Die Phantasie
Es mußte für Dieter Klimke sprechen, daß wir
nicht aufhörten, über seine abendliche Lesung zu reden, auch
draußen im Regen noch, als wir die serbische Kneipe am Hauptbahnhof
suchten. Zum Schutz gegen den kühlen Regen hatte Gregor sich den
Mantel über den Kopf gezogen, und gebeugt vor mir hergehend,
wiederholte er seine Ansichten über Klimkes erste Lesung auf
unserer Autorentagung. Ich hatte Mühe, ihn zu verstehen, weil er in
seinen Mantel hineinsprach und sich oft abwandte und in
Seitenstraßen linste, wo er die Kneipe, die er aus dem fahrenden
Bus entdeckt hatte, wiederzufinden hoffte. Er ging wie in schwerer
Dünung in seinen riesigen, ausgelatschten Schuhen, die seine
erwachsenen Söhne für ihn eintragen mußten.
Glaub mir, mein Alter, sagte er,
ihr habt euch von Klimke bestechen lassen, du und die anderen. Was
er zu bieten hatte, waren doch nur feine Zauberkunststücke, einige
Proben sehr feiner Equilibristik.
Ich dachte an Dieter Klimke, an
den zarten, knochigen Mann, der sich beinahe priesterlich betrug,
der zu seinem Auftritt eine schwarze Krawatte anlegte und der seine
kurze Prosa monoton von Manuskriptpapier las, das unter der Lampe
blaßgrün, bläulich oder rosa schimmerte. Nein, Gregor, sagte ich,
Klimke ist kein Zauberkünstler. Er hat uns nicht allein mit seiner
ungewöhnlichen Phantasie bekannt gemacht. Er hat uns außerdem
gezeigt, welcher Gesetzmäßigkeit das Phantastische folgt. Gregor
brummelte etwas in seinen Mantel, und dann hakte er mich ein und
sagte: Phantasie - ja, aber eine, die uns zu nichts verpflichtet.
Es tut mir leid, mein Alter, aber ich kann nichts mit Geschichten
anfangen, in denen Leute durch die Wand gehen können. Oder Pferde
sprechen. Oder Figuren aus dem Bilderrahmen steigen und sich zum
Essen an den Tisch setzen. Sie reichen nicht aus, um die
Wirklichkeit wiederzuerkennen. Was verstehst du unter Wirklichkeit,
fragte ich. Schwerkraft, sagte er, die widerlegt das Phantastische.
Schwerkraft demütigt uns vielleicht, sagte ich, aber sie widerlegt
nicht das Phantastische. Hast du denn nicht gemerkt, bei Klimke
wird das Phantastische sofort in eine allgemeine Ordnung eingefügt,
und damit hört er auf, zu befremden.
Gut, mein Alter, dann muß ich dir
sagen, daß mich ein sprechendes Pferd immer befremden wird, selbst
wenn es mich auf plattdeutsch begrüßt. Auch in einer toten,
künstlichen Landschaft, fragte ich, in einer Landschaft wie bei
Klimke, in der es kein Gras, kein Wasser, keine Bäume gibt? Was hat
das damit zu tun, fragte Gregor; und ich darauf: Das sprechende
Pferd bei Klimke steht auf einem Boden, der wie aus Metall gemacht
erscheint. In einer verstörten, verzauberten Umgebung. Kein Wind.
Kein Himmel. Hier, glaube ich, kann ein Pferd sprechen,
zumindestens hörte ich einen Menschen sprechen, der sich als Pferd
verkleidet hat. Du hast einen Slivovitz nötig, mein Alter, sagte
Gregor, und zwar einen doppelten. Und wenn du es genau wissen
willst, was ich über die Sachen von Dieter Klimke denke: magisches
Kunsthandwerk, das ist es. Mir ist etwas anderes aufgegangen, sagte
ich. Und was ist das? Das Phantastische ist keine Republik für
sich. Es existiert nicht getrennt von der Wirklichkeit, es gehört
zu ihr. Es erstreckt sich auf alles... Und scheitert an der
Schwerkraft, sagte Gregor, mich unterbrechend. Er blieb plötzlich
stehen, hob den Kopf aus seiner Vermummung und vergewisserte sich:
dort liegt der Eingang des Hauptbahnhofs, der dunkle Kasten
dahinter ist die Markthalle, also muß es hier gewesen sein, in
einer dieser kurzen Straßen. Ich schlug ihm vor, in eine andere
Kneipe zu gehen, in eine der vielen Kellerkneipen, die wir passiert
hatten, doch er gab noch nicht auf, er zog mich weiter an dreckigen
Fassaden vorbei, die mit versauten Wahlplakaten bepflastert waren:
Politiker mit aufgemalten Reißzähnen, augenlos oder Sprechblasen
mit schweinischem Text vor dem Mund.
Nach all den Lesungen heute, also
- mir ist sehr nach etwas Serbischem, sagte Gregor.
Zurückblickend merkte ich, daß
uns ein hochgewachsener Typ in der Dunkelheit folgte, ein
gleitender Schatten, der verharrte, wenn wir verharrten, der den
Schritt beschleunigte, sobald wir zulegten, weshalb uns nichts
anderes übrig blieb, als ihn hinter einer Straßenecke abzufangen
und in die Zange zu nehmen. Mit seinen zweihundert Pfund
Lebendgewicht verlegte Gregor ihm den Weg, während ich von hinten
an ihn herantrat und ihn fragte, welch ein Geschäft er uns
vorschlagen wollte. Glück, sagte er, falls die Herren Glück suchen
- ich könnte Sie hinführen. Darauf sagte Gregor nur: Schieb ab, und
trat zur Seite, Wir sahen ihm nach - auch
er blickte mehrmals zurück -, und dann sagte Gregor: Ich geb's auf,
mein Alter. Von mir aus können wir dort einfallen, in diese
Eck-Kneipe. In dem ebenerdigen Fenster der Kneipe leuchtete ein
veralgtes Aquarium, spindeldürre Zierfische zuckten unter dem Kraut
hervor, standen sich glotzäugig gegenüber. »Zum letzten Anker« hieß
die Kneipe, der Inhaber nannte sich Baas Ruschewey. Gregor klopfte
mit dem Fingerknöchel auf das Namensschild und sagte: Uns dürfte
solch ein Name nicht einfallen, mein Alter; klingt nach
überanstrengter Phantasie.
Er zog die Tür auf und trat vor
mir ein. Es war eine solide, sparsam erleuchtete Kneipe, mit
Tischen, die im Boden verankert waren, mit einer derben Theke und
einem Bord, auf dem steife, verstaubte Wimpel standen und
ungeputzte Pokale und Photographien. Mißmutig erwiderte der
stämmige Wirt unseren Gruß, geradeso, als zwängen wir ihn durch
unser Erscheinen zu ungeliebter Tätigkeit. Wir hatten freie Wahl
oder doch fast freie Wahl, denn nur ein einziger Tisch war besetzt,
in einer Ecke bei den Spielautomaten. Ich überließ es Gregor, einen
Tisch zu bestimmen; ich sagte: Mir ist es egal, wo wir sitzen - da
spürte ich, wie er stutzte; mit einer Hand tastete er nach mir, mit
der anderen wies er überrascht zu einer Nische unter dem Aquarium:
Guck mal, mein Alter, wer dort sitzt. Vor dampfendem Tee, die lange
Zigarettenspitze schräg vor dem Gesicht, saß Dieter Klimke und
lächelte, als hätten wir ihn ertappt. Er stand auf, er lud uns
nicht ein, neben ihm zu sitzen, doch nachdem wir uns aus den
Mänteln geschlagen hatten, angelten wir uns die freien Stühle an
seinem Tisch und nahmen von seinen Zigaretten.
Auch nur so reingeschneit, fragte
Gregor. Klimke nickte. Die Aufmerksamkeit, sagte er, die Gespräche
und die Aufmerksamkeit: es ist meine erste Schriftstellertagung,
außerdem bin ich ungeübt im Zuhören. Ich lebe allein, in einem
ehemaligen Pförtnerhaus, neben einer aufgelassenen
Fabrik.
Sie haben sehr gut abgeschnitten
mit Ihrer Lesung, sagte ich. Er sah mich ungläubig an, eingedenk
all der Einwände, die nicht zuletzt Gregor erhoben hatte; darum
fügte ich hinzu: Unter Schriftstellern gibt es keinen einstimmigen
Sieg. Glauben Sie mir, wenn Kafka heute gelesen hätte oder
Dostojewskij, die wären nicht besser weggekommen als Sie.
Der Wirt trat an unseren Tisch,
bereit, unsere Bestellungen zu hören; schweigend nahm er sie zur
Kenntnis und ging ruckend, eine schwerfällige, aufgezogene Puppe,
zur Theke zurück. Warum ist es so unter Schriftstellern, fragte
Dieter Klimke; und Gregor darauf: Jeder ist eine Ein-Mann-Partei.
Jeder ist ein Gefangener seines eigenen Programms.
Einer der Spielautomaten in der
Ecke schien einen Hauptgewinn auszuspucken, stoßweise rotzte er
Münzen in die Schale, doch der Bursche, der dort spielte, las sie
nur gleichmütig auf und fütterte den Automaten von neuem. Doch
nicht nur ihn, auch die Frau im hellen Trenchcoat schien der Gewinn
gleichgültig zu lassen; sie hob nicht den Blick von ihrem Glas, sie
saß nur da mit ihrer ratlosen Schmerzlichkeit, rauchte hastig,
fühlte nach einem frischen Pflaster über dem Jochbein. Sie scheint
sich beruhigt zu haben, sagte Klimke, eben, als sie trinken wollte,
zitterte ihre Hand so sehr, daß ich glaubte, sie würde es nicht
schaffen. Der Wirt brachte uns Bier und einen doppelten Slivovitz,
wir bestellten gleich eine neue Lage und prosteten uns zu. Dieter
Klimke hielt sich an seinem Tee fest. Er lächelte verkniffen,
musterte Gregor aus den Augenwinkeln, als erwarte er etwas
Besonderes von ihm, einen neuen Einspruch zu seiner Lesung oder
eines seiner Bekenntnisse zur Schwerkraft, und dann war er es, der
sich an Gregor wandte: Sie waren nicht einverstanden mit meinen
Texten? So ist es, sagte Gregor. Wenn ich Sie richtig verstanden
habe, sagte Klimke, nannten Sie meine Arbeiten »beliebige Zeugnisse
der Phantasie«. So ungefähr, sagte Gregor, Texte, die zu nichts
verpflichten; sie sind nicht durch Wirklichkeit beglaubigt. Und
warum, fragte Klimke, warum verpflichten meine Texte zu nichts? Ein
Mann, der durch die Wand gehen kann, sagte Gregor, dieser Mann aus
ihrer zweiten Geschichte: dem machen die Verhältnisse nichts aus,
der leidet nicht an Krankheiten, vermutlich kann er dem Tod ein
Schnippchen schlagen. Wir können uns nicht mit ihm vergleichen, er
bestätigt keine unserer Erfahrungen, und darum geht er mich nichts
an. So einfach ist das, fragte Klimke lächelnd, und Gregor, seinen
Rollkragenpullover über den massigen Körper nach unten ziehend: So
einfach, ja. Wenn einem Mann der Hut wegfliegt, lache ich auf
Kosten seines Pechs, das unser aller Pech sein könnte. Wenn aber
ein Mann durch die Wand gehen kann, dann verliert er mein
Interesse, weil er uns etwas vormacht, was niemand wiederholen
kann. Nein, Gregor, sagte ich, das ist mir zu einfach. Du gehst
davon aus, daß es unserer Erfahrung entspricht, nicht durch die
Wand gehen zu können. Du berufst dich ausschließlich auf das Bild,
das wir alle von einer Wand haben, gemauerte und verputzte Steine,
durch die kein Körper unbeschädigt hindurchkommt. Dieses Bild ist
gegeben. Es »steht fest«. Aber dieses Bild, das für uns alle
gegeben ist, wird irgendwann zum Inhalt einer Wahrnehmung. Und die
Sinne der Wahrnehmung sind etwas, worauf wir uns nicht unbedingt
verlassen können. Sie folgen einem eigenen Zwang. Sie können das
Bild verändern. Aber sie können keine Wand durchlässig machen,
sagte Gregor. Das nicht, sagte ich, aber du kannst einen Mann so
wahrnehmen, daß du ihm zutrauen mußt, durch eine Wand zu
kommen.
Gregor kippte seinen Slivovitz
und sah mich mit gespielter Besorgnis an. Für mich, mein Alter,
sagte er, liegt die einzige Beweiskraft in der Realität. Oder nenn
es Schwerkraft. An ihr ist die Phantasie immer gescheitert, und sie
wird es, im Zweifelsfall, auch weiterhin tun. Dieter Klimke
schüttelte in zaghaftem Protest den Kopf, dann sagte er leise: Die
Phantasie - für mich hat sie ihre eigene Beweiskraft. Und ihre
eigene Wirklichkeit. Aber sie ist nicht zu widerlegen, sagte
Gregor, und was nicht widerlegt werden kann, das ist auch nicht
wirklich.
Dieter Klimke richtete sich auf
und sah zur Ecke hinüber, in der die Spielautomaten standen, und
wir folgten seinem Blick. Der Bursche - gewürfeltes Sporthemd,
engsitzende Lederjacke - nahm die Handtasche der Frau, stürzte den
Inhalt auf den Tisch - unter anderem die Schwungfeder eines
größeren Vogels - und suchte sich zwischen Schlüsseln, Ausweisen,
Lippenstift die Geldmünzen heraus, während die Frau selbst
interesselos in ihr Glas starrte, die Hände unter dem Tisch
gegeneinander pressend. Sie war älter als der Bursche, vielleicht
zehn oder zwölf Jahre älter, eine Frau mit sehr hellen Augen und
harten, ebenmäßigen Gesichtszügen; offenbar hatte sie dem Wirt
einen Dauerauftrag gegeben, denn von Zeit zu Zeit füllte er ihr
Glas nach.
Da passiert gleich etwas, sagte
Klimke, da bereitet sich etwas vor. Nur das Übliche, sagte Gregor,
entweder Abschied oder Versöhnung. Nein, sagte Klimke, das glaube
ich nicht. Dieser Fall liegt komplizierter, hier herrschen
besondere Beziehungen. Jedenfalls kommen sie mir nicht
wie
Kneipenbesucher vor.
Ich glaubte zu erkennen, daß die
Frau versuchte, etwas zu beschließen, und daß es ihr um so schwerer
fiel, je öfter sie trank, und ich sagte: Hier geht etwas zu Ende,
und je länger sie hier bleibt, desto schwerer löst sich alles auf.
Wir können es ja mal versuchen, sagte Gregor, wenn ihr der
Phantasie soviel zutraut. Wir können ja mal versuchen, ihre
Geschichte zu erzählen, ihre Vorgeschichte... was vorausging... was
sie hierher geführt hat... Was meint ihr? Jeder von uns sollte
einen Entwurf abgeben... Und was sollte damit bewiesen werden,
fragte ich. Daß all unsere Phantasie die Wirklichkeit nicht deckt,
sagte Gregor. Sie irren sich, sagte Klimke, manchmal muß die
Wahrheit erfunden werden. Na, dann erfinden wir sie mal, sagte
Gregor und musterte die beiden aus schmalen Augen, versuchen wir
mal, ihnen einen Platz in einer Geschichte zu geben. Er machte eine
einladende Handbewegung gegen Klimke, doch der winkte ab, der sagte
nur: Wer den Einfall hatte, der sollte auch beginnen dürfen.
Während der Wirt uns eine neue Lage brachte, sah Gregor ausdauernd
in die Ecke mit den Spielautomaten, seine verfetteten Finger
betrommelten den Aschenbecher, sein Kinn bewegte sich unter
regelmäßigen Kaubewegungen, und als die Frau sich plötzlich erhob
und zur Toilette ging, wandte er sich uns zu und sagte leise: Eine,
es gibt nur eine Geschichte, die man ihnen anpassen kann; die
übliche Geschichte, und wenn Ihr wissen wollt, wie ich sie mir
vorstelle... was die beiden verbindet oder nicht mehr
verbindet...
Also: ich sehe zum Beispiel diese
Frau dort - für mich heißt sie Belinda - ihren Kindern bei den
Schularbeiten helfen, in einem freundlichen, stillen Haus, das
unter dem Schutz von Torbuchen steht. Es sind anstellige,
gutgekleidete Kinder, ein blonder Junge, ein dunkelhaariges
Mädchen, vielleicht auch umgekehrt. Beide wetteifern miteinander um
die Sympathie ihrer Mutter, beide schieben ihr wechselweise das
Heft hin, in der Hoffnung auf ein wenn auch zerstreutes Lob.
Belinda sitzt so, daß sie durchs Fenster sehen kann: im Hintergrund
der mäßig befahrene Strom, näher heran die mit gefährdeten Bäumen
bestandene Steilküste, dann das gewundene Band der Sandstraße und
schließlich die Blende aus schilfbraunem Geflecht, die um das
Grundstück herumgezogen ist und es uneinsehbar macht. Die Kinder
malen vorgezeichnete Figuren mit Farbe aus, hastig, etwas von der
Unruhe der Mutter scheint auf sie übergegangen zu sein, und dann
springt Belinda auf, geht ans Fenster und winkt ein Signal zur Taxe
hinunter, die langsam über den Sandweg heranrollt. Sie wirft den
bereitliegenden hellen Trenchcoat über, und im Davongehen ermahnt
sie und belobigt sie die Kinder: Ihr macht es schon sehr schön.
Aber ihr müßt noch weiter üben. Ich bin bald zurück.
Kaum ist sie aus dem Zimmer, da
stürzen die Kinder ans Fenster und sehen ihr nach, wie sie zur Taxe
läuft und sich ungeduldig mit dem Fahrer bespricht. Der Fahrer
zieht seine Schirmmütze ab, als er Belinda die Wagentür öffnet; er
ist ein feister Mann mit zerfließenden Formen, unerwartet höflich
und sehr gesprächsbereit. Im Rückspiegel erkennt er, wie die Frau
sich zurückdreht und zu den Kindern am Fenster hinaufsieht. Nett
wohnen Sie hier, sagt er, und mit so netten Kindern.
Ja, sagt Belinda, sie hängt eine
Hand in den Haltegriff und schließt die Augen, weniger aus
körperlicher Erschöpfung als aus Resignation vor dem
Mitteilungsbedürfnis des Fahrers, der ihr sagen muß, welche der
geräumigen, sahnefarbigen Häuser von welchen Familien bewohnt
werden und welche ausgeübten Berufe sie hier hineinführten. Es
klingt sachgemäß, jedenfalls nicht anklägerisch, wenn er im
Vorüberfahren blickweise auf ein Haus deutet und etwa sagt: Die
Brusbargs, da auf dem Hügel, die verdanken alles ihren Soßen. Weil
nämlich der Großvater, der hatte die Idee, Soßen in Tüten
abzufüllen, ich meine dies Pulver, aus dem man Soßen macht. Zuerst
hat noch die ganze Familie die Tüten zu Hause abgefüllt, dann kam
die Fabrik. In plötzlicher Furcht öffnet Belinda ihre Handtasche,
sucht, findet den gesuchten Brief, liest den Namen des Empfängers
- Thomas Niebuhr - und steckt den Brief in
die Manteltasche. Da, sagt der Fahrer - er zeigt auf das Städtische
Krankenhaus - da lag ich noch vor vierzehn Tagen. Hoffentlich
nichts Ernstes, sagt Belinda in mechanischer Teilnahme. Nabelbruch,
sagt der Fahrer, und, ihren Blick im Rückspiegel suchend: Da tritt
alles nach außen, junge Frau. Ich war nämlich achtzehn Jahre
Fernfahrer, müssen Sie wissen, Fleischtransporte, und den Anhänger
habe ich immer selbst beladen. Gefrorene Viertelrinder aus
Argentinien, müssen Sie wissen, jedes so zweieinhalb Zentner. Das
Schlimmste ist das Bücken mit der Last, das hält kein Bauchnabel
aus.
Bitte, sagt Belinda, ich fühle
mich nicht wohl. Sie massiert leicht ihre Schläfen und vergräbt
sich dann in ihren Mantel. Versteh schon, sagt der Fahrer, nichts
für ungut, zu allem gehören Nerven, schließlich. Aber jetzt möchte
ich mal fragen - zu dieser Laubenkolonie, wo Sie hinwollen, können
wir über die Helmholtzstraße fahren oder über den Leistikowstieg -
wie möchten Sie? Ich weiß nicht, sagt Belinda, nur: rasch. Sie
senkt ihr Gesicht, weil sie den vergewissernden Blicken im
Rückspiegel entgehen möchte, offenen und sogar sanften Blicken, und
in der Hoffnung, schweigen zu können, sagt sie wie abschließend:
Sie können dann auf mich warten, ich fahre gleich wieder zurück.
Über eine Brücke fahren sie und dann parallel zum Strom bis zur
Laubenkolonie, die nur von Straßen und Wegen zerschnitten wird, die
einheimische Pflanzennamen tragen. Hier wohnen jetzt nur Griechen
und Jugoslawen, sagt der Fahrer, und Belinda, aufschreckend: Nein,
nein, nicht nur Griechen. Mit leisen Kommandos dirigiert sie den
Fahrer, im Huflattichweg läßt sie halten, steigt schnell aus, lauft
über die matschigen Beete eines Vorgartens auf eine Holzhütte zu,
deren Fenster undurchsichtig geworden sind von Staub und Ruß. Der
Taxichauffeur erkennt, daß sie nicht einmal klopft, nur die Tür,
die sich anscheinend verworfen hat, ruckend aufreißt. Sie tritt
ein. Den Raum kann jeder für sich selbst möblieren; zur Verfügung
stehen ein durchgelegenes Sofa, zwei altmodische, viel zu große
Sessel, ein Propangasofen, unter dem Fenster ein selbstgezimmertes,
viel zu breites Schreibbrett, vollgepackt mit Papieren, Büchern,
Tonfiguren, einem Transistor und einer Schreibmaschine. Neben dem
Ofen ein Waschbord, und vor dem Waschbord dieser Bursche mit
nacktem Oberkörper, der sich ächzend die Haare einseift und jetzt
den Kopf hebt, durch beißenden Schaum herüberblinzelt und nicht
mehr sagt als: Du bist es.
Belinda zeigt den Brief aus ihrer
Manteltasche, stellt den Transistor ab, schubst einige Bücher von
einem Sessel und setzt sich. Sie sagt: Nur einen Augenblick,
Thomas, das Taxi wartet draußen, ich muß gleich wieder zurück.
Wußte ich, sagt der Bursche und spült mit warmem Wasser die Seife
aus seinem Haar, von diesem Tag ist nicht besseres mehr zu
erwarten. Er reibt mit einem Handtuch sein Haar trocken, mißt die
Frau mit einem schnellen Blick, entdeckt den Brief in ihrer Hand
und kommt langsam näher. Lies vor, sagt er, heute haut mich nichts
mehr um: ein Tag von glorreicher Beschissenheit. Warum, fragt
Belinda, was ist passiert? Oder nenn es einfach den Begräbnistag,
sagt der Bursche, und auf den Brief hinabnickend: Also, was muß ich
noch beerdigen heute? Lies vor. Hast du deine Bewerbung wieder
zurückbekommen, fragt die Frau, und der Bursche darauf: So ist es,
von der fünften Firma zurück. Zurück, eingeschrieben und mit der
Versicherung, daß meine Zeugnisse bedeutend seien, so bedeutend,
daß die Firma lieber auf mich verzichten möchte. Tja, und vor zwei
Stunden kam die Kündigung. Ich muß hier räumen - vermutlich werden
demnächst Jugoslawen in die »Villa Belinda« einziehen - mit
Familien.
Das tut mir leid, Thomas, sagt
die Frau, und dann: Ich bin von deinen Fähigkeiten überzeugt,
jedenfalls. Thomas lacht erbittert auf, pellt sich ein gewürfeltes
Hemd an, wirft die knappe Lederjacke über; eine Zigarette im
Mundwinkel, kämmt er sich sorgfältig vor einem stark vergrößernden
Rasierspiegel. Er fragt: Und du, Belinda? Warum liest du mir den
Brief nicht vor? Heute bin ich stark im Nehmen.
Die Frau blickt auf den Boden,
auf den durchgetretenen Teppich; sie sagt leise: Christian wird
versetzt, in den Westen. Ich werde ihn begleiten, Thomas, ich gehe
mit ihm. Ist das die ganze Überraschung, fragt Thomas, und dann mit
angestrengter Ironie: Schließlich ist er dein Mann, und du bist
verpflichtet, ihm zu folgen, wohin er dich führt. Habt ihr schon
Fahrkarten? Sprich nicht so, sagt Belinda; ich - es ist das letzte Mal, Thomas, ich kann dich nicht
mehr besuchen. Immerhin, sagt der Bursche, für ihn ist dann die
Zeit des Argwohns vorüber.
Er wendet sich um, nimmt ihr den
Brief aus der Hand, überlegt, schlägt ihn leicht gegen seinen
Handrücken und wirft ihn in unerwartetem Entschluß auf die
Schreibplatte. Er sagt: Abschiedsbriefe soll man allein lesen,
oder? Ich heb ihn mir für später auf, als krönenden Abschluß des
Tages. Belinda blickt ihn entgeistert an, sie fragt: Ist das alles?
Ist das alles, was du mir sagen möchtest? Und er darauf,
achselzuckend: Reisende soll man nicht aufhalten - alte Erfahrung.
Und dann, nach einem Blick durchs Fenster auf die wartende Taxe und
den massigen Taxichauffeur, der sich gegen die Motorhaube lehnt:
Nimmst du mich mit? Ein kleines Stück nur? Zur Stadt? Die Frau
preßt die Lippen aufeinander, immer noch wartet sie auf etwas, von
dem sie nicht genau sagen könnte, was es sein müßte; doch auf
einmal steht sie auf, nickt und geht zur Tür. Sie steigen in die
Taxe ein. Der Fahrer fragt: Wieder nach Hause? Ja, sagt die Frau,
nur diesmal am Hauptbahnhof vorbei. Ist es dir recht, Thomas, wenn
wir in der Nähe des Hauptbahnhofs halten? Sehr recht, sagt der
Bursche und rückt nah an sie heran und tastet nach ihrem
Handgelenk. Sie sitzen schweigend nebeneinander, und als sie über
die Brücke fahren, legt er einen Arm um ihre Schultern und zieht
sie zu sich herüber, während der Fahrer aus sonderbarer
Gekränktheit oder aus Abneigung gegen den neuen Fahrgast nicht nur
sein Mitteilungsbedürfnis unterdrückt, sondern auch darauf
verzichtet, in den Rückspiegel zu blicken. Sanfter Regen schwärzt
das Kopfsteinpflaster, der Fahrer schaltet die Lichter an. Er hört
die Fahrgäste auf dem Rücksitz flüstern, und unvermutet sagt die
Frau: Bitte, ist es möglich, daß wir noch einmal zurückfahren? In
die Laubenkolonie, fragt der Fahrer. In den Huflattichweg, ja, ich
habe dort nur etwas vergessen. Mir ist es egal, sagt der Fahrer. Er
biegt in eine Nebenstraße ab, kontrolliert die Zähluhr und fährt
mit zunehmender Geschwindigkeit auf eine Ampel zu, die immer noch
Grün zeigt und erst auf Gelb umspringt, als sie die Linie passiert
haben. Es war Grün; dennoch rammt sie der andere Wagen auf Belindas
Seite, reißt den hinteren Kotflügel ab und drückt die Taxe, die
sich einmal um ihre Achse dreht, gegen einen Lichtmast. Nicht
Thomas, aber dem Fahrer gelingt es, die Tür von außen zu Öffnen, er
zieht sie heraus, mustert sie: Alles in Ordnung? Er sieht, daß
Belinda über dem Jochbein blutet, und während der Fahrer des
anderen Wagens schulmäßig fuchtelnd und drohend herankommt, öffnet
der Taxifahrer ruhig seinen Verbandskasten und reicht der Frau ein
Pflaster, das der Bursche ihr aufklebt. Schnell, sagt die Frau zu
Thomas, bring mich weg hier. Weg, bevor die Polizei kommt. Er
braucht uns aber als Zeugen, flüstert der Bursche. Ich kann nicht,
sagt sie, du mußt mich hier wegbringen. Sie späht über die Straße,
setzt zur Flucht an, da tritt der Taxichauffeur zu ihnen, hat schon
ein Notizbuch in der Hand, fragt schon: Sie können doch auch
bestätigen, daß wir Grün hatten? Der behauptet steif und fest, daß
er erst bei Grün angefahren ist. Wir hatten Grün, sagt der Bursche
entschieden, und das werden wir jederzeit bezeugen. Ich danke
Ihnen, sagt der Taxifahrer, und reicht Thomas sein Notizbuch und
bittet ihn, Namen und Adresse hineinzuschreiben. Muß ich auch,
fragt Belinda, und als der Taxichauffeur sie mit einer Geste darum
bittet, schreibt sie einen Namen und eine Adresse hinein, und
reicht das Notizbuch zugeklappt zurück. Aber jetzt müssen wir doch
wohl nicht hierbleiben, fragt die Frau, und der Bursche bekräftigt:
Wir haben es nämlich sehr eilig. Und bei diesen Worten drückt er
dem Fahrer einen Geldschein in die Hand, den er aus der Handtasche
der Frau genommen hat.
Die heftiger werdende
Auseinandersetzung der beiden Fahrer ausnutzend, überqueren sie
eilig die Straße, laufen durch einen Torweg, gelangen auf die
Theaterstraße, die zum Hauptbahnhof führt. Sie kreuzen auch diese
Straße, nicht in gemeinsamem Beschluß, sondern, weil die Frau es
einfach tun zu müssen glaubt und der Bursche ihr einfach folgt,
doch dann, vor einer Kellerkneipe, angesichts eines erleuchteten
Aquariums im ebenerdigen Fenster, bleibt die Frau plötzlich stehen
und läßt ihren Oberkörper gegen den Burschen kippen. Was ist los,
fragt er, was hast du, Belinda? Er wird mich ja wiederfinden, sagt
sie, mein Gott, er wird zu uns nach Hause kommen. Wer, fragt
Thomas. Der Taxichauffeur, sagt sie. Ich habe einen anderen Namen
in sein Notizbuch geschrieben, eine andere Adresse. Aber das nützt
nichts: Er hat mich doch von zu Hause abgeholt. Du hast einen
falschen Namen angegeben, fragt der Bursche, und Belinda: Mein
Gott, ist mir übel. Laß uns hier reingehn, Thomas, nur einen
Augenblick. Laß uns etwas trinken. Mein Gott, ist mir
übel.
Gregor hob sein Glas, deutete zu
dem Paar in der Ecke hinüber, bedauernd, geradeso, als seien die
beiden schuld daran, daß ihm keine andere Geschichte zu ihnen
einfallen konnte. Sieh sie dir an, mein Alter, sagte er zu mir: Die
Achtlosigkeit des Burschen - offenbar hat er den Spielautomaten
gewechselt - und die stumpfe Verzweiflung der Frau - sie hat es
wohl aufgegeben, einen Ausweg zu finden -, alles sagt mir, daß hier
keine außerordentliche Geschichte zu erwarten ist. Was wir annehmen
dürfen: ehrbare Banalität - wobei ich euch sagen möchte, daß ich
sehr viel Respekt vor der Banalität habe. Dieter Klimke schüttelte
lächelnd den Kopf, ich konnte es ihm ansehen, daß er längst andere
Beziehungen und Motive entdeckt hatte, doch er verzichtete darauf,
Gregor zu antworten. Als der Wirt uns eine neue Lage brachte,
fragte Gregor ihn: Die vielen Wimpel und Pokale dort, wofür haben
Sie die bekommen? Angler, sagte der Wirt, ich war mehrmals
Angler-König. Für den schwersten Fisch; für den wertvollsten Fisch;
für die größte Kilobeute - für alles gibt's Preise. Auch für
Angler-Latein, fragte Gregor, worauf der Wirt nur abwinkte und zur
Theke zurückkehrte. Da beide nun mich ansahen, auffordernd und
gespannt, nahm ich mir noch mal das Paar bei den Spielautomaten
vor, fragte es stumm ab, deutete ihre Haltung, ließ die
Achtlosigkeit sprechen, die sie für einander zeigten, und gerade
dies: die Achtlosigkeit und eine plötzlich wahrgenommene
physiognomische Ähnlichkeit legten mir eine andere Annahme nahe:
die beiden mußten Geschwister sein. Na, fragte Gregor, was meinst
du ? Geschwister, sagte ich, für mich sind die beiden Geschwister,
anders kann ich sie nicht sehen.
Ich spürte sogleich, wie diese
Feststellung mich zu einer Überprüfung der Beziehungen zwang, die
das Paar in der Ecke erkennen ließ. Die Schmerzlichkeit im Ausdruck
der Frau: konnte sie nicht das Ergebnis einer Entdeckung sein, die
sie zu letzter Hilflosigkeit verurteilt hatte? Und die sogenannte
Achtlosigkeit des Burschen: verbarg sich hinter ihr vielleicht ein
Wunsch nach Vergessen, und hinter seiner kalten Spielwut das
Bedürfnis, sich ablenken zu müssen von dem, was er gemeinsam mit
der Schwester entdeckt hatte? Andere Fragen ließen andere
Möglichkeiten zu, und dann fragte ich nach einem Ort, wo die
Geschichte ihren Ausgang nehmen könnte, und nach einem Anlaß, der
das gemeinsame Auftreten der Geschwister rechtfertigte. Nun, fragte
Gregor, wie kamen deine Geschwister hierher? Nach welcher
Vorgeschichte?
Also hört zu, sagte ich, denkt
euch eine saubere, beengte Witwenwohnung, wir lassen es Nachmittag
sein, man sitzt bei einer Kaffeetafel, die Kuchenlasten sind
geplündert. Auf dem resedagrünen Sofa sitzt die gehbehinderte
Mutter, auf zwei Stühlen sitzen sich Karen und Herbert, genannt
Hebbi, gegenüber, die zum fünfundsechzigsten Geburtstag der Mutter
erschienen sind. Mechanisch lädt die Mutter dazu ein, noch ein
Stück Kuchen zu essen, beide verzichten seufzend, wechseln einen
belustigten Blick, als die Mutter sich noch ein Stück Torte nimmt
und mit grüblerischem Behagen zu kauen beginnt. Die Blumen, sagt
Karen, wieviel Blumen du bekommen hast, Mama. Leider reichen die
Vasen nicht, sagt die Mutter, zum nächsten Geburtstag könntet ihr
mir einige Vasen schenken. Es klingelt an der Wohnungstür, Hebbi
steht auf, um zu öffnen, doch die Mutter ruft ihn zurück, fröhlich
zuerst, dann dringend; obwohl sie Mühe hat, zu gehen, besteht sie
darauf, selbst zur Tür zu gehen. Heute bin ich an allem schuld,
sagt sie mit gespielter Neugierde und deutet eine Erwartung an, die
sie sich von keinem verkürzen lassen möchte. Sie schlurrt am Tisch
vorbei auf den Flur, die Geschwister zwinkern sich zu, lauschen,
wie draußen die Kette entfernt, die Wohnungstür geöffnet wird. Man
hört explosionsartige Glückwünsche zum fünfundsechzigsten
Geburtstag, dann den sanften Uberredungsversuch der Mutter,
hereinzukommen, ein Stück Kuchen zu essen, schließlich eine
vergnügte Weigerung: Später vielleicht, Frau Krogmann, wenn Sie
Ihren Besuch überstanden haben. Die Mutter kehrt mit einem
Blumenstrauß zurück, und Karen glaubt eine verborgene Enttäuschung
herauszuhören, als ihre Mutter sagt: Nur eine Nachbarin, Frau
UnertI - sie ist Empfangsdame, wenn ihr euch darunter etwas
vorstellen könnt.
Karen stellt die Blumen in einen
Plastikeimer, steckt die
Glückwunschkarte zwischen die Blüten, während
Hebbi sich
eine Zigarette ansteckt und genüßlich am
Büfett entlangstreift, das beladen ist mit Mörsern, Photographien,
staubfangenden Immortellen, einer massiven Modell-Lokomotive auf
Marmorplatte, ferner mit Brieföffnern, Handspiegeln und einer nie
benutzten silberbeschlagenen Bürste. Er schiebt die Immortellen zur
Seite, angelt sich die größte Photographie, die in einem
muschelbesetzten Rahmen steckt, betrachtet sie eine Weile mit
wohlwollender Skepsis: diesen kleinen agilen Mann mit dunklen,
träumerischen Augen, der sich die Uniformmütze der Bahnbediensteten
so keß in die Stirn gezogen hat. Da haben wir ja unser kleines
Genie, sagt Hebbi, schade, daß er dies alles nicht miterleben kann.
Sprich nicht so, sagt die alte Frau, sprich nicht so von deinem
Vater. War er denn kein Genie, fragt Hebbi mit vorgegebenem
Erstaunen, und Karen darauf: Stell ihn weg und hör endlich auf,
dich an ihm zu reiben. Nach elf Jahren solltest du ihn in Frieden
lassen. Ich hab doch wohl das Recht, ihn auch nach elf Jahren noch
zu bewundern, sagt Hebbi, für mich war er wirklich das
Familiengenie: schließlich hat keiner so viele Ideen gehabt wie er,
steile Ideen. Du könntest sein Andenken ruhig in Ehren halten, sagt
Karen, und Hebbi darauf: Tue ich das etwa nicht? Indem ich sein
Genie erwähne, ehre ich sein Andenken. Und auf das Bild
hinabsprechend: Du warst in Ordnung, Paulchen Krogmann, du hast
kühner geträumt als die meisten, du hast nur vergessen, deine
Kühnheit finanziell abzusichern. Was verstehst du vom Leben, sagt
die Mutter und macht sich sanft über ihr Stück Kuchen her. Eben,
sagt Hebbi, ich brauche mich nur mit ihm zu vergleichen, dann weiß
ich, was mir fehlt. Wie meinst du das, fragt seine Schwester. Na,
denk mal allein an seine Gründungen... an den Mut, den er, ein
kleiner Lokomotivführer, zur Firmengründung hatte! Zuerst die
Firma, die schnellwachsende Bäume pflanzte; für zwei Mark war man
Mitglied und Eigentümer eines Baums... Oder denk an seine
Wegwerf-Hemden: einmal getragen - Papierkorb... Oder an seine
Tinkturen gegen körperliche Mißbildungen... Na, und seine Fabrik,
in der kleine Magnete gegen Schlaflosigkeit hergestellt wurden: das
soll ihm erst mal einer nachmachen. Hör auf, so zu reden, sagt
Karen, Papa hat für alles bezahlt. Sicher, sagt Hebbi, mit Mamas
Ersparnissen hat er alles bezahlt. So meine ich das nicht, sagt
Karen, ich denke an das Unglück, bei dem er ums Leben
kam.
Hebbi stellt das Bild zurück,
legt den Kopf schräg und erwidert das kesse Lächeln des
Lokomotivführers. Er sagt leise: Es ist nie geklärt worden, wie ein
Mann von seinen Erfahrungen das Signal überfahren konnte... seine
Lokomotive, sie war die erste und einzige, die die Böschung
heruntergestürzt ist und in den Fluß... Wenn du nicht aufhörst,
sagt Karen, du wirst noch den ganzen Geburtstag eintrüben. Die
Mutter winkt ab: was versteht er schon vom Leben? Und dann bittet
sie Karen, die Likörgläser zu füllen, und bevor sie trinken, wendet
sie sich noch einmal an Hebbi: Hoffentlich gelingt dir, was ihm
gelungen ist... hoffentlich wirst du auch mal deiner Frau zu einer
so guten Witwen-Pension verhelfen... daß ich nicht klagen kann,
verdanke ich ihm. Und sie nickt bestätigend, niemand wird diesen
Glauben erschüttern können, niemand sie davon abbringen, in der
Versorgung über den Tod hinaus das entscheidende Werk ihres Mannes
zu sehen, mit dem er alles gutgemacht hat.
Die Geschwister tragen das
Geschirr in die Küche, stellen es in den Handstein, stellen fest,
daß sie gehen müssen, und beschließen, ein Stück gemeinsam zu
gehen. Aber zart, sagt Karen, du mußt es ihr zart beibringen, daß
wir nicht zum Abendbrot bleiben können. Die Mutter sitzt gesammelt
da, unerschütterlich, in einer Art Trägheit, die von keiner
Nachricht durchdrungen werden kann, und als Hebbi sagt: Mami, wir
müssen jetzt wohl gehen, Karen und ich, reicht sie ihnen sogleich
die Hand, nicht bedauernd, eher erleichtert. Die Geschwister
tätscheln sie zum Abschied wie ein trauliches Monument, streifen
einen Kuß an ihr ab, winken noch einmal zu ihr zurück. Beim
Zufallen der Tür blickt die Mutter schnell zur Büfett-Uhr. Während
die Geschwister die Treppe des Mietshauses hinabsteigen, schildert
Hebbi seine Erfahrungen im Berufsleben... Du glaubst es nicht,
Karen, aber es ist so... irgend etwas an mir... also was ich auch
tue, nach kurzer Zeit kommen die Chefs zu mir und bieten mir
gehobene Positionen an... mehr Geld... mehr Verantwortung... bei
den Fensterputzern, da wollten sie mich schon nach zwei Wochen zum
Kolonnenführer machen... in der Umzugsfirma: ich war kaum da -
schon boten sie mir die Abteilung Packmaterial an... und jetzt
wieder... jetzt soll ich die Aufsicht über alle Boten im Funkhaus
übernehmen... Und, fragt Karen, wirst du's machen? - Ich? Hältst du
deinen Bruder für behämmert: Nur eine einzige Sprosse auf der
Karriere-Leiter, und schon ist die Gemütlichkeit futsch. Und der
Friede. Und die Unschuld. Im Parterre, vor dem Niedergang zum
Keller, steht eine Kinderkarre. Hebbi setzt einen Fuß hinein und
hält sich dabei an der Schulter seiner Schwester fest. Am liebsten,
Karen, sagt er, möchte ich mich von dir schieben lassen;
zeitlebens. So wie damals.
Sie treten auf die Straße hinaus,
blicken zur Verkehrsinsel vor dem kleinen Bahnhof, nehmen sich bei
der Hand und springen über die Schienen der Straßenbahn. Im
Windschutz des gläsernen Wartehäuschens zünden sie sich Zigaretten
an. Aufblickend streift Hebbi die Rampe der Güterverladung, die
beladenen Karren und Schubkarren, streift die Telefonzelle, und
plötzlich spürt Karen, wie ihr Bruder in der Bewegung innehält,
regungslos und leicht geduckt dasteht.
Was ist, Hebbi? Was fehlt dir?
Da, sagt er zögernd, an der Telefonzelle. Der Mann? Der Mann, der
dem Kind die Blumen gibt: es ist Vater. Das glaubst du doch selbst
nicht ! Er ist es, Karen... der Mann, der sich zu dem Kind beugt...
der ihm jetzt Geld gibt. Aber Vater ist tot, sagt Karen. Siehst du,
wohin das Kind die Blumen bringt, fragt Hebbi - sie sind für Mutter
bestimmt. Unter den Ermahnungen des Mannes nickt das Kind und hüpft
fort über die Straße und über die Schienen, bleibt einmal stehen
und blickt auf die Münze in seiner Hand, bevor es die Blumen in das
Haus trägt, das sie gerade verlassen haben. Es ist Vater, Karen,
unbedingt, es kann nur er sein. Du hast Erscheinungen, Hebbi. Dann
komm, komm und überzeug dich.
Eine Hand am Gürtel ihres
Trenchcoats, zieht er sie mit sich hinüber zur Laderampe, an der
ein kleinwüchsiger Mann mit schnellen Schritten vorbeistrebt, durch
eine Passage auf einen Überdachten Vorplatz, von dem es zu den
Bahnsteigen geht. Die dunkle Schirmmütze, wie Bahnbedienstete sie
tragen oder Leute aus dem Hafen, bewegt sich im Rhythmus der
Schritte vor ihnen her, an der Würstchenbude vorbei, am
Zeitungsstand, zum Bahnsteig der Stadtbahn. Schnell, mahnt Hebbi,
wir dürfen ihn nicht verlieren. Sie laufen, sie erreichen die Bahn,
in die der kleine Mann eingestiegen ist, auf jeder Station steigen
sie aus und versichern sich, ob er noch im Nebenabteil sitzt, das
genügt ihnen, denn bevor sie ihn ansprechen, wollen sie mehr über
ihn erfahren.
Am Hauptbahnhof steigt er aus,
bewegt sich auf einmal verhaltener, gemächlicher, schlendert auf
einen Blumenkiosk zu, doch nicht, um Blumen zu kaufen, vielmehr
stellt er sich schräg vor einen Spiegel und beobachtet die
Passanten hinter sich, sie vor allem, die Geschwister, die er zu
oft am Abteilfenster hatte vorbeigehen sehen. Seine Wachsamkeit,
diese gelassene Vorsicht, erscheint Hebbi als zusätzliche
Bestätigung seines Verdachts. Er ist es, flüstert er, das ist
Vater, Karen.
Und plötzlich wendet sich der
kleine Mann mit energischem, fast fliehendem Schritt zum Ausgang,
verschwindet zwischen wartenden Taxis, taucht vor dem erleuchteten
Eingang eines Hotels auf und biegt in eine trübe Seitenstraße ah.
Jetzt läuft er. Auch die Geschwister laufen, Hebbi voran, und er
erkennt, daß der kleine Mann seinerseits die Verfolger erkannt hat.
Seine Fluchtbewegungen haben etwas Lächerliches; der lang fallende
Mantel hemmt seinen Lauf, die große Schirmmütze scheint unmittelbar
auf dem Mantelkragen zu sitzen. Vor einem Reklameschild stoppt er
ab, zieht eine Tür auf, ein Lichtkegel fällt auf den Bürgersteig,
schon ist es wieder dunkel, und er ist fort.
Die Geschwister kommen näher,
treten vor das Schaufenster einer zoologischen Handlung, nur der
Verkäufer ist zu sehen, ein feierlich wirkender, schlanker Mann in
grauem Kittel. Sie übersehen das Angebot - Zwergkaninchen,
Meerschweinchen, die ewig turnenden Wellensittiche -, treten ein,
und Hebbi fragt: Hier ist doch eben ein Mann reingekommen? Der
Verkäufer beugt sich ihnen erstaunt entgegen, sein Erstaunen
enthält einen sachten Vorwurf: Ein Mann? Er habe keinen Mann
gesehen, aber er möchte gern wissen, womit er dienen könne. Karen,
leicht beunruhigt, will ihren Bruder aus dem Geschäft ziehen, da
hören sie ein Geräusch aus dem Lagerraum, stürzende Pappkartons
vermutlich, worauf Hebbi wortlos einen Vorhang zur Seite wirft und
seine Schwester hineinzieht in einen schwach erleuchteten Raum.
Papageien geben Alarm, Pinseläffchen, im Schlaf gestört, jagen
zähnefletschend durch ihren Käfig.
Dort, ruft Hebbi, die Tür zum
Hof. Sie durchqueren das Lager, laufen auf den Hof hinaus, dort
schließt sich die Tür eines Hintereingangs, also wird er dorthin
geflohen sein. Dicht nebeneinander stehen sie im Hausflur und
lauschen mit erhobenen Gesichtern den leiser werdenden Schritten
und dem abnehmendem Keuchen; ein fernes Schlüsselgeräusch, eine
zufallende Tür, und jetzt steigen sie die Treppen hinauf.
Entweder im dritten oder im
vierten Stock, flüstert Hebbi. Sie streift seine Hand von ihrem
Ärmel, lehnt sich an die Wand, versucht ihren Atem zu beruhigen,
und mit einer gleichzeitigen Geste der Weigerung sagt sie: Schluß
jetzt, Hebbi; ich mach' nicht mehr mit. Du leidest an
Hirngespinsten.
Aber er ist es, Karen, es ist
Vater. Du weißt, daß er tot ist, seit elf Jahren. Seine Leiche -
man hat sie nie gefunden nach dem Unglück damals. Aber warum läuft
er weg vor uns? Fragen wir ihn, sagt Hebbi bestimmt und zieht sie
in den dritten Stock hinauf, wo er den glimmenden Schalter eines
Minutenlichts drückt. Er liest die Namensschilder, halblaut, er
horcht an den Türen, und dann winkt er seine Schwester heran: Hier,
Karen, dieser P. Ballhausen, der könnte es sein; in den anderen
Wohnungen sind Kinderstimmen zu hören. Drück mal die Klingel. Drück
du, sagt Karen.
Die Klingel scheint sich
verklemmt zu haben, das Schrillen dauert und dauert, erst ein neuer
Druck unterbricht es. Beim Geräusch der sich nähernden Schritte
schiebt sich Karen unwillkürlich hinter ihren Bruder. Eine Kette
wird entfernt, langsam wird die Tür aufgezogen. Guten Tag, Vater,
sagt Hebbi. Der kleine Mann mit den dunklen, träumerischen Augen
sieht sie freundlich und verständnislos an. Er steht in offener
Jacke vor ihnen, Hausschuhe an den Füßen, in einer Hand eine
Brotsäge. Wir sind dir gefolgt, Vater, Karen und ich. Der Mann hebt
bekümmert die Schultern, er sagt lächelnd: Es tut mir leid, aber
ich muß Ihnen sagen, es ist ein Mißverständnis. Bitte, mach uns
doch nichts vor, Vater, sagt Hebbi, ich habe eben noch dein Photo
in der Hand gehabt. Laß uns reinkommen, zumindest. Der Mann
schüttelt jetzt in amüsierter Überraschung den Kopf. Was einem so
passieren kann, sagt er, und dann: Bitte, von mir aus kommen Sie
herein.
Sie betreten die Wohnung, vorbei
an einem Stapel leerer Vogelbauer, fabrikneu; auf dem Küchentisch
liegt ein angeschnittenes Brot, im sparsam möblierten Wohnzimmer
liegen Packen von Tierzeitschriften herum. Wir haben dich entdeckt,
Vater, zufällig, als du dem kleinen Mädchen die Blumen für Mutter
gabst... wir sind dir gefolgt... warum hörst du nicht auf, Versteck
zu spielen? Der kleine Mann bedenkt sich, entschuldigt sich für die
Brotsäge in seiner Hand, er sagt lächelnd: Das wäre schon eine
Überraschung, auf einmal zwei erwachsene Kinder zu haben, doch ich
muß Sie enttäuschen. Mein Name steht auf dem Türschild, mir gehört
eine zoologische Handlung, jeder hier kennt mich, seit vielen
Jahren, Leider kann ich nicht das Ziel ihrer Suche sein. Seit wie
vielen Jahren wohnen Sie hier, fragt Hebbi, und der Mann, die
Achsel zuckend: Zu lange schon.
Die Geschwister tauschen einen
Blick, Hebbi erkennt Karens ungeduldige Aufforderung, die Wohnung
zu verlassen, sie geht bereits auf den Flur hinaus. Entschuldigen
Sie, sagt Hebbi kleinlaut und immer noch nicht überzeugt,
vermutlich haben wir Sie verwechselt. Er geht auf den Flur hinaus,
der kleine Mann folgt ihnen, begleitet sie zur Tür. Zum Abschied
drehen sich die Geschwister gleichzeitig um, etwas zu abrupt, denn
Karen stößt gegen den Turm der leeren Vogelbauer, die obersten
Käfige stürzen herab, von einem wird sie am Jochbein getroffen.
Beide entschuldigen sich, doch der Mann wertet das Mißgeschick ab,
ist doch nichts passiert, sagt er, bis er die kleine Blutspur in
Karens Gesicht entdeckt. Er besteht darauf, ihr ein Pflaster
aufzukleben, ihr es zumindest für alle Fälle mitzugeben, und er
geht ihnen voraus in die Küche, wo er aus dem Küchenschrank eine
Zigarrenkiste heraushebt, die sein Verbandzeug enthält. Während er
für Karen ein Pflaster heraussucht, stellt Hebbi eine gerahmte
Photographie auf, die offenbar umgekippt ist. Es ist eine ältere
Photographie. Sie zeigt seine Mutter.
Karen, ruft Hebbi, sieh her, sieh
dir das an. Karen drückt das Pflaster fest und wendet sich ihrem
Bruder zu. Das ist doch Mutter? Ja, sagt Hebbi, das ist ein Bild
von Mutter - und zu dem kleinen Mann: Das ist nun kein
Mißverständnis, dies Bild - es ist ein Photo unserer Mutter. -
Tatsächlich, fragt der Mann, und dann, nach einem Augenblick der
Unsicherheit: Es gehört meinem Mitbewohner, er hat das Photo
aufgestellt. Wie heißt er, fragte Hebbi, und der Mann, überlegend:
Oh, wir haben den gleichen Vornamen, wir heißen beide Paul, sein
Nachname ist Zech. Dürfen wir ihn sprechen? Aber sicher, aber gewiß
doch, er wird etwa in zwei Stunden zu Hause sein, sagt der Mann.
Karen nimmt die Hand ihres Bruders, sie bittet ihn, mit ihr zu
kommen. Sie sind etwas blaß geworden, sagt der Mann zu ihr, aber es
ist keine ernsthafte Verletzung. Er bringt sie zur Tür.
Schweigend gehen die Geschwister
die Treppe hinab, Karen scheint nicht mehr sicher auf den Füßen zu
stehen. Mit einer fließenden Bewegung läßt sie sich auf die
unterste Treppe nieder, verbirgt das Gesicht in den Händen, stöhnt.
Er war es, sagt Hebbi triumphierend, er ist es: Vater. Na und,
fragt das Mädchen verzweifelt, hilft es dir? Hilft es einem von
uns?
In bin in zwei Stunden dort oben,
sagt Hebbi drohend, ich bin nur gespannt, was er sich dann wieder
ausgedacht haben wird. Aber ich überführ ihn, verlaß dich drauf:
Ich überführ ihn! Wozu denn, mein Gott, wozu denn, fragt Karen,
und, die Hände von ihrem Gesicht ziehend: Begreifst du denn nicht,
warum er dies alles getan hat? Begreifst du denn nicht, daß dies zu
seiner freiwilligen Buße gehört? Was versprichst du dir denn nur?
Komm, Karen, Schwesterchen, sagt Hebbi, wir gehen jetzt in die
kleine Kellerkneipe nebenan. Dort trinken wir etwas. Und nach zwei
Stunden springe ich nur für einen Augenblick hinauf, nur, um eine
einzige Frage zu stellen; danach bringe ich dich nach
Hause.
Gregor grinste mich an,
schüttelte - wenn auch nur in halber Mißbilligung - den Kopf und
sagte: Typisch; typisch für dich, mein Alter, bei dir endet alles
in der Schwebe, weil du Lösungen als Unhöflichkeit ansiehst. Er
trank mir zu, fuhr einmal strahlend durch seinen Bart und blickte
zu dem Paar bei den Spielautomaten hinüber, geradeso, als ob er
etwas nachmessen oder blickweise erkunden wollte: Geschwister?
Glaubst du wirklich, sie sind Geschwister? Wir können sie ja mal
fragen, sagte ich, einer von uns, am besten du, Gregor, könnte
hingehen und sie fragen. Es ist zu früh, sagte Gregor, vorher muß
Kollege Klimke seine Geschichte abliefern.
Klimke bestellte sich noch einen
Tee pur mit Zitrone; er vermied es offensichtlich, in die Ecke
hinüberzusehen, wo die Frau gerade den Inhalt ihrer Handtasche
barg, sorgsam und abwägend, als suchte sie die Herkunft der
einzelnen Dinge zu bestimmen, ehe sie sie in die Tasche fallen
ließ. Nur die dunkelgraue Schwungfeder behielt sie in der Hand und
strich mit ihr über den Rand des Glases. Gregor sah Klimke
ermunternd an: Na? Zu welchem Ergebnis kommen Sie? Aber Sie müssen
von demselben Bild ausgehen... Ich weiß nicht, sagte Dieter Klimke,
ich weiß nicht, ob es möglich ist, von demselben Bild auszugehen.
Sicher, das Bild ist da, es hat seine eigene Trägheit, aber es
besteht nicht lange für sich; denn die Einbildungskraft
unterschiebt ihm zu schnell eine Bedeutung... Vermutlich nehmen wir
mit dem Bild schon seine Bedeutung wahr... eine für uns
eigentümliche Bedeutung. Gregor horte ihm skeptisch zu, unterbrach
ihn und sagte: Also mit einer Theorie kommen Sie nicht davon. Sie
müssen doch von etwas ausgehen, von einer gesetzten Annahme. Das
tue ich auch, sagte Klimke, und an uns vorbeisprechend, den Blick
an Wimpel und Pokale gehängt, erklärte er, daß das, was seine
Einbildungskraft am meisten erregte, diese Vogelfeder sei, die
graue Schwungfeder - ihr wißt schon -, die der Bursche mit dem
ganzen Inhalt der Tasche auf den Tisch kippte. Erzählen, sagte
Gregor unnachgiebig. Und Dieter Klimke, nach einer unsicheren
Bewegung: Genügt das - erzählen? Worauf es ankommt, das ist doch
dazuzugewinnen und zu rechtfertigen. Und dann lieferte er uns seine
Geschichte, die er ausdrücklich als Versuch bezeichnete:
Da geht Sophia mit schwingenden
Schritten über den kleinen Markt, glücklich; Korb und Netz
schlenkern zum Beweis der Zufriedenheit in ihren Händen. So geht
jemand, der den kleinen, aber erreichbaren Vorteil auf seiner Seite
weiß und es ausdrücken möchte durch vergnügte, überflüssige
Bewegung. Sie hat den Herbst gekauft, das Gelb und das schon
verblassende Grün, das süße Mark im Braun der Birnen, die
aromatische Schärfe in erdigen Sellerieknollen, alles vorteilhaft
gekauft, um es in die gerade bezogene Apartmentwohnung zu tragen,
in den kühnen, aber gemütlichen Wohnturm, den sie den »langen
Konrad« nennen. Händler hinter ihren farbigen Ständen und Auslagen
grüßen sie mit Freundlichkeit und reiben sich unter fleckigen
Schürzen die Hände warm, um sich beim Kleingeld nicht zu
verzählen.
Am Ende des Marktes, dort, wo die
kurzen Fallwinde die Leinwand der Buden schütteln, winkt ein
Händler sie an seinen Stand heran, obwohl er doch erkennen muß, daß
sie, fröhlich beladen, schon auf dem Heimweg ist. Ein Mann von
unbestimmbarem Alter, in abgetragenem schwarzem Anzug, einen
breitkrempigen Hut über dem ausgezehrten Gesicht, hält sie auf und
weist mit ausgebreiteten Händen auf sein ungewöhnliches Angebot:
Hügel von Kirschen. Sophia, eine leidenschaftliche Marktgängerin,
hat ihn nie zuvor hinter einem Stand gesehen, diesen fremdartig
wirkenden Mann, der mehrere Ringe an den Fingern tragt, der ihren
Blick durch eine einzige Geste hinabzwingt auf die Früchte, die
jetzt schon zur Erinnerung an den Sommer gehören. Verwundert starrt
sie auf die Schattenmorellen, auf Sauer- und Weichselkirschen, in
deren Fleisch noch die Hitze des Sommers klopft, und ohne nach dem
Preis zu fragen, ohne sich nach der Herkunft der Kirschen in dieser
ungewöhnlichen Zeit zu erkundigen, laßt sie sich vom Händler die
Menge auswiegen, die er für angemessen halt, ein rosa Körbchen
voll, das ihr die beringten Finger hinüberreichen. Und da, während
sie verwirrt bezahlt, stoßt der fremde Händler lächelnd den Kiel
einer grauen Schwungfeder in die zuoberst liegenden Kirschen ihres
Körbchens. Die zarten Häute platzen, Saft quillt am Kiel empor,
pulpiges Fruchtfleisch netzt die heilen Kirschen. Sophia läßt die
Feder stecken, trägt, nun etwas nachdenklich, die preiswerte Beute
in ihren Wohnturm, und in der blanken, geheimnislosen Küche, vor
dem Spalier der elektrischen Diener, packt sie pfeifend Netz und
Korb aus, probiert andächtig die verschwitzte ungarische
Dauerwurst, schmeckt zum zweitenmal vom erstandenen Käse, und zum
Schluß, nachdem sie alles verwahrt hat, reinigt sie eine Handvoll
Kirschen und ißt sie in ihrem bequemsten Stuhl. Zwischen Gaumen und
Zunge laßt sie die Früchte platzen und sucht den Augenblick
belebender Wohltat auszudehnen. In einer Hand hält sie die Feder,
dreht sie leicht, streicht über ihre Knie und über die blitzenden
Leisten des Küchenschranks, und später, in selbstzufriedener
Geschäftigkeit, streift sie unabsichtlich mit der Feder die
Küchenwand. Sophie erschrickt; denn die Stelle, die sie so flüchtig
und zart berührte, beginnt sich zu beleben, der Stein erweicht,
schmilzt sichtbar zusammen zu einer rotbraunen Masse, läuft lautlos
in Zungen auseinander wie flüssiges Wachs, und vor ihren Augen
tropft der Stein auf den versiegelten Fußboden, nicht heiß, nicht
blasenwerfend, sondern in kühlem Zustand. Die Feder gibt nichts
preis, solange Sophia sie auch untersucht, doch dann hebt sie das
Gesicht, nähert es dem ausgeschmolzenen Loch in der Wand, langsam,
in träumerischer Verstörtheit, und jetzt blickt sie in die Küche
der Nachbarn, entdeckt das Ehepaar Töpfle, den feinsinnigen
Physiklehrer und seine schöne, unwirsche Frau. Herr Töpfle trägt
ein blauweißes Turnkostüm, von seinem Hals läuft eine Leine in die
mit Leberflecken bedeckten Hände seiner Frau, er scharrt, er
prustet und tänzelt vor den künstlichen Hindernissen, die
kreisförmig auf dem Boden verteilt sind: Fußbänke, Bücherstapel,
Küchenhocker. Die Frau im Morgenrock streichelt ihn nachlässig,
knallt mit einer kurzstieligen Peitsche. Herr Töpfle springt an,
trabt, nimmt glücklich das erste Hindernis, dann das zweite, er
blickt auf seine Frau, er möchte offenbar belobigt werden, doch sie
zerrt energisch an der Leine und schärft seine Aufmerksamkeit für
das nächste Hindernis. Herr Töpfle verweigert; erst nach einem
leichten Schlag über die Waden setzt der Physiklehrer über den
Küchenhocker. Die Zweierkombination allerdings - Bücherstapel,
Stuhl - will und will ihm nicht schmecken, immer wieder bricht er
aus, schnaubt, nimmt neuen Anlauf, die Peitsche treibt ihn
schließlich zum Sprung, er stürzt, er verliert seine nickelgefaßte
Brille, und die Frau gibt in schmerzlicher Enttäuschung die Leine
frei, läßt die Peitsche auf ihn fallen, tritt an den Tisch und
schenkt sich Kaffee ein. Sophia scheint dem Anblick nicht gewachsen
zu sein und deckt das Loch zunächst mit der Hand, später mit einem
Stück Tapete ab. Ratlos bereitet sie sich auf den Weg ins Büro vor,
arbeitet unkonzentriert vor dem Spiegel an ihrem Gesicht, nimmt die
hilfreichen Nasentropfen, packt Tempotaschentücher ein, wirft den
Mantel über, und zum Schluß, nach kurzer Erwägung, nimmt sie die
Feder in die Hand. Sie fährt zum unterirdischen Parkplatz hinunter,
geht zu ihrem kleinen blauen Auto, verzögert plötzlich den Schritt
und starrt auf den ungeliebten Grenzstein, nachdenklich, auf den
Stein, der ihr noch jedesmal ein Gefühl für Zentimeter abverlangt
und sie zu anstrengenden Manövern zwingt; schnell duckt sich
Sophia, streicht einmal über den Stein - eher in ungläubiger als
berechneter Erwartung - und weicht ängstlich zurück, als auch
dieser Stein sich zu regen beginnt, schmilzt, das Laufen bekommt
wie ein Käse in der Wärme. Da kann sie doch nur in ihr Auto steigen
und im Vertrauen darauf davonflitzen, daß niemand sie beobachtet
hat - die Feder übrigens wohlverwahrt in der Handtasche.
In dem von ihr beherrschten
Vorzimmer findet sie kein besseres Versteck für die Handtasche als
im untersten Fach ihres Spezialschreibtisches, der mehrere Telefone
trägt, eine Sprechanlage, Eingangs- und Ausgangskörbe. Der - wie
meistens - gutgelaunte Chef, den still zu bewundern sie sich
angewöhnt hat, begrüßt sie mit Handschlag, läßt sich - reichlich
aufgeräumt - aus ihrem Urlaub erzählen und eröffnet Sophia, daß er
während ihrer Abwesenheit eine neue Kraft eingestellt habe:
Fräulein Driessel aus der Personalabteilung, die ab heute auch im
Vorzimmer sitzen und arbeiten werde, zu Sophias Entlastung. Und wie
auf ein Stichwort erscheint Irmtraud Driessel, selbstbewußt, ein
Mädchen, von dem Sophia behaupten möchte, daß es mehr Wasser als
üblich zur Morgenwäsche verbraucht; der Chef macht miteinander
bekannt. Etwas zaghafter, etwas bescheidener dürfte Fräulein
Driessel schon ihren Schreibtisch in Besitz nehmen, schließlich ist
sie ja neu hier, hat sich zumindest noch nicht das Recht ersessen,
im Drehstuhl probeweise so herumzuwirbeln, daß ihr Haar, der
Fliehkraft gehorchend, in die Waagerechte aufweht. Der Chef
immerhin scheint an dieser unbekümmerten Erprobung Gefallen zu
finden, und Sophia komplizenhaft zuzwinkernd, bestellt er Fräulein
Driessel gleich mal zum Diktat, in der ausgesprochenen Hoffnung,
daß sie sich bei der Arbeit ebenso »frisch« zeigen werde.
Sophias rechtmäßige Enttäuschung
bekommen nun die vielfarbigen Briefe zu spüren, die sie beinahe
wütend aufschlitzt, lustlos überfliegt und nach einem geltenden
Schema registriert, ehe sie sie knapp aus dem Handgelenk in den
Eingangskorb schleudert. Sophia denkt: Es ist immer so. Nach der
Rückkehr aus dem Urlaub muß man im Betrieb mit bösen Überraschungen
rechnen, und diesen Gedanken begleitet sie mit heftigem Kopfnicken.
Da läßt ein durch die Polstertür gedämpftes Lachen sie hellhörig
werden - lacht man so beim Diktat? Sie springt auf, stürzt zur Tür,
aber nur, um dem Kunstkalender, den in ihrer Abwesenheit niemand
korrigiert hat, 21 Tage abzureißen. Wieder dringt quietschendes,
jedenfalls hochangesetztes Gelächter aus dem Chefzimmer, worauf
Sophia als langjährige und rechtmäßige Herrscherin des Vorzimmers
in souveränem Entschluß ihre Handtasche hervorzieht, der Handtasche
die Feder entnimmt und in Höhe des Kunstkalenders, nein, unter dem
angehobenen Kunstkalender einen energischen Kreis zieht -
münzengroß nur. Die Wand seufzt, der Stein erweicht und tropft
lautlos weg, und durch das entstandene Loch wirft Sophia einen
Blick in das Chefzimmer, läßt bei langsamer Drehung das Zimmer
vorüberwandern bis zur eindrucksvollen, gediegenen
Schreibtischecke. Soll das ein Diktat sein? Bei dem, was ihrem
Blick zugemutet wird, könnte jeder verstehen, daß sie sich nicht
nur enttäuscht, sondern auch mit redlicher Erbitterung vom Guckloch
zurückzieht und auf dem kurzen Weg zum Schreibtisch schmerzhaft
Abschied nimmt von liebgewordenen Vorstellungen. Das Papier, das
sie jetzt in die Schreibmaschine einzieht, kann gar nichts anderes
- es muß ihr Gesuch um Versetzung in eine andere Abteilung
werden.
Von nun ab wird ihr Verhältnis
zur grauen Schwungfeder skeptischer, sie trägt sie oft in der Hand,
dreht sie ruckweise zwischen Daumen und Zeigefinger; einmal vergißt
Sophia sie in einem Café, kehrt jedoch von weither zurück, um sie
zu holen. Und an einem Wochenende, allein in ihrem kühlen Apartment
im Turmhaus, vor dem offenen Fenster, wirft sie die Feder hinaus,
sieht sie trudeln und gleiten, bis ein plötzlicher Aufwind sie
erfaßt und zu Sophia zurückweht. Sie wirft sich auf die Couch und
liest bei ihrer Lieblingsmusik ihr Lieblingsbuch - »Haus aus Hauch«
-, die Feder als Lesezeichen benutzend. Sie tut es so lange, bis
nebenan der kleine Junge zu jauchzen und zu quietschen beginnt, der
Sohn des bedeutenden, allzeit höflich grüßenden Schauspielers
Kreuzer. Ein leiser Strich über die Wand, eine bange Bewegung
genügen, und durch den entstandenen Schlitz erkennt sie den Jungen,
der auf dem Fußboden sitzt, allein, umgeben von seinem Spielzeug,
von Kränen, Bulldozern, Lokomotiven und Kanonen. Zuhauf liegen die
Puppen seiner apfelbäckigen Schwester, die offenbar ihre Eltern hat
begleiten dürfen; er hat die Puppen einfach aufeinandergeworfen,
und nun entkleidet er sie jauchzend, blonde und brünette Puppen,
stellt sie nackt auf den Boden und zieht genüßlich die Uhrwerke von
Bulldozern und Panzern auf. Er klatscht in die Hände, wenn ein
Panzer oder ein Schneepflug eine Puppe rammt, niederzwingt,
überfährt; er trommelt vor Freude auf den Boden, wenn die
Lokomotive einen kleinen Puppenkörper auf den Schienen vor sich
herschiebt.
Quietschend schraubt er sodann
einzelnen Puppen die Glieder ab, verlädt sie mit seinem Kran auf
einen Lastwagen und kippt sie sozusagen an der Böschung des
Bahndamms aus. Zwei große grinsende Stoffpuppen exekutiert er mit
der Erbsenkanone. Sophia fragt sich erschrocken, was die Mutter des
Jungen nach ihrer Rückkehr sagen wird, Frau Kreuzer, die sie schon
zweimal zur Besichtigung ihrer Steinsammlung eingeladen hat. Hastig
verstopft Sophia den Schlitz mit Watte, läuft auf der Suche nach
einem angemessenen Entschluß durch ihre Wohnung, wirft auf einmal
den Mantel über und fährt zum Parkplatz hinunter. Mit hallenden
Schritten geht sie zu ihrem Auto, immer wieder ausgewischt von den
Schatten der roten Zementpfeiler und zum Vorschein gebracht durch
das indirekte Licht, und plötzlich, als sie über den zerschmolzenen
Grenzstein tritt, versperrt Siebeck ihr den Weg, der die Aufsicht
über die Garage hat. Er halt ihr grinsend die offene Hand hin;
stumm fordernd, darin sicher, daß sie weiß, was er meint. Dennoch
versteht sie seine Geste nicht, und er muß ihr beibringen, daß er
ihr Mitwisser ist, daß er vorübergehend die Feder braucht, nur mal
für ein Wochenende, für ein spezielles Unternehmen; um seiner
Forderung Nachdruck zu verleihen, deutet er auf die zerflossenen
Reste des Grenzsteins. Sophia zögert, denkt an Flucht. Da reißt er
ihr die Feder aus der Hand und stürzt triumphierend zu einer
hüfthohen Betonwand, will gleich ausprobieren, was die Feder am
Stein leistet, wie sie die Härte besiegt. Er streicht über eine
Ecke, er reibt und kitzelt den Beton, doch nichts regt sich, nichts
zerfällt - worauf Siebeck, nach einiger Unschlüssigkeit, die Feder
in Sophias Hand zwingt und ihre Hand zart über den Beton führt. Und
jetzt beginnt es zu sacken, zu schmelzen, die berührte Ecke
erweicht und fließt in zähen Tropfen ab. Siebeck steht da und sieht
aus wie einer, der einmal gefaßte Gedanken von neuem bebrüten muß,
und dann nickt er, einverstanden mit sich selbst, da er anscheinend
eine Lösung gefunden hat - die einzige, die übriggeblieben ist:
Sophia wird ihn begleiten müssen, da die Feder offenbar nur in
ihrer Hand das Erwünschte leistet. Er zwingt sie, in seinen Wagen
einzusteigen, freundlich, mit entschlossener Sanftmut, und dann
fahren sie hinaus an den Strom zu dem weißen, schwimmenden
Restaurant. Über eine federnde Brücke gehen sie an Bord, wo Siebeck
respektvoll von einigen Kellnern begrüßt wird und vertraulich vom
Wirt, der es sich nicht nehmen läßt, sie persönlich zu einem Tisch
am Fenster zu führen, und ihnen auf Kosten des Hauses einen
Willkommenstrunk servieren läßt. Als Siebeck sich in unerwarteter
Förmlichkeit entschuldigt, winkt Sophia beruhigend ab: es sei doch
ganz gemütlich hier, und außerdem gäbe es hier wohl garantiert
frische Seezungen.
Da der Wirt selbst sich um das
Wohlergehen besorgt zeigt, glaubt Siebeck ihr erklären zu müssen,
woher die Achtsamkeit rührt, und er stellt sich und den Wirt als
ehemalige Soziologiestudenten vor, die schon auf der Universität
zueinander fanden. Und nicht nur dies: in langen Gesprächen
entdeckten sie ihre gemeinsame Verachtung für die repressive
Leistungsgesellschaft. Gleichzeitig warfen sie das akademische
Handtuch und entschieden sich dafür, etwas gesellschaftlich
Relevantes zu tun - nämlich in diesem schwimmenden Restaurant,
beziehungsweise in der Garage.
Bei der zweiten Flasche Wein -
feine Spätlese, Kröver Steffensberg - erläutert Siebeck Sophia die
vielfältige Bedeutung ihres Vornamens, und wenn ihr auch das meiste
bekannt ist, hört sie die Erläuterungen gern und ist einfach
angetan von der Art, wie er ihren Vornamen ausspricht. Beim Tanz
auf der winzigen Tanzfläche spürt sie die leichten dünenden
Bewegungen des schwimmenden Restaurants; ihr gefällt es, wie
beherrscht Siebeck sich ihrem Rhythmus anpaßt, sobald sie einmal
gestolpert ist. Sie ist einverstanden damit, daß er sie an der Hand
zum Tisch zurückführt, und empfindet es als ausgesprochen nett, daß
er ihr Lieblingsdessert zum zweiten Mal bestellt: Vanille-Eis mit
Rum und Kirschen.
Ein einziges Mal nur erwähnt er die Feder
beiläufig, ent
wertend, es sei doch wohl alles eine
Sinnestäuschung gewesen, sagt er und tut sehr erstaunt, als Sophie
ihm widerspricht und behauptet, daß die Feder tatsächlich jeden
Stein zur Nachgiebigkeit zwingt. Er schüttelt ungläubig den Kopf.
Er möchte wissen, wie oft man ihr schon gesagt habe, daß sie beim
Lächeln die Nase kraus zieht. Und ebenso möchte er wissen, ob sie
weiß, daß ihre Augen von verschiedener Farbe sind. Und schließlich
ihr Gang: ob ihr bewußt sei, daß sie sich im Windsor-Gang
fortbewege, also über den großen Onkel. Über ihren Gang, sagt sie
amüsiert, habe ihr noch niemand etwas so Genaues gesagt,
vermutlich, weil bisher noch niemand sie so genau ins Auge gefaßt
habe. Leider muß Sophia nun mehrmals niesen - das kommt gewiß vom
offenen Fenster und der Nähe des Stroms -, und da sie nur ein
Taschentuch bei sich hat, geht Siebeck zum Wirt, um ein Päckchen
Tempotaschentücher zu besorgen. Während beide Herren sich in den
engen Direktionsraum zurückziehen, kramt Sophia in ihrer
Handtasche, findet offenbar nicht, was sie sucht, packt alles
wieder ein, zuletzt die Feder - nein, sie korrigiert ihren
Entschluß und nimmt die Feder zwischen die Finger, Sie überlegt
sichtbar. Und dann spießt sie mit dem Federkiel eine der
Maraschino-Kirschen auf, zwängt beides, Kirsche und Feder, in eine
leere Weinflasche, hält die Flasche lächelnd aus dem Fenster und
läßt sie in den Strom fallen, unbemerkt. Der Wirt bringt die
Tempotaschentücher persönlich; für
sorglich schließt er das Fenster, von Siebeck
unterstützt, und danach verharrt er in Gehemmtheit, nicht lange
allerdings: er fragt, ob es tatsächlich zutreffe, was Herr Siebeck
ihm gerade erzählt habe, ob es tatsächlich diese wunderbare Feder
gäbe, unter deren Berührung jeder Stein wegschmelze. Ob er sie
einmal sehen dürfe? Sophia lächelt; sie lächelt triumphierend, und
mit einer Erleichterung, die sie selbst am besten begründen könnte,
stellt sie fest, daß sie sich von dem »verruchten Ding« gerade
befreit habe. Gewaltsam. Flupp und weg. Sie erwartet, daß ihr
Lächeln von Siebeck erwidert wird, doch zu ihrem Erstaunen reißt
der in empörter Eile das Fenster wieder auf, blickt den Strom
hinunter, zischelt dem Wirt etwas zu und stürzt hinaus - noch im
Abdrehen mustert er Sophia mit wütendem Vorwurf. Der Wirt ruft
einigen Kellnern etwas zu, worauf diese hinter Siebeck
herlaufen.
Sophia kann nicht anders, sie muß
annehmen, daß der heitere Abend beendet ist. Sie hat jetzt keine
Lust, ihr LieblingsDessert aufzuessen. Da man sie so eilig
verlassen hat, verläßt auch sie mit blickloser Eile das Restaurant,
strebt dem engen Niedergang zu, stößt sich empfindlich; doch sie
beißt die Zähne zusammen und steigt hinauf zur Garderobe. Die alte
Garderobiere, die ihr den Mantel reicht, hat nicht nur Nähzeug, sie
hat auch Pflaster bereit, und mit klammen Fingern klebt sie Sophia
ein Pflaster aufs Jochbein. Auf der federnden Brücke bleibt Sophia
stehen und sieht auf den Strom hinab: dort laufen sie am Ufer
entlang, rufen, scheinen die treibende Flasche entdeckt zu
haben.
Nach kurzer Unschlüssigkeit
überquert Sophia die Straße und schlendert, immer zögernder, an
Schaufenstern vorbei, an einem naßglänzenden Denkmal. Sie hebt ihr
Gesicht in den Regen auf. Sie bleibt stehen. Sie muß sich an einem
Scherengitter anlehnen. Ist Ihnen schlecht, fragt eine
vorübergehende Frau, und Sophia winkt ab: Es geht schon, danke, es
geht schon wieder. Und dann hört sie die Laufschritte aus dem
Schatten, und sie strebt eilig in Richtung zum Hauptbahnhof. Sie
flieht vor den Schritten, ohne auf die Straße zu achten. Sie hört
ihren Namen, dringlich, einmal und noch einmal, und jetzt bleibt
sie erschöpft stehen und läßt Siebeck herankommen. Er hält die
Feder in der Hand; und ohne Sophia um Erlaubnis zu bitten, legt er
die Feder in ihre Handtasche, hakt sie ein und zieht sie mit sich.
Natürlich hat er ihr sowohl etwas zu erklären als auch
vorzuschlagen. In zwei Stunden etwa, wenn der größte Betrieb
abgeflaut sei, erwarte sie sein Freund, der Wirt des schwimmenden
Restaurants. Zuvor aber - er deutete auf die Kellerkneipe - könnte
man hier miteinander sprechen, im »Letzten Anker«.
Und nun haben sie miteinander
gesprochen, und es gilt lediglich Zeit zu überbrücken bis zur
vereinbarten Verabredung. Sophia hat den Vorschlag gehört, einen
allzu naheliegenden Vorschlag, und sie hat erkannt, was der Besitz
der Feder bedeutet. Sie wird sie endgültig vernichten müssen. Ein
Streichholz genügt.
Dieter Klimke schwieg, und Gregor
und ich blickten zu den Spielautomaten hinüber: die Frau zündete
gerade ein Streichholz an, tauchte die Federspitze in die Flamme,
und das leichte Graue krümmte sich in einer Stichflamme und
verkohlte unter kurzem Prasseln; den Rest der Feder warf sie in den
Aschenbecher. Wollte sie gehen? Sie machte einen Versuch, sich zu
erheben, alle Glieder für diese einzige Handlung zu mobilisieren,
doch es glückte nicht nach Wunsch, und offenbar um sich für die
Enttäuschung zu entschädigen, bestellte sie sich noch einen
Doppelstöckigen und schickte eine geringschätzige Handbewegung
hinterher. Auch Gregor bestellte uns einen Doppelstöckigen und für
Klimke einen heißen Tee mit Zitrone. Die Bestellung bestand nur aus
einem kurzen Zuruf, denn Gregor kam und kam nicht von dem
ungleichen Paar aus der Ecke los - vermutlich erwog er da
Beziehungen, überprüfte mögliche Konflikte, suchte wohl überhaupt
nach Bestätigungen für Klimkes Erzählung, und plötzlich entschied
er: Nichts, ich sehe nichts, was ihre phantastische Auslegung
rechtfertigt. Jedenfalls, die Schmerzlichkeit der Frau rührt nicht
daher, daß sie zuviel erfahren hat. Jetzt bist du wieder auf deinem
alten Trampelpfad, sagte ich. Weil dir das Phantastische nicht
liegt, hat es für dich keine Beweiskraft. Gregor blickte ärgerlich
vor sich hin, warf eine Kippe in den Aschenbecher, daß es stäubte.
Gut, sagte er und wandte sich an Klimke, dann erklären Sie mir mal,
was Sie mit dieser Geschichte meinten, kurz, in einem Satz, den ich
auch auf meine Erfahrungen anwenden kann. Auf die Erfahrung der
Schwerkraft, fügte ich hinzu. Klimke hob bedauernd die Schultern,
er schien sich zu entschuldigen für die Ratlosigkeit, die er bei
Gregor hervorgerufen hatte, und in redlicher Verlegenheit sagte er:
Ich bin überzeugt davon, daß man die Realität nur aufdecken kann
mit Hilfe des Phantastischen. Und was ich mit meiner Geschichte
beweisen wollte... nur dies: wir brauchen Mauern, jeder von uns.
Aber das alles, sagte Gregor, kann doch nur einen Wert haben, wenn
es für meine lausige Realität gilt. Ich gehe ja davon aus, sagte
Klimke, daß die Realität nicht gründlicher identifiziert werden
kann als durch eine Beweisführung im Phantastischen. Aber wir haben
nichts gewonnen, sagte Gregor, und mit einem Blick zu den
Spielautomaten: Was wir vorgelegt haben - drei Entwürfe; was wir
gewonnen haben - drei Wahrheiten, die zu nichts verpflichten. Wir
können hier sitzen und erzählen, solange wir wollen: Dies Paar da
drüben wird seine eigene Geschichte behalten, und dieser werden wir
uns nie nähern, auch mit geduldiger Erfindung nicht.
Darauf kommt es ja nicht an,
sagte Klimke, was wir versuchen - mit Hilfe der Phantasie die
begrenzten Muster zu finden, in denen sich Wirklichkeit erschöpft.
Erfahrungssätze, die für uns alle verbindlich sind. Aber das, sagte
Gregor, kann man doch erst feststellen, wenn man die andere Seite
gehört hat. Ich meine: Erfindung muß in jedem Fall durch Realität
beglaubigt werden. Was wir jetzt einfach brauchen, ist die
wirkliche Geschichte dieser beiden, denn sie ist ja bisher nicht
erzählt. Klimke lächelte, und dann rieb er sich die Hände und
sagte: Ich wette, daß etwas aus unseren Geschichten auch auf die
beiden zutrifft - eine Stimmung, eine Hoffnung oder eine
Erfahrung,
Los, mein Alter, sagte Gregor zu
mir, geh rüber und nimm ihnen die Beichte ab. Klopf mal auf den
Busch. Das müssen wir wohl schon gemeinsam tun, sagte ich. Nein,
sagte Klimke, zu dritt, das wirkt einschüchternd, eine Bedrohung.
Sie sollten es wirklich allein versuchen. Sie blickten mich
aufmunternd und dringlich an, solange, bis mir nichts anderes
übrigblieb, als aufzustehen und hinüberzugehen zu dem Burschen, von
dem ich bereits ein dreifaches Bild hatte. Er warf eine Münze in
den Automaten, gewann, ich gratulierte ihm. Danke, sagte er, das
macht den Kohl nicht fett, insgesamt hab ich verloren. Vermutlich
nahm er an, daß ich mitspielen wollte, denn mit einer kurzen,
einladenden Handbewegung überließ er mir den RotaMint-Automaten.
Während ich nach einem Einstieg suchte, kam er mir mit einer Frage
zuvor; leise, zu unserem Tisch hinnickend, wollte er wissen, ob das
Schwergewicht mit dem Nikolausbart zufällig Gregor Bromm sei, der
Schriftsteller. Ja, sagte ich, das ist er, und der Bursche darauf:
Bromm ist mein Mann, der hat wirklich was los, und sein Roman »Haut
auf dem Markt« hat mir sehr gefallen. Ich nickte, druckste, wollte
ansetzen und wagte es nicht; doch immerhin fragte ich ihn, ob der
»Letzte Anker« seine Stammkneipe sei. Der Bursche schüttelte den
Kopf. Stammkneipe? Er sei zufällig hier hereingeschneit. Allein,
fragte ich und er darauf: Allein, natürlich. Aber die Dame, sagte
ich; doch ich vollendete nicht den Satz vor seinem verengten
mißtrauischen Blick. Die Dame, sagte er langsam, ich habe sie hier
kennengelernt, dagegen haben Sie doch nichts, oder? Was wollen Sie
eigentlich von uns? Ich entschuldigte mich, ging wohl etwas zu
schnell an un seren Tisch zurück, kippte Gregors Glas und sagte in
ihr aufforderndes Schweigen: Sie haben sich gerade kennengelernt,
hier. Einen Augenblick sahen sie mich verblüfft an, und dann sagte
Klimke: Na, und? Ich fühle mich keineswegs widerlegt. In der
Möglichkeit haben wir recht behalten, und darauf kommt es ja wohl
an - für uns.
1974