Ein Himbeererlebnis

n den gleichen Jahren wird es wohl gewesen sein, daß meine Frankfurter Großmutter zur Sommerszeit in unserm Hause verweilte. Ihre stattliche Figur und modische Kleidung machten auf mich, das Landkind, einen gewaltigen Eindruck. Ich verehrte sie wie ein Wesen aus einer andern Welt und wollte ihr, soweit ich nur konnte, gefällig sein. Ich hatte die Vorstellung, daß sie so ganz etwas Apartes sei, so nicht das, was die Großmütter meiner Schulkameraden waren, mit denen man sich herumzanken konnte, wenn sie einem einmal irgendeinen Auftrag gegeben hatten, der einem nicht paßte. Nein, ich hätte nicht gewagt, meiner Großmutter auch nur im geringsten zu widersprechen.

Als sie mir nun eines Tages nahegelegt hatte, in den Wald zu gehen und für sie Himbeeren zu suchen, so tat ich dies ohne Widerrede, obwohl ich nicht recht wußte, wo ich diese aromatischen Leckerbissen auftreiben sollte. Den irdenen Topf in den vorderen Knopf meiner Hosen gehängt, schritt ich barhäuptig und barfüßig die Kirchhohl herunter, fest überzeugt, daß irgendwo im Walde meiner vornehmen Großmutter zuliebe Himbeeren von den Weißdornhecken herunterhängen müßten. Als ich vors Dorf kam und an eine Stelle, wo die Wege sich gabelten, wurde ich schon etwas unsicher in meinem Urteil. Zum Glück weidete da nun gerade der Sohn eines Wilddiebes seine Geißen im Wiesental. Dieser Knabe, der, wie ich wußte, seinen Vater auf seinen verbotenen Wegen zu begleiten pflegte, war für mich an der richtigen Stelle der richtige Wegweiser. Ich holte mir Rat bei ihm, und er gab mir die Auskunft: »Geh nur ans Fuchsloch. Links unter der Chaussee, dort, wo der Pfad nach Weiher in den Buchenwald einbiegt, an einer Steinrossel, die gegen's Kreidacher Feld hinunterhängt, zwischen einem Ahornbusch und einer Schäferhütte, dort wachsen die Himbeeren so dick, daß du sie nur so herunterschütteln kannst, wie die Läuse aus deinem Alltagskittel.«

Ich schluckte meine Zweifel hinunter, ob mich der Schelm auch nicht belogen habe, ging aber dann frohen Mutes dem gesteckten Ziele entgegen. Zu meiner Freude fand ich die bezeichnete Stelle und in ihrem wilden Gestrüpp soviel Beeren, daß mein irdener Topf noch über den Geschirrrand hinaus gefüllt war. Gut gelaunt scheute ich nun den kleinen Umweg über den Storrbuckel nicht, da mir sein Gipfel einen Ausblick in die weite Welt gestattete, nach der nun einmal schon in meinen Knabenjahren all mein Sinnen und mein Sehnen stand. Der runde Rücken war damals noch ganz kahl und mit geringem, steinigem Humus überkleidet, in den die Schafherden Tausende von niedrigen Stufen hineingetreten hatten. Nach allen Seiten hin war ein weiter Ausblick möglich, nach dem Neckartale hinunter und in die Rheinebene hinein, die mit dem Donnersberge gegen Westen zu ihren Abschluß fand. Mir war so seltsam froh zumute, so leicht, so als ob ich fliegen wollte da nach dem Waldmichelbach hinunter, wo meine vornehme Großmutter war, die mich heute königlich belohnen würde, wenn ich mit meinen süßen Früchten kam. Und es dauerte nicht lange und ich streckte die Arme wie Adlerflügel von mir und machte einige verwegene Luftsprünge, bis ich zwar nicht mit dem Scheitel die Himmelsdecke, aber mit der Nase den Erdboden und mit dem Himbeertopf einen verteufelt harten Porphyrbrocken erreicht hatte. Die Folge davon war, daß mir das Blut über die Oberlippe lief und mich zwang, nachzuforschen, ob sich in meiner Hosentasche wohl ein Sacktuch finden möchte. Wider Erwarten war eines da und damit war meiner Nase ein großer Dienst geleistet.

Wer aber half meinen Himbeeren auf, die zu einem Brei zerdrückt zwischen den Trümmern meines Topfes lagen? Nach langem Bedenken kam mir die Idee, sie in das Taschentuch zu verpacken. Was Blut- oder Himbeerflecken sind, so spekulierte ich, das wird die Großmutter wohl doch nicht so unterscheiden können, und wenn sie die Frucht nur erst mit Appetit verspeist haben wird, so ist es einerlei, in welcher Sauce sie serviert worden ist. Von diesem Gedanken beruhigt schlich ich mich nun wie Judas Ischariot mit nicht ganz gutem Gewissen und einem Beutel in der Hand den Berg hinunter und unserm Hause zu. Von weitem sah ich schon, daß die Großmutter auf der Haustreppe saß, die Hornbrille auf der Nase hatte und in einem Buche las. ›Du wirst sie überraschen,‹ dachte ich mir, bückte mich und schlich auf meinen Barfüßen leise wie ein Marder die Steinstufen empor. Wie der Eimer, der aus einem Brunnen taucht, stieg ich plötzlich hinter ihrem Buche empor und stellte mein Sacktuch mit den triefenden Himbeeren der erschreckten Alten auf den Schoß.

Wie sie sich nun freuen und was für ein Gesicht sie machen wird, daran dacht' ich eben noch, als ich schon eine Ohrfeige auf der Backe sitzen hatte, wie sie mir in meinem kurzen Leben noch nicht zuteil geworden war. Mit einem Satz war ich von der Undankbaren hinweg und in den Hausgang verschwunden. Die Scham und das Gefühl, ein schweres Unrecht erlitten zu haben, trieb mich von den Menschen hinweg und unter die Ziegel unseres Speichers hinauf. Dort saß ich auf dem Heu, zwischen glühenden Speeren, die von der Sonne geworfen, zwischen den Ziegeln durch das Halbdunkel fielen, und dachte grollend über die Ungerechtigkeiten nach, die von erwachsenen Menschen an wehrlosen Kindern verübt werden. Wie um des Himmels willen kam meine Großmutter nur dazu, mich zu schlagen, da ich ihr doch nur Liebes und Gutes zugedacht hatte? Nein, so was war unbegreiflich. – Der Gedanke, daß die Art meines Servierens der Alten nicht gefallen haben könne, der kam mir erst viele, viele Jahre später, als ich im Nilhotel in Kairo speiste, wo man mit goldenen Löffeln von Sèvresporzellan herunter die Himbeeren aß.