Harran
Eine Hand für einen Gott
Diane Duane

Wie können Kurzlebige helfen?
Seht sie euch an!
Sie sind Müßiggänger und Krüppel,
kraftlos wie Träume.
Gekettet ist die ganze Menschheit;
Und aller Augen sind getrübt …
Die Schreie veranlaßten Harran, zögernd aufzublicken. Er war gerade dabei, ein Mittel für den Stiefsohn Raik, der einen schlimmen Kater hatte, in dem alten steinernen Mörser zu Pulver zu zerstoßen. Raik plagte sich auf die Füße und schaute mit aschgrauem Gesicht zum Tor der Stiefsohnkaserne. »Neue Arbeit für den Feldscher«, brummte Harran. »So wie es sich anhört, etwas Schlimmeres als dein Brummschädel.«
»Shal!« sagte Raik betroffen. »Harran, das ist Shal …«
»War zu erwarten, daß der verdammte Narr, unvorsichtig, wie er ist, einmal in die Mangel geraten würde.« Er fügte einen Schuß Kornbranntwein zu dem Pulver im Mörser und griff wieder nach dem Stößel.
»Harran, du verfluchter Hunde …«
»Vor ein paar Sekunden war dir noch alles egal, einschließlich dein Gefährte«, stellte Harran fest. »Jetzt weißt du zumindest, wo er ist … Mriga!«
In einer düsteren Ecke der primitiven Steinhütte saß jemand auf dem festgestampften Lehmboden und schlug zwei Steine gegeneinander – und zermalmte auf diese Weise einen dritten in gleichmäßigem Rhythmus zu Pulver. Das kleine Fenster ließ nur einen staubflimmernden Streifen Sonnenschein ein, der jedoch dieses Bündel aus dünnen Armen und Beinen und Lumpen nicht erreichte, das unermüdlich mit den Steinen schlug und nicht auf Harran achtete.
»Mriga!« rief Harran aufs neue.
Poch-poch-poch.
Ein weiterer Schrei zerriß die Luft ziemlich in der Nähe. Ein anderer Laut antwortete ihm unter Harrans Arbeitstisch, vor seinen Füßen: das Winseln eines Hundes und das dumpfe Schlagen seines Schwanzes auf den Boden.
Harran rümpfte verärgert die Nase und schob den Mörser zur Seite. »Egal was man hier anfängt«, klagte er und achtete darauf, nicht in Raiks wild aufgerissene Augen zu blicken, »man kann es einfach nicht zu Ende bringen, weil immer etwas dazwischenkommt! Mriga!«
Diesmal erklang ein Grunzen aus dem Lumpenbündel, obgleich nicht als Erwiderung auf irgend etwas, das Harran sagte – nur ein merkwürdiger Laut der Befriedigung, vermutlich über den gleichmäßigen Rhythmus des Steingehämmers.
Harran bückte sich und langte nach Mrigas Händen. Sie zuckten und verkrampften sich, wie immer, wenn jemand sie bei irgendeiner Tätigkeit unterbrach. »Nicht mehr, Mriga. Jetzt Messer. Messer!«
Die Hände zuckten weiter. »Messer!« sagte Harran lauter und schüttelte sie ein bißchen. »Komm schon! Messer …«
»Mrr«, erwiderte sie. Verständlicher brachte sie das Wort nie hervor. Unter dem glanzlosen, zerzausten Lockenhaar, aus dem stumpfsinnigen, aber freundlichen Gesicht blickten flüchtig leere, doch lebhafte Augen zu Harran empor. Auch wenn es Mriga an Verstand fehlte, Gefühle kannte sie. Mriga liebte Messer mehr als alles andere.
»Gutes Mädchen«, lobte Harran und zog sie an einem Arm hoch. Er rüttelte sie, um sich ihrer Aufmerksamkeit zu versichern. »Das lange Messer, jetzt. Das lange. Scharf!«
»Ghh«, antwortete Mriga und watschelte durch die Hütte zu Harrans Wetzstein. Den verärgerten Raik bemerkte sie überhaupt nicht, obwohl er sie fast getreten hätte, wäre Harrans warnender Blick nicht gewesen. »Vashankas blitzende Eier«, fluchte Raik mit einer Stimme, die seinen Zorn verriet. »Warum schleifst du dein verdammtes Messer erst jetzt?!«
Harran räumte seine Kräuter und Gerätschaften vom Tisch. »Der Koch hat es sich gestern abend ›geborgt‹, um seinen Braten zu tranchieren.« Harran bückte sich, schürte das Feuer zu und legte den Kohlenhaken zurück. »Und er hat damit nicht bloß das Fleisch geschnitten, mit dem ihr euch den Bauch vollgeschlagen habt, er hat damit auch noch durch den Knochen gesägt, um ans Mark heranzukommen, statt ihn einfach aufzuhacken. Dachte, so gäbe es weniger Splitter.« Harran spuckte vor Raiks Füße und verfehlte sie mit unverschämter Genauigkeit. »Hat die Schneide ruiniert, der Idiot! Keiner von euch versteht was von gutem Stahl, keiner …«
Ein neuer Schrei schrillte fast unmittelbar vor der Tür, aber er war schwächer als die bisherigen, was wohl an Shals Zustand liegen mochte. »Bringt ihn herein«, befahl Harran. Und sie kamen: Der schlanke blonde Lafen und der Riese Yuriden zerrten Shal, der schlaff wie ein Mehlsack zwischen ihnen hing, mehr, als daß sie ihn stützten.
Die beiden unverletzten Stiefsöhne hoben Shal vorsichtig auf den Tisch. Raik versuchte ihnen zu helfen, aber er stand ihnen dabei bloß im Weg. Die Rechte des Verwundeten war mit einem Streifen von Lafens rotem Umhang abgeschnürt, trotzdem tropfte noch Blut aus dem vollgesaugten Verband auf den Boden. Unter dem Tisch wurde neuerliches Winseln und Schwanzschlagen laut.
»Hinaus, Tyr!« befahl Harran. Die Hündin rannte aus der Stube. Über das Schleifen des Wetzsteins hinweg sagte Harran zu den Stiefsöhnen: »Haltet ihn fest.«
Er holte ein feines Messer aus seiner Tasche, schnitt den blutgetränkten Knoten der behelfsmäßigen Aderpresse auf, löste behutsam den klebrigen Stoff und betrachtete Shals grauenvoll zugerichteten Unterarm.
»Was ist passiert?« fragte Raik mit Entsetzen in der Stimme.
»An der Brücke über den Schimmelfohlenfluß«, murmelte Yuriden. Blut, das ihm in die Wangen stieg, machte sein ohnehin dunkles Gesicht noch dunkler. »Diese verdammten Vobfs, mögen sie alle …«
»Das ist nicht von einem Schwerthieb«, stellte Harran fest. Er schob die schmale Klinge in das, was von Shals Handgelenk übrig war, und hob eine durchtrennte Ader.
Speiche und Elle waren unmittelbar über dem Gelenk zerschmettert und ragten aus der Wunde. Die Splitter kleinerer Knochen stachen durch die Haut. Die Gelenkkapsel sah aus wie eine zertretene Frucht, und das irisierende Schimmern der durchtrennten und zerquetschten Sehnen war stellenweise mit Mark und Blut überzogen. Die Schlagader hing lose heraus, war jedoch von geronnenem Blut verstopft.
»So etwas brächte ein Schwert gar nicht fertig. Ein Wagen hat ihn überrollt, während er besoffen im Rinnstein lag, nicht wahr, Yuri?«
»Harran, du verdammter …«
»Halt’s Maul, Yuri!« brüllte Raik. »Harran, was wirst du tun?«
Der Feldscher wandte sich von dem ächzenden Mann am Tisch ab und blickte den von Wut und Entsetzen geschüttelten Raik an. »Idiot«, sagte er. »Sieh dir doch die Hand an!« Raik beugte sich vor. Die Finger waren wie Krallen gekrümmt, die beschädigten Sehnen gestatteten keine andere Haltung. »Was glaubst du, was ich tun werde? Mriga …«
»Aber es ist seine Schwerthand …«
»Schön«, brummte Harran. »Wenn du willst, flick ich sie zusammen. Du erklärst es ihm dann aber, wenn der Wundbrand einsetzt und er qualvoll stirbt.«
Raik stöhnte einen Protest, nicht weniger bitter als Shals Schreie. Harran kümmerte sich nicht darum. »Mriga!« rief er aufs neue, dann ging er zum Wetzstein. »Genug! Es ist scharf genug!«
Der Wetzstein drehte sich weiter. Sanft stieß Harran Mrigas Füße von den Pedalen. Sie setzten ihr Treten auf dem Fußboden fort. Das Messer mußte er ihr behutsam entwinden, dann wischte er die schmutzige Ölschicht an der Schneide ab. Es war nun wahrhaftig scharf, man hätte damit ein Haar spalten können, nicht, daß er das für diese Arbeit müßte. Aber alte Gewohnheiten steckten in Fleisch und Blut …
Die drei am Tisch hielten Shal fest, Raik nahm Shals Gesicht zwischen die Hände. Harran beugte sich kurz darüber und blickte auf die schmerzverzerrten und vom Schock bleichen Züge. Auf gewisse Weise wirkte es traurig. Shal war nicht besser als die anderen Stiefsöhne, die jetzt hier stationiert waren, aber er war der tapferste. Immer trat er seinen Dienst fröhlich an und kam des Abends müde zurückgeritten, doch bereit, seine Pflicht auch am nächsten Tag freudig zu tun. Wie bedauerlich, daß er verstümmelt werden mußte …
Aber Mitleid gehört zu seinen anderen alten Gewohnheiten. »Shal«, sagte er, »du weißt, was ich tun muß.«
»Neiiiiiiiiin!!!«
Harran hielt inne – schließlich schüttelte er den Kopf. »Jetzt!« wandte er sich an die anderen. »Haltet ihn ganz fest!«
Doch der verletzte Stiefsohn wehrte sich. Yuris Griff war wohl nicht fest genug. Shal schwenkte den Arm wild um sich und bespritzte sie alle mit Blut.
»Ich habe gesagt, ihr sollt ihn halten!« fluchte Harran. Er stieß Raiks Hände von Shals Gesicht, nahm Shals Kopf in seine und schlug ihn hart auf die Tischplatte. Die Schreie, die zu hören Harran sich geweigert hatte, verstummten abrupt.
»Idioten!« brummte er. »Raik, gib mir den Schürhaken.«
Raik bückte sich über das Feuer und richtete sich wieder auf. Harran nahm ihm den Haken ab, rollte das rotglühende Eisen über das offene Fleisch und die zerfetzten Blutgefäße und achtete darauf, daß sie verschweißt wurden. Der Gestank in der Luft stieß Raik so heftig vom Tisch fort wie ein kräftiger Hieb.
Der Rest der Arbeit war ein Werk von fünf Minuten mit Nadel und Katgut. Dann kramte Harran auf dem hohen Regal zwischen den Tontöpfen und Flaschen herum.
»Da.« Er warf dem mit Übelkeit kämpfenden Raik ein Päckchen zu. »Gib das in seinen Wein, wenn er aufwacht … das kann noch eine Weile dauern. Vergeude ja nichts davon, es ist rarer als Fleisch in Freistatt. Yuri, sie teeren gerade die Parallelstraße. Lauf hinüber und bitte um ein bißchen Teer. Wenn er so weit abgekühlt ist, daß man ihn mit bloßen Fingern berühren kann, dann schmier ihn auf den Stumpf. Über die Nähte und alles.« Harran rümpfte die Nase. »Und wenn ihr ihn in der Schlafstube habt, dann zieht ihm eine frische Hose an.«
»Harran«, sagte Raik erbittert und nahm den bewußtlosen Shal in die Arme. »Du hättest es ihm leichter machen können … Du und ich werden noch ein Hühnchen miteinander rupfen, sobald es Shal gut genug geht, daß man ihn eine Weile allein lassen kann.«
»Kluger Raik. Bedroht den Feldscher, der seinem Gefährten gerade das Leben gerettet hat.« Harran wandte sich ab. »Idiot! Sei froh, wenn das Barbiermesser nicht eines Morgens ausrutscht!«
Die Stiefsöhne gingen fluchend.
Harran beschäftigte sich damit, sauberzumachen – er streute Sägemehl auf den Tisch, das Blut und Urin aufsog, und füllte Raiks Medizin in ein Steintiegelchen. Er würde es sich bestimmt noch holen, wenn nicht heute, dann morgen, nachdem er versucht hatte, im Schnaps sein Elend zu ersaufen.
Das Trampeln von Füßen lenkte Harran ab. Er drehte sich um. Mriga trat immer noch auf die Pedale eines Schleifsteins, den sie gar nicht berührte, und hielt ein Messer darüber, das sie nicht hatte. »Hör auf auf«, sagte Harran. »Komm, hör auf. Tu was anderes!«
»Ghh«, sagte Mriga so begeistert in ihre Tätigkeit vertieft, daß sie ihn nicht hörte. Harran hob sie auf die Füße und schob sie blinzelnd durch die Tür in den Sonnenschein. »Geh«, sagte er. »Geh in die Stallungen und reinige das Zaumzeug. Das Geschirr, Mriga. Das Glänzende!«
Sie stieß einen bestätigenden Laut aus und watschelte zu den Stallungen der Stiefsöhne. Harran kehrte in die Hütte zurück, um seine Arbeit zu beenden. Er wischte das Sägemehl vom Tisch, warf den Schürhaken zurück ins Feuer und hob das letzte Überbleibsel dieses unerfreulichen Vormittags aus der blutigen Schüssel, in die er es geworfen hatte: Die Hand eines tapferen Soldaten.
Ein Blitz zuckte vom Himmel.
Ich könnte es tun, dachte er. Endlich könnte ich etwas unternehmen.
Harran ließ sich blicklos auf die Bank vor dem Tisch fallen. Ein Winseln erklang an der Tür. Tyr stand dort und wedelte unsicher mit dem Schwanz. Nach einer Weile schloß sie, daß Harrans Schweigen bedeutete, sie dürfe wieder in die Stube. Vorsichtig tappte sie herein, schob die Nase unter eine Hand ihres Herrn und stupste ihn Aufmerksamkeit heischend. Er begann, sie hinter den Ohren zu kraulen, ohne sie wirklich zu sehen, ja, er sah nicht einmal die Wände der Stube. Für ihn war es sowohl gestern wie heute, und die Zukunft war voll furchterregender Möglichkeiten.
Gestern war so verschieden von heute, wie man es sich nur vorstellen konnte. Gestern war weiß und golden gewesen, eine Marmor- und Chryselephantinpracht – die Farben von Sivenis kleinem Freistätter Tempel vor der Zeit der Rankaner hier. Warum denke ich mit solcher Sehnsucht daran zurück? fragte er sich verwundert. Ich hatte da sogar noch weniger Erfolg als hier. Aber trotzdem, war er dort zu Hause gewesen. Die Gesichter waren ihm vertraut gewesen, und wenn er auch nur ein kleiner Priester war, so doch ein tüchtiger.
Tüchtig … Dieses Wort bereitete ihm selbst jetzt noch Schmerzen. Nicht, daß man sich seiner schämen mußte. Aber so oft hatte man ihm im Tempel gesagt, daß es nur zweierlei Arten gab, priesterliche Magie durchzuführen. Für eine bedurfte es keiner Anstrengung, eine instinktive Handlung, einem großen Koch gleich: eine Prise Flüstern hier, eine Zutat dort, alles mit Wissen, Erfahrung und nach Laune zusammengefügt – mühelose Handhabung des gerade zur Verfügung stehenden Materials, mit Hilfe natürlicher und übernatürlicher Sinne. Die andere Methode war die des Küchenjungen, der lernt, Koch zu werden, dem noch die Erfahrung fehlte, welche Gewürze zu welcher Speise paßten, welche Zauber die gewünschte Wirkung erzielen konnten. Der lediglich tüchtige Priester wirkte Zauber genau nach dem Buch, er wog die Zutaten sorgfältig ab, achtete darauf, die vorgeschriebenen zu nehmen und sie nicht durch andere zu ersetzen, damit nicht versehentlich ein Dämon beschworen wurde.
Sivenis Priester hatten auf diese zweite Methode verächtlich herabgeblickt; sie führte zum erwarteten Ergebnis, doch ihr fehlte die Eleganz. Harran war Eleganz völlig gleichgültig. Er war nie über die genaue Befolgung von ›Rezepten‹ hinausgekommen – tatsächlich hatte er sich bereits überlegt, daß es wahrscheinlich das Klügste für ihn wäre, sich mit den rein natürlichen Künsten Sivenis zu begnügen: denen der Chirurgie, des Heilens und der Herstellung von Heilmitteln. Als er gerade an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, hatten sich die Rankaner eingefunden, und alsbald waren viele Tempel geschlossen worden, und für Priester, außer jenen der mächtigsten Götter, war eine unsichere Zeit angebrochen. Darum hatte sich Harran auch das erstemal, seit seine Eltern ihn mit neun Jahren an Sivenis Tempel verkauften, nach einer Stellung außerhalb des Tempels umgesehen. Und er hatte die erste angenommen, die man ihm anbot, als Feldscher und Barbier der Stiefsöhne.
Die Erinnerung ließ den schmerzlichen Verlust seiner alten Stellung erneut aufflammen. Er war dabeigewesen, als Irik, der alte Meisterpriester, mit zitternden Händen das Edikt entgegengenommen hatte, das ihm Molin Fackelhalter mit dem harten Gesicht übergab, während die Reichsgardisten mit gelangweilter Feindseligkeit zugesehen hatten. Dann wurden überstürzt die heiligen Gefäße gepackt, und die weniger wertvollen in den Geheimkammern unter dem Tempel versteckt, und die Priester flüchteten ins Exil …
Gedankenversunken starrte Harran auf die blutverkrustete Hand in der Schale auf dem Tisch neben ihm, während Tyr ihm die Finger ableckte und stupsend um mehr Aufmerksamkeit bettelte. Warum haben sie das getan? Siveni ist doch nur in zweiter Linie Kriegsgöttin. Hauptsächlich war – ist – sie Göttin der Weisheit und Erleuchtung, viel mehr eine Heilerin als eine, die Leben nimmt!
Was nicht hieß, daß sie nicht auch töten konnte, wenn ihr danach war …
Harran bezweifelte, daß die Priester Vashankas und die anderen sich deshalb ernsthaft Sorgen machten. Aber aus Sicherheitsgründen hatten sie die Priester Sivenis sowie die vieler ›niedrigerer‹ Götter verbannt und den Ilsigern nur Ils und Shipri gelassen und die großen Namen des Pantheons, den selbst die Rankaner aus Angst vor einer Rebellion den Freistättern nicht zu nehmen wagten.
Harran starrte auf die abgeschnittene Hand. Er könnte es schaffen! Nie zuvor hatte er es in Erwägung gezogen – zumindest nicht ernsthaft. Eine lange Zeit schon hielt er seine gegenwärtige Stellung, weil er gebraucht wurde – als tüchtiger Barbier und Feldscher – und weil er keine unliebsame Aufmerksamkeit auf sich zog und Fragen über seine Herkunft unauffällig auswich. Er verbrannte auch nicht offen Räucherwerk, besuchte keine Tempel, fluchte weder im Namen eines rankanischen noch ilsiger Gottes und rollte die Augen, wenn seine Kunden und Patienten es taten. Sein Lieblingswort war ›Idioten‹ für die Gottesanbeter, und er machte sich offen lustig über sie. Er soff und hurte mit den Stiefsöhnen. Seine Verbitterung machte es ihm leicht, grausam zu wirken. Tatsächlich hatte er unter den Stiefsöhnen den Ruf, gefühllos zu sein. Das war ihm ganz recht so.
Und dann, vor einiger Zeit hatte es plötzlich eine Veränderung in der Stiefsohnkaserne gegeben. Mit einem Mal verschwanden all die vertrauten Gesichter, und neue, rasch rekrutierte Pseudostiefsöhne, nahmen ihren Platz ein. Daraufhin war Harran unentbehrlich geworden – erstens kannte er sich mit den Gewohnheiten der echten Stiefsöhne aus (im Gegensatz zu ihren Nachfolgern hier); und zweitens waren diese Neuen entsetzlich ungeschickt und kamen laufend mit irgendwelchen Verletzungen angerannt. Harran konnte es kaum erwarten, daß die echten Stiefsöhne zurückkamen und wieder für Ordnung in der Kaserne sorgten. Das würde ein Spaß werden!
Im Augenblick jedoch lag die Hand in der Schale auf dem Tisch. Hände hatten zwar keine Augen, aber diese da starrte ihn an.
»Vobfs«, hatte Lafen gesagt. Ein fast noch freundlicher Name, den die Stiefsöhne den Angehörigen der VFBF, der Volksfront für die Befreiung Freistatts, gegeben hatten. Zunächst waren nur vereinzelte Gerüchte über die Volksfront aufgetaucht – vage Behauptungen von einem Mord da und einem Raub dort, begangen für die gute Sache, nämlich, die Besatzer, und zwar alle, loszuwerden. Dann war die VFBF aktiver geworden und hatte zugeschlagen, wo immer sie Soldaten und Priester als Unterdrücker sah. Die Pseudostiefsöhne haßten die VFBF wie die Pest – nicht nur, weil die Partisanen mit ihren Überfällen auf sie gewöhnlich recht erfolgreich gewesen waren; sondern aus dem verständlichen Grund (der jedoch nicht an die Öffentlichkeit dringen sollte), daß die gegenwärtigen »Stiefsöhne« gebürtige Freistätter waren und sich keineswegs als Unterdrücker sahen. Tatsächlich gab es unter ihnen sogar manche, die mit der VFBF sympathisierten, ja sie heimlich unterstützten.
Oder vielmehr, es hatte welche gegeben, bis die Vobfs Säure in ihre Weinkrüge geschmuggelt, Scharfschützen auf die benachbarten Dächer postiert und Straßenbengeln beigebracht hatten, Steine auf Hände zu schleudern, die zur Essenszeit keine Waffen hielten.
Harran war Anhänger der Ziele der VFBF, obwohl er das niemanden vermuten ließ. Verdammte Rankaner, dachte er jetzt, mit ihren hochmütigen neuen Göttern, ihren plötzlich auftauchenden und verschwindenden Tempeln, und Blitzen aus heiterem Himmel. Und dann diese verfluchten Fischäugigen mit ihren Schlangen. Elende, ungebetene Muttergöttin in ihren Vögel- und Blumenpersonifikationen. O Siveni! Einen Augenblick ballte er die Fäuste, er zitterte und seine Augen brannten. Ihr Bild erfüllte ihn … Die helläugige Siveni, die Speerträgerin, die Verteidigerin, die Göttin mitternächtlicher Weisheit und tödlicher Wahrheit. Ils’ ungestüme Tochter, der er keinen Wunsch abschlagen konnte. Wildfang mit den feurigen Augen, stürmisch, schön und weise – und verloren. O meine geliebte Göttin, komm! Komm und schaff wieder Ordnung! Hol dir zurück, was rechtens dein ist …
Der Augenblick verging, und die alte Hoffnungslosigkeit machte sich wieder breit. Harran stieß den Atem aus und blickte hinunter zu Tyr, die plötzlich den Kopf unter seiner Hand gehoben hatte und zum Fenster starrte.
Ein Rabe saß dort. Harran blinzelte. Rasch grub er die Hand in das dichte Fell am Hals, um zu unterbinden, daß Tyr ihn verjagte, denn der Rabe war Sivenis Vogel: ihr alter Bote, silberweiß einst, doch vor langer Zeit von ihr, in einem Wutanfall – weil sie ihn beim Lügen ertappt hatte – zu schwarzem Gefieder verdammt. Der schwarze Vogel blickte sie mit schiefgelegtem Kopf aus einem klugen schwarzen Auge an, dann schaute er auf die Hand in der Schale und sprach.
»Jetzt!« sagte er.
Tyr knurrte.
»Nein«, flüsterte Harran. Der Rabe drehte sich um, breitete die Flügel aus und flatterte davon. Tyr entriß sich Harrans Griff, drehte sich vor Aufregung in einem engen Kreis, dann schoß sie zur Tür hinaus und über den Hof zu den Stallungen und kläffte hinter dem verschwindenden Vogel her.
Harran war so benommen, daß ihm das Denken schwerfiel. Hat er gesprochen? Oder habe ich es mir bloß eingebildet? Einen Augenblick hielt er letzteres für wahrscheinlich. Er lehnte sich gegen den Tisch, schwach plötzlich; und verärgert über seine Dummheit. Vermutlich war es einer der alten, dressierten Vögel aus Sivenis Tempel, der irgendwie überlebt hatte …
Aber ausgerechnet an meinem Fenster? In diesem Augenblick? Und ausgerechnet dieses Wort sagte er?
Und da lag noch immer die Hand …
Das Bild Iriks, des Meisterpriesters mit den lächelnden Augen, kam ihm in den Sinn. Der blonde, doch schon leicht ergrauende Irik in seinen weißen Gewändern lehnte sich mit Harran und einigen anderen über einen hellgrauen Marmortisch im Studiengemach und zog mit seinem dünnen braunen Zeigefinger eine Linie auf einer zerfransten Leinenschriftrolle nach. »Auch dieser Zauber ist alt«, sagte Irik. »Die Heimholung von Verlorenem. Ihr könnt ihn nur bei soeben Dahingeschiedenen anwenden – bei jemandem, der noch nicht länger als zwanzig Atemzüge tot ist. Er wirkt immer – aber die Ingredienzen sind solcherart, wie man sie nur selten zur Hand hat.« Die Novizen lachten. Irik liebte es, kleine Scherze zu machen. »Dieser Zauber hat noch weitere Anwendungsmöglichkeiten. Da man damit alles, was verlorenging, zurückholen kann – einschließlich Zeit, die der Tote verliert –, kann man damit ruhelosen Geistern den Frieden geben, doch gewöhnlich muß man sie erst mal zurückrufen. Und da er ebenso Zeitlosigkeit zurückzuholen vermag, die Sterbliche verlieren, kann er als Mystagogzauber eingesetzt werden, als Initiator. Doch auch hier ergibt sich das Problem der Zutaten – der Alraune, beispielsweise. Auch sind tapfere Männer nicht bereitwilliger als Feiglinge, eine gute Hand herzugeben. Der Zauber ist heutzutage hauptsächlich seines Verfahrens wegen interessant. Dieser mittlere Teil über die Knochen, ist schon allein ein Handbuch der Taxidermie. Wenn ihr Geistern die ewige Ruhe bescheren wollt, dann nehmt jedoch lieber den nächsten Zauber, der ist einfacher und ebenso wirkungsvoll …«
Die weiß-goldene Erinnerung verging wieder zu düsteren Schatten. Harran starrte auf die blutverkrustete Schale mit ihrem Inhalt.
Es müßte zu machen sein. Er brauchte allerdings auch die anderen Zutaten. Einfach wäre es allerdings nicht, die Alraune zu finden, dafür aber auch nicht allzu gefährlich. Und er benötigte diese alte Leinenschriftrolle. Er war ziemlich sicher, daß er wußte, wo sie sich befand …
Harran stand auf, stocherte im Feuer, danach goß er Wasser aus einem gesprungenen Tonkrug in einen eisernen Kessel und setzte ihn auf das Feuer. Dann griff er nach seinem Chirurgenmesser und holte die Schale.
Tyr kam in die Stube zurückgerannt. Sie blickte ihn mit ihren sanften Rehaugen an und sah die Schale. Sofort stellte sie sich auf die Hinterpfoten und tanzte und hüpfte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dabei streckte sie den Hals so weit sie konnte, um zu sehen, was in der Schale lag.
Harran mußte lachen. Er hatte sie vor zwei Jahren verwahrlost und winselnd in einer Gasse im Basar gefunden – als er noch neu in seiner Stellung war und Mitleid mit verlassenen Kreaturen hatte. Tyr hatte sich sehr gut entwickelt – sie war eine schöne Hündin geworden, mit kurzem, glänzendem Fell, schmalem Kopf, braun und grazil wie ein Reh. Aber sie war sehr dünn, das machte ihm Kummer. Der Krieg am Hexenwall und dann das Eintreffen der Beysiber hatte die Preise von Rindfleisch ebenso steigen lassen wie für alles andere auch. Die Pseudostiefsöhne fluchten über den Hafermampf, den sie dreimal in der Woche vorgesetzt bekamen, und verschlangen natürlich ihre Fleischrationen wie hungrige Wölfe – da blieben so gut wie keine Abfälle, die er hätte für Tyr zusammenkratzen können. Harran wagte es auch nicht, sie außerhalb des Kasernengeländes herumlaufen zu lassen, weil sonst die Gefahr bestand, daß sie bereits innerhalb einer Stunde in irgendeinem Kochtopf enden würde. Also fraß sie gewöhnlich die Hälfte seiner Mahlzeiten. Es machte ihm nichts aus, er hätte noch mehr für sie gegeben. Im Gegensatz zu früher, als er zu beschäftigt gewesen war, Sivenis Liebe anderen zukommen zu lassen und deshalb wenig für sich selbst gebraucht hatte, benötigte Harran jetzt alle Liebe, die er bekommen konnte …
Er beobachtete die herumtänzelnde Hündin, dabei wurde ihm der Geruch in der Stube bewußt – er war noch übler, als Shals Urin rechtfertigte. »Tyr«, sagte er und täuschte Ärger vor, »hast du vielleicht wieder einmal in den Küchenabfällen herumgebuddelt?«
Sie hörte zu tänzeln auf … dann setzte sie sich ganz, ganz langsam und legte kummervoll die Ohren an. Sie hörte jedoch nicht auf, die Schale anzustarren.
Harran blickte sie bekümmert an. »Na gut«, sagte er schließlich. »Ich brauche sowieso nur die Knochen. Aber bloß dieses eine Mal, hörst du?«
Tyr sprang hoch und tänzelte wieder erfreut um ihn herum.
Harran trat an die Kommode und löste die Knochen mit neun oder zehn sicheren Schnitten aus und hob das erste Fleischstück für Tyr hoch. »Komm, Süße. Setzen! Schnapp!«
O meine Lady, dachte er, dein Diener hört. Bewaffne dich. Nimm deinen Speer. Bald wirst du nicht mehr umherirren müssen. Ich werde dich zurückholen …
Danach beschäftigten die Vorbereitungen Harran eine gute Weile. Er traf sie so unauffällig wie möglich. Warum sollte er die Stiefsöhne darauf stoßen, was er beabsichtigte, oder Raik einen Grund geben, ihn im Auge zu behalten – Raik, der nun bei jeder Begegnung nach ihm spuckte und ihm drohte, sich ›ihn vorzunehmen‹, sobald es Shal besser ging. Harran achtete nicht auf ihn. Die Vobfs wurden immer aktiver und sorgten dafür, daß Harran genug einzurenken, zusammenzustückeln und zu verbinden hatte. Und zwischendurch, wenn ihm langweilig wurde, blieb immer noch Mriga.
Genau wie Tyr hatte er sie herrenlos aufgefunden. Sie war ein klumpfüßiges Bettelkind gewesen, das halb verhungert auf einem Abfallhaufen in Abwind gesessen und stumpfsinnig ein Stück Metall an einem Pflasterstein gewetzt hatte. Ohne lange zu überlegen, hatte Harran sie zu sich genommen. Er wußte nicht so recht, was er mit ihr tun sollte, aber es stellte sich heraus, daß es keine schlechte Entscheidung gewesen war. Sie hatte jetzt zwar offenbar keinen Verstand – falls sie je einen gehabt hatte –, aber sie war recht geschickt mit den Händen. Sie führte jede Arbeit so lange aus, bis sie davon abgehalten wurde. Selbst im Schlaf bewegten sich ihre ruhelosen Hände unentwegt. Nie mußte man ihr etwas öfter als einmal zeigen. Besonders gut konnte sie mit Klingen umgehen. Die Stiefsöhne brachten ihre Schwerter zum Schärfen zu ihr, alle, ohne Ausnahme. Und Tyr himmelte sie an – daraus ließ sich allerhand schließen, denn die Hündin mochte nicht jeden. Dadurch, daß Mriga lahm und häßlich war, würde sie ihm wohl nicht so leicht jemand ausspannen, und auch daß sie von selbst ging, war nicht anzunehmen. Und daß sie nicht sprechen konnte, nun, erachtete man eine stumme Frau nicht als Wunder?
Da Harran nicht genug Geld hatte, sich häufig eine Dirne zu leisten, bot Mrigas Anwesenheit auch noch andere Vorteile. Er hatte seine Bedürfnisse, die zu befriedigen er – mit einer Art inneren Taubheit – Mriga benutzte. In bestimmten Stimmungen war ihm durchaus bewußt, daß es unschön war, was er da immer und immer wieder tat, und er zweifelte auch nicht, daß er eines Tages dafür würde bezahlen müssen. Doch damit brauchte er sich nicht jetzt zu befassen. Die Strafe dafür war genau wie die Ewigkeit weit entfernt von der unerfreulichen Gegenwart hier in Freistatt. Und ein Mann, den es juckte, mußte sich kratzen. Harran kratzte sich bei diesem Jucken, wann immer ihm danach war, und den Rest seiner Zeit verbrachte er mit der Behandlung der Stiefsöhne und seiner Arbeit an dem Zauber.
Er hätte die Hand gern ein paar Tage in ein Kästchen mit Zahnflügelkäfern gelegt – diese fleißigen kleinen Scheusale hätten die Knochen auch von den allerletzten Fleischresten befreit und obendrein das Mark gefressen. Aber Zahnflügelkäfer und saubere Tempelwerkräume waren wie vieles andere nun unerreichbar für ihn. Harran mußte sich damit zufriedengeben, die Knochen eine Woche in einen Behälter mit Ätzkalk zu legen und dann einen Nachmittag lang in Naphta, um den Gestank und das Mark loszuwerden. Tyr kläffte und tanzte aufgeregt um Harran herum, während er vorsichtig mit dem Topf hantierte. »Das ist nichts für dich, Süße«, sagte er abwesend. Er fischte die Fingerknöchelchen heraus und legte sie zum Abkühlen auf einen alten gesprungenen Teller. »Du würdest daran ganz sicher ersticken. Geh weg.«
Tyr schaute noch einen Augenblick hoffnungsvoll hoch, aber nichts tat sich, und dann sah sie eine Ratte über den Hof huschen und stürzte hinaus, um sie zu fangen.
Die Alraunwurzel zu finden erwies sich als keine einfache Sache. Die wirkungsvollste Art wuchs auf dem Grab eines Bösewichts, der gehängt worden war. Nun mangelte es Freistatt zwar keineswegs an Bösewichten, das Problem war, daß sie sich lebend leichter erkennen ließen als tot und begraben. So besuchte Harran seinen alten Kameraden Grian im Leichenhaus und erkundigte sich beiläufig nach den letzten Gehenkten.
»Ah, du brauchst Leichen«, sagte Grian mit mildem Abscheu. Er steckte bis zu den Ellbogen in der Brusthöhle einer Wasserleiche. »Wir wissen schon nicht mehr, wohin damit. Und die shalpaverfluchten Meuchler brüsten sich auch noch mit ihren Untaten. Schau dir diesen armen Burschen an. Ein paar Steine an die Füße und in den Schimmelfohlenfluß mit ihm! Hat der Halunke, der ihn hineingeworfen hat, denn nicht gewußt, daß drei, vier Pflastersteine ihn nicht unten halten, wenn die Verwesung einsetzt, Blasen hochsteigen und er anschwillt? Man könnte meinen, sie wollten, daß die Leiche gefunden wird. Es sind diese verdammten Vobfs, ganz bestimmt. Öffentliches Ärgernis, sag’ ich. Die Stadt sollte was gegen sie unternehmen.«
Harran nickte und kämpfte gegen seinen rebellierenden Magen an. Grian hatte den Sivenipriestern für den Anatomieunterricht so manche in finsteren Gassen aufgefundene Leichen beschafft, damals, in der weiß-goldenen Zeit – er war höchstwahrscheinlich der einzige in Freistatt, der wußte, was Harran gewesen war, ehe er sich als Barbier verdingen mußte.
Grian machte eine Pause und nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinkrug, den Harran für ihn aus dem Vorratslager der Stiefsöhne ›besorgt‹ hatte. »Stickig heute hier drin«, murmelte er. Er strich sich über die Stirn und fächerte mit der Hand vor dem Gesicht.
Harran nickte. Er hielt den Atem an in der Hoffnung, der Gestank würde an ihm vorüberziehen. ›Stickig‹ war für die Leichenhalle mittags an einem windstillen Tag sehr milde ausgedrückt. Grian gönnte sich noch einen Schluck, dann stellte er den Krug zufrieden zwischen die gespreizten Beine des Toten und griff nach einem Messer. »Mit Eisen hat man ihn nicht abgemurkst.« Dann blickte er auf den Wein. »Paß auf, daß man dich nicht erwischt.«
»Ich bin vorsichtig«, antwortete Harran, ohne einzuatmen.
»Wenn du eine schöne frische Leiche willst«, sagte Grian und beugte sich näher, »dann versuch’s doch auf dem Grundstück, drüben bei der alten Abwinder Totengrube, neben den unbewohnten Häusern. Hab’ in der vergangenen Nacht erst ein paar hingeschafft. Ich bring’ jetzt sämtliche Halunken dorthin, alle Gehenkten, seit vierzehn Tagen schon. Der alte Totenacker ist überfüllt. Die verdammten Fischäugigen ›säubern‹ die Stadt für ihre feinen Damen.«
Die beiden letzten Worte hätten nicht abfälliger klingen können. Grian war zwar Leichensezierer und gelegentlich Totengräber, aber er war »altmodisch erzogen« und fand es unschicklich, wenn Frauen, ob nun fischäugige oder andere, am hellichten Tag oberhalb der Taille mit nichts anderem bedeckt waren als mit Farbe. Seiner Ansicht nach gab es für eine solche Entblößung passendere Orte.
»Na, dann versuch’s mal«, riet Grian. Er zog eine Lunge wie ein getränkter, stinkender Schwamm heraus, verzog das Gesicht und warf sie in den Eimer auf dem Boden. »Nimm eine Schaufel mit. Aber tief graben mußt du nicht. Wir hatten es eilig, alle unterzubringen, und so liegt keiner tiefer als zwei Fuß, gerade genug, daß der Gestank nicht durchdringt. He, sieh dir mal das an …«
Harran entschuldigte sich hastig damit, daß er es eilig habe, und ergriff die Flucht.
In der Stunde vor Mitternacht schlich er durch die Finsternis der trostlosen Abwinderstraße. Er war mit Messer und Kurzschwert bewaffnet und (vermutlich zur Verblüffung eines möglichen Meuchlers) einer kleinen Pflanzenschaufel; es stellte sich heraus, daß er nur letztere brauchte. Grian hatte sich getäuscht, was den Gestank anbelangte.
Die Stunde vor Mitternacht! Ein gleichzeitiger Schlag auf die Gongs des Ilstempels, diente Harran als Signal. Er machte sich an die Arbeit. Auf Händen und Knien kroch er über den unebenen Boden, der so holprig war wie eine Decke mit vielen unfreiwillig darunter Schlafenden, und tastete in dem Boden suchend nach der kleinen Wurzel herum, die er brauchte.
In einer Ecke des Grabackers fand er endlich eine. Aus Angst, sie in der Dunkelheit zu verlieren (kein Licht durfte auch nur die Umgebung der Wurzel berühren), setzte er sich daneben und wartete. Ein Wind kam auf, es schlug Mitternacht, und schon erblühte die flüchtige Blume der Alraunwurzel so weiß wie das nach oben gedrehte Auge eines Toten. Sie strömte einen süßen Duft aus – und welkte. Harran fing zu graben an.
Wie lange er so in dem gräßlichen Gestank und der Kälte kniete, mit einem Seidentuch vor die Augen gebunden, und an der widerspenstigen Wurzel zerrte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Ihn interessierte die Zeit auch nicht mehr, als er etwas sich nähern hörte – ein Rascheln von Seide, die nicht seine war. Dem Wispern der Seide folgte das Flüstern des Windes, der sich um ihn senkte und verstummte.
Harran durfte die Augenbinde nicht abnehmen, wollte er nicht sterben, denn kein Sterblicher ertrug es, die unbeschädigte Alraunwurzel zu sehen. Diese Tatsache beruhigte ihn, denn falls ihn jemand jetzt überfiel, würde er es nicht überleben. Trotzdem rann Harran kalter Schweiß in Strömen über den Rücken, während er mit der kleinen scharfen Schaufel auf die Wurzel hackte, bis er sie endlich durchtrennt hatte. Die Alraune schrie – es war ein so schrecklicher Schrei, daß der Wind, der sich um ihn geduckt hatte, panikerfüllt aufsprang und kurz zwischen den Gräbern umherirrte, ehe er wieder Deckung fand. Und Harran fror noch stärker als zuvor.
Er riß sich die Binde von den Augen, starrte um sich und sah zweierlei: die zuckende, sich windende Wurzel, die wie ein winziger Mensch aussah; und die vermummte Gestalt ganz in Schwarz, die ein Stück von ihm entfernt stand. Letztere blickte ihn aus der Schwärze ihrer Kapuze lange an, und Harran verstand, was selbst den kalten Nachtwind so erschreckt hatte, daß er sich verkroch.
Die schwarze Gestalt hob bleiche Arme aus den weich fallenden Falten ihres Umhangs und schlug die Kapuze zurück. Sie blickte ihn an – die schwarzen Augen eine Spur schräg in dem schönen ernsten Gesicht, das von rabenschwarzem Haar umschmeichelt wurde –, dann zog sie die Kapuze wieder über den Kopf. Er starb nicht von dem Blick – also stimmten wohl nicht alle Gerüchte über sie –, aber Harran war nicht sicher, ob das an sich ein gutes Zeichen war. Er kannte Ischades Ruf, hatte sie jedoch noch nie zuvor selbst gesehen. Seine Freunde im Leichenhaus hatten oft genug mit ihren Opfern zu tun gehabt.
Neuer kalter Schweiß rann ihm über den Rücken. Sein ganzes Leben lang hatte er nie etwas so Bedrohliches gesehen. Tempus in seiner Wut oder Vashanka, der die Stadt mit Blitzen bestrafte, war nicht so gefährlich wie sie.
Anmutig legte sie den Kopf schief und sagte: »Habt keine Angst.« Und das mit ruhiger Stimme, aus der leiser Spott schwang. »Ihr seid wahrhaftig nicht mein Typ. Doch tapfer seid Ihr, daß Ihr zu dieser Stunde hier grabt, mit eigenen Händen, statt Euch die Wurzel von einem Hund herauszerren zu lassen. Mutig – oder verzweifelt. Oder sehr, sehr töricht.«
Harran schluckte. »Letzteres, Madam«, sagte er schließlich. »Ganz ohne Zweifel, weil ich Worte mit Euch wechsle. Und was die Wurzel betrifft – auch in dieser Hinsicht. Aber durch einen Hund gegraben, ist sie nicht ein Drittel so wirkungsvoll. Natürlich könnte ich mich an einen Kräuterhändler wenden oder einen Zauberer, auch sie wären imstande, mir eine von Menschenhand ausgegrabene Alraune zu besorgen. Aber wer weiß, wann ich sie dann bekommen würde? Und der Preis – ob nun in Gold oder sonst einer Währung –, für die Gefahr würde auf jeden Fall bezahlt werden müssen.«
Sie musterte ihn kurz, dann lachte sie sanft. »Ein Mann, der etwas davon versteht!« stellte sie fest. »Aber dieses – Mittel – wird für ganz bestimmte Zwecke angewandt. In dieser Zeit und an diesem Ort nur für dreierlei. Für männliches Unvermögen gibt es billigere – nicht, daß Eure gegenwärtige Bettgefährtin es überhaupt bemerken würde. Und Töten ist mit Gift einfacher. Der dritte Zweck …«
Sie hielt inne, um zu sehen, was er tun würde. Für einen Augenblick unfähig, vernünftig zu denken, riß Harran die Alraune hoch, und seine Hand verkrampfte sich um sie. Das Schlimmste, was sie ihm antun könnte, wäre ihn zu töten, das wurde ihm plötzlich klar. Oder ihn nicht zu töten. Er ließ die Alraune in seinen Beutel fallen und wischte sich die Hände ab. »Madam«, sagte er. »Ich habe keine Angst, daß Ihr sie mir wegnehmt. Ihr mögt eine Diebin sein, doch so primitiver Mittel braucht Ihr Euch nicht zu bedienen.«
»Hütet Euch!« flüsterte Ischade, und immer noch schwang sanfter Spott aus ihrer Stimme.
»Madam, das tue ich«, versicherte er ihr und zitterte ein wenig. »Ich weiß, daß Ihr nicht viel von Priestern haltet und daß Ihr über Eure Vorrechte wacht – ganz Freistatt erinnert sich an jene Nacht …«(1) Er schluckte. »Aber ich habe nicht vor, Tote zu wecken. Nicht tote Menschen.«
Die Belustigung in ihren Mandelaugen verschwand von Moment zu Moment mehr. »Ein Sophist! Wen habt Ihr dann vor wiederzubeleben, Meister Sophist?«
»Madam«, entgegnete er rasch, denn die Luft wurde wieder totenstill. »Die Götter von Freistatt wurden getäuscht! Hereingelegt wie ein blinder Bettler im Basar. Und zwar sind ihre dummen sterblichen Anhänger daran schuld! Sie haben sie dazu gebracht, zu glauben, daß das, was Menschen tun, Einfluß auf die Macht der Götter hat! Unter Schwellen vergrabene Leichen; Halsketten in Glocken gegossen oder dem Metall für Schwerter zugefügt; eine geopferte Kuh oder stinkende Gedärme … Das ist alles Unsinn! Doch die ilsiger Götter sitzen deshalb schmachtend in ihrer Anderwelt und halten sich für machtlos, während die rankanischen Götter umherstolzieren, mit Blitzen um sich werfen und alles mögliche zerstören und heimlich bedauernswerten, sterblichen Maiden Kinder machen – und sich einbilden, daß ihnen die Welt gehört. Aber da täuschen sie sich!«
Wieder blinzelte Ischade, einmal nur, aber unübersehbar.
Harran schluckte und fuhr fort. »Die ilsiger Götter haben angefangen, an Zeit zu glauben, Lady. Die Verehrung ihrer sterblichen Anhänger hat sie daran gebunden. Opfer des Mittags, Weihrauch am Abend, Zehntod einmal im Jahr, alle Feste, die ihnen zu Ehren in regelmäßigen Abständen stattfinden, alles Planmäßige – ja, all das hat sie gebunden. Götter mögen die Ewigkeit erschaffen haben, Sterbliche aber machten Kalender und Uhren und banden kleine Stücke der Ewigkeit an sich. Sterbliche haben die Götter gebunden – rankanische und ilsiger gleichermaßen. Aber Sterbliche können sie auch befreien.« Er holte tief Atem. »Wenn sie ihre Zeitlosigkeit verloren haben, kann dieser Zauber sie ihnen zurückbringen. Zumindest einer Gottheit, die danach das Tor für die andern zu öffnen vermag. Und wenn die ilsiger Götter erst frei von unserer Welt sind …«
»Werden sie die rankanischen Götter vertreiben und die beysibische Göttin ebenfalls und ihren richtigen Platz wieder einnehmen?« Ischade lächelte mit kühlem Spott – doch hinter ihm steckte Interesse. »Eine gewaltige Aufgabe für einen Sterblichen! Selbst für einen, der so mächtiges Zauberwerkzeug führt wie das Brenneisen und die Knochensäge. Doch eine Frage, Harran: Warum?«
Harran hielt inne. Eine vage Vorstellung von Ils, der Savankala zertrampelt, von Shipri, die Sabellias Herz herausreißt, und seine eigene Befriedigung darüber, waren alles, was er hatte. Das heißt, außer dem Bild der jungfräulichen Siveni, kriegerisch, ungestüm und über Rivalen triumphierend, die sich nach dem Sieg in ihrem wiederhergestellten Tempel den friedlichen Wissenschaften widmete …
Ischade lächelte und zog die Kapuze übers Haar. »Schon gut«, sagte sie. Die Belustigung in ihrer Stimme war noch gewachsen – wahrscheinlich, wie Harran vermutete, über den Mann, der nicht wußte, was er wollte, was vermutlich sein Tod sein würde. Nichts verwirrt große Alchimie und Zauber so sehr wie unklare Beweggründe. »Schon gut«, sagte Ischade erneut. »Sollte Euch Euer Vorhaben gelingen, wird es hier zu vergnüglichen Zeiten kommen. Es würde mir Spaß machen, den Vorgang zu beobachten. Und wenn es Euch nicht gelingt …« Sie zuckte ganz leicht die schmalen Schultern. »Nun, dann weiß ich zumindest, wo gute Alraune zu finden ist. Gute Nacht, Meister Barbier. Und viel Glück – wenn es so etwas gibt.«
Dann war sie verschwunden. Der Wind erhob sich wieder und verzog sich wimmernd …
Über die größeren Zauber hatte einer der älteren Priester einst warnend zu Harran gesagt: »Es entgeht nichts ihrer Aufmerksamkeit!« Die Aufmerksamkeit, die ihm dunkle Augen auf dem Grabacker gewidmet hatten, beunruhigte Harran sehr. Er kehrte in jener Nacht zitternd zurück, nicht nur vor Kälte. Er jagte Tyr aus seinem Bett und zog Mriga hinein – und benutzte sie mit etwas mehr als seiner üblichen groben Geschicklichkeit. Diesmal war es nicht bloß ein Kratzen auf juckender Haut. Hoffnungslos suchte er nach mehr – nach einem Funken von Gefühl, nach wenigstens einer schwachen Erwiderung des Drucks seiner Arme um sie. Doch selbst die unfähigste Abwinder Hure hätte ihren Zweck hundertmal besser erfüllt, als dieses geistlose, fügsame Fleisch, das ruhig unter ihm lag oder ruckartig und unbewußt die Gliedmaßen um ihn schlang. Danach jagte Harran auch sie aus dem Bett. Mriga kroch zur Feuerstelle und kuschelte sich in die Asche, während er sich ruhelos im Bett wälzte. In der Asche oder in schwelender Glut hätte er auch nicht weniger Schlaf finden können.
Ischade … Aus ihrem Interesse konnte nichts Gutes kommen. Wer mochte schon wissen, ob sie nicht zu ihrer Belustigung jemandem – Molin Fackelhalter beispielsweise – die Information verkaufte, daß ein einsamer, wehrloser Mann beabsichtigte, in wenigen Tagen eine der alten ilsiger Göttinnen zurückzuholen? »O Siveni …«, flüsterte Harran. Er würde rasch handeln müssen, ehe etwas ihn daran hinderte!
Heute nacht!
Nein, nicht heute nacht, dachte er, denn ein ungutes Gefühl ließ ihn zaudern. In der Selbsterforschung des Priesters fragte er sich nach dem Grund. War es nur der ihm längst vertraute Abscheu, der ihn jedesmal beschlich, wenn er an die alte Ruine in der Tempelallee dachte? Oder war es etwas anderes?
– Ein Schatten am Rand seines geistigen Blickfelds, das Gefühl, daß irgend etwas schiefgehen würde? Daß jemand ihn die ganze Zeit beobachtete?
Raik?
Um so dringender, es noch heute nacht zu tun! Er war sicher, daß er Raik in die Kaserne hatte torkeln sehen – gewiß um seinen Rausch auszuschlafen. Harran hatte beabsichtigt gehabt, sich zweimal in den Tempel zu begeben: einmal, um sich die alte Leinenschriftrolle zu holen, und dann, nachdem er sie studiert hatte, um das Ritual durchzuführen.
Ein paar Sekunden verschob Harran es noch, wieder in die Kälte hinauszuschleichen. Seit jenem Tag vor fünf Jahren, als die Rankaner Irik den Erlaß ausgehändigt hatten, war er nicht mehr in Sivenis Tempel gewesen. Solange wollte ich nichts mehr mit Tempeln zu tun haben! Und jetzt in einen – in ihren – zu gehen … Will ich wahrhaftig diese alte Wunde wieder aufreißen?
Er blickte auf die magere, zuckende Gestalt in der Asche und grübelte. »Jeder Tempel braucht einen Schwachkopf«, hatte der alte Meisterpriester einst scherzend zu Harran gesagt. Harran hatte gelacht und ihm zugestimmt. Er hatte sich gerade mitten in einer Lektion befunden, die er nicht zu meistern vermochte, und gedacht, daß er als Schwachkopf genügen würde, selbst für zwölf Tempel. Jetzt – im Exil – fragte sich Harran flüchtig, ob er vielleicht in Gedanken immer noch in einem Tempel lebte und ob er die arme Schwachsinnige aufgenommen hatte, weil sie so sehr der armen Irren glich, die in Sivenis Tempel herumlungerten – zu jener Zeit, als dort noch Weisheit und Heilung und etwas zu essen zu bekommen waren. Weisheit und Heilung waren ihm nicht in großem Maß gegeben. Und Mriga beschwerte sich nie über das Essen. Oder über sonst etwas …
Er fluchte leise, stand auf und kleidete sich an. In dem Kästchen, das er unter die Kommode geschoben hatte, befanden sich die Knochen der Hand: In der richtigen Gebärde mit Draht zusammengefügt und den Ring aus Eisen an den richtigen Finger gesteckt. Daneben die Alraune, hastig mit Seiden- und Metallfäden gebunden und mit einer versilberten Stahlnadel durch den ›Körper‹, damit sie nichts anrichten konnte. Sowohl Haarnadel wie Ring stammten von einer zweitklassigen Hure, die Yuri vor kurzem zur Kaserne gebracht hatte. Harran, der als letzter an der Reihe gewesen war und sich leichte Sorgen gemacht hatte, daß der Dirne möglicherweise auffallen würde, wenn ihre Dinge ›verschwanden‹, hatte ihr ›zuvorkommenderweise‹ einen Becher mit Schlafmittel versehenem Wein spendiert. Dann vergnügte er sich mit ihr, bis das Mittel wirkte, und eignete sich Ring und Nadel an. Doch ehe er ging ließ er ein paar Münzen für sie zurück – an einer Stelle, wo sie nur ihr auffallen würden.
So hatte er nun alles – oder fast. Er hob das Kästchen auf, trat zur Ecke, wo der Tisch stand, und steckte sich noch ein paar Dinge ein: eine Flasche, einen kleinen Beutel mit Weizenkörnern, einen zweiten mit Salz und einen Brocken Erdpech. Dann sah er sich rasch noch einmal um. Mriga lag schnarchend in der Asche. Tyr hatte sich unter dem Bett zusammengerollt, auch sie schnarchte, doch etwas höher als Mriga. Harran knüllte die Decken so zusammen und zog sie über das Kopfkissen, daß es aussah, als läge er darunter. Dann warf er sich seinen alten schwarzen Umhang um und schlich zu den Pferdeställen. An der Ecke des dritten in der Reihe gab es eine Möglichkeit, über die Mauer zu gelangen. Die Schindeln hoch, dann mit einer Hand an der Regenrinne festklammern und Halt für die Füße an den alten Ziegeln finden, die stellenweise ein Stück aus der Wand ragten. Und auf der Mauerkrone angekommen, mußte er auf der anderen Seite hinunterspringen. Ehe er sich zu diesem ziemlich tiefen Sprung wappnete, schaute Harran zurück – und bemerkte, die kaum wahrnehmbare Gestalt, die reglos an der Kasernentür stand.
Harran erstarrte. Die Nacht war mondlos, die Fackeln an der Tür auf ein schwelendes Blau hinuntergebrannt. Es war nichts zu sehen, nur das schwache Blitzen von Augen, als dieses Licht flüchtig seitwärts auf sie fiel, während die schattenhafte Gestalt tiefer in die Dunkelheit eindrang und verschwand.
Harran sprang und hielt nur kurz an, um seinen Atem wiederzufinden. Dann rannte er. Wenn er den Tempel rechtzeitig erreichte, um tun zu können, was er beabsichtigte, brauchte er auch eine große Zahl von Verfolgern nicht zu fürchten. Die Rankaner im ganzen Reich – und die Beysiber ebenfalls – würden vor dem fliehen, was erschien.
Wenn ihm die Zeit reichte …
Der Tempel von Siveni Grauaugen war der vorletzte am jetzt heruntergekommenen Südende der Tempelallee. Früher hatte dieser Tempel sehr geachtete Nachbarn gehabt: den Tempel und die Priester von Anen Weingesicht, dem Erntegott und Hüter der Reben und des Getreides; und auf der anderen Seite Tempel und Priester von Anens Gefährtin, Dene Schwarzgewand, der düsteren Herrin des Schlafes und des Todes. Zwischen Anens poliertem Sandstein und Denes dunklem Granit hatte sich Sivenis Tempel in seinem Weiß und Gold erhoben. Es war eine gute Anordnung der Tempel gewesen; Arbeit und Wein und Schlaf. Und Sivenis Tempel, wie es sich für eine Göttin des Handwerks schickte, hatte auf das Gildenviertel geblickt. Geschäftsleute schlossen einst ihre Handel auf der breiten Freitreppe; sie entrichteten ein oder zwei Münzen, um sich ihres Glücks zu versichern, und brachten Sivenis Raben Kuchen mit. Dann begaben sie sich nebenan, zu Anen, um die Geschäfte mit einem Trankopfer zu besiegeln. Mit einem bescheidenen gewöhnlich, denn Anens Wein war zu gut, ihn auf den Boden zu schütten.
Doch diese Zeit war vorbei. Anens Tempel stand dunkel, von einem einsamen roten Licht über dem Altar abgesehen; die jährliche Pfründe seiner Priester war auf so gut wie nichts geschrumpft; und seine alten Anhänger, die wußten, daß dieser Gott nicht mehr in Gnade stand, vergossen ihre Trankopfer anderswo. Und der Tempel Denes – die die Rankaner vermutlich für zu beschaulich (oder unwichtig) hielten, sich näher um sie zu kümmern – war abgerissen worden, und nun stritten sich Kaufleute und Handwerker um das freie Grundstück.
Und Sivenis Tempel … Harran stand auf der anderen Straßenseite in der Dunkelheit des verschlossenen Eingangs eines Geschäfts. Am liebsten hätte er geweint. Die schönen weißen Säulen verschmiert, die hellen Marmorstufen der Freitreppe gebrochen, fleckig und voll Abfall … Bedächtig blies ein kalter Wind durch die Tempelallee zu Ils’ Heiligtum, das nicht deutlicher zu sehen war als der Mond hinter den Wolken. Daneben streckte sich Savankalas, des neuen, rankanischen Gottes Tempel dem Himmel entgegen, und gleich daneben der eines anderen rankanisches Gottes – beides große, häßlich anzusehende Bauten, und heute so dunkel wie Ils’. Niemand hielt sich auf der Straße auf. Die Stunde der Andacht war längst vorüber.
Harran verhielt sich noch lange ganz still in dem Eingang, denn er vermochte sich des Gefühls nicht zu erwehren, daß jemand ihm gefolgt war. Die Gongs des Ilstempels schlugen die dritte Stunde nach Mitternacht. Im Wind zitterte ihr Klang, den er die Allee entlang zum Statthalterpalast und den Landhäusern dahinter trug, wie Harrans Herz. Etwas hörte sich wie das Klatschen einer sturmgepeitschten Fahne an. Harran zuckte zusammen und schaute sich hastig um. Doch nichts war zu sehen, außer schattenhaft ein großer Vogel, dem der Gegenwind sichtlich zu schaffen machte, bis er sich schließlich auf der hohen Kuppel von Sivenis Tempel niederließ und zu einem weiteren Schatten unter jenen der Skulpturen dort oben wurde. Ein schwarzer Vogel war es, größer als eine Krähe …
Harran schluckte, wappnete sich, schaute die Straße auf und ab, ehe er zur andern Seite eilte. Die Gewalt des Windes, als er die Mitte der Allee erreichte, war unheildrohend. Wenn es eine Nacht gab, in der man besser im Bett bleiben sollte, dann diese …
Er hastete die Treppe hinauf, auf der er oft in Beschaulichkeit gestanden hatte, dabei stolperte er so manches Mal über ein Steinstück, das sich gelöst hatte, oder über einen Riß, den es an der Stelle nicht gegeben hatte, als er noch ein Knabe und Jüngling war. An der Säulenhalle angekommen, blieb er kurz stehen, um Luft zu holen und den Weg zurückzublicken, den er gekommen war. Nichts rührte sich, die Straße war leer …
Doch aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr, nicht auf der Straße, sondern nebenan auf dem furchigen Grundstück, das alles war, was von Denes Tempel übrig war. Harran tastete nach dem langen Dolch unter seinem Umhang.
Die hellen Steine von Sivenis Freitreppe spiegelten sich in einem Augenpaar. Blinzelnd starrte Harran auf die größte Ratte, die er je in Freistatt oder sonstwo gesehen hatte. Sie war mindestens von der Größe eines Hundes. Er erschauderte bei dem Gedanken, daß Tyr mit ihr zu tun bekäme. Als fühlte sie Harrans Angst, drehte die Ratte sich um und kehrte auf das leere Grundstück zurück, um dort ihren nächtlichen Streifzug fortzusetzen. Andere Schatten, nicht kleiner, regten sich ungerührt zwischen den Säulen des Portikus.
Harran schluckte und dachte an sein Vorhaben. Wenn ich das Gefühl habe, daß ich verfolgt werde, sollte ich mit dem Zauber beginnen und gleich den äußeren Kreis ziehen. Sobald er geschlossen ist, kann niemand mehr hindurch. Er stellte Kästchen und Flasche ab und kramte nach dem Brocken Erdpech. Sorgfältig zog er den Kreis um die große offene Fläche vor den Säulen, die alle Spuren von Vorschlaghämmern aufwiesen. Der Versuch, sie zu zerstören, war natürlich vergebens geblieben – man konnte schließlich erwarten, daß ein Tempel, von den Priestern der Göttin erbaut, die die Baukunst erfunden hatte, von Dauer sein würde –, aber sein Herz verkrampfte sich, als er diese Narben sah. Rund um den Portikus, so, wie er es gelernt hatte – genau vierhundertundachtzig Schritte – plagte sich Harran vornüber gebeugt mit schmerzendem Rücken. Immer wieder verzogen sich bei seinem Näherkommen huschend dunkle Schatten. Er widmete ihnen keinen Blick. Als er zurück in Treppenmitte war und den Knoten zeichnete, der den Kreis verschloß, fühlte sein Rücken sich wie ein Eisenbarren an, auf den Schmiede hämmerten. Aber er hatte jetzt ein größeres Gefühl von Sicherheit. Er hob sein Kästchen wieder auf und trat ins Innere.
Die große Tür innerhalb des Portikus war schon lange von innen verriegelt und zugesperrt. Doch dieser Riegel hielt keinen auf, der Siveni über das Noviziat hinaus gedient hatte. Harran fuhr die Raben-und-Olivenbaum-Schnitzerei knapp unter Augenhöhe nach, bis er den vierten Raben nach dem zweiten Baum, der keine Früchte trug, gefunden hatte, und drückte auf das Auge dieses Vogels. Der Kopf des Raben kippte nach innen und ermöglichte es so, den kleinen Hebel zu erreichen, der die Priestertür öffnete. Er ließ sich zwar schwer bewegen, weil er lange nicht mehr benutzt worden war, aber schließlich schwang die Tür gerade so weit auf, daß Harran hindurchschlüpfen konnte. Behutsam schloß er sie hinter sich wieder.
Harran hob die Blenden der mitgebrachten Laterne und leuchtete um sich. Und da begann er wirklich zu weinen. Das Standbild war verschwunden, vor dem er sich so viele Male am Tag voll Zuneigung verbeugt hatte – nachdem ihm gelungen war, die unsterbliche Schönheit hinter dem steinernen Idol zu sehen; Sivenis große Statue, die sie als Verteidigerin darstellte, den Helm auf dem Kopf, in der einen Hand ihren Speer, der ganze Bataillone zu vernichten vermochte, und auf der anderen ihren Raben; dieses große Kunstwerk, an dem Rahen, der begnadete Bildhauer, fünf Jahre gearbeitet hatte, um es aus Marmor zu hauen und mit Gold und Elfenbein zu verzieren – und nachdem er damit fertig war, hatte er seinen Meißel niedergelegt und gesagt, er wisse, wann er seines Lebens Meisterwerk geschaffen habe, und er würde nie wieder Stein hauen … Dieses Kunstwerk war nicht mehr. Harran hätte es verstehen können, wenn Plünderer das Gold und Elfenbein entfernt und die Edelsteine aus dem mächtigen Schild gebrochen hätten. Genau wie jeder andere Freistätter wußte er, daß nichts sicher war, nicht einmal etwas Göttliches. Doch nie hätte er gedacht, daß ihm diese Tatsache so brutal vor Augen treten könnte. Der Sockel, auf dem die Statue gestanden hatte, war leer, wenn man von ein paar kleineren Brocken und Splittern des zerschmetterten Marmors absah … doch selbst solche Bruchstücke waren noch beeindruckend. Da lag ein pyramidenförmiges Stück, ein Eckteil des Sockels; dort eine lange, schmale Scherbe, an einem Ende glatt und leicht gerillt, am andern scharf abgebrochen – eine Feder von einem ausgestreckten Rabenflügel … Harran tobte innerlich vor Wut. Wo hatten sie … Warum … Eine ganze Statue, eine Statue von dreißig Fuß! Gestohlen, vernichtet, verloren.
Er wischte die Tränen aus den Augen, setzte die Laterne ab, warf den Umhang auf den staubigen Marmor und hob sein Kästchen auf. Einen weiteren Kreis mußte er für den eigentlichen Zauber ziehen. Falls sein Rücken noch schmerzte, spürte er es zumindest jetzt nicht. Rund um den leeren Sockel verstrich er das Erdpech. Diesmal zählte er die Schritte nicht. Er mußte gegen die bittere Wut ankämpfen, zumindest so weit, daß ihm die Worte nicht entfielen, die er immer wieder zu denken hatte, damit er die bald befreiten Kräfte innerhalb des Kreises festhalten konnte. Es war wahrhaftig nicht leicht, sowohl gegen seine Wut anzukommen, wie auch gegen die entstehende Macht des Kreiszaubers. Als er endlich auch diesen zweiten Kreis geschlossen und die Enden verknüpft hatte, keuchte er wie jemand nach einem langen Lauf. Er mußte sich kurz ausruhen und stand vornübergebeugt, die Hände an den Schenkeln wie ein erschöpfter Wettläufer.
Sobald er es vermochte, richtete er sich auf, denn es stand ihm eine weit größere Anstrengung bevor, so einfach dieser Zauber auch sein mochte. Doch zuerst brauchte er die Schriftrolle. Er brach und versiegelte den Kreis nach Vorschrift und machte sich daran, sie zu holen.
Normalerweise hätte man einem Jungpriester nicht eingeweiht, wo sich ein unterirdischer Geheimraum befand, doch in der Eile, mit der Sivenis Priesterschaft den Tempel verlassen mußte, waren so manche Geheimnisse durchgesickert. Harran war eingeteilt worden, dem alten Irik zu helfen, die weniger wichtigen Schriften zu verstecken, wie alte medizinische, baukünstlerische und magische Lehrbücher. »Vielleicht brauchen wir sie in besseren Zeiten wieder«, hatte Irik zu Harran gesagt. In dem Augenblick hatte er die Arme voll Pergamente, die Nase voll Staub und den Kopf voll Angst gehabt, und die Worte hatten ihm nichts bedeutet. Doch nun segnete Harran ihn für seine weise Voraussicht, während er hinter den Sockel trat, auf die richtigen Marmorfliesen in der richtigen Reihenfolge stieg und sah, wie eine Steinplatte nahe der hinteren Wand sich langsam in die Dunkelheit senkte.
Die Treppe war schmal und steil und hatte kein Geländer. Unten angekommen, hob Harran die Laterne und kramte herum, und immer wieder reizte der Staub ihn zum Niesen. Pergamente, Schriftrollen und Wachstafeln waren überall gestapelt. Harran machte sich sofort über die Schriftrollen her. Immer wieder öffnete er neue und rollte sie niesend in einer Staubwolke auf, doch er fand nichts als Abschriften von der Tempelbuchhaltung für den dritten oder sonst einen Monat dieses oder jenen Jahres; oder irgendeine langweilige philosophische Abhandlung; oder ein Rezept zur Herstellung eines wirkungsvollen Mittels gegen Wechselfieber (Ochsenfett vermischt mit Senf und zerstoßenen Rotkäferpanzern, dreimal täglich auf die Brust aufzutragen). So ging es weiter, bis seine Augen sich gegen das schlechte Licht auflehnten und tränten, und er nicht mehr aufnahm, was er las, weil er sich Sorgen um die rasch vergehende Zeit machte. Die Nacht neigte sich dem Morgen entgegen, und der Zauber mußte vor dem Morgengrauen, dem Künder eines neuen Anfangs, ausgeführt werden. Und wenn er die Schriftrolle nicht bald fand …
Er blinzelte und las die Worte erneut. Das war nicht schwierig, sie waren sorgfältig in einer altilsiger hieratischen Schrift gemalt. … des Verlorenen. Es ist ein unfehlbarer Zauber zum Wiederfinden von Verlorenem, Verirrtem und Gestohlenem. Für ihn benötigt man als erstes die Hand eines tapferen, lebenden Mannes, sie muß von dem Ausführenden des Zaubers geopfert werden; ebenso benötigt man eine Alraunwurzel, in einer mond- und sternenlosen Nacht ausgegraben und nach bekannter Vorschrift behandelt, auch sie muß als Opfer dargebracht werden; weiterhin benötigt man eine kleine Menge Salz, Weizenkörner und Wein, und ein Messer für Blut, um Jene-von-Unten zu besänftigen; und letztendlich jene Mittel, mit denen der Kreis für den Zauber zu ziehen ist.
Zunächst ist die Alraunwurzel auszugraben …
Harran stolperte in der Dunkelheit und dem Staub auf die Füße und nieste heftig. Er rannte die Stufen hoch, zurück zum Kreis, öffnete den Knoten, um sich einzulassen und versiegelte ihn hinter sich wieder. Er setzte sich auf den leeren Sockel mitten zwischen den Trümmerstücken und begann zu lesen. Es war alles, wie er sich erinnerte, einschließlich einer Abbildung des Diagramms, das er innerhalb des Kreises zeichnen mußte; und der Spruch, den er sagen mußte, war teils in einem sehr alten Ilsig, teils in der jetzt in Freistatt üblichen Alltagssprache. Einfache Worte, aber wehe der Macht in ihnen! Harrans Herz begann zu hämmern.
Etwas stöhnte, und Harran zuckte zusammen – bis ihm bewußt wurde, daß es nur der Wind war, so stark jetzt, daß er selbst durch die dicken Steinwände des Tempels zu hören war. Gut, dachte er. Er griff wieder nach dem Stück Erdpech und stand auf. Soll es doch stürmen! Sollen sie doch denken, daß sich etwas tun wird. Denn so ist es!
Er machte sich an die Arbeit. Das Diagramm war komplex, offenbar das Bild eines geometrischen Körpers, doch eines, dessen Anzahl von Seiten sich bei jedem Zählen änderte. Das fertige Diagramm weckte eine merkwürdige Unsicherheit in ihm, die wuchs, als Harran begann, die erforderlichen Runen und Worte in die Winkel des Musters zu zeichnen. Danach kam das Salz, das er mit dem üblichen Reinigungsvers in die Haupthimmelsrichtungen warf: und die Weizenkörner – zwei an den ersten Punkt, vier an den nächsten, acht an den übernächsten und so weiter bei allen sieben. Harran lachte leise, benommen vor Aufregung. Über dieses Symbol des Überflusses hatten die Lernpriester sich immer amüsiert; für ein Muster mit vierundsechzig Punkten hätte man die Getreidespeicher der ganzen Welt leeren müssen. Nun blieben nur noch der Wein, das Messer, die Alraune, die Hand …
Der Wind jaulte durch die Säulen des Portikus wie ein Hund, der Einlaß begehrte. Harran fröstelte. Es ist kalt, dachte er, dann schluckte er wieder und widerrief den Gedanken, während der Durchführung eines Zaubers zu lügen, mochte sich als tödlich erweisen. Er trat in die Mitte des Diagramms und spürte beim Überschreiten kleine, unangenehme Stöße der Macht. Außer seinen waren heute nacht Kräfte am Werk, die seiner Beschwörung übernatürliche Macht verliehen.
Um so besser, dachte er. Er öffnete die Weinflasche und stellte sie neben den Mittelpunkt, dann steckte er die Rechte in eine seiner Taschen, und die Alraune in die andere. In der Linken hielt er die Schriftrolle so, daß er die richtige Stelle vor den Augen hatte. Mit der Rechten zog er nun das Messer.
Es war sein bestes, das Mriga am liebsten hatte. Er hatte es ihr am Nachmittag zum Schleifen gegeben und es ihr lange nicht abgenommen. Jetzt fing seine Schneide das schwache Laternenlicht mit einem Glitzern, so lebendig wie ein Auge. Er hob es zum Gruß an die vier Richtungen und ihre Hüter über und unter der Erde, dann blickte er gen Norden und begann den ersten Teil des Zaubers zu sprechen.
Sofort setzte Widerstand ein. Es wurde zur Anstrengung, die Worte aus der Kehle zu stoßen, seine Zunge fühlte sich bleiern an. Trotzdem sprach Harran die Worte, allerdings kamen sie immer langsamer. Aber mitten im Zauber anzuhalten, konnte sich so tödlich wie Lügen erweisen. Der Wind draußen hob sich zu einem Kreischen, das seine Stimme übertönte. Jedes Wort kostete ihn unvorstellbare Mühe, und zwischen den einzelnen holte er rasselnd Luft. Nie hätte Harran gedacht, daß fünfzig Wörter, ein paar Sätze, zu sprechen, wie eine Ewigkeit erscheinen konnte. Doch genauso war es jetzt. Zehn Worte blieben noch. Jedes erschien ihm nun so lang wie ein Gesetzbuch und so schwer wie Stein. Beim fünften stammelte er, und draußen schrillte der Wind, als stieße ein Wahnsinniger einen Triumphschrei aus. In schrecklicher Furcht würgte er zwei Wörter rasch hinaus, eines nach dem andern. Das vorletzte kam langsamer, so mühsam, als reiche man einen Felsbrocken weiter. Und das letzte hörte sich an, als nähme das Leben Abschied von ihm, und es drückte ihn zu Boden.
Als er fiel, drang blendendes Licht durch die hohen schmalen Fenster. Ein Blitz zerriß den Himmel, und der Donner, der ihm folgte, rüttelte die Dächer von Freistatt – und brach das wenige unversehrte Glas der Tempelfenster, daß es in scharfen Splittern auf den Boden prasselte. Stille setzte wieder ein. Harran lag auf dem Gesicht, er spürte Marmor und Erdpech auf seiner Zunge, roch Ozon und hörte das Klirren der letzten Splitter des Glashagels.
Ich glaube, es wirkt …
Harran hob sich auf die Knie und tastete mit bebenden Fingern um sich, bis er das Messer fand, das ihm entglitten war. Dann holte er die Knochenhand aus der Tasche und legte sie auf den Mittelpunkt des Diagramms, mit der Handfläche nach oben. Die ausgestreckten Finger, der Zeige- und Mittelfinger, deuteten gen Norden, die anderen waren zum Handteller gekrümmt, der Daumen gen Osten gerichtet. Dann begann Harran den zweiten Teil des Zauberspruchs.
Während er las – langsam und auf die Aussprache achtend –, spürte er Augen auf sich, neugierige Augen, leicht verärgert, ein bißchen hungrig und bereit, auf etwas zu warten.
Die Zahl der Augen wuchs. Harrans Worte hörten sich nun laut wie Donnerschläge an, und sein angestrengter Atem lauter als jeder Wind. Und die Augen wurden immer mehr. Zwar konnte er sie nicht sehen. Wohl aber vermochte er sie zu spüren: eine hungrige Meute, eine feindselige Menge, die mit jedem Atemzug anschwoll und wartete und ihn beobachtete. Und als die Stille so abgrundtief wurde, daß er es nicht mehr aushielt, erklang ein Geräusch: ein schwaches Rauschen, ein Rascheln, ein Knarren und ein Keckern in der Ferne – ein Geräusch wie die Flügel und das Geschrei von Fledermäusen zu Tausenden, zu Millionen, eine finstere Schar, die in der Luft hing und blutgierig harrte.
Statt ihn noch mehr zu erschrecken, beruhigte dieses Geräusch Harran jedoch, denn er erkannte, was es bedeutete: Der Zauber wirkte! Die Schatten namenloser Toten waren hierhergekommen, jener, die so lange schon tot waren, daß sie mehr denn alles andere wahrhaftig verloren waren. Ihr Gedächtnis war leer, sie wußten vom Leben nicht mehr als ein Säugling, sie erinnerten sich nur noch an Wärme, Pulsschlag, Blut. Harran schwitzte, als er nach der Weinflasche griff und zum Rand des Kreises schritt. Am nördlichsten Punkt des Musters nahm er Mrigas Lieblingsmesser und ritzte den linken Handballen auf, nicht tief, aber lang zur bestmöglichen Blutung. Es schwächte ihn, sich selbst zu schneiden, seine Knie wurden weich, und er zitterte. Aber er durfte keine Zeit vergeuden. An diesem nördlichsten Punkt und danach an allen anderen ließ er Blut auf die Weizenkörner tropfen, dann goß er Wein darüber und zog sich schließlich zum Mittelpunkt des Kreises zurück. Nunmehr rief er die Worte, die die Schatten den Rand des Kreises übertreten, doch nicht weiter vordringen ließen.
In dichten Scharen drängten sie sich um das Blut. Lider, die er nicht sehen konnte, preßten sich vor Genuß zusammen, Freudenslaute vertrieben die Stille. Sie tranken sich satt, ganz langsam – winzige Fledermausschlücke waren alles, was sie durch ihre ausgedörrten Seelenmünder zu sich zu nehmen vermochten. Zufrieden brabbelnd hingen sie noch eine Weile herum, vergaßen, weshalb sie gekommen waren, und schwanden schließlich. Sie taten Harran ein bißchen leid – diese armen zu einer dumpfen Ewigkeit vagen Hungers verdammten Toten –, aber keineswegs tat ihm leid, daß sie wieder fort waren. Sie würden den Zauber nicht mehr stören, und er konnte nun ernsthaft weitermachen.
Er hielt gerade lange genug inne, sich den kalten Schweiß aus den Augen zu wischen, dann legte er die Schriftrolle zur Seite, nahm die Alraune aus der Tasche und löste ihre Bande. Nunmehr legte er sie behutsam in die Knochenhand, und zwar so, daß der »Kopf« auf den Fingern ruhte. Wieder machte er eine Pause. Die nächste Aufgabe war schwierig, und er wünschte sich flüchtig, er hätte drei Hände. Doch es gab eine Möglichkeit, es zu schaffen. Er bückte sich und hielt sowohl Knochenhand wie Alraune mit der Stiefelspitze auf dem Boden fest, dann zog er mit der Linken die versilberte Nadel aus dem Rumpf der Alraune, mit der anderen quetschte er sein Blut auf die winzige Stichwunde in der Alraunwurzel.
Sogleich begann die Alraune zu glühen … schwach zunächst, doch schließlich immer stärker. Harran sprang rasch auf und rollte die Schrift zum letzten Teil des Zauberspruchs auf. Er war in normaler Sprache abgefaßt und so am leichtesten zu lesen, doch Harrans Herz hämmerte stärker denn je. »Bei meinem hier vergossenen Blut; bei den furchtbaren Zeichen tiefer Nacht und den mächtigen, hier dargestellten Symbolen; bei den Seelen der Toten und jenen der noch Ungeborenen …«
Es wurde warm. Im Lesen wagte Harran einen raschen Blick auf das wachsende Licht zu seinen Füßen. Die Alraune glühte in einem Farbton, den ein Sterblicher höchstens im Traum oder nach seinem Tod zu sehen vermochte. Diesen Ton ›rot‹ zu nennen, wäre eine Beleidigung des wahren Rotes gewesen. Hitze war in der Farbe, doch von einer Art, die nichts mit Flammen zu tun hatte. Dies war der ursprüngliche Ton der Leidenschaft des Herzens, des brennenden Blutes in einem Lebewesen, das von gewaltiger Wut oder ungeheurem Verlangen bewegt wird. Er war dunkel, doch haftete ihm nichts eigentlich Böses an, und er blendete. In diesem Licht vermochte Harran kaum die Schriftrolle zu sehen, von der er laut las. Die Steinwände ringsum schienen so unwirklich wie in einem Traum. Nur das Licht war wirklich und das Bild, das sich in seinem Kopf regte. Sein Herzenswunsch, jene, selbst deren Namen er sich so viele Jahre versagt hatte, und die nun so nahe war, diese so sehr ersehnte, so unendlich geliebte, weise und leidenschaftliche und schöne …
»…Bei all diesen Zeichen und Banden, vor allem aber bei deinem eigenen Namen, o Lady Siveni, rufe und beschwöre ich dich! Erscheine hier vor mir …« … in schöner
Gestalt und auf eine Weise, die mir nicht schadet, lautete der Spruch. Doch Harran wäre es nie in den Sinn gekommen, diese Worte auszusprechen. Als könnte Siveni anders denn schön sein! Oder als würde sie ihrem Priester schaden! Und dann das dreifache Gebet, während er keuchte und sich alles um ihn drehte und sein Herz in der Brust raste wie im Akt der Liebe. »Komm, o Lady der Schlachten, die zerschmettert und wieder zusammenfügt! Komm, o Erbauerin, Verteidigerin, Rächerin! Komme, komme! O komm!«
Kein Blitz folgte diesmal, kein Donnerschlag. Nur eine Erschütterung, die Harran in eine Richtung und Messer und Buch in zwei andere schleuderte – es war schmerzlos und doch so endgültig und schrecklich wie zu träumen, daß man aus dem Bett fiel. Harran lag eine Weile ganz still, er hatte Angst sich zu bewegen, dann stöhnte er und setzte sich auf. Er fragte sich, was schiefgegangen war.
»Nichts«, versicherte ihm jemand. Die Stimme ließ die Tempelwände vibrieren. Harran zitterte und preßte die Hände an den Kopf, als würde dadurch das Singen in ihm verstummen.
»Sitz nicht einfach herum, Harran«, mahnte die Stimme. »Mach weiter. Wir haben eine Aufgabe zu erledigen!«
Er rollte auf die Knie und blickte hoch.
Sie war da. Ein Schwindelgefühl erfaßte Harran, sein Herz pochte unregelmäßig. Die Augen – sie waren es, die ihm einen Schlag versetzten: im wahrsten Sinne des Wortes, mit physischer Kraft. Danach wurde ihm bewußt, daß ihn das nicht hätte verwundern müssen. Die ›Blitzäugige‹ lautete schließlich ihr Beiname. Seine ganze Vorstellungskraft kam nicht an die Wirklichkeit heran. Augen wie Blitze – klar, erbarmungslos leuchtend, scharf wie ein ins Herz gestoßener Speer –, so waren Sivenis. Sie glühten nicht, doch das brauchten sie auch nicht. Sie selbst brauchte es nicht. Sie war einfach da, so sehr da, daß alles Stoffliche neben ihr verschwommen wirkte. Eisige Angst durchzuckte Harran bei dem Gedanken, daß es vielleicht gute Gründe gab, weshalb Götter gewöhnlich nicht unter den Menschen wandelten.
Doch nicht einmal Furcht war von Dauer unter diesem silbrigen Blick, dieser gewaltigen Schönheit. Denn wahrhaftig war sie schön, und wieder kam Harrans Phantasie nicht an die Wirklichkeit heran. Es war eine strenge, unbefangene Schönheit, zu sehr mit anderem beschäftigt, als auf sich zu achten – unverkennbar das Gesicht der Schutzpatronin von Wissenschaft und Kunst. Wildheit verriet dieses Gesicht ebenso wie Weisheit, genau wie ihr prächtiges Gewand Gedankenlosigkeit und Grazie verriet – denn der grelle Unterkittel war achtlos über den Knien gerafft, und der lose Überkittel war der eines Mannes, vermutlich Ils’, gewiß der größeren Bewegungsfreiheit wegen ausgeliehen. Die Hand mit dem mächtigen Speer, auf dem sie lehnte, wirkte so grazil wie der einer Dame, aber der schlanke Arm sprach von ungeheurer Kraft. Siveni war in ihrer gegenwärtigen Erscheinung nicht größer als sterbliche Frauen. Doch während sie ihn anblickte, ihn mit diesen kühlen, furchterregenden Augen musterte, kam Harran sich unsagbar klein vor. Sie schob ihren Helm mit dem hohen Kamm ein Stück aus dem kühlen schönen Gesicht und sagte ungeduldig. »Steh endlich auf, Mensch! Vollende, was du begonnen hast, damit wir handeln können.« Siveni hob den Raben von ihrer Linken auf die Schulter.
Immer noch sehr verwirrt stand Harran auf. »Madam«, gelang es ihm zu krächzen, »ich bin fertig …«
»Das bist du keineswegs. Sie streckte den flammenden Speer aus und hob mit seiner Spitze die Schriftrolle auf. Sie nahm sie mit der freien Hand. »Stell dich nicht so dumm, Harran. Hier steht eindeutig: ›Die Hand eines tapferen, lebenden Mannes muß am Ende des Zauberspruchs von jenem, der den Zauber durchführt, geopfert werden.‹« Sie hielt ihm die Schriftrolle vor die Augen und deutete auf die Worte.
Harran blickte auf die Kreismitte, wo die Alraune in der Knochenhand noch stumpf wie eine Kohle brannte. Doch Sivenis Stimme riß seinen Blick hoch. »Nicht jene Hand, Harran!« Das klang verärgert. »Diese!«
Sie deutete auf das Messer, von dem er vergessen hatte, daß er es umklammerte – und auf die Linke, die es hielt.
Harran wurde es so kalt wie auf dem Totenacker. »O meine G …«
»Göttin?« fragte sie, als Harran sich wie üblich unterbrach. »Bedaure, aber das ist der Preis, der hier gefordert wird. Wenn das Tor, das du zu öffnen suchst, sich ganz öffnen soll – und so, wie ich noch nicht völlig hier bin, würden auch die andern es nicht sein können –, muß der Preis entrichtet werden.« Sie blickte ihn kurz an, dann sagte sie weniger hart, aber traurig. »Ich hatte eigentlich erwartet, daß meine Priester besser lesen, Harran … Du kannst doch lesen, oder?«
Er antwortete nicht sogleich. Er dachte an Freistatt, an die Rankaner und Beysiber und kurz, unvernünftigerweise, an Shal. Dann trat er zur Kreismitte und zur Hand. Die Knochen waren versengt. Der Ring aus unedlem Metall war nun eine silbrige Lache mit Bronzeschaum. Die Alraune glühte unter seinem Blick wie Kohle, auf die man geblasen hatte.
Er kniete sich nieder und hob flüchtig den Blick zu der gnadenlosen Schönheit vor ihm, dann drückte er seine Linke, bis wieder Blut auf die Alraune tropfte, so gelang es ihm, sie von der geschwärzten Knochenhand zu lösen.
In den Stunden, die folgten und die in Wahrheit nur wenige Minuten waren, bis Harran wieder aufstand, lernte er eine Menge verstehen: Shal und viele der anderen Stiefsöhne und einige der Armen und Kranken, die er behandelt hatte, als er noch im Tempel diente. Der Schmerz der Verstümmelung war nicht zu beschreiben. Es war etwas ohne äußere Farbe, wie das Brennen der Alraune; und schlimmer noch, niederschmetternder war das Entsetzen, das folgte. Als Harran aufstand, hatte er keine Linke mehr. Der brennende Schmerz des Stumpfes pochte und verging, was wahrscheinlich Siveni bewirkte. Doch das Entsetzen, das wußte er, würde nie vergehen. Jeden Tag würde es neu entfacht werden durch jene, deren Blicke jener Stelle auswichen, an der sich die Hand einst befunden hatte. Plötzlich verstand Harran, daß der Augenblick der Bezahlung nicht später kommt, nie später, sondern immer jetzt ist. Sein ganzes Leben würde er jetzt sein.
Als er wieder stand, stellte er fest, daß Siveni, genau wie sie es gesagt hatte, nun sogar mehr da war als zuvor. Er war gar nicht sicher, ob das so gut war. Nichts war so, wie es hätte sein sollen. Einige Dinge waren besonders merkwürdig. Woher kam dieses Licht, das plötzlich den Tempel füllte? Von Siveni gewiß nicht. Sie ging herum mit der unzufriedenen Miene einer Hausfrau, die heimkommt und feststellt, wie ihr Mann in ihrer Abwesenheit gewirtschaftet hat – mit dem Speer stocherte sie in Ecken und betrachtete stirnrunzelnd zerbrochenes Glas. »All das wird bald in Ordnung gebracht«, sagte sie. »Nach unserer Aufgabe. Harran, weshalb ziehst du die Brauen zusammen?«
»Lady, das Licht …«
»Überleg doch, Mensch«, sagte sie nicht unfreundlich, während sie über den Kreis trat, ihn studierte und mit der Sandale am Fuß sanft eine Scherbe ihrer Statue zur Seite stieß. »Der Zauber bringt Zeitlosigkeit ebenso wieder wie Zeit. Das Licht von gestern und von morgen ist uns beiden zugängig.«
»Aber ich …«
»Du hast den ganzen Tempel in den äußeren Kreis eingeschlossen, Harran, und du befandest und befindest dich im Tempel. Der Zauber wirkte auch auf dich. Wieso auch nicht? Er brachte meinen Körper zurück – und deine Göttlichkeit.«
Harran starrte sie an. Siveni bemerkte es und lächelte.
Sein Herz war dem Schmelzen nahe. Sie mochte zwar wild und heftig sein, aber sie war ungemein anziehend.
»Was hast du denn jetzt? Oh – Göttlichkeit? Harran, mein kleiner Priester, sie liegt in deinem Blut. Diese Welt ist nicht alt genug, als daß irgendeiner weiter als im sechsten Grad mit irgendeinem anderen blutsverwandt sein könnte. Die Götter eingeschlossen. Seid ihr Menschen in Mathematik noch nicht so weit gekommen, daß ihr das nicht bemerkt habt? Da muß ich wohl etwas unternehmen.« Sie langte mit dem Speer hoch und irgendwie, ohne daß sie größer oder ihr Speer länger wurde, schlug sie ein riesiges Spinnennetz aus einer Ecke der Tempeldecke herunter. »Du wirst also eine kurze Weile sehen wie ein Gott. Und auf die Dauer, nachdem wir diesen Zauber noch einmal durchgeführt haben …«
»Noch einmal?« rief Harran erschrocken und starrte auf seine andere Hand.
»Ja, natürlich. Um die Tür für die anderen ilsiger Götter zu öffnen. Sie ist jetzt nur ein wenig offen, lediglich für physische Erscheinungen, wie ich schon sagte, und ich bezweifle, daß sie es überhaupt bemerkt haben. Sie sind alle bei einem Festschmaus über den Inseln des Nordens, und ich würde mich nicht wundern, wenn sie sich wieder einmal mit Anens Heurigem vollaufen ließen.« Siveni rümpfte das Näschen. »Nicht einer von ihnen leistet eines ehrlichen Tages Arbeit! Aber wenn ich erst den Zauber noch einmal durchgeführt habe, wird das Tor sich ganz öffnen – und ich werde dafür sorgen, daß es hier für Götter würdig ist, wie es selbst in den alten Tagen nie war! Inzwischen …« Sie schaute sich um. »…ehe wir damit anfangen, müssen wir noch einige Besuche machen. Es wäre unklug, den Vorteil nicht zu nutzen, den wir jetzt haben.«
Harran schwieg. Es lief alles anders, als er es sich vorgestellt hatte!
»Wir gehen jetzt zu Savankalas prahlerischem Tempel und reden ein Wörtchen mit dem Angeber. Ein Tempel, größer als der meines Vaters …!« Sie klang entrüstet, aber auch voll angenehmer Erwartung, wie jemand, der sich auf einen bevorstehenden Kampf freut. »Danach werden wir Vashankas Kind umbringen, das Molin Fackelhalter großzieht. Und schließlich statten wir dieser Bey einen Besuch ab. Zwei Pantheons in einer Nacht – damit räumen wir eine Menge Schwierigkeiten aus dem Weg, die sonst sicher nicht ausgeblieben wären. Komm, Harran, wir wollen die Nacht nicht vergeuden, und das zweite Öffnen muß vor dem Morgengrauen geschehen.« Und schon eilte sie durch den kahlen Innenraum des Tempels und stieß die Flügel der riesigen Bronzetür mit dem Speer auf, daß sie sich aus den Angeln hoben.
Sie polterten mit einem Krachen die Freitreppe hinunter, das ganz Freistatt aus dem Schlaf reißen mußte, wie Harran annahm – allerdings bezweifelte er, daß jemand so verrückt sein würde, sich ins Freie zu wagen, um zu erkunden, was es verursacht hatte.
Und die unsterbliche Göttin schritt mit dem sterblichen Mann die Stufen hinunter und die Tempelallee entlang. Die Göttin ging voraus und schaute sich interessiert um; der Mann mit nur einer Hand stapfte hinter ihr her, ihn quälten entsetzliche Befürchtungen. Ohne Zweifel war Siveni alles, was er sich vorgestellt hatte, ja mehr. Und dieses ›Mehr‹ war es, was ihm zu schaffen machte. Sivenis Weisheit wurde gewöhnlich durch Mitgefühl gemildert. Aber wo war ihr Mitgefühl heute? Hatte er bei dem Zauber etwas falsch gemacht. Gewiß, Siveni war eine ungestüme Göttin, schnell entschlossen und flink, wenn sie sich etwas vornahm. Aber ich habe nicht erwartet, daß sie auf diese Weise einschreiten würde …
Harran schauderte. Auch mit ihm stimmte etwas nicht. Er konnte viel deutlicher sehen, als es zu dieser nächtlichen Stunde der Fall sein durfte. Und er fühlte sich viel zu frisch für einen, der in einem Totenacker gebuddelt, sich im Bett ausgetobt, einen Zauber durchgeführt und eine Hand verloren hatte, und das alles in einer Nacht! Gehörte diese Kraft auch zu der von Siveni erwähnten Nebenwirkung des Zaubers, zu diesem Erwachen der Göttlichkeit in ihm? Es war ein beunruhigender Gedanke. Menschen sollten keine Götter sein, denn wofür hatte man echte Götter?
Harran warf einen Blick auf Siveni und stellte fest, daß sie jetzt etwas erträglicher war. Sie schaute auf eine Weise zum Labyrinth und nach Abwind, die schließen ließ, daß sie keine Schwierigkeiten hatte, den Dingen bis auf den Grund zu sehen. »Der Zustand dieser Stadt ist erschreckend«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und blickte Harran vorwurfsvoll an.
»Wir hatten schlimme Zeiten«, verteidigte er sich. »Kriege, Invasionen …«
»Das werden wir bald beheben«, versicherte ihm Siveni. »Angefangen mit den Invasoren.« Sie blieben vor dem riesigen Savankala-Tempel stehen. Mit funkelndem Blick betrachtete Siveni ihn, dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf – die irgendwie drei Ellen und fünfzig Ellen gleichzeitig war – und schrie mit so lauter Stimme, daß sie einem Donnerschlag Konkurrenz machte: »Savankala, komm heraus!«
Die Echos wiederholten die Herausforderung in der ganzen Stadt. Siveni zog die Brauen zusammen, als sich Augenblick an Augenblick reihte und nichts sich tat. »Komm heraus, Savankala!« brüllte sie aufs neue. »Oder ich werde diesen elenden Steinhaufen um dich herum niederreißen, deine Statue zertrümmern und meinen Speer an einer bestimmten Stelle in die Statue deines geliebten Weibes stoßen!«
Eine lange, lange Stille setzte ein – gefolgt von sanftem Donnergrollen, das eher nachdenklich als drohend klang. »Siveni«, erschallte die gewaltige Stimme aus dem Tempel vor ihnen – zumindest hörte es sich so an. »Was willst du?«
»Dich zumindest in zwei von drei Durchgängen besiegen, Sonnengott«, brüllte Siveni triumphierend, als hätte sie den Wettkampf bereits gewonnen. »Und dann, daß du mit den Deinen aus der Stadt meines Vaters verschwindest!«
»Dein Vater. Ja. Und wo ist dein Vater, Siveni?«
Harran verhielt sich völlig ruhig. Er versuchte, sich klarzuwerden, was in ihm vorging. Er haßte die rankanischen Götter, aber die ungeheure, bedächtige Gewalt der Macht in Savankalas Stimme erschreckte ihn weit weniger als die wütende Herausforderung Sivenis. Auch das war ein Problem. Wie kann ich anderes als Vollkommenheit aus der Stimme einer Göttin hören? Vor fünf Minuten war sie noch ganz Schönheit, ganz Macht, unübertrefflich, Jetzt …
»Laß meinen Vater aus dem Spiel!« schrie Siveni. »Ich brauche seine Erlaubnis nicht, wenn ich mich des Donners bedienen will! Ich werde allein mit dir fertig! Mit euch allen! Denn Vashanka Großsprecher ist ohne erwachsenen Avatar! Dir fehlt ein Kriegsgott, Vater der Rankaner. Ich werde eure Tempel, einen nach dem andern zerstören, wenn du nicht kommst und dich mir und der Niederlage stellst, die dich erwartet!«
Das Schweigen mochte lange gedauert haben, doch Harran war darüber hinaus, es zu bemerken. Was ist mit meiner Lady geschehen? In alle Ewigkeit sollte sie sein, wie sie war: von ruhiger Macht! Nicht von einer so selbstherrlichen Gewalttätigkeit. Und überhaupt, warum habe ich sie eigentlich gerufen? Aus Ärger über die Rankaner und die Beysiber? Wirklich? Oder aus einem andern Grund?
Liebe? Ich …
Er wagte nicht, sich mit diesem Gedanken weiter zu beschäftigen. Doch wenn es stimmte, was sie zu ihm gesagt hatte, war er selbst im Begriff ein Gott zu werden. Einen Augenblick erfüllte ihn heftige Freude. Wenn er sie von dieser Dummheit ablenken und dazu bringen konnte, den Zauber ein zweites Mal durchzuführen, wäre es für immer.
Allein der Gedanke in alle Ewigkeit an der Seite dieser blitzenden Schönheit, dieser wilden, tollkühnen Macht sein zu dürfen …
Die Erinnerung an ein weiches Lachen und Ischades Stimme, die sanft einen Mann verspottete, der sein eigenes Herz nicht kannte, brachte Harran wieder zu Sinnen. Unbedachtheit und Ungestüm hatten ihn in dieser Nacht hierhergeführt – so, wie sie ihn damals zu den Stiefsöhnen gebracht hatten. Und Unbedachtheit bedeutete Blindheit. Obgleich sein Körper schrie bei dieser Wandlung zur Göttlichkeit, sah sein Geist nun klarer. Er hatte Ischade die Situation besser erklärt, als er wußte. Siveni, die Ungestüme, die Blitzschnelle, hatte die Zeit und ihre Bitterkeit gründlicher akzeptiert als irgendein anderer Gott. Hier in der Welt der Sterblichen, wo die Zeit am stärksten war, waren auch ihre Verbitterung und ihre Wut am größten. Hier würde sie keine Weisheit, keine Zeit, keine Liebe für ihn haben.
Und anderswo … ?
Siveni war eine jungfräuliche Göttin. Darum konnte es auch anderswo nicht anders sein.
»Komm heraus!« brüllte Siveni in Savankalas Schweigen. »Feigling von einem Gott, komm heraus und kämpfe gegen mich, sonst werde ich deinen Tempel in Schutt und Asche legen und jeden Rankaner in dieser Stadt töten! Beunruhigt dich das nicht? Bedeuten deine Anhänger dir so wenig?«
»Ich höre deine Herausforderung«, antwortete Savankala. »Verstehst du denn nicht, daß ich sie nicht annehmen kann? Das Schicksal will es, daß Auseinandersetzungen zwischen uns von Sterblichen ausgetragen werden, nicht von uns Göttern selbst. Fürchtest du dich denn nicht vor dem Schicksal – der Macht-mit-vielen-Namen, die im Dunkeln über den Häusern aller Götter thront, rankanischen, ilsigern und beysibischen gleichermaßen? Willst du dich ihr widersetzen?«
»Ja!«
»Das ist betrüblich. Du als Göttin und angeblich weise solltest wissen, daß du nicht …«
»Weisheit! Weisheit hat mir nichts gebracht!«
»Ja«, entgegnete Savankala trocken. »Das sehe ich …«
Harran war in einer seltsamen Gelassenheit gefangen, einer Klarheit, die keine Angst gestattete. Aber er wußte, daß er diese Klarheit bald opfern mußte. Und inzwischen hörten Savankala und Siveni sich wie ganz gewöhnliche Sterbliche an, die im Basar einen Streit ausfochten. Harran erkannte, daß Savankala nur darauf wartete, daß er, Harran etwas unternahm, und nur solange Zeit schinden wollte. Die Botschaft war deutlich genug gewesen: Auseinandersetzungen zwischen uns werden von Sterblichen ausgetragen …
Seine Hand, oder vielmehr ihr Verlust, hatte ihm eine gute und rasche Lehre erteilt. Kein Haß war Schmerz wert – nicht einmal der einer unbedeutenden Schnittwunde im Finger. Und ganz gewiß war Haß den Tod nicht wert. Nicht dieser Haß … nicht Sivenis.
»Dann verkriech dich in deinem Loch, alter Gott!« sagte Siveni bitter. »Es ist keine Ehre, auf diese Weise zu siegen, aber um des Sieges willen kann ich auf Ehre verzichten. Dein Tempel zuerst, dann deine geliebten Anhänger.«
Sie hob den Speer, und Blitze zuckten um seine Spitze.
»Nein!« hielt jemand hinter ihr sie zurück.
Erstaunt drehte sie sich um und starrte ihn an. Harran erwiderte ihren Blick, so fest er konnte. Er war ebenso erstaunt wie sie, daß er gesprochen hatte und daß diese wütenden grauen Augen ihn nicht an Ort und Stelle vernichteten. Weshalb starrt sie so? fragte er sich und ahnte die Antwort – während er sich gleichzeitig weigerte, daran zu denken. Je schwächer die Erinnerung an seine Fastgöttlichkeit, die er mit sich ins Leben oder in den Tod nahm, desto besser.
»Göttin«, sagte er, »du bist meine Göttin, aber ich warne dich, wenn du gegen die Menschen von Freistatt vorgehst, halte ich dich auf!«
»Womit?« brüllte sie wütend und schwang den Speer nach ihm. Harran hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Gegen den ersten Schlag hob er den verstümmelten Arm, und die Blitze wichen ihm knisternd aus und drangen in den Fußboden. Doch der zweite und dritte folgten unmittelbar, und dann prasselte ein wahrer Hagel von Schlägen auf ihn ein und durchbrach seine schwache Verteidigung. Und danach kam der Blitz, der ihn auf die Straße schmetterte – und so sehr glich er dem Tod, daß man ihn damit verwechseln konnte. Harrans letzter Gedanke war, als er versengt und geblendet zu Boden ging, welch ein Anblick sie mit dem Schwert böte. Dann verließ ihn das Bewußtsein, und seine Seele entfloh.
Irgendwo in Freistatt heulte ein Hund.
Und eine merkwürdige dunkle Gestalt, die durch die Schatten hinter dem Mann und der Göttin geschlichen war, sprang kreischend aus diesen Schatten Siveni an.
Es war der Krach auf der Straße, der Harran schließlich zur Besinnung brachte. Ein höllischer Lärm, laut genug, die Toten zu wecken, zu denen er zu gehören glaubte. Steine spalteten sich, Blitze zerrissen die Luft, wütende Schreie – und eine heisere Stimme, die er kannte. In diesem Augenblick, ehe es ihm gelang, die Lider zu heben, wurde ihm klar, wer ihm von der Stiefsohnkaserne aus hierher gefolgt, wer die dunkle Gestalt gewesen war, die, als er den Kreis um Sivenis Tempel zog, durch den Zauber in ihm festgehalten worden war – wodurch sich seine Wirkung auch auf sie erstreckt hatte.
Harran plagte sich hoch, um diese Gestalt zu sehen, deren Bild ihn für alle Zeit weibliche Gesellschaft abweisen lassen und dazu bewegen würde, überfüllte Räumlichkeiten zu meiden, wann immer es sich vor sein inneres Auge schob.
Da war die Göttin in ihrer leuchtenden Gewandung – doch diese Kleider waren nun schmutzig von ihren Stürzen auf die Straße; und da waren vier Hände um den Schaft, die um den Speer rangen. Noch ehe Harran richtig stand, gelang es der Gestalt, die mit Siveni rang, ihr den Speer zu entreißen. Sie schleuderte ihn nun die Tempelallee entlang und Blitze zuckten von ihm. Und dann warf sich Migra erneut auf Siveni, ganz dünne Arme und Beine wie immer – doch zudem mit einer furchterregenden Flinkheit und Anmut der Bewegung. Überlegung, dachte Harran fasziniert und verwirrt zugleich. Sie weiß genau, was sie tut! Und er lächelte – er sah noch einen Aspekt des Zaubers, den er hätte ahnen können, wenn er begabt und nicht nur tüchtig gewesen wäre. Der Zauber brachte unfehlbar zurück, was verloren war – selbst verlorenen Verstand.
Göttin und Sterbliche rollten ineinander verschlungen auf dem Boden, fast zu einem Körper verschmolzen. Beide leuchteten, brannten lichtlos vor Wut und Göttlichkeit. Die Göttin hatte vielleicht etwas mehr Erfahrung im Kampf, aber Mriga besaß nicht nur die Kraft der Göttlichkeit, sondern auch die des Wahnsinns. Und es mochte noch weitere Vorteile eines Lebens im Irrsinn geben. Mrigas Aufnahme der Göttlichkeit würde nicht durch Vorstellungen über Götter gehemmt sein oder über Sterbliche, die keine Götter waren. Sie nahm an Kraft, was zu ihr kam, und bediente sich ihrer ohne Überlegung. Sie setzte sie jetzt ein und hatte Siveni unter sich. Mitten im Kampf war ihr Gesicht in seine Richtung gewandt, und sie sah, daß Harran sie anblickte. Dieser Blick traf ihn wahrhaftig wie ein Blitz, aber den Schmerz, den er ihm einbrachte, hätte er gegen nichts getauscht. Mriga sah ihn. Und mit vier sparsamen Bewegungen riß sie Siveni den glänzenden Helm vom Kopf und warf ihn, so daß er klirrend die Allee entlangrollte. Dann packte sie Siveni am langen dunklen Haar und schlug ihren Kopf auf die Pflastersteine. Siveni erschlaffte.
Er hatte ihr nie etwas öfter als einmal zeigen müssen …
Gnädige Stille breitete sich auf der Straße aus. Harran setzte sich auf die Steine – mehr schaffte er im Augenblick nicht; die Taten der Nacht forderten ihren Tribut. Und nicht nur die dieser Nacht. Denn Mriga kam auf ihn zu, immer noch humpelnd wie zuvor – doch selbst diesem Hinken haftete jetzt Anmut an. Er wollte sein Gesicht verbergen, aber dazu war er immer noch zu sehr Gott.
»Harran«, sagte sie mit der sanften heiseren Stimme, die er bisher nur hatte grunzen hören.
Und Harran war auch immer noch zu sehr Mensch, als daß er gewußt hätte, was er sagen sollte.
»Ich möchte so bleiben«, erklärte sie. »Ich werde vor dem Morgengrauen mit ihr zurückkehren müssen, wenn die Wandlung erfolgen soll.«
»Aber – sie sollte doch nur zeitweilig sein …«
»Für einen gewöhnlichen Sterblichen, wahrscheinlich. Aber dazu gehöre ich nicht. Für mich wird sie von Dauer sein.« Sie lächelte ihn mit ruhiger Heiterkeit an, die Harran ins Herz schnitt, denn das war genau, was er sich von Siveni erträumt hatte. »Natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist …«
»Ich, einverstanden?« Er starrte sie an – sie, die Göttin, denn daran bestand nun kein Zweifel mehr. Von Herzschlag zu Herzschlag wurde sie göttlicher. Und sie anzusehen schmerzte seine Augen, so wie es anfangs bei Siveni der Fall gewesen war. »Wozu in aller Welt brauchst du mein Einverständnis?«
Mriga blickte ihn mit besonnener Freude an. »Du bist mein Liebster«, antwortete sie, »und mein guter Herr.«
»Gut …« Diese Ironie hätte ihm den Magen umgedreht, wäre so etwas in ihrem wachsenden Glanz möglich gewesen. »Ich habe dich benutzt …«
»Du hast mich ernährt«, erwiderte Mriga. »Du hast dich um mich gesorgt. Ich lernte dich lieben. Der Rest spielte damals keine Rolle und tut es auch jetzt nicht. Und wenn ich dich als Sterbliche liebte – warum soll ich dann als Göttin aufhören?«
»Du bist immer noch wahnsinnig!« rief Harran fast verzweifelt.
»Für jene, die die Wahrheit nicht kennen, würde es wahrscheinlich so aussehen«, entgegnete Mriga. »Aber du weißt es besser.«
»Mriga, bitte, hör mir zu! Ich nutzte dich aus, wieder und immer wieder! Ich benutzte eine Göttin …«
Sie streckte die Hand aus, ganz langsam, und berührte sein Gesicht. Dann zog sie sie zurück. »Was das betrifft«, sagte sie, »bin ich allein Richter. Nur ich kann es beurteilen. Wenn du Schlimmes getan hast – hast du dafür auch bezahlt! Würdest du es glauben, wenn ich dir sage, daß du fünf Jahre für das bezahltest, was du während dieser fünf Jahre getan hast? Oder würdest du meine Worte der Verrücktheit einer neuen Göttin zuschreiben?«
»Zeit …«, flüsterte Harran.
»Hat ein Innen und ein Außen«, erklärte Mriga. »Außen ist, wenn man liebt. Innen ist alles andere. Bitte frag mich nicht mehr.« Sie blickte zum allmählich grau werdenden Himmel. »Hilf mir mit der armen Siveni.«
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Göttin aufzusetzen. Sie war in einem beklagenswerten Zustand. Mriga bürstete sie mit um Entschuldigung heischender Miene ab. »Sie hat dir weh getan«, sagte sie. »Wenn ich nicht längst verrückt gewesen wäre, da wäre ich es bestimmt geworden.«
Nach ein paar Minuten der Fürsorge öffneten sich die grauen Augen und blickten Harran und Mriga mit schmerzvoller Bewunderung für sie beide an. Eines der feurigen Augen war nun blau umrandet, und eine Beule wuchs an der Stelle, wo die Göttin auf das Straßenpflaster gestürzt war.
»Der Nachteil der Körperlichkeit«, murmelte Siveni. »Ich möchte nicht behaupten, daß mir das gefällt.« Sie war sehr kleinlaut, als sie zu Mriga aufschaute. »So hat nicht einmal mein Vater mir Vernunft beigebracht. Ich glaube, wir werden gute Freunde sein.«
»Mehr noch«, versicherte ihr Mriga heiter. Harran dachte flüchtig an die Liebe der ›alten‹ Mriga zu scharfen Klingen, an ihre Kraft und ihre geschickten Hände – und ihre grauen Augen. Diese Augen begegneten seinen, und Mriga nickte. »Sie hat einige Eigenschaften an die Zeit verloren. Aber ich habe sie für sie in Verwahrung genommen. Sie bekommt sie von mir zurück – und wird mir ein paar andere geben. Gemeinsam werden wir gut zurechtkommen.«
Alle drei standen auf und halfen einander dabei. »Harran …«, sagte Siveni.
Er blickte auf ihr müdes Leuchten, und zum ersten Mal sah er sie, ohne daß ihm dabei seine eigenen Vorstellungen über sie im Weg waren. Sie konnte sich nicht entschuldigen, das lag ihr nicht. Sie stand bloß da wie ein liebenswerter Wildfang nach einer heftigen Balgerei. »Ist schon gut«, versicherte er ihr. »Geht heim.«
Sie lächelte. Ihr Lächeln war fast so lieb wie Mrigas.
»Das werden wir«, antwortete Mriga an ihrer Stelle. »Es gibt einen Ort, wo Götter sich erholen können. Dort werden wir sein. Aber eines bleibt noch zu tun.« Sie streckte die Hand aus und legte sie auf den mit Feuer versiegelten Stumpf. Dann beugte sie sich vor und drückte sanft die Lippen auf Harrans.
Irgendwann in der Ewigkeit, die folgte, schien ihm, als fehlte ihre Linke.
Als das Leuchten um ihn schwand, waren Mriga und Siveni fort. Er stand allein im nahenden Morgengrauen auf der Tempelallee und blickte auf die verbogenen Flügel einer Bronzetür, die mitten auf der Straße lagen. Und er fragte sich, ob es in ein paar Jahren vielleicht einen kleinen, neuen Tempel in Freistatt geben würde – einen, der für eine neue Angehörige des ilsiger Pantheons errichtet war: für eine irrsinnige, eine verstümmelte und verkrüppelte Göttin, die Messer liebte und der eine ganz besondere, verrückte Weisheit eigen war, die mit Liebe begann und endete. Eine Göttin, die im Augenblick erst zwei Anhänger hatte: ihren einsamen Priester und eine Hündin …
Staunen erfüllte Harran – da zuckte er bei einer unerwarteten Berührung zusammen. Seine Linke, die Hand, die er nicht gehabt hatte und jetzt hatte – eine Frauenhand, strich ohne sein Zutun über seine Wange.
Die Bezahlung erfolgt jetzt …
Harran verbeugte sich knapp vor Ils’ Tempel – und mit unwilligem Respekt vor Savankalas –, dann ging er heim.
Anderswo im nahenden Morgengrauen erregte ein leiser, krächzender Ruf vom Fensterbrett die Aufmerksamkeit einer schwarzgewandeten Frau in einem Gemach mit einer Fülle von Schätzen und kostbaren Seiden und Satins in allen Farben. Ischade trat ohne Hast ans Fenster und lächelte den silbrigen Raben dort an, der sie mit grauen Augen anblickte. Stumm nahm sie seine Botschaft entgegen, dann hob sie ihn auf den Arm und bot ihm einen Leckerbissen an.
Originaltitel: The Hand that Feeds You
Copyright: © 1984 by Diane Duane
(1) Siehe Totenbeschwörung von C. J. Cherryh in Geschichten aus der Diebeswelt: Der Krieg der Diebe, Bastei-Lübbe 20107