oft auf seinem Hügel und beobachtete die Umgebung des Dorfes. Heute hatte er über den dicken Anorak noch zusätzlich eine Regenjacke angezogen, denn seit mehreren Stunden peitschte ein wütender Sturm durch die Landschaft.

»Den Tod oder sogar schlimmeres.« Thilo grinste. »Aber nur, wenn niemand auf uns aufpasst.«

»Was meinst du?«

»Liegt das denn nicht auf der Hand? Den Knirschern ist das Wetter egal, die holen sich keine Erkältung oder gar Lungenentzündung. Ich könnte wetten, dass denen noch nicht einmal Minusgrade und Schneetreiben etwas anhaben können.«

»Ja, auf ein gewisse Weise der perfekte Soldat.« Annikas Miene verfinsterte sich. »Und wenn die Seuche nicht auch ihr Gehirn zerfressen würde, könnte ich darauf wetten, dass irgendein machtgeiles Arschloch seine Finger bei der Entstehung des Virus im Spiel hatte.«

»Oh, das würde ich auch so nicht ausschließen wollen. Manche Menschen sind bereit, für Macht und Geld einfach alles zu tun, egal, wer oder was dabei draufgeht, solange es nur ›die anderen‹ trifft. Da geht man dann in seiner Gier schon auch mal Risiken ein, die sich hinterher als fatal erweisen und ein Virus entstehen lassen, das vor nahezu niemandem Halt macht. Bleibt nur zu hoffen, dass der Initiator des Ganzen den Lohn seiner Mühen in vollen Zügen genießen konnte.«

»Den letzten Satz hast du hoffentlich ironisch gemeint, oder?«

Thilo drehte sich zu Annika und sah sie einen Moment lang einfach bloß an. Schließlich verstand diese und nickte nur.

»Wenn es nicht so verdammt zynisch wäre«, fuhr Thilo schließlich fort, »dann könnte man der Welt und der Menschheit fast zu der Chance gratulieren, einen Neuanfang machen zu können. Alle alten Strukturen wurden niedergerissen, alles sozusagen ›auf Anfang‹ gestellt. Wenn es genügend Menschen gibt, die diesen Reinigungsprozess überleben, dann kann vielleicht alles wieder gut werden.«

»Und wenn nicht?«

»Auch egal.« Thilo zuckte mit den Schultern. »Die Erde braucht die Menschen nicht. Andersherum wird eher ein Schuh daraus, aber das haben viele in ihrer Arroganz und Verblendung bis heute nicht kapiert.«

»Man muss aber dazu sagen, dass zum Beispiel selbst in der Bibel steht, dass der Mensch sich die Erde untertan machen soll.«

»Ja.« Thilo nickte grimmig. »Untertan machen, nicht vergewaltigen, ausquetschen und in den Rinnstein schmeißen. Außerdem ist die Bibel – ebenso wie alle anderen ›heiligen‹ Bücher – von Menschen geschrieben worden. Und sind wir mal ehrlich: Wer sich anmaßt, über soviel Weisheit zu verfügen, dass er glaubt, ein Buch schreiben zu müssen, das festlegt, was für alle Menschen richtig und was falsch ist, der hat doch die größte Scheibe von allen, oder nicht? So eine Hybris muss man sicher über viele Jahre hegen und pflegen, bis sie ein niedergeschriebenes Wort Gottes gebiert.«

»Nun reg dich doch bitte nicht schon wieder so auf.« Annika legte sanft die Hand auf Thilos Arm, obwohl dieser die Berührung durch Regenjacke und Anorak hindurch gar nicht spüren konnte. »Die Leute, die diese Bücher geschrieben haben, sind längst alle tot, und von denen, die den Unsinn darin glauben, lebt auch kaum noch jemand.«

»Aha? Und warum halten die Erwachsenen bei uns im Dorf dann krampfhaft daran fest, sich jeden Sonntag in der Kirche zu versammeln und einen Gottesdienst abzuhalten?«

»Weil sie es nicht anders kennen, und weil es ihnen Halt gibt, so blöd das vielleicht auch klingen mag.«

»Auf diese Art Halt pfeife ich, denn er ist erstunken und erlogen, gegründet auf dem Blut Unschuldiger und mit Feuer und Schwert in die Welt getragen. Daraus kann einfach nichts Gutes entstehen, verstehst du? Spätestens wenn wieder der erste aufsteht und verkündet, dass ausgerechnet er Gottes Wort empfangen hat und nun genau weiß, was zu tun ist, geht die ganze Scheiße doch wieder von vorne los.«

»Ich glaube nicht, dass es soweit kommt. Aber sag, gibt es etwas Neues von den anderen?«

»Netter Versuch, das Thema zu wechseln.« Thilo zwang sich zu einem Grinsen. »Aber du hast ja recht, es bringt nichts, sich wieder und wieder darüber aufzuregen. Und um deine Frage zu beantworten: Nein, nichts wirklich Neues. Sie sind unterwegs, und ich werde das Gefühl nicht los, dass das auch noch eine Weile so bleiben wird.

 

***

 

Knapp eine Woche, nachdem sie die Brücke mit Hilfe der Zombies entmint hatten, fuhren die Busse der Pilger durch eine gottverlassene Gegend. Es war mindestens zwei Stunden her, dass einer von ihnen das letzte Mal eine menschliche Behausung in der Ferne gesehen hatte.

»Was für eine trostlose Gegend.« Sandra starrte aus dem Fenster, während sie immer wieder durchgeschüttelt wurde, wenn das Fahrzeug durch ein Schlagloch rumpelte. »Man sollte nicht meinen, dass es so etwas mitten in Deutschland gibt.«

»Gleich kommen wir an der Stelle vorbei, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.« Roland feixte. »Aber mal Spaß beiseite: Du bist ein Stadtkind, oder?«

»Ja, wieso?«

»Weil es hier schön ist, nicht trostlos. Überall Natur, keine öden Betonklötze oder sonstige Verschandelungen der Landschaft. Ich bin mir sicher, hier kann man prima Urlaub machen – sofern man überhaupt noch jemals wieder Urlaub machen wird.«

»Ein großes Lagerhaus randvoll mit leckeren Sachen würde mir im Moment besser gefallen als jedes noch so schöne Fleckchen Natur. Mensch, ich habe Kohldampf! Wir haben vor zwei Tagen unser letztes Essen aufgebraucht. Da ist mir die Schönheit der Umgebung sowas von scheißegal …«

»Ja, schon klar, an lauschigen Plätzen verhungert es sich auch nicht besser als in einer Betonwüste. Aber du weißt so gut wie ich, dass die letzten Versuche, unsere Vorräte aufzustocken, allesamt ein Schlag ins Wasser waren. Entweder war das Zeug vergammelt, oder es haben sich so viele Zombies in der Nähe herumgetrieben, dass der bloße Versuch, an etwas Essbares zu kommen, ein Selbstmordkommando gewesen wäre.«

In diesem Moment bremste Jörg den Bus und hielt schließlich an.

»Seht mal da!« Er zeigte mit dem Finger in Richtung Waldrand, der etwa einen Kilometer von der Straße entfernt war. »Sieht aus wie ein Aussiedlerhof. Vielleicht sollten wir dort mal vorbeischauen.«

»Klingt nach einer guten Idee.« Sandra nickte. »Ein großer Umweg ist es nicht, und falls es dort Zombies hat, dann vermutlich so wenige, dass wir gut mit ihnen fertig werden.«

Krachend legte Jörg den ersten Gang ein, und der Bus ruckte an. Wie immer schien Lemmy auf unerklärliche Weise zu wissen, was die anderen vorhatten und folgte ihnen in geringem Abstand.

Als die Fahrzeuge die Einfahrt zu dem Gehöft erreicht hatten, hielt Jörg wieder an. Ein großes Haupthaus dominierte das Anwesen, das neben etlichen Schuppen auch über zwei Scheunen und mehrere Stallungen verfügte. Letztere machten jedoch einen leere Eindruck, zumindest standen die Türen offen, und es fehlten sowohl die Geräusche als auch die Gerüche, die bei der Anwesenheit einer größeren Anzahl Nutztiere eigentlich unvermeidlich waren.

»Sieht verlassen aus«, stellte Roland überflüssigerweise fest.

»Wer macht freiwillig den Zombie-Check?« Jörg grinste in die Runde.

»Ich finde das nicht witzig«, wies Sandra ihn auch prompt zurecht. »Wenn einer von uns gebissen wird, knalle ich ihn ohne zu zögern ab.«

»Zweimal bitte.« Jörg war schlagartig wieder ernst. »Oder hast du schon vergessen, was wir mit Bernd und Hans erlebt haben?«

»Bernd und Hans?« Roland hob eine Augenbraue. »Habe ich etwas verpasst?«

»Nicht wichtig.« Sandra winkte ab. »Lass uns jetzt lieber festlegen, wie wir vorgehen wollen.«

Nach kurzer Beratschlagung kamen sie überein, dass Jörg zusammen mit Roland Haus und Nebengebäude untersuchen sollte, während Sandra die Sicherung der Busse übernahm. Die beiden Männer waren aufgrund ihres militärischen Hintergrunds am besten für so eine Art Kommandounternehmen geeignet, während die junge Frau mit ihrer P90 über die entsprechende Feuerkraft verfügte, um im Fall der Fälle auch einer größeren Zombie-Horde Herr zu werden.

Behände stiegen die Männer aus dem Bus aus und gingen möglichst leise auf das Haupthaus zu. Jörg hatte seine P1 entsichert, jederzeit bereit, einer eventuellen Bedrohung durch einen gezielten Schuss zu begegnen.

»Scheiße, ich fühle mich immer noch nackig«, flüsterte Roland. »Das nächste Schießeisen, das wir finden, ist meines.«

»Mhm.« Jörg nickte, dann legte er den Zeigefinger der linken Hand über seine Lippen, um dem anderen zu bedeuten, dass er jetzt still sein solle.

Ab da verständigten sich die beiden nur noch durch Handzeichen. Sandra, die das Ganze vom Bus aus wachsam beobachtete, fühlte sich unwillkürlich an eine CSI-Folge erinnert, in der zwei Polizisten im Begriff waren, eine verdächtige Wohnung zu untersuchen. Dann waren die Männer im Haus verschwunden, und für die Pilger, die in den Bussen zurückgeblieben waren, begann die Zeit des Wartens.

Gut zehn Minuten später tauchten Jörg und Roland wieder auf. Ersterer reckte seinen Daumen in die Höhe, um anzuzeigen, dass im Haus offenbar alles in Ordnung war. Dann nahmen er und Roland sich die Nebengebäude vor.

Nach und nach mehrte sich die Anzahl der hochgereckten Daumen, und schließlich stand fest, dass der Hof komplett verlassen war. Hier gab es weder Menschen noch Tiere, und was am wichtigsten war: auch keine Zombies.

»Habt ihr was zu Futtern gefunden?«, wollte Sandra wissen, als die beiden wieder in den Bus stiegen.

»Danach haben wir noch nicht geschaut«, erwiderte Jörg. »Zumindest liegt nichts offen herum, aber es gibt einige Vorratsschränke, die wir uns gleich genauer ansehen können.«

»Zuerst sollten wir aber die Busse irgendwo unterstellen.« Roland deutete aus dem Seitenfenster. »In ein paar Minuten ist hier wahrscheinlich mächtig was los.«

Als die anderen seiner Geste mit den Blicken folgten, sahen sie ebenfalls die bedrohlich wirkende Wetterfront, die von Westen herankam. Der Farbe der Wolken nach zu urteilen, brachte sie nicht nur Regen, sondern auch Hagel mit.

»In der großen Scheune ist Platz für beide Busse«, erklärte Jörg. »Los, Roland, mach das Tor auf!«

»Wer sagt Lemmy Bescheid?«, fragte Sandra.

»Der weiß auch so, was zu tun ist. Los jetzt, bevor es anfängt zu schütten!«

 

***

 

Das einsame Gehöft entpuppte sich für die Pilger als wahrer Glücksgriff. Neben Mehl, Salami und Käse fanden sie eine ganze Reihe weiterer haltbarer Lebensmittel, sodass sie sich die nächsten Tage um ihre Mahlzeiten keine allzu großen Sorgen machen mussten.

Hinter dem Haupthaus befand sich ein Obstgarten, die Versorgung mit Vitaminen war also auch erst einmal gesichert, selbst wenn viele Früchte bereits auf dem Boden lagen und die meisten davon reichlich Druckstellen und Flecken aufwiesen. Aber Hunger ist bekanntlich der beste Koch, wie Sandra und die anderen nun schon mehrfach hatten feststellen müssen. Wenn der Magen ordentlich knurrte, konnte und wollte man es sich einfach nicht leisten, wählerisch zu sein.

Trotzdem war die junge Frau unzufrieden.

»Drei gottverdammte Tage!« Sandra trat mit Wucht gegen die schwere Holztür, dass diese krachend ins Schloss fiel. »Drei Tage lang sitzen wir jetzt hier fest, und es macht nicht den Anschein, dass dieser Sturm jemals wieder aufhören wird.«

»Das wird er schon«, brummte Stephan. »Irgendwann geht selbst dem die Puste aus.«

»Warum fahren wir nicht einfach weiter?«

»Diese Frage hast du schon gefühlte hundert Mal gestellt, und ebenso oft haben Jörg und Lemmy dir einhellig erklärt, dass das viel zu gefährlich ist.«

»Das weiß ich selbst!« Sandra funkelte den anderen böse an.

»Und warum fragst du dann? Okay, okay, ich habe nichts gesagt. Ich glaube, ich gehe mal schauen, ob ich mich irgendwo nützlich machen kann.«

»Ist eine gute Idee. Und vergiss nicht, dir eine hübsche Schürze umzubinden, wenn du in der Küche etwas machst.«

Stephan ignorierte die Spitze, die auf seinen Selbstmitleidsanfall vor ein paar Tagen abzielte, und verließ das Zimmer durch die Tür, die eben von Sandra misshandelt worden war. Der rustikalen Konstruktion hatte das offenbar nichts anhaben können, und Stephan beschloss im Stillen, selbst auch wieder weniger Befindlichkeiten an den Tag zu legen.

Was ist nur mit mir los?, schoss es ihm durch den Kopf. Früher war ich doch auch nicht so zart besaitet. Klar, den schönen Künsten war ich schon immer zugetan, aber irgendwie habe ich auf andere Menschen nie so empfindlich reagiert. Diese ganze Scheiße hier verändert mich, und ich bin mir nicht sicher, ob es zum Guten ist. 

In der großen Wohnküche traf er auf Jörg, Gregor und Roland, die damit beschäftigt waren, einen gepflegten Skat zu dreschen. Da nichts Gescheites im Fernsehen lief – genaugenommen gab es überhaupt kein Fernsehprogramm mehr, seit überall der Strom ausgefallen war – hockte er sich an den Tisch und sah interessiert zu.

»Hat dieses Spiel eigentlich auch Regeln?«, fragte er nach einer Weile. »Falls ja, kapiere ich sie jedenfalls nicht. Erst versucht einer, möglichst alle Stiche zu bekommen, in der nächsten Runde will dann keiner einen haben, und überhaupt, was soll der Terz mit den Buben? Von dem, was ihr ›Reizen‹ nennt, will ich erst gar nicht anfangen …«

»Was spielst du denn, wenn du Karten spielst?« Jörg sah ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Belustigung an. »Und sag jetzt nicht, dass du nie über Schwarzer Peter hinausgekommen bist.«

»Ha, ha, sehr witzig. Ich spiele halt nicht oft Karten, das hat sich in meinem Leben einfach so ergeben. Das schwerste Spiel, das ich je gelernt habe, ist Binokel.«

»Binokel? Nie gehört. Was soll das sein? Kann man das essen?«

»Heute einen Clown gefrühstückt, was? Wenn ihr mich bloß verarschen wollt, dann kann ich genauso gut zu Sandra zurückgehen und mich ihren Launen aussetzen.«

»Sei nicht so hart mit ihr. Sie macht sich eben Sorgen, nicht zuletzt wegen Martin, weil der immer noch nicht zu sich gekommen ist.«

»Wenn ihr mich fragt, wird er das auch nicht mehr. Der hat seit Tagen nichts gegessen oder getrunken, es ist ein echtes Wunder, dass der Junk…, äh, der Mann überhaupt noch am Leben ist.«

»Ihr habt euch nicht gut verstanden, oder?«

»Wer behauptet das?«

»Niemand. Es ist nur ein Gefühl.«

»Quatsch nicht, Jörg. Du steckst oft genug mit Sandra zusammen, bestimmt hat sie dir diesbezüglich wieder was in die Ohren geheult. Zwischen Martin und mir ist alles bestens, schließlich war ich mit ihm in einer Zelle und habe ihm das Händchen gehalten, während er auf Turkey war und mir die Hose vollgekotzt hat. Schon vergessen?«

»Wo du es gerade erwähnst: Du wolltest doch noch erzählen, wie du überhaupt da rausgekommen bist, und warum du alleine warst.«

»Wollte ich?« Stephan sah Jörg mit großen Augen an.

»Ja, wolltest du.«

»Kann gar nicht sein.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich mich an nichts erinnern kann, darum. Ich stand plötzlich auf einer Straße vor den Toren Bonns und wusste nur noch, dass ich die Zombies reinlocken muss, um die Kinder zu befreien.«

»Du hast die Zombies in die Stadt gelassen?!?« Wie ein Mann waren Roland und Gregor hochgefahren und starrten Stephan mit funkelnden Augen an. »Dir haben wir also den ganzen Schlamassel zu verdanken?«

»Hey, hey, immer langsam mit den Pferden.« Jörg blickte den beiden Männern fest in die Augen und brachte sie durch Gesten dazu, sich wieder hinzusetzen. »Stephan hat getan, was getan werden musste. Schon vergessen? Dupont wollte unschuldige Kinder abschlachten lassen, um seinen durchgeknallten Gottesstaat zu errichten. Über kurz oder lang wäre dort doch eh alles den Bach runtergegangen, während ein Scheiterhaufen nach dem anderen gen Himmel gelodert hätte. Zuerst die Kinder, später wieder rothaarige Frauen, und am Ende alles und jeder, der es wagt, auch nur den Hauch von Kritik zu äußern. Oder warum seid ihr damals aus Bonn abgehauen und wart froh, dass wir euch mitgenommen haben, hm?«

»Hast ja recht«, gab Roland kleinlaut zu, während Gregor beschämt den Blick senkte. »Was dieser Baguette da inszeniert hat, war unter aller Sau. Und ja, die Familien in unserer Gruppe hatten Angst, dass ihre Kinder die nächsten hätten sein können, daher kam es uns ganz gelegen, dass wir in dem Tumult abhauen konnten, ohne als Deserteure vor der neuen Inquisition zu landen.«

»Nachdem das geklärt ist, kann uns Stephan doch sicher erzählen, was dieses Binokel genau ist und wie man es spielt, oder nicht?«

»Dazu braucht man besondere Karten«, erwiderte der Angesprochene, froh darüber, dass das andere Thema abgeschlossen zu sein schien. »Ich schaue mal, ob ich hier irgendwo welche finde, dann bringe ich es euch bei. Ist gar nicht schwer, und zu viert macht es außerdem am meisten Spaß.«

 

***

 

Tom saß auf einer grünen Wiese und blickte in die Runde. Er kannte diejenigen, die bei ihm waren: Karl, Kurt und Melanie, die einst mit ihm zusammen zu der Gruppe gehört hatten, die sich selbst Spider-X nannte und die in Köln auf Martin getroffen war beziehungsweise diesem sogar dabei geholfen hatte zu überleben, nachdem keiner der dortigen Ärzte mehr dazu in der Lage gewesen war. Dann Gerhard, Jonas, Michael, Peter und Rosi, die zusammen mit Sandra zu ihnen gestoßen waren. In Kerpen waren sie dann auf Jessica, Mark, Miriam und Regina getroffen. Sie alle waren Kinder, aber Kinder mit einer besonderen Gabe, nur durften das die meisten Erwachsenen immer noch nicht wissen.

Schmerzlich erinnerte sich Tom an diejenigen, die eigentlich auch zu ihnen gehörten, aber aus verschiedenen Gründen nicht in ihrer Runde saßen. Da war einmal Ritchie, der ehemalige Anführer von Spider-X. Er hatte die Flucht aus Köln nicht überlebt, hatte sich sogar regelrecht für die anderen geopfert. Nach Ritchies Tod war Tom irgendwie zum Anführer der Kinder geworden, obwohl er sich in dieser Rolle eigentlich gar nicht so richtig wohlfühlte.

Gabi fehlte ebenfalls. Tom konnte die Trauer ihrer Schwester Melanie deutlich spüren, war es doch noch gar nicht lange her, dass Gabi von dem Dunklen Mann verführt worden war und zur anderen Seite gewechselt hatte. Tom fragte sich, wann sie das erste Mal wieder in der Welt der Kinder auftauchen würde und vor allem, wie sie sich dann verhielt und was sie von ihnen wollte.

Schnell verdrängte er den Gedanken an Gabi, denn ihr neuerliches Erscheinen war nichts, was er sich im Moment wirklich wünschte. Er hatte viel zu sehr Angst davor, zu sehen, was aus ihm – aus ihnen allen – werden konnte, wenn der Dunkle Mann es irgendwie schaffte, sie auf seine Seite zu ziehen.

Das Bild von Jörg tauchte vor Toms innerem Auge auf. Jörg war einer der wenigen Erwachsenen, die auch zu ihnen gehörten. Trotzdem weigerte er sich beharrlich, an den Treffen der Kinder in ihrer Welt teilzuhaben. Tom war sich nicht sicher, was der Grund dafür war, ob Jörg Angst hatte, sich selbst einzugestehen, dass er anders war als die meisten anderen Menschen, oder ob es sich einfach nur um eine Art Reflex handelte, der in der Zeit geformt worden war, als Jörg noch nichts von den anderen Begabten wusste. Nun, die Zeit würde zeigen, ob Jörg irgendwann dazu bereit sein würde, sich ihnen vollends anzuschließen. Immerhin sorgte er sich derzeit um den Schutz ihrer körperlichen Existenz, und schon allein das war in Zeiten wie diesen sehr viel wert.

Martin. Tom seufzte leise. Er war bisher der erste und einzige Erwachsene, der größtenteils akzeptiert hatte, »anders« zu sein. Doch auch bei ihm hatte seine Begabung tiefe Spuren hinterlassen. Im Verlangen, die »Stimmen« aus seinem Kopf zu verdrängen, die er für ein Zeichen dafür gehalten hatte, verrückt zu sein, hatte er sich der Drogensucht hingegeben, seine Wahrnehmungen mit Heroin betäubt, nur um das führen zu können, was er als einigermaßen normales Leben betrachtete.

Das war etwas, das Tom an der »alten« Menschheit so sehr verabscheute: Alles was anders war, wurde belächelt, für verrückt erklärt, oder – falls man es als überlegen empfand – als Gefahr eingestuft und gnadenlos verfolgt. Da lag es doch auf der Hand, dass viele, die über eine besondere Begabung verfügten, diese irgendwann zu unterdrücken versuchten, um nur ja möglichst »normal« zu wirken und nirgends anzuecken. Der gesellschaftliche Zwang, unterstützt von einer in den letzten Jahren vor der Seuche in Mode gekommenen Gleichmacherei, konnte einen enormen Druck aufbauen, der auf alle einigermaßen empfindsamen Gemüter verheerende Auswirkungen hatte.

Tom schüttelte auch diesen Gedanken ab. Martin lag immer noch in einer Art Koma. Die Kinder hatten mehrfach versucht, zu ihm durchzudringen, waren aber bislang jedes Mal gescheitert. Immerhin hatten sie es inzwischen geschafft, seinen Geist in der Zwischenwelt zu lokalisieren. Dieser war von einer Art Barriere umgeben, in die merkwürdigerweise ein dünnes, helles Band hineinführte. Die Kinder vermuteten, dass es dieses Band war, welches seinen physischen Körper am Leben erhielt, aber sicher konnten sie sich nicht sein. Im Moment hofften sie einfach nur, dass sich Martins Zustand irgendwann wieder soweit bessern würde, dass sie ihm endlich dabei helfen konnten, sein metaphysisches Gefängnis zu überwinden.

Tom war sich sicher, dass es auch noch andere Erwachsene mit einer Begabung gab. Immer wieder spürte er bei einigen, dass es der Fall sein könnte – ja, könnte, denn mehr ließ die vage Empfindung nicht zu – aber die Eindrücke verschwanden jedes Mal wieder so schnell, dass er hinterher immer meinte, sich getäuscht zu haben. Neben Martin war Jörg bislang der einzige gewesen, bei dem er Sicherheit erlangt hatte, ansonsten musste er darauf warten, dass sie sich irgendwann selbst offenbarten, und bei manchen hoffte er sogar inständig, dass er sich getäuscht haben möge.

Und dann gab es da noch weitere Kinder. Tom hatte kurz ihre Präsenz gespürt, sie dann aber gleich wieder verloren. Er hatte den Eindruck, dass die Pilger den anderen in den letzten Tagen näher gekommen waren, mit etwas Glück würden sie ihnen bald gegenüberstehen und neue Mitglieder in ihrer Gruppe begrüßen können.

Plötzlich hob Melanie den Kopf und sagte: »Drüben geht etwas vor sich. Wir sollten zurückkehren.«

Keines der Kinder wunderte sich, dass Melanie hier sprechen konnte, obwohl sie in der physischen Welt taubstumm war. Sie alle waren hier, an ihrem Platz, ohne eventuelle körperliche Gebrechen. Selbst Toms Armprothese hatte einem richtigen Arm Platz gemacht.

»Dann lasst uns mal nachsehen, was es gibt«, meinte Tom und erhob sich. Fast im selben Moment verblassten die Kinder und vollzogen den Wechsel in die andere Existenzebene.

 

***

 

»Es hat endlich aufgehört!« Sandra war völlig aus dem Häuschen. »Los, sattelt die Hühner, wir fahren weiter!«

Von einem Moment auf den anderen wuselte es in dem großen Bauernhaus. Überall wurde die wenige Habe zusammengerafft, und bereits kurze Zeit später saßen alle in den Bussen.

Die Sonne ließ den Wald in goldgelbem Licht erstrahlen, und die roten, gelben und braunen Blätter taten ihr Übriges, um das Ganze zu einem prächtigen Farbenspiel werden zu lassen. Der Herbst präsentierte sich im Moment von seiner schönsten Seite. Die Pilger hofften, dass das auch eine Weile so bleiben würde …

 

Ende des fünfte Buches der Chronik von Eden