Die Würzburger Glöckle haben e wunderschön's Geläut

em Leben in Würzburg ging ich erwartungsvoll entgegen. Ältere Verkehrsgäste unseres Bundes hatten viel Rühmens von dieser Universität gemacht und die Lage der Stadt und das Treiben in ihr in schönen Farben gemalt. Es war ein Frühlingstag, an dem ich das Maintal hinauffuhr. Er neigte sich schon seinem Ende zu, als, von der Abendsonne rosig angehaucht, zuerst das Kloster Himmelspforte und dann die Marienburg vor meinen schönheitshungrigen Blicken auftauchte. Gleich darauf hielt der Zug und ich stand auf dem Perron des Würzburger Bahnhofs. Als ich einen Blick in die Wartesäle warf, fiel es mir auf, daß sie voller Leute saßen. Es kam mir vor, als ob die ganze Menschheit aus lauter Geschäftsreisenden bestünde, die, Gott weiß wohin, von ihren Bedürfnissen getrieben wurden. Ich kannte zur damaligen Zeit noch nicht die süße Gewohnheit aller Bayern, in den Bahnhöfen mit Vorliebe ihren Abendschoppen zu trinken. Dieser Brauch rührte wohl daher, daß man in den Wartesälen Gelegenheit hatte, wieder einmal mit alten Bekannten zusammen zu treffen, ihnen die Hand zu drücken, ein paar Worte zu wechseln und Neuigkeiten zu erfahren. Ich drängte mich mit meinem Gepäck durch die fröhlich zechende Menge hindurch und kam vor den Bahnhof. Ein Nachtquartier fand ich in der »Blauen Glocke«, und als ich gegen neun Uhr am nächsten Morgen vom Zusammenläuten geweckt wurde und die Wirtstochter mir den Kaffee brachte, wußt' ich schon, daß die Kapitelüberschrift stimmt, und auch daß die Würzburger Mädli kreuzbrave Leut' sind.

Meine vollbusige Hebe hatte mich nämlich auf das genaueste unterrichtet, wo man die Woche über in der Stadt die größten Kalbshaxen bekam, und wo ich sie selber in ganzer Wesenheit an den Sonntagen finden würde, wenn es mich gelüsten sollte, einen Arm voll Brusttee im Walzertakt herumzuschwenken. Das war für meinen vorläufigen Wissensdurst gewiß sehr schätzenswert, zunächst aber fehlte es mir an einem Logis. Ich ließ mein Gepäck im Schutze der offenherzigen Wirtstochter und bemühte mich, das Juliushospital aufzufinden. Im Portal desselben entdeckte ich bald das schwarze Brett und an diesem eine Masse von geschriebenen Zetteln, die Studenten aufmerksam machen sollten, wo ein leeres Zimmer zu finden wäre. Eine von diesen Anschriften verwies mich auf die Bohnesmühlgasse, wo ich denn auch bei einer wohlgenährten Frau Raninger eine saubere und leidlich geräumige Stube fand und von der allwissenden Studentenmutter erfuhr, daß die Burschenschaft im Hofbräuhaus ihre Kneipe und im Theaterkaffee ihren Mittagstisch hätte. Wenn ich der guten Frau noch eine Zeitlang Gehör geschenkt hätte, so konnte ich erfahren, wieviel Hunde die Mönanen hatten und wieviel Geld ihnen der Heidungsfelder Jude vorgestreckt zur Feier ihres letzten Stiftungsfestes. Doch was ich über die Würzburger Verhältnisse jetzt schon wußte, genügte mir. Ich ließ mein Gepäck in die Bohnesmühle schaffen und richtete mich allda ein mit dem festen Vorsatz, meine Studien nicht zu vernachlässigen, im übrigen von den Lebensfreuden an mich zu raffen, was sich von einem gesunden, jungen Menschen nur ergattern ließ. Und diesem meinem Streben war der Genius Loci zugetan. Über dem klaren Fluß, in dem sich neben der Brücke die Burg und das lustige Wallfahrtskirchlein spiegelte, zitterte eine kristallklare Atmosphäre von leichtsinniger Lebensbejahung. Weiter hinaus als an das Heute dachte keiner von den behäbigen Spießern, die mit dem umgebundenen Schurzfell ihren Frühschoppen tranken, dachte keine von den leichtfüßigen Bürgerstöchterchen, die am Arm des Studenten nach der Zeller Waldspitze wanderten oder mit dem Galan im Hofgarten zu Veitshöchheim hinter verschnittenen Buchsbaumhecken Theater spielten. War's da ein Wunder, wenn der Musensohn mitgerissen wurde in den Strudel der Freude hinein? Seid gesegnet, frohe Tage an den sonnigen Ufern des silberblauen Maines, gesegnet ihr Lippen, die mir gelächelt, der Wein, den ich getrunken, und nicht zuletzt seien gesegnet die Freunde, deren Lieder mich entflammten, wenn wir freudetrunken von Dürrbach niederstiegen in den feurigen Nebel, der abends die kirchenreiche Stadt vergoldete.

Von den vielen feuchtfröhlichen Gesellen, die ich im Laufe von fünf Semestern kennen lernte, hat keiner einen so nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht als Michael Venedey. Seinen Vaternamen hat die badische Revolution vom Jahre 1848 bekannt genug gemacht, und was die nicht tat, das brachte Heinrich Heine fertig, der den idealen Schwärmer mehr als ausreichend in der Sauce seines lauchigen Witzes garkochte. Gut für den Dichter der Loreley, daß er nicht mehr lebte, als der junge Venedey ein Kerl von zwanzig Jahren war. Heine wäre sicher keines natürlichen Todes gestorben.

Der Michel war nämlich ein wahrer Herkules an Kraft. Als er mit seiner Ulmer Dogge, die Reitpeitsche unterm Arm zum ersten Male auf der Arminenkneipe erschien, waren aller Augen voll Verwunderung auf den jungen Halbgott gerichtet. Sein frisches Gesicht leuchtete wie die Morgensonne und ein verwegenes Lächeln, das um seinen Mund spielte, schien so verächtlich auf die Erde niederzuschauen, als ob er hätte sagen wollen: »Was kannst du trüber Klumpen einem Göttersohne anhaben.« Der breite Thorax stak in einer knapp anliegenden Schützenjoppe und die mächtigen Schenkel flossen in schönen Linien in ein Paar eleganter Reiterstiefel hinein. Dabei war keine Spur von Plumpheit an ihm. Im Gegenteil, alle seine Bewegungen waren so rund und elegant, als ob er sie einem Zirkuskünstler abgeguckt hätte.

»Er wird der Schrecken unserer Gegner auf dem Fechtboden sein und das Entzücken aller Würzburgerinnen auf der Sonntagsparade, wenn er aktiv wird,« das war der Gedanke, der jedem von den Burschenschaftern aus den Augen leuchtete. Und Venedey brauchte nicht gekeilt zu werden. Er wollte aktiv werden. Er war mit der Absicht erschienen, einzuspringen, und unaufgefordert stellte er seinen Antrag und bat um die Rezeption. Gewiß, er hätte am gleichen Abend noch im Schmucke der Farben als Renommierfuchs die Kneipe verlassen können, wenn er nicht mit dem Bekenntnis herausgerückt wäre, daß er in einen Ehrenhandel verwickelt sei. Seine kurze und bündige Aussage darüber enthüllte etwa folgendes: Kaum abgestiegen in einem hiesigen Hotel, hatte sich die Wirtin in ihren Gast verliebt. Diese Selbstverständlichkeit einem Adonis gegenüber verletzte die älteren Rechte eines Stammgastes und das Renkontre war da und endete mit einer Säbelforderung. Michel hatte angenommen und sein Ehrenwort gegeben, daß die Mensur innerhalb dreier Tage zum Austrag kommen solle.

Als man ihn auf der Arminenkneipe frug, ob er denn fechten könne, meinte er: »Nein, aber das ließe sich doch wohl innerhalb dreimal vierundzwanzig Stunden erlernen.«

So unwahrscheinlich dieses auch war, die Burschenschaft konnte den verwegenen Fuchs nicht im Stiche lassen, und da er nun schon einmal sein Ehrenwort verpfändet hatte, so nahm man ihn am nächsten Tage mit auf die Fechtscheuer, gab ihm den Säbel in die Faust und zeigte ihm, was eine Terz und eine Quart ist. Michel stellte sich nicht ungeschickt an, allein er war noch weit von einem Fechtkünstler entfernt, als die drei Tage schon verstrichen und die Mensur auf dem Malzspeicher einer Brauerei gezogen war. Ich selber war als Verkehrsgast der Burschenschaft von der Teilnahme an dem Ehrenhandel ausgeschlossen. Was ich darüber weiß, stammt aus dem Munde eines Augenzeugen, der mir das Folgende berichtet hat:

»Venedey hatte zwar Arme wie ein Fleischerknecht, allein was wollte die rohe Kraft bedeuten einem Gegner gegenüber, der athletisch gebaut und als gewandter Fechter stadtbekannt war. Und nun denke dir nur unseren Schrecken! Als die beiden eben bandagiert waren und antreten sollten, erscheint mit grauen Haaren ein Weib auf der Bildfläche. Sie schreitet auf dem Kothurn einer Antigone über die knarrende Diele des Speichers hin, nimmt den Säbel in die Hand und erscheint vor unserem Paukanten mit den Worten: »Michel, mach' deinem Vater Ehre!« Und rate einmal, die Heroine, wer war's? Venedeys Mutter war's, seine leibliche und wahrhaftige Mutter. Nein, so was war noch nicht erlebt worden. Die Sekundanten sahen einander staunend an. Der Paukarzt zog die Hände aus dem Karbolwasser und putzte seine Brille. Der Unparteiische stemmte sein Notizbuch in die Seite und wußte nicht, was er beginnen sollte.

»Indessen hatte Venedey seine Mutter beiseite geschoben und war vorgetreten auf den Kreidestrich. Sein Gegner ließ nicht auf sich warten. Das Kommando ertönte, und die Klingen fuhren mit scharfem Klang gegeneinander. Eins, zwei, drei Gänge waren vorüber, ohne daß noch ein Tropfen Blut geflossen war. Es war zu sehen, zu fühlen, mit Händen zu greifen, Venedeys Gegner sondierte seinen Feind. Er wollte wissen, wen er vor sich hatte, bevor er einen Hieb riskierte. Er lauerte auf eine Blöße und wenn er die gefunden hatte, dann – aber erst dann – holte er zu dem Streiche aus, der die Mensur beenden mußte. Wie vorauszusehen war, so kam's. Im vierten Gang warf Michels Gegner den rechten Arm mit dem ganzen Oberkörper blitzschnell vor. Der Hieb pfiff durch die Luft und fiel mit einem dumpfen Ton nieder auf den Schädel unseres Paukanten. Ein panischer Schrecken lähmte die Zunge der Sekundanten. Sie vergaßen »Halt« zu rufen. Die Zeugen nur stürzten vor und fingen den Michel auf. Mit ellenlangen Schritten kam der Paukarzt herangeeilt und drückte den nassen Schwamm auf Venedeys Kopf, von dem ein blutiges Rinnsal übers Ohr hinweg nach der Schulter lief. Man mußte das Schlimmste befürchten. Ohne gespaltenen Schädel konnte man sich den eben noch so strammen Fuchs schon gar nicht mehr vorstellen. Eine schöne Geschichte das. Noch hatte das Semester nicht begonnen, und schon lag eine Leiche auf der Strecke. Welch ein Gelärm über Studentenunfug wird es in der Stadt, in den Blättern geben.

»Na, so oder ähnlich dachte ein jeder von uns und doch kam's anders. Der Hieb, den Venedey mit dem Haupte pariert hatte, war mit flacher Klinge geschlagen worden, und wie sehr auch dem Michel die Ohren klingen mochten, das Gehäuse seiner Denkkraft hatte standgehalten. Er hatte sogar wieder Sicherheit auf seinen Beinen gewonnen und er war bereit, zu einem weiteren Gange anzutreten.

»Indessen hatte man auf der Gegenseite um Pause gebeten; Venedeys Feind hatte sich umgedreht, als ob er sich schäme, sein Gesicht zu zeigen. Und in der Tat, er hatte allen Grund zur Scham. Ein Zufall hatte es gewollt, daß einer von Venedeys ungehobelten Hieben ihm auf den Vorderarm geraten war, als er sich eben gestreckt hatte, um der Mensur mit der Quart ein Ende zu machen. Nun war das Ende allerdings da, aber anders, als der geübte Fechter es sich gedacht hatte. Ihm waren die Vorderarmsehnen durchschnitten und der Säbel fiel ihm aus der Hand.«

So die Erzählung des Augenzeugen. Die Folgen des unerwarteten Sieges konnte ich wieder selber beobachten. Der Michel ist ein wüster Raufbold geworden. Ich glaube nicht, daß er weniger Blut vergossen hat als Herodes bei seinem berüchtigten Kindermord zu Bethlehem. Dabei war er auf dem Grunde seiner Seele eine harmlose Natur. Er besaß nur den Ehrgeiz, daß keiner seiner Kraft zu widerstehen wagen solle. Gab man zu, daß er der Bulle unter den Kälbern sei, so konnte er wie ein Kind gutmütig und vertrauensselig werden. Gerade diese Eigenschaft seines Charakters war es, die ihn zu meinem ersten Patienten machte.

Venedey der Große lahmte in letzter Zeit ein wenig. Alle Leute sahen es mit Befremden, und daß die Zeitungen von dieser Tatsache noch keine Notiz genommen hatten, war mehr als ein halbes Wunder. Was mochte ihm nur fehlen, unserem tapferen Rufer im Streit? Ja, wer den Mut gehabt hätte, den Gewaltigen danach zu fragen!

Nun, eines Tages erfuhr ich's ohne zu fragen. Venedey hatte sich mir angeschlossen, als wir vom Mittagessen gingen. Er war redselig heute, und er wich nicht von meiner Seite, obwohl wir bereits an dem Zigarrenladen vorübergekommen waren, wo er einzukaufen pflegte. Das war auffällig und mir schwante schon etwas, als ob er mich anpumpen wolle, obwohl er nie in Geldverlegenheiten war. Doch mein Verdacht war grundlos. Er begleitete mich auf meine Bude, machte sich's auf dem Sofa bequem und erkundigte sich, in welcher Station meines Staatsexamens ich gerade angekommen wäre. Als ich ihm sagte, daß ich seither gut abgeschnitten und Grund zur Hoffnung hätte, auf die Menschheit losgelassen zu werden, meinte er so nebenbei: dann brauche wohl auch er sich nicht weiter vor mir zu genieren und er wolle mich bitten, einmal nachzusehen, ihm falle das Gehen schwer, und er fürchte, daß eine Hüftgelenkentzündung bei ihm im Anzug sei.

Daß Venedey, der Unbesiegbare, Vertrauen zu meiner Heilkunst hatte, erfüllte mich mit berechtigtem Stolze. Bis auf seinen dicken Bauch ahmte ich das Aussehen meines Lehrers Linhart nach. Ich setzte den Zwicker auf die Nase, zog die Oberlippe in die Höhe, räusperte ein wenig und tat alles, wovon ich dachte, daß es meinem Klienten imponieren könne. Ich spähte, klopfte, fühlte und horchte an dem erlauchten Patienten herum, bis ich endlich so weit war, das Resultat all meiner Forschungen in die Formel binden zu können: »So leid es mir tut, mein Verehrtester, aber ich kann nur die eine Erklärung abgeben, daß aller Irrtum ausgeschlossen ist, und daß du zweifelsohne an einer Hernia inguinalis leidest.«

Mit dem Kunstausdruck hoffte ich den Übermenschen zu betäuben, wie ihn seinerzeit der flache Säbelhieb betäubt hatte. Allein meine fremdsprachlichen Brocken machten auf den Allgewaltigen keinen Eindruck. Phlegmatisch erhob er sich vom Kanapee, um seine Kleider zu ordnen, und als er eben seinen rechten Hosenträger über die Schulter zog, ließ er sich huldvollst zu der gnädigen Bemerkung herab: »Es freut mich, daß ihr Kerle doch eure Eltern nicht ums Geld betrogen, eure Zeit nicht verbummelt und etwas Tüchtiges erlernt habt. Daß ich es dir nur eingestehe, bevor ich zu dir kam, bin ich nämlich schon beim Bundesbruder Stenger gewesen. Er hat das gleiche gesagt wie du, und wenn es schon einmal vorkommt, daß zwei Mediziner das Gleiche sagen, so darf man mit einiger Sicherheit annehmen, daß es auch das Richtige sein wird. Aber nun gehe einen Schritt weiter, gelehrtes Haus, und sag' mir, was ich zur Heilung des Schadens tun soll. Fällt alles gut aus, so werde ich dich zum Hofrat machen, wenn ich an die Regierung komme.«

»Was du tun sollst, mein Bester? Nichts einfacher als das. Du gehst zum Bandagisten hin und kaufst dir ein Bruchband. Den Taler, den du zum Geschäfte nötig hast, kannst du mir demnächst im Skat abgewinnen. So kommst du zum Gebrauch deiner Glieder, und alles wird in schönster Ordnung sein.«

Venedey schmunzelte befriedigt, erklärte, daß auch Stenger wortwörtlich das gleiche vorgeschlagen habe, und verließ mit einem huldvollen Gruße meine Bude.

Daß sich infolge unserer Verordnung der Lebenswandel Venedeys geändert hätte, konnte weder durch Stengers noch durch meine Beobachtung konstatiert werden. Er spielte, raufte und soff wie immer, und auch sein Hinken hatte sich nicht gebessert. Im Gegenteil, in Gestalt eines Knotenstocks hatte sich der Übermensch ein drittes Bein zugelegt. Wenn er aber einmal den Fuß gegen einen Stein stieß, so verzog er schmerzvoll das Gesicht.

Na, was soll ich viel noch reden. Eines Tages war der Michel wieder auf meiner Bude, um mir rückhaltlos zu erklären, daß meine Verordnung nichts genützt, sondern im Gegenteil den Zustand nur verschlimmert habe. Diese Eröffnung war betrübend, weil mit ihr der versprochene Hofrat im blauen Dunst verschwand, aber ich fühlte, daß ich mich nicht verblüffen lassen dürfe. Ich ließ mir zunächst einmal das Bruchband zeigen. Mit Kennermiene prüfte ich seine Feder, indem ich eifrig darüber nachsann, ob ich nicht die Schuld am Mißerfolge dem Instrumentenmacher in die Schuhe schieben könne, und mit gut geheucheltem Unmut fing ich an zu schimpfen:

»Na was dem Tölpel denn nur eingefallen sein mag. Er muß doch gesehen haben, daß er keinen Bauernrammel vor sich hat. Diese Feder wäre recht in einer Bärenfalle, nicht aber auf dem Körper eines Kulturmenschen. Weißt du was, mein Lieber, lege zu den bereits bezahlten drei Mark zwei weitere zu, und du wirst im Besitze eines englischen Bruchbandes sein, das deine Beschwerden von dir nehmen wird, wie die Morgensonne den Junireif.«

Venedey lächelte befriedigt, und indem er erklärte, daß Stenger ihm ganz die gleiche Auskunft gegeben habe, verließ er das Zimmer.

Einige Tage noch sah man den Unbezwinglichen im Theatercafé um das Billard hinken, dann erblickte ihn keiner mehr. Ein verstohlenes Nachforschen nach seinem Verbleib förderte die Tatsache ans Licht, daß er im Juliusspital Aufnahme gefunden hätte. Stengers Gewissen muß nicht minder schlecht gewesen sein wie mein eigenes. Er nahm den Namen Venedey nicht in den Mund, und damit auch ich es nicht tun konnte, vermied er es, mit mir am gleichen Tische zu sitzen. So ging hangend und bangend in schwebender Pein eine Woche hin, als sich das Gerücht verbreitete, der Michel sei an einem Karfunkel des Oberschenkels glücklich operiert worden. Welch ein vernichtender Schlag für uns zwei junge Mediziner!

Wollte sich denn zwischen Hernia und Karfunkel gar kein innerer Zusammenhang herstellen lassen? Nein, es ging schlechterdings nicht. Die Schüssel voll Eiter, die sich beim Einschnitt entleert haben sollte, sprach ein zu vernichtendes Urteil aus über meine und Stengers Kenntnisse. Es war schrecklich. Um unsere Schamröte zu verbergen, hätten wir in einen Brunnenschacht hinabspringen müssen. Ich meinerseits ging nur noch des Abends aus und da nur in Wirtschaften, wo ich hoffen konnte, keinen Bekannten zu finden. Eigentlich hätte ich ja einmal ins Spital gehen und meinen kranken Freund besuchen müssen, aber ich fand den Mut nicht dazu, ebensowenig wie der Stenger. Meine stille Hoffnung war, daß mein Staatsexamen einen gedeihlichen Fortschritt nehmen und ich aus Würzburg fort sein möchte, wenn der geheilte Löwe wieder in der Arena erschiene. Leider erfüllten meine stillen Wünsche sich nicht.

Bis zur Augenheilstation war ich in den Fachprüfungen vorgedrungen. Nun konnte es nicht mehr fehlen. »Der alte Reichsritter läßt keinen durchfallen,« das war ein Glaubenssatz der Studentenschaft, an dem zu zweifeln eine Todsünde gewesen wäre. Wer war der Reichsritter? Der Leser soll es alsbald erfahren. Er hieß von Welz, hatte die kugelrunde Gestalt einer Flunder und stammte aus einem alten österreichischen Adelsgeschlechte. So viel man sehen konnte, wandelte er in den Wegen des Herrn und in gerüsterten Schuhen, während sein dunkelblauer Leibrock mit vergoldeten Wappenknöpfen verziert war. Sein Hut konnte ihm zu allen Zeiten einen Schirm ersetzen, und da seine breite Krempe die gedrungene Figur ihres Trägers noch kleiner machte, als sie ohnedies schon war, so wird man sich allgemach vorstellen können, daß der altadelige Herr mit einem neuadeligen Champagnerstöpsel eine entfernte Ähnlichkeit hatte.

Sein Lehrfach war, wie gesagt, die Augenheilkunde und seine Liebhaberei das Sammeln von Altertümern. Beide Disziplinen mischten sich unter seinen Dachpfannen derart lieblich zusammen, daß die Atropintropfen zumeist in Frankentaler Kaffeeschalen und des Professors Taschentücher zwischen den Blättern eines anatomischen Atlasses aufbewahrt waren. Daß man viel bei dem alten Starstecher gelernt hätte, kann nicht behauptet werden. Er sah dies selber ein und war aus diesem Grunde der beste Examinator, den man sich nur wünschen mochte. Wenn einer auch rein gar nichts wußte, so konnte er mit der Bemerkung, er müsse demnächst den Einjährigen machen, oder, wenn auch das nicht ziehen wollte, es könne das Heiraten unmöglich länger hinausgeschoben werden, eine genügende Note erreichen. Nun denn, man sollte denken, daß das Examen bei diesem gutmütigen Herrn kein Graben war, der sich nicht hätte überspringen lassen, zumal da es auch noch unerlaubte Beihilfen gab, deren sich jeder Kandidat skrupellos zu bedienen pflegte.

Zu den letzteren gehörte es, daß man sich in die Klausur herein einen Kommilitonen bestellte, zu dessen Kenntnissen man mehr Vertrauen hatte, als zu den eigenen. Gut, ich war so weit, daß der Reichsritter mir einen Patienten zugeteilt hatte. Auf der Schwelle des Klausurzimmers stehend stellte er mir einen grauköpfigen Bauern vor mit den Worten: »Do habens also Ihne Ihren Patienten, dens untersuchen und dann e Krankengeschichten über sein Zustand schreiben sollen. Daß ös a wissen, i könnt Ihne ja einschließen. Sell tu i aber nit, weil i a denk, Sie wern a so kan reinlassen, der Ihnen da helfen soll und so weiter. Und daß i darauf nit vergeß: Um en zwölfe geh i aus dem Haus und punkt zwei Uhr werd i wieder da sein, wo i a jetzt steh.« Mit diesen Worten schob er den Bauer neben einem ausgestopften Krokodil vorbei zu mir ins Zimmer herein und ging zum Mittagessen in den alten Bahnhof, wie der Stadt und der Welt genugsam bekannt war.

Ich forderte meinen Patienten auf, einmal die Augen aufzureißen. Er tat, was alle Menschen bei einer solchen Zumutung tun, er riß den Mund auf. Ich mußte mit den Fingern zulangen und die Lider zu öffnen suchen. Ich war erstaunt über den leichten Fall, den der Professor mir zugewiesen hatte. Bei dieser Sachlage hätte ich eines Helfershelfers nicht bedurft. Aber er war nun doch einmal bestellt und er war nicht abzutelephonieren. Wohl möglich, daß er dem Reichsritter unter dem Portal der Augenklinik begegnet ist, denn jener war kaum erst gegangen, als dieser schon kam. »Kinderleichter Fall,« sagte er, als er den Bauern neben mir so obenhin betrachtet hatte. »Mensch, in fünf Minuten bist du mit der Krankengeschichte fertig. Hoffentlich hast du doch für uns beide das Mittagessen bestellt und einige Flaschen Steinweines.«

Der Klausurdiener, an Besuche längst gewöhnt, hatte während dieser Rede den Tisch gedeckt und die Gläser vollgeschenkt. Wir setzten den Patienten zu uns an die Mittagstafel und fingen an zu kneipen. Die Stimmung wurde animiert, und eben wollte ich den herzensguten Reichsritter hochleben lassen, als er leibhaftig und in Lebensgroße vor uns stand. Wer am meisten erschrocken war, er oder wir, das wußte ich zunächst nicht, denn es herrschte ein verteufelt peinliches Schweigen, bis endlich der Champagnerpfropfen in die Worte ausbrach: »Nu aber jötzt! Was is aber nu dös? Jetzt hab' ich Ihna g'sagt, daß ich Punkt zwei Uhr da sein werde. Drei Minuten sans drüber, un nu is der als noch da herinnen. Was tun's jetzt aber auch Sie da?« hauchte er mit starken Akzenten meinen Helfershelfer an.

»Ich hab' mein Mikroskop hier g'sucht. Den Herrn da kenn' ich gar nit mal,« gab dieser rasch entschlossen mit seltener Unverfrorenheit zurück.

»E Mikroskop also haben's g'sucht? In dem Haus ist seit Christi Geburt noch kei Mikroskop nit gewese. Hörns, i will's Ihna sagen, was Sie hier g'sucht haben. Dem da haben's geholfen, aber a nit zu seim Vorteil, denn daß ens nur wissen, durchgefallen is er alleweil, un da beißt kein Maus kein Faden nit daran ab, sag i und damit basta.«

Ich fühlte, daß jetzt die Reihe zum Reden an mir war, und ich erhob mich langsam von meinem Stuhl und versuchte gesenkten Hauptes den alten Herrn umzustimmen, indem ich ihm programmäßig zu bedenken gab, daß ich mit dem ersten April das Abdienen meines Soldatenjahres zu beginnen habe.

Er blieb ungerührt. Ich mußte stärker beschwören und führte deshalb, während der Bauer und mein Helfershelfer sich drückten, dem Starstecher die Notwendigkeit einer beschleunigten Eheschließung vor die Augen, indem ich die schüchterne Erwartung aussprach, er werde es doch nicht über sich gewinnen können, so a arms Madel unglücklich zu machen.

Aber da hatte ich diesmal einen falschen Akkord gegriffen. Der Reichsritter fühlte sich an seiner Ehre berührt und polterte los: »Na, da kommen's mir aber erst recht überzwerch. Wo denken's hin? En alter Mann, un e jungs Madel unglücklich machen! Daß ens mir dös nit en zweites Mal sagen!«

Alle heiligen Nothelfer, ich merkte, daß ich mich in einem Punkte falsch ausgedrückt hatte, der dem Alten womöglich Alimentationspflichten zuwälzen könnte. Ich mußte die Sache, so peinlich sie auch war, wieder richtigstellen. Ich bemühte mich also, in den beweglichsten Worten ihm zu versichern, daß ich mich rückhaltlos zu allen Voraussetzungen bekennen würde, die in solchem Falle nötig wären, wenn er – was für ihn doch ein leichtes wäre – die Sache doch so drehen wolle, daß die Kindtaufe nicht vor die Hochzeit falle.

All mein Bitten war umsonst für heute. Der alte Starstecher erklärte mir, daß er diesmal auch in einem so dringenden Falle keine Nachsicht üben werde und, übel oder wohl, ich mußte für heute die Klinik verlassen.

Ich ging nach dem Theatercafé, wo ich einen Teil meiner Bekannten noch beim Skatspielen antraf. Nicht in der besten Laune setzte ich mich neben den Kandidaten Stenger, von dem ich mich angezogen fühlte, weil er eben einen Nullouvert verloren hatte, und somit gleich mir zu den Bedauernswerten gehörte.

»Du kommst aus dem Juliusspital,« sagte er kleinlaut. »Hast du nichts von Venedey gehört?«

»Kein Wort,« wollt' ich zurückgeben, da stand wie aus dem Boden herausgewachsen der eben Genannte stramm und aufrecht in alter Burschenherrlichkeit da. Er hatte den silbernen Griff seiner Reitpeitsche gegen mich gewendet, und jedes seiner Worte scharf betonend tat er in voller Öffentlichkeit den vernichtenden Ausspruch: »Du, Karrillon, dir und dem Stenger, euch beiden würde ich in Zukunft keinen Hund mehr anvertrauen. Aber wenn der Sauter kommt, muß er mir für zwei Groschen eine Ballade auf euere Gelehrsamkeit schreiben.« Sprach's und kehrte uns den Rücken zu.

Wehe uns, dieser Sauter! Wen er andichtete, der war der Lächerlichkeit verfallen. Als letzter Vertreter der Minnesänger trieb er sich an den deutschen Musensitzen herum und dichtete im Tagelohn über jedes Thema, das man ihm in Vorschlag brachte. In ein Poem hinein verwurstelte er Studenten und Metzgerstöchter wie der Selcher Speck und Rotfleisch in eine Fleischwurst, und nicht immer war er diskret genug, die Namen zu verschweigen. Ach, das konnte ein Unglück werden, wenn er gar das Machwerk mit all seinen Titeln und Würden unterzeichnete als da waren: Astralide oder Sterngläubiger, Mitglied der Gesellschaft zum gläsernen Himmel usw. usw. Nein, es war nicht abzusehen, wohin das alles führen konnte. Schließlich blieb dem Stenger und mir nur übrig, an die Ufer der Behringstraße abzuwandern.

Wie dieser Venedey mich von jetzt ab ärgerte! Ich wünschte mir schon nichts mehr als die spitzigste Feder des galligsten Satirikers, damit ich mich an ihm reiben könne, wie Heinrich Heine sich an seinem Vater gerieben hatte, oder die schärfste Klinge eines Renommierfechters, damit ich ihn niedersäbeln könne, wie er seine Gegner niedersäbelte. Um ihn nicht mehr sehen zu müssen, den Unhold, verließ ich zunächst für heute das Theatercafé und am nächsten Morgen entschloß ich mich, noch einmal den Versuch zu machen, ob ich den starrköpfigen Starstecher nicht doch noch zu meinen Gunsten umstimmen könne. Denn wie wollte ich dem Hohne Venedeys entgehen, wenn er erfuhr, daß ich durchgefallen wäre?

Den Reichsritter traf ich in sichtlich guter Laune, wie er zwischen Fechtertorsos und Schlangenhäuten in seinem Raritätenkabinett in Hemdsärmeln auf- und niederging. In seiner Nähe bemerkte ich seinen Assistenten, auf den ich mich im Notfalle wie auf einen Fürbitter vorm Throne der Allmacht verlassen zu können glaubte. Ich nahm die Miene eines Leichenbitters an und suchte meine Frechheit vom Tage vorher mit der Zudringlichkeit meines Helfershelfers zu entschuldigen. Ich trug vor, wie der Geselle leider nicht rechtzeitig fortzubringen gewesen sei, nachdem er einmal den Duft des Steinweines gerochen hatte.

Diese Ausrede schien den Reichsritter schon etwas milder zu stimmen und ich hatte gewonnenes Spiel, als der Assistent sich mit der Bemerkung in die Unterhaltung mischte. »Erinnern Sie sich nicht, Herr Professor, das ist der Kandidat, zu dem Sie einmal beim Praktizieren gesagt haben: ›Wo haben Sie nur all die Kenntnisse her? Ich bin gar nicht gewohnt, daß bei mir die Herren was lernen.‹«

Der alte Sammler sammelte seine Gedanken ein wenig, und indem er mich mit forschenden Augen ansah, sagte er nach einer kleinen Pause: »Na, so wollen wir dann versuchen, ob's Madel noch vorm Kindbett unter die Haube zu bringen ist. Mag Er denn dableiben, Kandidat, das Examen kann gleich von neuem losgehen.«

Von jetzt ab bedrängte er mich acht Tage lang in der unerhörtesten Weise, ohne mich aus dem Sattel meiner Kenntnisse heben zu können. Am neunten Tage gab er die weiteren Versuche auf, indem er mir erklärte: »Daß Sie 's wissen, Sie haben e ganz gutes Examen g'macht, aber die schlechtst Not kriegens halt doch, ein Vierer mein ich. Sind's zufrieden damit?«

Ich nickte schweigend mit dem Kopfe und er fuhr fort: »Da die Geschicht mit dem Madel ja doch verlogen is, und Sie nu demnächst fertig sind, wissens was, da könntens da bei mir als Assistent bleiben. So nach und nach bin i e alter Mann worden, un muß dran denken, daß i mir en Sarg anmessen lasse. E' Privatdozent is zurzeit nit da. Sehens, wenns Ihne habilitieren täten, dann könntens nach e paar Semester ganz schön da an der Universität unterkriechen.«

Da mir der Vorschlag einleuchtete, so fragte ich forsch heraus: »Und welches Gehalt geben Sie mir im Jahr?«

»Sie kriegen sechshundert Mark,« antwortete der Ritter, ohne zu erröten.

»Und freie Station,« forschte ich weiter.

Er erhob sich wie ein Känguruh auf den Hinterbeinen und sagte: »Wo denkens a hin? Freie Station, nei, die könnens nit haben.«

»Mit sechshundert Mark im Jahr, das werns zugeben, kann ich doch nit leben.«

»Alldarnach, was Sie essen.«

»Kalbsragout mit Nudeln für zweiundfünfzig Pfennig an jedem Abend im alten Bahnhof.«

»Dös wanns essen wollen, dann könnens mit sechshundert Mark nit auskomme.« So sagte er noch und ließ mich stehen. Damit war meine Aussicht auf eine akademische Lehrkanzel vernichtet, aber mein Examen wenigstens war bestanden.