Martin Selle

Das Zombie-

Elixier

Codename Sam

Band 03

scanned 03/2008

corrected 05/2008

Sandra, Armin und Mario reisen in den Ferien zu

Marios Onkel nach Haiti. Der Forscher möchte dort das

Geheimnis des Voodookultes lüften. Doch als die drei

Freunde grässliche Voodoopuppen erhalten, die ihnen

wie aus dem Gesicht geschnitten ähneln, ahnen sie, was

das zu bedeuten hat: Sie sollen in Zombies verwandelt

werden. Das Schicksal der SAM-Mitglieder scheint

besiegelt, doch da machen sie eine sensationelle

Entdeckung …

ISBN: 3-7074-0092-1

Verlag: G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien

Erscheinungsjahr: 2002

Umschlaggestaltung: Martin Weinknecht

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

DAS ZOMBIE-ELIXIER

Martin Selle

Illustrationen:

Martin Weinknecht

Wien – Stuttgart – Zürich

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Selle, Martin:

Codename Sam / Martin Selle. – Wien; Stuttgart; Zürich: G und G,

Kinder- und Jugendbuch

(Krimi)

Geheimfall 3. Das Zombie-Elixier. – 2000

ISBN 3-7074-0092-1

2. Auflage 2002

© 2000 by G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien

Covergestaltung: Martin Weinknecht

Lektorat: Birgit Trinker

Satz: G & G, Wien

Druck und Bindung: BBG, Wöllersdorf

In der neuen Rechtschreibung.

Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei

gebleichtem Papier gedruckt. Alle Rechte, auch die des

auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und

der Übertragung in Bildstreifen sowie der Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.

INHALT

1

Der sprechende Wald ............................................. 7

2

Todeszauber ......................................................... 10

3

Onkel Otto in Gefahr? ......................................... 15

4

Geistermusik ........................................................ 19

5

Seltsame Vorgänge .............................................. 23

6

Puppen, die töten? ............................................... 29

7

Entsetzen ............................................................. 34

8

In großer Gefahr .................................................. 39

9

Lagebesprechung am Marché de Fer ................... 42

10

Wände mit Ohren ................................................ 45

11

Lauschangriff ....................................................... 48

12

Die letzte Warnung .............................................. 52

13

Das Zombie-Elixier ............................................. 54

14

Augen im Geschirrspüler ..................................... 59

15

Mit Blut geschrieben ........................................... 62

16

Lebendige Tote .................................................... 65

17

Das Schlammgesicht ........................................... 68

18

Tetrodotoxin ........................................................ 72

19

Schwarze Schlangen ............................................ 78

20

Freitag, der Dreizehnte ........................................ 84

21

Die Glühbirnenfalle ............................................. 87

22

Nadeln im Herz ................................................... 92

23

Die Zeit wird knapp ........................................... 100

24

Ein schwarzer Brief ........................................... 106

25

Aristides geheime Aufzeichnungen ................... 110

26

Der Zauber aller Zauber .................................... 115

27

Eine furchtbare Erkenntnis ................................ 120

28

Endlich Klarheit ................................................ 123

29

Das letzte Geheimnis ......................................... 126

6

1 Der sprechende Wald

Sandra hatte schon seit einigen Minuten ein ungutes Ge-

fühl. Sie war gegen dieses Himmelfahrtskommando gewe-

sen, doch ihre zwei Freunde hatten sich nicht davon ab-

bringen lassen. Dichter Nebel umfing die SAM-Detektive,

mühsam bahnten sie sich einen Weg durch das Unterholz

des haitianischen Waldes.

„Kommt, Jungs, drehen wir um. Wir gehören nicht hier-

her, das spüre ich. Wer weiß, was da draußen auf uns

lauert?“, flüsterte Sandra nicht zum ersten Mal.

„Vergiss den Zeitungsbericht und die Schauermärchen,

auch Sprachtalente wie du können sich bei Übersetzungen

irren. Hier ist nichts Gefährliches – und schon gar keine

Zombies“, gab Mario zurück.

Doch schon im nächsten Augenblick zuckten sie zu-

sammen. Spitze Schreie drangen aus dem Wald, die all-

mählich in Gewimmer übergingen.

Mit zittrigen Knien schlichen sie weiter. Sandra wusste

nicht, ob sie sich ängstigen oder ärgern sollte, während sie

hinter ihren Freunden den schmalen Grat des Waldhügels

hinaufkletterte. Sich nachts in diesem Wald herumzutrei-

ben war für sie nicht Mut, sondern Leichtsinn. Und mit

Sicherheit gab es Dinge, die man zu seiner eigenen Sicher-

heit besser nicht wusste oder sah.

7

„Wir haben Onkel Otto hoch und heilig versprochen,

das Haus nicht zu verlassen“, erinnerte sie Mario und Ar-

min.

„Ich will ja nur einen kurzen Blick auf die andere Seite

werfen. Mach dir nicht gleich in die Hosen. Interessiert es

dich nicht, wieso dieser Wald in manchen Nächten spricht?

Außerdem könnte jemand in Schwierigkeiten sein und un-

sere Hilfe brauchen“, erwiderte Armin und kroch ein Stück

weiter. Er kannte Sandras Neugier.

Als sie oben ankamen, legten sie sich flach auf den Bo-

den und versuchten etwas zu erkennen. Die Quelle der gei-

sterhaften Stimmen konnte nicht mehr weit entfernt sein.

Dumpfes Trommeln mischte sich jetzt unter das Wimmern.

Sandra, Armin und Mario bemühten sich, trotz der Aufre-

gung einen kühlen Kopf zu bewahren und durch den Nebel

hindurch etwas zu erkennen. Doch der weiße Schleier war

zu dicht.

„He!“, rief Armin in die Dunkelheit. „Ist da unten je-

mand? Brauchen Sie Hilfe?“ Die Stimmen und das Trom-

meln verstummten augenblicklich.

Es war totenstill.

„Bist du total übergeschnappt?“, zischte Mario wütend.

„Vielleicht stimmt der Zeitungsbericht ja doch! Wer weiß,

was da unten los ist? Wenn wir entdeckt werden, sind wir

so gut wie tot!“

Wieder hörten sie die Stimmen, diesmal aber näher. Sie

wurden nun von einem bedrohlichen Singsang untermalt.

Da wurde auch Armin unwohl. Er hatte schon manches

über den schwarzen Voodoo-Zauber gehört, aber nie daran

geglaubt. „Wenn das wirklich das Lied des Schlangengot-

tes Damballah ist, dann …“

8

„Halt doch die Klappe. Willst du uns noch mehr Angst

einjagen?“, fuhr Sandra ihn an. Mit pochenden Herzen

lauschten die Freunde in die Nacht. Plötzlich herrschte

wieder Stille.

„Wir müssen näher ran. Der Nebel ist zu dicht“, flüster-

te Mario.

„Ohne mich. Seid ihr völlig plemplem? Denkt dran, was

mit Samedi passiert ist!“, schimpfte Sandra.

„Du hast ja Recht. Aber wenn wir schon hier sind, kön-

nen wir auch den letzten Schritt wagen. Wir sind doch kei-

ne Feiglinge!“, sprach Mario seinen Freunden Mut zu. Er

wusste, dass dieses Wort seine Wirkung nicht verfehlen

würde.

Gemeinsam schlichen sie auf Zehenspitzen vorwärts.

Zweige knackten unter ihren Schuhen. Da setzte der Sing-

sang wieder ein, diesmal noch näher. Sie konnten Schatten

wahrnehmen, die sich rhythmisch bewegten. Ein Windstoß

riss die Nebelwand auf und gab den Blick frei auf eine ge-

spenstische Szene. Ein unglaublicher Anblick bot sich den

SAM-Detektiven. Mario sah, wie sich Sandras Augen vor

Schreck weiteten.

9

2

Todeszauber

Die drei Freunde sprangen in Deckung. Sandra verhedderte

sich in einer Wurzel, die über den Waldboden wucherte,

stürzte und schlug mit dem Kopf an einen Felsen. Blut

floss ihr über die Wange. Doch was sie sah, ließ sie den

Schmerz vergessen.

Auf einer kleinen Lichtung hatten sich Menschen ver-

sammelt. Aus ihrer Mitte ragte ein Holzpfahl, in den schau-

rige Dämonenfratzen geschnitzt waren. Er stand in einem

Kreis aus Kerzen. Flammenzungen leckten am Nebel. Ein

dunkelhäutiger Mann, der sich offenbar in Trance befand,

hielt ein lebendes Huhn zwischen den Zähnen und tanzte

zum Gesang der anderen um den Pfahl. Seine Hand um-

klammerte einen schlangenförmigen Stab. Beschwörungen

begleiteten seinen seltsamen Tanz.

Eine breitschultrige Gestalt trat in den Kreis und begann

mit einem krummen Stock Zeichen in den Boden zu ritzen.

Gesang und Tanz wurden immer ekstatischer. Als sie einen

Höhepunkt erreicht hatten, biss der Mann dem Huhn den

Hals durch und trank genussvoll sein dampfendes Blut.

„Verdammter Mist. Nichts wie weg hier, bevor sie uns

erwischen!“, zischte Mario. Er hatte einen furchtbaren Ver-

dacht. „Das ist das Todeszauber-Ritual. Ich habe in einem

alten Buch darüber gelesen. Der Mann dort hält einen Mi-

10

niatursarg, eine Puppe und eine Schlange in der Hand, die

er im Namen der unheiligen Dreifaltigkeit segnet und je-

mandem schickt, dessen Seele sie ins Jenseits holen sollen.

Diese kleinen Steingebäude rundherum, das sind Voodoo-

Tempel, in denen Menschenknochen und andere Reliquien

aufbewahrt werden. Der Tanz, den sie aufführen, wurde

von afrikanischen Sklaven nach Haiti gebracht …“

„Dann war der Zeitungsbericht doch kein fauler Zauber

und es gibt sie wirklich!?“, japste Sandra und starrte auf

die Horrorszene. Das Kerzenlicht ließ die Augen der Ein-

geborenen bedrohlich funkeln.

Langsam breitete die dunkle Gestalt die Arme aus; es

trat Stille ein. Niemand rührte sich. Der sprechende Wald

war verstummt.

Zwei Männer stellten feierlich eine Puppe auf einen

Baumstumpf und traten neben den großen Mann, huldigten

ihm mit einer tiefen Verbeugung und begannen den Boden

aufzugraben. Als sie bis zur Hüfte in der Erde verschwun-

den waren, kamen ihnen drei weitere Männer zu Hilfe.

Gemeinsam hievten sie einen Holzsarg aus dem Loch. Sie

stellten ihn im Lichterkreis ab und nahmen langsam den

Deckel ab.

Der Anführer wollte gerade in den Sarg greifen, als Ar-

min sich bewegte und dabei einen trockenen Zweig knick-

te.

In Sekundenschnelle zerstreuten sich die geisterhaften

Figuren. Der Anführer wandte sich um, starrte unter einer

Kapuze hervor in den Nebel und stieß einen drohenden

Schrei aus. Er befahl seinen Leuten offenbar, den Wald zu

durchkämmen.

11

12

Die SAM-Freunde schossen aus ihren Verstecken. Sie hat-

ten Mühe, im Nebel den richtigen Weg zu finden und bei-

sammenzubleiben. Am Fuße des Hügels zerrte Mario Ar-

min und Sandra hinter einen Felsvorsprung.

„Warum habt ihr bloß nicht auf mich gehört?“, flüsterte

Sandra verärgert.

„Schschscht!“, zischte Armin und hielt ihr den Mund zu.

Schritte näherten sich ihrem Versteck. Hatten die Ver-

folger sie entdeckt?

Mario bemerkte, dass sich der Nebel allmählich lichtete.

In wenigen Sekunden würde er keinen Schutz mehr bieten.

„Los, weiter, sonst finden sie uns!“, flüsterte er und

sprang hinter dem Felsen hervor.

Sandra und Armin wollten ihm gerade folgen, als ihr

Freund von einer monströsen Gestalt umgerannt wurde und

zu Boden fiel. Grün funkelnde Augen starrten den Jungen

aus einem weißen Gesicht an. Von den Mundwinkeln tropf-

te Blut. Jetzt ist es aus, dachte Mario. Er wollte um Hilfe

schreien, doch da war der Fremde schon wieder ver-

schwunden. Er rappelte sich hoch und stieß mit der Hand

an einen weichen Gegenstand mit rauer Oberfläche. Er hob

ihn auf, wollte ihn aber erst untersuchen, wenn sie in Si-

cherheit waren.

Eine halbe Stunde später hatten die drei Freunde ihr Fe-

rienhaus in Port-au-Prince erreicht. Sandra drehte das Licht

an, um den Gegenstand, den Mario gefunden hatte, be-

trachten zu können.

„Das ist so eine Voodoo-Puppe, wie sie die beiden To-

tengräber auf den Baumstumpf gestellt haben!“, entfuhr es

Armin. Jetzt dachte auch er an den Zeitungsbericht, den sie

kurz nach ihrer Ankunft gelesen hatten.

13

Die Puppe war aus Jute und schien mit einer Art Heu

gefüllt zu sein. Gliedmaßen und Kopf bestanden aus

Wachs. Als Mario die Puppe auf den Rücken drehte und ihr

Gesicht sah, stockte ihm das Blut in den Adern.

14

3 Onkel Otto in Gefahr?

„Das … das kann doch nicht sein!“, stotterte Mario. Doch

es gab keinen Zweifel: Die Puppe hatte Onkel Ottos Ge-

sicht! Das Beunruhigendste war der gequälte und gleich-

zeitig bösartige Ausdruck. Onkel Otto aber war ein guther-

ziger Mensch, der niemandem etwas zu Leide tat.

„Wieso er?“, fragte Armin verstört.

„Ich wette, es war dein Onkel, mit dem wir im Wald zu-

sammengestoßen sind“, meinte Sandra. „Aber was macht

er nachts in dieser gottverlassenen Gegend? Er weiß doch

besser über die mysteriösen Vorfälle Bescheid als jeder

andere.“

„Und warum schleppt er eine Puppe mit sich herum, die

ihm ähnlich sieht?“, fragte Armin.

„Redet keinen Quatsch. Das war nicht Onkel Otto. Die-

ses Gesicht …“, widersprach Mario. „Außerdem, warum

sollte er sich dort herumtreiben, völlig absurd!“

„Vielleicht war ja das der Grund dafür, dass er uns ver-

boten hat, heute das Haus zu verlassen“, setzte Sandra nach

und sah Mario fragend an.

„Nie im Leben. Onkel Otto ist völlig normal im Kopf,

der rennt doch nicht mit Puppen im Wald herum.“ Mario

nahm die Puppe wieder in die Hand.

„Da muss ich dir Recht geben“, meinte Armin und warf

15

sich auf sein Bett. „Aber komisch ist die ganze Sache doch

irgendwie. Du selbst predigst immer, dass solche Gegenstän-

de aus fremden Kulturen meist was Schlimmes bedeuten.“

Marios Hand glitt über die raue Jute. „Onkel Otto ist

Wissenschaftler. Er steht mit beiden Beinen fest im Leben,

ist bekannt für seine Leistungen auf dem Gebiet der Völ-

kerkunde. Er hat Bücher geschrieben und Preise erhalten.

Er hat gar keine Zeit für so einen Firlefanz.“

Sandra verstaute ihre Detektivausrüstung und warf sich

ebenfalls aufs Bett, müde von der Aufregung. Sie starrte

nachdenklich zur Decke, an der sich ein Ventilator drehte.

Nach einer Weile sah sie zu Mario, dem die Ähnlichkeit

der Puppe mit seinem Onkel sichtlich Unbehagen bereitete.

„Hör auf, zu grübeln. Je länger du dich damit beschäf-

tigst, desto verwirrter wirst du. Das bringt nichts. Die Pup-

pe ist völlig harmlos, ein Spielzeug, weiter nichts.“

Armin stand auf. Er wusste nicht, warum, aber er fühlte

sich in Gegenwart der Puppe nicht wohl. Er öffnete ein Fen-

ster und sah in die schwüle Nacht hinaus. Vom Meer wehte

ein warmer Wind herüber. „Warum nehmt ihr eigentlich

immer etwas Schlimmes an? Diese Puppen könnten ja auch

Glücksbringer sein. Nur weil sie unheimlich aussehen …“

„Nein“, erwiderte Mario. „Denkt doch daran, was wir

im Wald gesehen haben! Das war kein Kinderspielplatz.“

„Warum lange herumrätseln?“, schaltete sich Sandra

ein. „Geben wir die Puppe doch einfach Onkel Otto und

fragen ihn, wo er heute Nacht war.“ Sie sprang auf und

setzte sich an den kleinen Tisch.

„Es reicht, wenn wir ihn im Labor anrufen“, meinte

Armin, der noch immer aus dem Fenster starrte und sich

den lauen Wind durch das Haar streichen ließ.

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„Ja, genau, wir rufen ihn einfach an.“ Sandra stand auf

und begann im Zimmer umherzuwandern. „Wenn es wirk-

lich Onkel Otto war, der die Puppe im Wald verloren hat,

sucht er sie sicher. Wenn er aber im Labor ist, wissen wir

wenigstens, dass wir mit jemand anderem zusammengesto-

ßen sind.“

„Auf jeden Fall müssen wir ihn fragen, was das hier zu

bedeuten hat“, sagte Mario düster und starrte auf eine Hand

der Puppe.

Sandra griff nach ihr und drehte sie in den Schein der

Lampe. Mario ging zum Telefon und wählte die Nummer

von Otto Klein. Es meldete sich eine vertraute Stimme mit

den Worten: „Doktor Klein. Wer ruft hier mitten in der

Nacht an und stört mich bei der Arbeit, wenn ich fragen

darf?“

„Ich bin’s, Mario. Entschuldige bitte, dass ich so spät

anrufe, aber ich hab gesehen, dass in deinem Haus nebenan

noch kein Licht brennt, da wollte ich mal fragen, wie’s dir

geht, wenn du so spät noch arbeitest.“

„Danke, mein Junge. Soweit alles in Ordnung. Wir se-

hen uns morgen, ich hab noch viel zu tun. Schlaft euch nur

aus, auf Haiti sind die Tage lang und aufregend. Da braucht

ihr Kraft.“

Mit diesen Worten legte Onkel Otto auf.

„Onkel Otto vermisst die Puppe offenbar nicht. Er hat

sie nicht mal erwähnt“, murmelte Mario. „Und wenn sie

doch gefährlich ist? Ich meine, wenn die Leute keine Mär-

chen erzählen und das, was wir gesehen haben, eine ‚mo-

jo‘-Beschwörung war?“

„Wenn es auf Haiti wirklich lebendige Tote gibt, ist dein

Onkel in großer Gefahr“, sagte Armin besorgt.

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„Die Frage kann uns vielleicht jemand beantworten, der

dieses Zeichen kennt.“ Sandra zeigte auf die Puppenhand.

Darauf war ein Kreis zu erkennen, der von einem Kreuz in

vier gleiche Teile unterteilt wurde. In jedem Viertel befand

sich ein anderes Symbol.

Eine Windbö fegte durch das Zimmer und donnerte das

Fenster zu. Im selben Augenblick ging das Licht aus.

18

4

Geistermusik

„Der Strom ist wieder einmal ausgefallen“, knurrte Armin.

Mit einem geübten Handgriff im Sicherungskasten hatte er

das Problem in null komma nichts behoben.

Sandra packte die Puppe in eine Plastiktasche und griff

nach ihrer Detektivausrüstung.

„Wohin willst du noch um diese Zeit?“, fragte Mario

verwundert.

„Zu deinem Onkel. Ich will endlich wissen, womit wir

es hier zu tun haben.“

Armin und Mario waren zwar müde, wollten aber mit-

kommen, denn Sandras Blick verriet nichts Gutes.

15 Minuten später hielt der grell bemalte Bus in einer

Straße mit bunten Häusern im ‚Gingerbread-Stil‘. Pastell-

farbene Türmchen, Giebel, Balkone, Veranden und steile

Dächer schufen eine ganz eigene Atmosphäre. Reklame lud

zu Kaffee, Tanz und ‚bandera dominicana‘ ein, einem Ge-

richt aus Reis, Bohnen, Fleisch, gebratenen Bananen, Ma-

niok und Süßkartoffeln.

„Das da drüben ist das ‚Palais National‘“, sagte Mario,

das wandelnde SAM-Lexikon, als sie um eine Ecke bogen.

Armin warf Sandra einen unglücklichen Blick zu. Sie

konnten sich auf einen Vortrag gefasst machen.

„Und dort ist das ‚Musée du Panthéon National‘. Darin

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sind die wichtigsten Schaustücke der haitianischen Ge-

schichte ausgestellt. Unter anderem der Anker der Santa

Maria – das war das Flaggschiff von Kolumbus, das vor

Cap Haitien auf ein Riff lief. Aus ihren Planken hat man

1492 die erste Siedlung der Neuen Welt errichtet, ‚La Na-

vidad‘“, dozierte Mario.

Schließlich hielten sie vor einem Gebäude, an dem ein

Schild mit folgender Aufschrift befestigt war:

VÖLKERKUNDEMUSEUM WIEN – AUSSENLABOR

HAITI. LEITER: DR. OTTO KLEIN

Sandra, Armin und Mario stiegen zum Kellereingang des

Labors hinunter. Von der Hauptstraße drang Rasin- und

Kompamusik herüber.

„Klingt wie Geistermusik – unheimlich“, flüsterte Ar-

min, als Sandra an die rosafarbene Holztür klopfte.

Die SAM-Freunde hatten von ihren Eltern die Erlaubnis

bekommen, für zwei Wochen alleine nach Haiti zu fahren,

um Marios Onkel zu besuchen. Mario hatte sich die Reise

zum Geburtstag gewünscht. Er hatte seinem Onkel immer

schon bei seiner ungewöhnlichen Arbeit über die Schulter

blicken wollen. Doktor Klein erforschte im Auftrag des

Wiener Völkerkundemuseums den Voodoo-Kult.

Sandra klopfte noch einmal, dann drückte sie auf die

Klinke. Das Labor war nicht verschlossen. Vor ihnen tat

sich ein dunkler Gang auf. Sie tasteten sich vorwärts.

Durch kleine Türfenster fiel etwas Licht auf den unheim-

lich wirkenden Gang.

„Onkel Otto!“, rief Mario in die Finsternis. Nichts rühr-

te sich. Er öffnete eine Tür. Sie sahen Bunsenbrenner, Rea-

20

genzgläser, Kühler und Tiegelzangen zwischen tropischen

Pflanzen und Vitrinen.

„Onkel Otto?“ Mario hielt inne. „Hört ihr das?“ Aus

dem Nebenraum drang Röcheln. Sandra, Armin und Mario

schlichen zur Tür und Mario trat als Erster ein. Die Holz-

dielen ächzten unter seinen Turnschuhen, als plötzlich zwei

eiskalte Hände seinen rechten Knöchel so fest umklammer-

ten, dass sie ihm fast das Blut absperrten. Mario schrie auf.

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22

5 Seltsame Vorgänge

„Schnell, das Licht!“, rief Armin und kramte nach seiner

Taschenlampe.

Sandra suchte fieberhaft nach dem Lichtschalter, konnte

ihn aber nicht finden.

„Macht doch endlich Licht!“, kreischte Mario. Er zerrte

verbissen an seinem Bein.

Endlich entdeckte Sandra den Schalter und das gleißend

helle Licht von vier Leuchtstoffröhren durchflutete den

Raum.

Eine Tür flog auf und Onkel Otto schoss herein, gefolgt

von zwei jungen Menschen in weißen Kitteln.

„Um Gottes willen, mein Junge!“, stieß er hervor. „Ist es

schon wieder geschehen! Castera, ruf sofort Doktor Preval

an. Sag ihm, diesmal ist es verdammt ernst! Und er soll

gleich neue Medizin für uns alle mitbringen.“

Das Mädchen griff nach dem Telefonhörer.

Otto Klein flößte dem Jungen, der in einer Ecke kauerte,

etwas Kaffee ein.

„Ruhig, nur ruhig, Raoul. Das wird schon wieder“, flü-

sterte er besänftigend.

Allmählich ließ die Verkrampfung des Jungen nach und

Mario konnte sein Bein befreien. Auch das Röcheln war

gleichmäßiger Atmung gewichen. Von Onkel Otto und sei-

23

nem dritten Helfer gestützt, ließ sich Raoul erschöpft in

einen Stuhl sinken. Er nahm einen kräftigen Schluck Kaf-

fee, dann lehnte er sich zurück.

Wenig später traf Doktor Preval, ein etwas untersetzter

Mann mit grauem Kraushaar und kleinen Augen, ein und

verabreichte Raoul eine Medizin.

„Na?“, sagte er sanft. „Geht’s wieder, mein Sohn?“

Raoul sprang auf wie von der Tarantel gestochen, warf

den Stuhl um und rannte aus dem Labor. Hinter ihm fiel

die Tür donnernd ins Schloss.

„Kann uns vielleicht mal jemand erklären, was hier los

ist?“, fragte Sandra mit Nachdruck.

„Onkel Otto, hast du überhaupt schon bemerkt, dass wir

hier sind?“, fragte Mario.

„Wir reden später. Ich habe euch doch ausdrücklich ver-

boten, heute das Ferienhaus zu verlassen!“, gab Otto Klein

schroff zurück.

Castera, ein Mädchen mit langem, pechschwarzem

Haar, wollte Raoul folgen, doch Doktor Preval hielt sie

zurück. Er wusste nur zu gut, dass man seinem Sohn in

solchen Momenten lieber aus dem Weg ging.

„Onkel Otto, hör bitte kurz zu“, fing Mario an. „Wir

müssen dir etwas Wichtiges …“

„Jetzt nicht. Seht ihr nicht, dass wir andere Probleme

haben?“

„Wer sind diese Kinder?“, fragte Doktor Preval interes-

siert und stellte einige Fläschchen seiner Medizin auf den

Labortisch. „Das dürfte wieder für ein paar Tage reichen,

Otto.“

„Verzeihung, Doktor, ich habe Sie in der Aufregung

noch gar nicht vorgestellt: Kinder, das ist Doktor Preval,

24

unser Apotheker. Das sind Mario Klein, mein Neffe, und

seine beiden Freunde Sandra Wolf und Armin Hauser.“

„Ich bin Castera“, sagte das Mädchen und reichte Sand-

ra die Hand.

„Und ich heiße René“, sagte der Bursche. Er war groß

und schlaksig und hatte mindestens Schuhgröße 45. „Wir

sind Freunde von Raoul, der euch gerade einen Schreck

eingejagt hat. Wir helfen Doktor Klein jetzt schon das

zweite Jahr in unseren Uniferien. Quasi als Ferialjob.“

„Bestimmt sehr interessant“, erwiderte Mario. „Onkel

Otto, wir müssen dir etwas sehr Wichtiges …“

„Jetzt nicht, Kinder, später.“

Sandra, Armin und Mario hassten es wie die Pest, wenn

jemand sie abzuwimmeln versuchte wie kleine Kinder.

Die Labortür ging auf, und Raoul trat ein. Er blickte fin-

ster.

„Was ist los? Warum starrt ihr mich alle so an?“, knurrte

er, als er sich wieder an die Arbeit machte.

„Hoffentlich nimmt das nicht das gleiche Ende wie bei

unserem Studienkollegen Samedi“, flüsterte Castera mit

ängstlicher Stimme.

Beim Namen Samedi klingelten bei den drei Freunden

die Alarmglocken.

„Raoul benimmt sich schon seit einigen Tagen so ko-

misch. Er führt sich aber nur so auf, wenn er einen dieser

Anfälle hat, sonst ist er ganz normal.“

„Was meinst du?“, fragte Sandra erstaunt.

„Okay, Castera. Ich glaube, wir haben für heute genug

erlebt!“, sagte Onkel Otto bestimmt. „Macht Feierabend

und ruht euch aus. Morgen haben wir viel zu tun. Doktor

Preval, nehmen Sie bitte auch Raoul mit nach Hause. Er

25

soll sich morgen freinehmen, damit er wieder zu Kräften

kommt.“

„Das überlasse ich ihm lieber selbst“, erwiderte der

Apotheker und blickte besorgt zu seinem Jungen hinüber.

„Was hat Castera gemeint?“, wollte Sandra von Onkel

Otto wissen, der sich seufzend hinsetzte, und einen kräfti-

gen Schluck Kaffee nahm.

„Wir packen drüben noch Raouls restliche Sachen, dann

fahren wir. Bis zum nächsten Mal“, sagte Doktor Preval

freundlich und ging mit seinem Sohn zur Tür.

„Was für eine Nacht. Hört das denn nie auf?“, seufzte

Otto und wandte sich den SAM-Freunden zu. „Ich habe

mich bei eurer Ankunft in Haiti wohl nicht deutlich genug

ausgedrückt“, sagte er scharf. „Ich habe euch doch auf die

Gefahren dieser Insel aufmerksam gemacht. Als ob ich

nicht schon genug am Hals hätte!“

„Bitte entschuldige, Onkel Otto, aber wir sind nicht oh-

ne Grund hergekommen“, rechtfertigte sich Mario.

„Wir haben im Wald Seltsames entdeckt“, entfuhr es

Armin.

„Im Wald! Höre ich richtig? Ihr wart allein im Wald?

Das ist doch wohl nicht euer Ernst. Haiti ist kein Spielp-

latz, wie oft soll ich euch das noch sagen! Ihr habt doch

gerade selbst gesehen, was hier für merkwürdige Dinge

passieren.“

Sandra zog die Puppe aus der Plastiktasche und gab sie

Onkel Otto.

„Die haben wir im Wald gefunden. Sie gehört doch dir,

oder?“, fragte Mario gespannt.

Sein Onkel sprang auf, schlug Sandra die Puppe aus der

Hand und flüchtete sich zitternd in einen Winkel.

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„Lasst … dieses Ding … verschwinden. Schnell, be …

bevor es zu spät ist!“, stammelte er, kreidebleich und den

Blick starr auf die Puppe gerichtet.

Dann knickten seine zitternden Beine ein, er fiel zu Bo-

den und riss dabei Teile der Laboreinrichtung mit.

„Onkel Otto!“, rief Mario geschockt.

Aber sein Onkel bewegte sich nicht mehr.

27

28

6 Puppen, die töten?

Geistesgegenwärtig hob Sandra die Jutepuppe auf und

steckte sie in die Tasche zurück. Doktor Preval hatte den

tosenden Lärm gehört und war zurückgeeilt.

„Schnell, mein Sauerstoffspray!“, keuchte Onkel Otto

und zeigte auf den Medizinschrank.

Auf seiner Stirn stand Schweiß und sein Brustkorb hob

und senkte sich unregelmäßig.

Doktor Preval füllte schnell ein Glas mit lauwarmem

Wasser, goss einige Tropfen seiner Medizin hinein und

reichte es Onkel Otto. Dieser führte es zitternd an den

Mund und trank hastig.

Armin nahm ihm das Glas ab und wechselte es gegen

die kleine Spraydose aus, in der sich reiner Sauerstoff be-

fand. Onkel Otto sprühte einige Male in seine Mundhöhle

und atmete tief ein, dann beruhigte er sich langsam.

„Alles in Ordnung, Onkel Otto. Sandra hat die Puppe

weggetan. Warum regt sie dich nur so auf? Sie kann dir

doch nichts anhaben. Es ist doch nur eine Puppe!“

Mit vereinten Kräften zerrten die Freunde Onkel Otto

auf einen Stuhl und lockerten seine Krawatte, um ihm das

Atmen zu erleichtern.

„Seit wann hast du diese Asthmaanfälle? Warum hast du

deiner Familie nichts davon gesagt?“, fragte Mario besorgt.

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Onkel Otto war fast wie ein zweiter Vater für ihn. In vieler-

lei Hinsicht war er sein großes Vorbild.

„Ich habe gar keine Asthmaanfälle!“, brummte Otto.

„Dass ihr mir das antut! Ihr wisst überhaupt nicht, was ihr

getan habt!“

„Ich rufe sofort einen Arzt. Dein Gesundheitszustand

gefällt mir überhaupt nicht“, sagte Doktor Preval.

„Nein!“, wehrte Otto ab. „Auf keinen Fall!“

„Aber dir muss doch geholfen …“, begann Mario, doch

sein Onkel unterbrach ihn.

„Hast du nicht gehört, verdammt noch mal! Ich habe

nein gesagt. Rede ich etwa undeutlich?“

Otto Klein erhob sich und torkelte in die Laborküche,

wo er eine Suppe in den Mikrowellenherd schob.

„Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt zu Hause bleiben“,

knurrte er. „In Zukunft werdet ihr gefälligst gehorchen.

Wenn nicht, setze ich euch in das nächste Flugzeug nach

Europa, kapiert?“

„Ich glaube langsam, es war gut, dass wir nicht gehorcht

haben“, flüsterte Armin seinen Freunden zu.

„Was hat es mit der Puppe auf sich? Warum sind Sie so

schroff?“, hakte Sandra nach.

Marios Onkel reagierte nicht. Er interessierte sich nur

für seine Suppe.

„Es hat keinen Sinn, länger zu schweigen, Otto“, sagte

Doktor Preval. Er setzte sich an den runden Holztisch und

begann zu erzählen: „Ihr müsst versprechen, den Mund

darüber zu halten, Ehrenwort?“

„Ehrenwort“, erwiderten die drei Freunde im Chor.

„Das ist keine gewöhnliche Puppe. Sie gehört nicht Ot-

to. Sie …“ Der Apotheker zögerte und atmete tief durch.

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„Sie wird Otto eines Nachts auf grausame Weise töten!

Und es gibt keinen Ausweg!“

„Wie kann eine Puppe jemanden töten?“, stammelte Armin.

„Warum versetzt dieses Ding einen Menschen in solche Aufre-

gung, dass er fast erstickt? Das ist doch alles Aberglaube.“

„Das sagst ausgerechnet du, Mister Reinkarnation“, sag-

te Mario ätzend. Armin war nämlich überzeugt, dass die

Seele eines Menschen bei seinem Tod nicht stirbt, sondern

in einen anderen Körper übergeht.

Der Mikrowellenherd piepste und Otto Klein zog die

Suppe heraus.

„Diese Puppen“, sagte Doktor Preval, während Onkel

Otto seine Suppe löffelte. „Sie wollen Otto tatsächlich an

den Kragen.“

„Gibt es mehr davon?“, wollte Armin wissen.

„Ich weiß nicht, ob ich mit euch darüber reden soll.

Voodoo ist nicht gerade ein Thema für Kinder.“

„An diesen Quatsch glauben Sie doch nicht im Ernst?“,

sagte Mario. „Und von wegen Kinder.“

„Ach, Junge …“, seufzte Preval kopfschüttelnd. „Wir

sind hier auf Haiti. Voodoo ist viel mehr als ein dunkler

Zauber, eine Magie. Es ist eine Religion.“

„Aber Onkel Otto arbeitet doch hier als Ethnobotaniker

…“, sagte Sandra nachdenklich und begann zwischen den

Vitrinen herumzuwandern.

„Verlasst jetzt bitte alle das Labor. Ich muss weiterarbei-

ten“, sagte Onkel Otto.

Doktor Preval fuhr unbeeindruckt fort: „Exorzisten,

Wahrsager und andere Zauberer treten dabei mit übernatür-

lichen Kräften in Verbindung. Sie bringen uns das Fürchten

und Gehorchen bei!“

31

„Bitte geht jetzt – alle“, wiederholte Otto energisch.

„Beantworte zuerst unsere Fragen“, sagte Mario. „Was

geht hier vor sich?“

Sandra zeigte ihren Freunden den erhobenen Daumen

als Zeichen, dass sie etwas entdeckt hatte.

„Also gut, meinetwegen“, gab Onkel Otto nach. „Ir-

gendjemand spielt mir seit einiger Zeit diese verdammten

Jutepuppen zu. Sie haben eine magische Wirkung, jedes

Mal, wenn ich eine bekomme, spielt mein Herz verrückt,

ich kann nicht mehr atmen und habe Halluzinationen. Es

wird immer schlimmer. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir

noch bleibt, bis ich tot bin! Bis dahin muss meine Arbeit

erledigt sein!“

Einen Moment lang herrschte betretene Stille.

„Aber das ist doch nur eine Puppe. Wie soll sie einem

Menschen etwas anhaben? Das ist doch Schwachsinn“,

sagte Mario heftig.

„Ihr habt doch gesehen, was mit Raoul und mir passiert

ist. Meine drei Gehilfen bekommen auch seit einiger Zeit

solche Puppen.“

Otto griff nach dem Wasserglas mit der Medizin und

nahm einen weiteren kräftigen Schluck. „Sogar mein Arzt,

Doktor Ramón Mella, ist der Ansicht, dass mir jemand mit

Voodoo den Garaus machen will.“

„Aber wer könnte das besser wissen als du selbst, ein

Ethnobotaniker, der sich seit Jahren mit diesem Kult be-

schäftigt?“, fragte Mario verwirrt.

„Ich weiß zwar eine Menge über Voodoo, aber noch

lange nicht alles. Noch nicht“, erwiderte Onkel Otto.

„Ramón hat mich bereits mehrmals gewarnt. Er ist der

Meinung, ich soll meine Arbeit aufgeben und Haiti verlas-

32

sen. Er findet, man darf die Puppen nicht unterschätzen.

Wenn ich weitermache, habe ich mit noch viel schlimme-

ren Dingen zu rechnen.“

„Was heißt das im Klartext?“, fragte Sandra.

„Er glaubt, jemand will verhindern, dass ich hinter das

Geheimnis der Voodoo-Religion komme und meine Er-

kenntnisse veröffentliche. Dann würde sich niemand mehr

von Voodoo verschaukeln lassen.“

„Nach Verschaukeln hat das vorhin aber nicht ausgese-

hen. Ich glaube, wir sollten mal mit Doktor Mella spre-

chen“, schlug Armin vor.

Die Labortür wurde aufgerissen und Castera stürzte he-

rein. „Doktor Preval, kommen Sie schnell!“, stieß sie her-

vor. „Etwas Furchtbares ist passiert!“

33

7

Entsetzen

„Was zum Teufel … Castera! Was ist geschehen?“, rief

Doktor Preval, während sie durch die düsteren Gänge

des Labors auf die Straße hasteten. René wartete bereits

am Steuer eines bunten Kleinbusses, eines Tap-Taps, auf

sie.

„Wir müssen schnell zum Henri-Christophe-Denkmal –

es ist wegen Raoul!“, sagte sie gehetzt.

Das Tap-Tap brauste davon, als Sandra, Armin und Ma-

rio gerade die Straße erreichten.

„Wohin fahren sie?“, rief Armin.

„Castera hat was von einem ‚Henri-Christophe-

Denkmal‘ gesagt, wenn ich richtig gehört habe“, antworte-

te Sandra.

„Ich weiß, wo das ist“, sagte Mario.

Als das Tap-Tap sein Ziel erreicht hatte, sprang Doktor

Preval hinaus. Er sah eine Ambulanz.

„Raoul!“, flüsterte er, als er sich einen Weg durch die

Schaulustigen bahnte.

Sanitäter hoben gerade eine Bahre in den Rettungswa-

gen. Auf ihr lag ein regloser Körper.

„Was ist passiert?“, fragte Doktor Preval die Umstehen-

den.

„Wieder ein Selbstmordversuch. Schon der zweite in

34

diesem Monat“, sagte ein hagerer alter Mann kopfschüt-

telnd. „Dabei ist er noch so jung.“

Der Apotheker kämpfte sich zur Ambulanz durch. Er

kam zu spät. Der Wagen donnerte schon mit Sirenengeheul

und Blaulicht davon.

„Ist er … ist er tot?“, fragte Doktor Preval zitternd einen

Polizisten, der der Ambulanz nachblickte. „Es ist mein

Junge! Lebt er?“

„Er ist mit dem Motorrad gegen das Denkmal gerast. Es

gibt keine Bremsspur. Der Notarzt hat was von schweren

Verletzungen gesagt; Lungenriss, Knochenbrüche, solche

Sachen. Hat übel geklungen.“

Doktor Preval sank in sich zusammen. „Wie konnte das

passieren? Raoul war ein sicherer Fahrer.“

„Selbstmord?“, sagte der Polizist. „Der arme Kerl war

noch bei Bewusstsein. Wir haben versucht, mit ihm zu re-

den, und er hat was davon gefaselt, dass ihn etwas Un-

heimliches verfolgt.“

„Was soll das sein?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden

habe“, erwiderte der Polizist. „Er hat offenbar in den Rück-

spiegel geblickt und etwas gesehen, das ihn zum Wahnsinn

getrieben hat. Das Motorrad ist außer Kontrolle geraten

und er ist auf das Denkmal zugerast. – Tut mir wirklich

Leid um Ihren Jungen.“ Der Polizist klopfte Doktor Preval

auf die Schulter und stieg in seinen Wagen.

Als die SAM-Freunde völlig außer Atem beim Denkmal

ankamen, hatte sich die Menge schon wieder verlaufen.

Nur Doktor Preval hockte noch auf dem Gehsteig.

„Wo ist Raoul?“, fragte Armin.

35

36

Der Apotheker hob langsam den Kopf. „Er wollte sich

angeblich umbringen. Ich kann es einfach nicht glauben.

Der Arzt hat nicht viel Hoffnung, dass er durchkommt.“

Castera fuhr mit dem Tap-Tap vor.

„Kommen Sie, Herr Preval, wir müssen ins Kranken-

haus.“

„Wir kommen mit!“, sagte Sandra. „Vielleicht können

wir helfen.“

„Nein. Geht lieber nach Hause. Danke, aber ich möchte

jetzt allein sein.“

Das Tap-Tap fuhr davon.

„Was haltet ihr von dem Ganzen?“, fragte Armin „Hy-

sterische Anfälle, Atemnot, Puppen, Selbstmorde. Wir sind

auf ein heißes Ding gestoßen!“

„Ein verdammt heißes“, murmelte Sandra, die sich das

Denkmal genauer ansah. Armin und Mario traten näher, als

sie bemerkten, dass ihre Detektivfreundin eine bestimmte

Stelle am Steinsockel fixierte. Auf der grob behauenen

Oberfläche war das gleiche schwarze Zeichen wie auf der

Puppenhand aufgemalt.

„Armin, du bist unser Geheimcode-Spezialist“, meinte

Mario.

Armin kramte in seiner Detektivausrüstung und holte

Butterpapier und einen weichen Bleistift hervor. Er kniete

sich nieder, legte das Papier über das Symbol und pauste es

ab.

„Sieht wie ein rituelles Zeichen aus“, murmelte er.

„Was hast du vor?“, fragte Sandra.

„Ich bin mir nicht sicher, aber wir sind nun mal auf Hai-

ti …“

„Das ist doch nicht dein Ernst!“, sagte Sandra, als ihr

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dämmerte, was Armin meinte. „Du glaubst wirklich, dass

ein magischer Voodoo-Zirkel für die zwei Selbstmordver-

suche verantwortlich ist?“

Zwanzig Minuten später, es war schon nach Mitter-

nacht, sprangen die drei Freunde aus dem Taxi. In Onkel

Ottos Haus war es immer noch finster. Er übernachtete

wieder einmal im Labor.

Sandra lief zum Altpapiercontainer und kramte die Zei-

tungen der letzten Tage heraus.

„War ein anstrengender Tag“, gähnte Armin. Er sperrte

die Tür ihres Ferienhauses auf und machte Licht.

Als sie eintraten, stockte ihnen der Atem.

38

8 In großer Gefahr

Über ihren Betten hing jeweils eine Jutepuppe an einem

Strick um den Hals. Sandra ließ den Zeitungsstapel fallen,

als sie die Gesichter der drei Unheilsboten erkannte.

Es waren ihre Ebenbilder!

„Jetzt sind auch wir dran!“, hauchte Mario tonlos.

Armin stürzte wutentbrannt zu seinem Bett und schleu-

derte die Puppe in eine Ecke. Als er sich umdrehte und in

sein eigenes Gesicht starrte, war ihm, als grinse ihn die Pup-

pe hämisch an. Ihre linke Handfläche war nach oben ge-

dreht. Das seltsame Kreiszeichen war deutlich zu erkennen.

Am nächsten Morgen waren die SAM-Freunde bereits um

halb sieben auf den Beinen. Zum Frühstücken blieb ihnen

keine Zeit. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass sie sich in großer

Gefahr befanden.

„Deshalb glaubt Doktor Preval nicht an Selbstmord“,

erklärte Sandra und hielt ihren Freunden einen Zeitungsbe-

richt unter die Nase.

„Rätselhafter Selbstmordversuch eines Studenten“, las

Mario die Schlagzeile der Tageszeitung Le Nouvelliste.

„Da steht, dass der Student, der sich vor zwei Wochen

schreiend vor einen Bus geworfen hat, eine kreisförmige

Tätowierung auf der Hand hatte.“

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„Wir müssen herausfinden, was dieses Zeichen bedeu-

tet, bevor Onkel Otto und wir auch tot sind …“ Armin

wagte nicht weiterzusprechen.

„Zuerst der Horror im Wald, dann die Anfälle von Raoul

und Onkel Otto, die Wahnsinnstat von Raoul, die Puppen

und dieser Zeitungsbericht. Hier ist was mächtig faul und

wir sollten schleunigst herausfinden, was“, sagte Sandra

entschlossen.

„Ich weiß, wer uns weiterhelfen kann. Kommt mit“,

sagte Armin und schlüpfte in ein frisches T-Shirt.

Castera bewohnte mit ihren Eltern ein bescheidenes Haus

in einer nicht gerade guten Gegend von Port-au-Prince.

Sandra klopfte.

Die Studentin hatte ihr glänzendes Haar zu einem Kno-

ten gedreht, als sie öffnete.

„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie die drei verwun-

dert.

„Wir müssen dringend mit dir reden, Castera“, begann

Mario ohne Umschweife.

Castera bat ihre neuen Freunde auf die Veranda hinter

dem kleinen Gingerbread-Häuschen.

„Ich habe nicht viel Zeit, ich muss ins Labor. Wir haben

viel Arbeit bei Doktor Klein.“

Armin fackelte nicht lange und legte Castera das Paus-

papier mit dem Kreiszeichen vor. „Was ist das für ein

Symbol?“

Sie zögerte einen Moment, dann erzählte sie: „Raoul

war früher nie launisch, bis wir eines Tages diese Jutedin-

ger bekamen, die unsere Gesichter trugen. Es wurde mit

jedem Anfall schlimmer. Sogar Doktor Mella und Doktor

Preval konnten nicht mehr viel ausrichten.“

40

„War Raoul abergläubisch?“, fragte Mario. „Ich meine,

glaubte er an dieses Voodoozeugs? Warum glaubt sein Va-

ter nicht, dass es ein Selbstmordversuch war?“

„Ich weiß es nicht genau, aber Raoul hat erzählt, dass

dieses Zeichen etwas mit einem gefährlichen Voodoofluch

zu tun hat.“ Sie schwieg einige Zeit. Dann flüsterte sie mit

erstickter Stimme: „Ich weiß, es klingt verrückt, aber sie

werden unsere Seelen bekommen, wie und wann sie wol-

len!“

„Wer, Castera? Wer?“, fragte Sandra.

Doch das Mädchen antwortete nicht.

„Castera, warum will jemand Macht über unsere Seelen

erlangen und meinen Onkel beseitigen?“, hakte Mario

nach.

„Wegen seiner Entdeckung“, gestand Castera.

„Welche Entdeckung? Er hat uns nichts davon erzählt“,

sagte Armin.

Doch Castera wollte offenbar nichts mehr sagen. „Ich

muss jetzt wirklich los, sonst komme ich zu spät“, sagte sie

und brachte die drei zur Tür. Bevor sie ins Haus zurück-

ging, sagte sie ernst: „Ich glaube, er hat die Restlichen

wirklich gefunden …“ Für eine Sekunde war sich Mario

sicher, dass Casteras Augen ängstlich aufflackerten. Sand-

ra, Armin und Mario tauschten ratlose Blicke. Sie ahnte,

dass ihre lange Sorgenliste soeben um ein weiteres Prob-

lem gewachsen war.

41

9 Lagebesprechung am Marché de Fer

Zwei Stunden später bahnte sich Armin einen Weg durch

die Menge am Marché de Fer, dem größten Markt in Port-

au-Prince, um rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt,

einem Café, zu kommen.

Sein Weg führte ihn an zerlumpten Männern vorbei, die

schwere Karren mit Holzkohle zogen, und ausgemergelten

Frauen, die Wassereimer oder riesige Ballen mit Mais auf

dem Kopf balancierten.

Gleich nach dem Besuch bei Castera hatte sich das

jüngste SAM-Mitglied auf den Weg in die Stadtbibliothek

gemacht, um mehr über den Voodoo-Kult in Erfahrung zu

bringen.

Jetzt saßen die drei Freunde an einem Tisch in dem ver-

rauchten Mittelding zwischen Café und Kneipe.

„Was hast du rausgefunden?“, fing Sandra an, die mit

Mario das Archiv der Zeitung Le Nouvelliste durchstöbert

hatte.

Nachdem ein unfreundlicher Kellner mit platter Nase

Limonade gebracht hatte, berichtete Armin: „Das Wort

‚Voodoo‘ stammt aus der Sprache der ‚Ewe-Fon‘ im afri-

kanischen Staat Benin und bedeutet ‚Gottheit‘ oder ‚Geist‘.

Im Volksglauben Haitis gibt es zahlreiche Legenden über

böse Zauberer, so genannte ‚bokor‘, die Kinder töten, weil

sie ihr Blut für magische Elixiere und Riten brauchen.“

42

Mario lief es eiskalt den Rücken hinunter.

„Oft versammelt sich eine Gemeinschaft Gläubiger um

einen Voodoo-Tempel in Stadtnähe. In diesem Tempel

werden Rituale für Geister und Ahnen praktiziert. Man

möchte sich damit Wünsche erfüllen, einen Menschen ver-

zaubern oder Macht über seine Seele erlangen. Voodoo ist

eine der geheimnisumwittertsten und wirkungsvollsten

Magien der Welt.“

„Unsere Recherche hat Ähnliches ergeben“, sagte Sand-

ra. „Der Respekt vor Voodoo geht auf die Angst der weißen

Herren vor der Magie ihrer Sklaven zurück. Die Schwarzen

haben Voodoo-Zauber eingesetzt, um sich vor den Sklaven-

treibern zu schützen.“

„Und das mit Erfolg“, fuhr Armin fort. „Niemand konn-

te sich vor dem Zauber retten, der meist mit Hilfe von

‚ouangas‘, Puppen, durchgeführt wurde.“

Sandra entfaltete ein weiteres Blatt Papier.

„Die Puppen wirken wie ein Speer. Sie sind der direkte

Weg zu einer Person, die beseitigt werden soll!“

„Sie werden meist benutzt, um einen Rivalen oder eine

Konkurrentin auszuschalten. Mit ihnen kann man Macht

über einen Menschen ausüben.“

Einen Moment lang herrschte beängstigende Stille.

Dann flüsterte Mario: „Aber warum will uns jemand be-

seitigen? Wir sind hier nur in den Ferien.“

„Der Schlüssel ist dein Onkel“, sagte Armin. „Er ist ei-

ner mysteriösen Sache auf der Spur und das passt jeman-

dem offenbar nicht.“

„Wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten. Wenn

wir der Sache nicht sofort auf den Grund gehen, sind wir

vielleicht schon die Nächsten …“

43

In ihrer Aufregung hatten die drei nicht bemerkt, dass

sie ziemlich laut geworden waren. Die übrigen Gäste war-

fen ihnen böse Blicke zu. Sandra, das Sprachentalent, ver-

suchte vergeblich zu verstehen, was sie murmelten. Sie

wusste nur, dass die Einheimischen Kreolisch sprachen.

Ein runzliger alter Mann trat an den Tisch der drei

Freunde. Mitleidig blickte er von einem zum anderen.

Dann streifte er Sandra einen schmalen Lederriemen über

den Kopf, an dem eine Holzfigur baumelte.

„Gott möge eure armen Seelen schützen und euch ein

langes Leben im Jenseits schenken. Wärt ihr nur in eurer

Welt geblieben!“, flüsterte er. Dann bekreuzigte er sich und

verließ das Lokal. Die Worte blieben Mario im Hals stek-

ken, als ihm klar wurde, was seine beste Freundin soeben

erhalten hatte.

44

10 Wände mit Ohren

Der Körper der kleinen Holzfigur war von zahlreichen

winzigen Nägeln durchbohrt. In der rechten Hand hielt sie

einen spitzen Pfeil.

„Das ist ein afrikanischer Nagelfetisch, ein Talisman,

der seinen Besitzer vor Unheil bewahrt“, wusste Mario. „In

Afrika nennt man ihn ‚bonzo‘ und …“

Armin brachte seinen Freund mit einer unwilligen

Handbewegung für einen Moment zum Schweigen. Er hat-

te keine Lust auf einen längeren Vortrag seines belesenen

Freundes. Doch da quasselte Mario schon weiter: „… und

er ist mit rostigen Nägeln gespickt, die wie ein Schutz-

schild wirken: Sie blocken die böse Energie ab und neutra-

lisieren sie.“

„Hört endlich auf. Wir haben Wichtigeres zu tun!“, fuhr

Sandra dazwischen. „Wenn wir nicht bald herausfinden,

was hier vor sich geht, werden das unsere letzten Ferien

gewesen sein, das ist euch doch klar.“

„Was schlägst du vor?“, fragte Mario.

„Armin, du knöpfst dir einmal diesen Journalisten vor,

der über den ersten Selbstmordversuch berichtet hat. Ich

glaube, er heißt Aristide Bazile, aber sieh besser noch mal

nach. Und wir beide besuchen Onkel Otto. Vielleicht weiß

er was über das Kreiszeichen. Außerdem will ich wissen,

45

was Castera gemeint hat mit den ‚Restlichen‘“, sagte Sand-

ra.

„Warum muss ich immer alleine gehen?“, beschwerte

sich Armin.

„Machst du dir vielleicht in die Hosen?“, raunte Mario.

Solche Unterstellungen wirkten bei Armin wie ein Zau-

berwort. Missmutig steckte er den Zettel mit der Zeitungs-

adresse ein und machte sich auf den Weg.

„Wir treffen uns in einer Stunde im Labor!“, rief Mario

ihm hinterher.

Im Parterre des Redaktionsgebäudes brannte trotz des

schönen Wetters das Licht. Die Rolläden waren herunterge-

lassen, um den Strom für die Klimaanlage zu sparen.

„Ich möchte Aristide Bazile sprechen. Mein Name ist

Armin Hauser“, sagte der Junge zum Portier, der ihn kurz

musterte, ehe er auf einen Knopf drückte und einige Worte

in ein Mikro krächzte.

Fünf Minuten später saß der Junge in einem düsteren

Büro im vierten Stock und lauschte seinem Gegenüber.

„Eines Tages klingelte dann das Telefon und Raoul Pre-

val war am Apparat“, erklärte der Journalist. „Er klang ver-

stört, er stotterte und wiederholte sich dauernd. Ich hatte

den Eindruck, dass er sich belauscht fühlte. Na, jedenfalls

bat er mich um ein Treffen.“

„Warum denn?“

„Er hatte vor irgendwas panische Angst. Wir trafen uns

dann auch, einen Tag vor seinem – Unfall.“ Der Redakteur

schwieg einen Moment. Er nahm einen Schluck Kaffee.

„Raoul galt als aufgeschlossen und hilfsbereit. Er hatte

eine fröhliche Natur. Doch als er diesen Ferialjob bei dem

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österreichischen Wissenschaftler antrat, veränderte sich

seine Persönlichkeit. Die Arbeit schien ihm Angst zu ma-

chen.“

„Hat er gesagt, worum es bei seiner Arbeit geht?“

„Nein. Er redete wirres Zeug, irgendwas von einem

Zombie-Elixier. Er glaubte, dass ihn jemand verfolgte.“

„Glaubt Raoul an Voodoo?“

Aristide hätte beinahe seine Tasse fallen lassen. „Solche

Fragen solltest du nicht stellen, Junge. In Haiti haben die

Wände Ohren.“

Armin zeigte Aristide den Zettel mit dem Kreiszeichen.

„Dieses Symbol habe ich am Denkmal gefunden, wo

Raoul verunglückt ist“, erklärte er.

Der Journalist betrachtete die Zeichnung flüchtig und

legte sie schnell beiseite.

„Ja … und?“, fragte er, als wüsste er nicht, was Armin

von ihm wollte.

„Dieses Symbol haben Sie neulich in Ihrem Bericht er-

wähnt. Wofür steht es?“

„Warum interessiert dich das?“

„Weil meine Freunde und ich auch Puppen bekommen

haben, die dieses Zeichen auf der Hand tragen. Und wir

haben keine Lust, als Voodoo-Opfer zu enden“, entgegnete

Armin.

Der Journalist starrte den Jungen nachdenklich an.

„Meinetwegen, Kleiner, wie du willst. Du sollst es er-

fahren.“

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11 Lauschangriff

Die Tür des Laborgebäudes war auch diesmal nicht ver-

sperrt. Sandra und Mario traten ein und riefen nach Onkel

Otto. Niemand antwortete. Als sie sich dem Hauptraum

näherten, hörten sie Stimmen: Die Tür war nur angelehnt.

„Allmählich habe ich die Nase voll von euren Eskapa-

den, René! Ich bin doch kein Wohltätigkeitsverein! Wenn

ihr mit dem, was ich euch bezahle, nicht zufrieden seid,

könnt ihr gerne gehen. Ihr wisst ganz genau, dass ich euch

mehr gebe als vereinbart“, war Ottos zornige Stimme zu

vernehmen.

„Das hat überhaupt nichts mit Geld zu tun“, erwiderte

Castera schroff. „Sie sind schuld, dass wir Ihr tödliches

Geheimnis mit uns herumtragen. Und jetzt bekommen wir

auch noch diese Puppen!“

„Bevor wir wie Raoul und Samedi enden, gehen wir

zum Fernsehen und lassen alles auffliegen. Die Selbst-

mordversuche sind wohl Beweis genug, dass es … dass es

geschieht! Sie hätten uns vorher sagen müssen, dass Sie

sich mit Voodoo anlegen wollen!“, zischte René.

„Was seid ihr undankbar!“, erwiderte Otto streng. „Ich

rette vielleicht euer Volk, euer Leben mit meinen Erkenn-

tnissen!“

„Am Anfang haben wir ja an Ihre Theorie geglaubt.

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Aber dass wir dabei einer nach dem anderen draufgehen

würden, davon wussten wir nichts. Sie holen uns alle,

wenn wir nicht aufhören. Entweder Sie tun, was wir ver-

langen, oder wir packen aus und sagen, dass Sie die Restli-

chen gefunden haben!“, sagte Castera entschlossen.

Sandra und Mario sahen einander an. Sie dachten das-

selbe: Erpressung.

„Lasst uns doch noch einmal darüber reden“, bat Onkel

Otto. „So kurz vor unserem Ziel, das ist doch Wahnsinn!“

„So kurz vor unserem sicheren Tod! Das ist Wahnsinn!“,

rief René.

Mario schlug nach einem Insekt, das ihn ins Bein gesto-

chen hatte. Dabei stieß er mit dem Ellbogen an die Tür, die

quietschend aufschwang.

„Verdammt!“, entfuhr es ihm.

„Was zum Teufel macht ihr denn hier?“, rief Onkel Ot-

to. „Habt ihr etwa gelauscht?“

„Nein, haben wir nicht“, behauptete Mario nicht sehr

glaubhaft.

„Wir sind gekommen, um Ihnen ein paar wichtige Fra-

gen zu stellen“, sagte Sandra mit fester Stimme.

„Hier passieren gefährliche Dinge, Onkel Otto. Wir

müssen mit dir darüber reden. Wenn mein Verdacht stimmt

…“

„Steckt eure Nase nicht in Dinge, die euch zum Ver-

hängnis werden können“, sagte Castera kalt.

„Hört auf!“, ging Otto dazwischen. „René und Castera,

macht, dass ihr an die Arbeit kommt, und ihr beide hört

endlich auf, uns verrückt zu machen mit euren Geschich-

ten.“ Er schloss die Tür und ließ Sandra und Mario im

Gang stehen.

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50

„Du verdächtigst Castera und René?“, fragte Sandra.

„Sie weiß jedenfalls was über eine Entdeckung von On-

kel Otto“, antwortete Mario nachdenklich.

„Aber warum kriegen sie dann selbst Puppen?“

„Ein reines Ablenkungsmanöver“, erwiderte Mario.

„Sieh dir doch Onkel Otto an. Es geht ihm von Tag zu Tag

schlechter. Erstickungsanfälle, Herzrasen …“

„Geld spielt offenbar auch eine Rolle“, meinte Sandra.

„Vielleicht hat dein Onkel noch mit anderen Leuten

Schwierigkeiten?“

„Leute, mit denen auch Raoul und Samedi Schwierig-

keiten hatten?“, spann Mario den Gedanken seiner Freun-

din weiter.

„Vielleicht jemand, der mit ihnen zur Uni ging oder ar-

beitete. Die beiden wussten vielleicht zu viel und spielten

nicht mit.“

„Ich habe eine Idee“, sagte Mario. „Es ist zwar gefähr-

lich, aber unsere einzige Chance, was herauszufinden.“

Sandra kannte diesen Gesichtsausdruck und wusste so-

fort, was Mario vorhatte.

„Das ist verdammt gefährlich. Wenn wir dabei erwischt

werden …“

„Sie hat Recht“, nickte Armin zustimmend. „Wir haben

noch nie einen Plan entwickelt, bei dem so viel schief ge-

hen kann!“

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12 Die letzte Warnung

„Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter“, sagte Ar-

min ungeduldig. „Ich bin in Schwierigkeiten. Meine

Freunde und mein Onkel sind in großer Gefahr.“

Aristide rückte endlich mit der Sprache heraus. „Das

Symbol ist haitianisch. Wir bezeichnen es als ‚Loco Mi-

roir‘.“

„Und wofür steht es?“

„Für den Scheideweg zwischen Diesseits und Jenseits.“

Die Stimme des Journalisten klang ehrfürchtig. „Es ist ge-

wissermaßen der Spiegel, in den wir alle eines Tages blik-

ken müssen, der Spiegel, in dem die Menschen ihrem wah-

ren Selbst begegnen.“ Aristide zögerte einen Moment.

„Diese beiden Selbstmordversuche – wer weiß, was auf sie

gewartet hat? Vielleicht hat ihnen nicht gefallen, was sie

gesehen haben.“

Er gab Armin seine Zeichnung zurück. Armin war klar,

dass er nicht mehr erfahren würde. Er hatte offensichtlich

keine Lust weiterzusprechen.

Da hörte man aufgeregte Stimmen, die wild durchei-

nanderriefen. Es waren Sandra und Mario. Der Portier

schien sie nicht in Aristide Baziles Büro lassen zu wollen.

„Armin! Wo bist du? Wir müssen sofort mit dir reden!“,

rief Sandra.

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Armin öffnete die Tür und die beiden stürmten herein.

„Armin!“, keuchte Sandra erschöpft. „Stell dir vor, was

wir …“ Sie schnappte nach Luft.

„Beruhige dich erst mal“, sagte Armin. „Was ist pas-

siert?“

Mario setzte zu einer Erklärung an, doch Aristide kam

ihm zuvor. „Deine Freunde wollen dir mitteilen, dass

Raoul aus dem Krankenhaus verschwunden ist.“

Sandra drehte sich mit offenem Mund zu ihm um. „Wo-

her wissen Sie das?“

Die Lippen des Journalisten verzogen sich zu einem Lä-

cheln. „Ich kann eben Dinge ahnen, die andere sehen. Eine

außersinnliche Wahrnehmungsgabe, oder Intuition, wie

man will.“ Schlagartig wurde er sehr ernst. „Die Götter

haben euch gewarnt. Versteht die Warnungen endlich und

verlasst Haiti!“

„Mario, was ist passiert?“, fragte Armin. „Raoul kann

nicht verschwunden sein. Er war in der Intensivstation.

Angeschlossen an Maschinen und Infusionen, ohne die er

angeblich nicht überleben kann!“

„Ich verstehe es auch nicht“, sagte Sandra kleinlaut.

„Wir sind in das Krankenhaus geschlichen, um ihm ein

paar Fragen zu stellen. Aber sein Bett war leer!“

Aristide sagte mit düsterer Stimme: „Das war sicher die

letzte Warnung. Wenn ihr jetzt nicht vernünftig werdet,

kann euch kein Zauber dieser Welt mehr helfen.“ Den

SAM-Freunden lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.

53

13 Das Zombie-Elixier

Nach einer kurzen Lagebesprechung hatten Sandra, Armin

und Mario beschlossen, einen letzten Versuch zu unter-

nehmen, von Onkel Otto Näheres zu erfahren. Als sie das

Labor betraten, verriegelte Armin zur Sicherheit die Ein-

gangstür.

Onkel Otto brütete nicht wie gewohnt über seinen

Pflanzen. Doktor Mella war bei ihm, er hatte soeben seine

tägliche Visite beendet. Müde hockte Otto unter den Neon-

lampen, vor sich eine Tasse Kaffee mit seiner Medizin, und

rieb sich die müden Augen.

„Hallo, Onkel Otto! Du siehst ziemlich geschafft aus.

Hattest du schon wieder einen Anfall?“ Mario setzte sich

neben seinen Onkel.

„Hallo, Kinder, schön, euch zu sehen“, erwiderte Otto

schwach. „Alles in Ordnung. Kein Grund zur Aufregung.

Doktor Mella schaut jeden Tag vorbei.“

„Dein Onkel könnte ein paar Wochen Ruhe gut vertra-

gen“, bemerkte der Arzt, während er seine Tasche schloss.

„Also, Otto, dann bis morgen. Und mach mal eine Pause.

Wiedersehen, Kinder.“

Als der Arzt gegangen war und Armin die Tür hinter ihm

verriegelt hatte, begann Mario vorsichtig zu sprechen: „On-

kel Otto, du musst uns endlich ein paar Fragen beantworten.

54

Wenn unsere Vermutungen stimmen, befinden wir uns in

Lebensgefahr. Offenbar hat jemand einen tödlichen Voodoo-

Fluch über uns alle verhängt und wir wissen nicht warum.“

Otto stöhnte auf. „Was wisst ihr denn schon über Voo-

doo!“

„Was hast du entdeckt, was Castera als die ‚Restlichen‘

bezeichnet? Hängt damit auch die Erpressung zusammen?

Du darfst deinen Ferialpraktikanten nicht länger trauen!“,

warnte Mario eindringlich. „Sie sind hinter deinem Geld

her. Da ist ihnen jeder abergläubische Zauber recht.“

Marios Onkel fasste sich ans Herz. Sein Atem ging

stoßweise.

„Meine Schmerzen bilde ich mir jedenfalls nicht ein“,

begann er müde. „Ihr haltet mich wohl für verrückt, was?

Das Herzrasen und die Atemnot – das sind Tatsachen. Ich

stehe in meiner Arbeit kurz vor dem Durchbruch, dann kann

ich den schwarzen Zauber für immer entzaubern. Ich muss

jetzt durchhalten. Das wird auch eine Menge Geld bringen.“

„Was wird eine Menge Geld bringen? Woran arbeitest

du so besessen?“

„Wärt ihr bloß in Österreich geblieben, ihr Nervensä-

gen. Ihr bringt noch alles in Gefahr. Aber ihr gebt ja sowie-

so keine Ruhe, bevor ich es euch erzählt habe. Jetzt weiß

ich, was eure Eltern gemeint haben, als sie mich vor euren

Detektivspielen gewarnt haben. Doch ich wollte ihnen

nicht glauben.“

„Das sind keine Spiele!“, protestierte Sandra energisch.

„Jemand will uns über die Klinge springen lassen!“

„Voodoo, meine Lieben, ist viel mehr, als wir uns darun-

ter vorstellen“, begann Otto. Seine Stimme hatte plötzlich

den stolzen Klang eines Wissenschaftlers angenommen

55

und seine Augen funkelten. „Diese Magie wäre im Westen

nie so bekannt geworden, wenn es nicht so mutige For-

scher wie Wade Davis gegeben hätte. Ich will ihre Arbeit

zu Ende bringen und stehe dabei kurz vor dem Durch-

bruch. Bald wird die ganze Welt erfahren, wie der Voodoo-

Zauber funktioniert. Was dahinter steckt.“

„Wade Davis“, wiederholte Sandra nachdenklich. „Das

war doch der Ethnobotaniker, der 1982 nach Haiti kam, um

das Phänomen der Zombies zu erforschen.“

„Kluges Köpfchen“, sagte Otto anerkennend. „Wade Da-

vis befasste sich mit der am häufigsten verfälschten Voodoo-

Legende – dem sogenannten ‚coup poudre‘, dem Zombie-

Elixier! Damit kann man von der Seele eines Menschen auf

abscheuliche Weise Besitz ergreifen, doch außer den ‚bo-

kor‘, den Voodoo-Priestern, weiß niemand, wie man diese

schreckliche Mixtur herstellt. Die Macht von Voodoo ist

durch dieses Elixier so groß, dass sich Menschen in Trance

versetzen und in diesem Zustand glühende Kohlen in die

Hand nehmen können, ohne etwas zu spüren.“

Sandra schluckte. „Aber das ist doch alles nur fauler

Zauber, nichts als Illusion.“

„Das konnte bisher niemand beweisen“, sagte Armin.

„Ja, ja. Du glaubst ja auch an die Reinkarnation“, spöt-

telte Sandra.

„Die Haitianer glauben, dass die Voodoo-Priester Tote

zum Leben erwecken und über diese Zombies verfügen

können, wie es ihnen gefällt. Zombies gehorchen angeblich

ihrem Erwecker willenlos, egal, was er von ihnen ver-

langt!“, sagte Otto.

„So ein Quatsch. Niemand kann Tote zum Leben er-

wecken“, entgegnete Mario Onkel Otto energisch.

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„Dieser Ansicht war auch Wade Davis. Er wollte den

Beweis dafür erbringen – aber das schaffte er nicht.“ Onkel

Otto hielt inne. „Es gibt viel Seltsames unter der Sonne.

Merkwürdige Dinge geschehen auf Haiti. Dazu zählen

auch diese Puppen. Jetzt vollende ich Davis’ Werk. Nie-

mand außer meinen Gehilfen weiß, dass ich seine restli-

chen Aufzeichnungen gefunden habe, die als verschollen

galten“, flüsterte Onkel Otto.

„Deshalb sprach Castera von den ‚Restlichen‘“, mur-

melte Armin.

Die Puzzleteile fügten sich allmählich zusammen.

„Ja. Ich stehe kurz davor, beweisen zu können, was es

mit Voodoo und Zombies in Wahrheit auf sich hat“, sagte

Onkel Otto. „Dann ist der faule Zauber für immer vorbei.

Dann ist auch Schluss mit den Wiederbelebungszeremo-

nien im Wald.“

Beim Wort ‚Wiederbelebungszeremonie‘ zuckte Sandra

zusammen. „Dann waren wir also im Wald Zeugen, wie ein

Toter zum Leben erweckt wurde!“, sagte sie aufgebracht.

Plötzlich hörten sie ein dumpfes Pochen. Otto sprang

auf und ging nach nebenan in die Küche. Sandra, Armin

und Mario folgten ihm. Der Geschirrspüler war wie von

Geisterhand in Betrieb.

„Wie ist das möglich? In der letzten halben Stunde war

keiner von uns in der Nähe des Geräts!“, hauchte Sandra

verwirrt. Sie drückte vorsichtig den Stopp-Knopf, atmete

tief durch und riss den Geschirrspüler auf.

Wasserdampf waberte ihr entgegen. Als er sich ver-

flüchtigt hatte, starrte Sandra in den Spülraum. Und er-

schauderte bis in die Zehenspitzen.

57

58

14 Augen im Geschirrspüler

„Das kann doch nicht sein!“, stieß sie hervor.

Acht Augen sahen sie durchdringend an.

Onkel Otto begann zu keuchen und stürzte mit

schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden.

„Er hat wieder einen Anfall!“, schrie Mario.

„Wir müssen ihn aufs Sofa legen“, sagte Sandra. Mit

vereinten Kräften hoben sie Otto auf. Am ganzen Körper

zitternd sank er in die Kissen. Mario lockerte seine Kra-

watte und redete beruhigend auf ihn ein. Diesmal schienen

die Atembeschwerden noch schlimmer als sonst.

Keuchend starrte Onkel Otto auf den Geschirrspüler.

„Wie … wie kommen die da rein? Heute hat niemand die

Spülmaschine eingeräumt! Hier spukt es!“

„Reg dich ab, Onkel Otto. Hier hat offenbar wer was

gegen deine Forschungsarbeit und will dir Angst einjagen.

Mit Zauberei hat das nichts zu tun. Wir dürfen uns nicht

länger einschüchtern lassen“, sagte Mario nüchtern.

„Ihr haltet mich wohl für irre, was?“, krächzte Onkel

Otto mühsam. „Diese Atemnot ist furchtbar. Sie setzt im-

mer ein, wenn die Puppen auftauchen. Sie müssen verhext

sein.“

Sandra ging zum Geschirrspüler, griff sich einen Topf-

lappen und holte alle vier durchnässten Puppen heraus. Die

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Puppe mit Onkel Ottos Gesicht hielt eine kleine Plastiktüte

in der Hand, in der ein gelber Zettel lag. Sandra holte ihn

heraus und schlenderte lesend zu den anderen zurück, die

Otto gerade seine Medizin verabreichten.

„Was steht da?“, fragte Armin ungeduldig.

„Sicher nichts Erfreuliches, darauf kannst du Gift neh-

men“, entgegnete Mario.

„Scheint sich um eine verschlüsselte Botschaft zu han-

deln. Sie ergibt keinen Sinn“, erklärte Sandra und reichte

den Zettel Armin, dem Spezialisten für Geheimschriften.

Der Detektiv rieb sich das Kinn.

„Sieht wesentlich einfacher aus als unser SAM-

TopSecretCode“, meinte er grübelnd.

Otto erhob sich mühsam vom Sofa und sie setzten sich

an den Tisch.

Armin kramte in seiner Detektivausrüstung nach der

SAM-Dechiffrierscheibe.

„Das ist der ABC-1-Code. Überhaupt kein Problem, ihn

zu enträtseln!“

Sandra, Mario und Onkel Otto starrten gespannt auf den

Zettel, auf dem eine merkwürdige Buchstabenkombination

stand: 1-BZIDZNNO ZPMZ GZOUOZI NOPIYZI!

WVGY RZMYZO DCM APZM DHHZM UJHWDZN

NZDI! ZPZM ZIYZ IVCO. YDZ KPKKZI QJGGZIYZI

WVGY DCM BMVPNDBZN RZMF …

Behende drehte Armin die SAM-Decodierscheibe, wo-

bei sich die Buchstabenreihe um einige Zeichen verschob

und so jeder Buchstabe durch einen anderen ersetzt wurde.

Beim SAM-ABC-1-Code stand für den Buchstaben A ein

V, für B ein W und so fort. Dann schrieb er die richtigen

Buchstaben unter die Botschaft.

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Je weiter seine Arbeit fortschritt, desto fassungsloser

wurden seine Freunde, bis er schließlich das gesamte

Schreiben dechiffriert hatte: GENIESST EURE LETZTEN

STUNDEN! BALD WERDET IHR FÜR IMMER

ZOMBIES SEIN! EUER ENDE NAHT. DIE PUPPEN

VOLLENDEN BALD IHR GRAUSIGES WERK …

„Warum codiert jemand eine Warnung und erschwert

dadurch das Verständnis? Das ergibt doch keinen Sinn“,

überlegte Mario.

„Es sei denn, der Absender will seiner Drohung auf die-

se Weise besonderen Nachdruck verleihen“, meinte Sandra

mit besorgter Miene.

Onkel Otto war fassungslos. Ihm blieben die Worte im

Hals stecken. „Ich … ich kenne diese Drohbriefe!“, stam-

melte er. „Ich wäre beinahe draufgegangen, als ich vor ein

paar Wochen den ersten bekam. Es war schrecklich …“

„Wir sind ganz Ohr Onkel Otto“, sagte Mario erwar-

tungsvoll.

61

15 Mit Blut geschrieben

„Immer wenn mir eine dieser Puppen zugespielt wird, be-

komme ich kurz darauf einen schlimmen Anfall. Es fing

schon am zweiten Tag nach meiner Ankunft in Port-au-

Prince und der Pressekonferenz im Hotel Oloffson an. Ich

wollte am Nachmittag mit dem Motorboot aufs Meer hi-

nausfahren und ein wenig tauchen.

Gegen sieben Uhr machte ich meinen dritten Tauch-

gang. Ich sprang ins Wasser und glitt langsam zu den Ko-

rallenriffen hinab, als sich über mir plötzlich das Wasser

rot färbte. Mir war sofort klar, dass es sich um Blut handel-

te und dass ich in akuter Gefahr war. Da griffen mich auch

schon zwei riesige Haie an. Ich hatte nicht einmal eine

Harpune bei mir, weil es in dieser Gegend normalerweise

keine Haie gibt. Im letzten Moment entdeckte ich eine

kleine Höhle in den Felsen am Meeresboden, in die ich

mich flüchtete. Die Haie griffen weiter an; die waren rich-

tig rabiat. Ich sah auf die Taucheruhr und stellte entsetzt

fest, dass ich nur noch für drei Minuten Sauerstoff hatte.

Wenn ich nach oben sah, konnte ich mein Boot erkennen.

Als die Haie sich für einen weiteren Angriff etwas ent-

fernt hatten, schoss ich aus meinem Versteck und

schwamm nach oben. Die Atemluft begann zu versiegen,

die Haie näherten sich blitzschnell. Ich zerrte mich mit

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letzter Kraft in das Boot. Knapp hinter mir rasten die Be-

stien aus dem Wasser und bissen mit voller Wucht ins Lee-

re. Ich entkam ihnen nur um Haaresbreite. Es war schreck-

lich! Aber das war noch nicht alles – hinter dem Steuer saß

eine dieser Puppen. Sie sah mir ähnlich und hatte einen

Drohbrief in der Hand.“

Otto Klein eilte zum Wandschrank und entnahm ihm ein

zerknülltes Blatt Papier.

Mario sah sich den Brief an; er war offensichtlich mit

Hühnerblut geschrieben: GEH ZURÜCK IN DEINE

WELT ODER DU WIRST WÜNSCHEN, NIEMALS

HIERHER GEKOMMEN ZU SEIN!

Darunter war ein Loco Miroir aufgezeichnet.

„Es war weit und breit kein anderes Boot zu sehen. Ich

kann mir nicht erklären, wie die Puppe dahin gekommen

ist. Und das Blut, das die Haie angelockt hat?“

„Es ist wie bei den Puppen im Geschirrspüler“, murmel-

te Armin.

„Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie

die Puppen da reingekommen sind“, erklärte Otto. „Außer

uns ist niemand hier.“

„Es könnte jemand durch das Fenster eingestiegen

sein“, gab Mario zu bedenken.

„Das ist doch Unfug!“, meinte Onkel Otto. „Das hätten

wir gehört.“

„Aber durch die Tür konnte niemand kommen“, schalte-

te sich Armin ein. „Die war doch verriegelt.“

„Bleibt nur Doktor Mella“, sagte Sandra.

Otto wehrte ab. „Auf keinen Fall!“, sagte er. „Er behan-

delt mich seit dem Beginn dieser Beschwerden und ist ein

guter Freund von mir.“

63

Fünfzehn Minuten später hatten die SAM-Mitglieder

das ganze Haus durchsucht. Nicht ein einziges Fenster

stand offen, nichts wies auf einen heimlichen Eindringling

hin. Sie konnten es einfach nicht fassen. Ihr Gegner hatte

sich bis auf wenige Meter an sie herangewagt.

Oder war der Voodoo-Zauber doch mehr als Einbil-

dung?

Armin griff nach der Puppe mit seinem Gesicht und be-

trachtete sie ratlos. An der Innenseite der Hand befand sich

das Loco-Miroir-Zeichen. „Der Spiegel, in den wir alle

eines Tages blicken müssen …“, murmelte er mit wach-

sender Beunruhigung.

Da klingelte es und Doktor Preval trat ein, um Onkel

Otto Medizin zu bringen.

„Was ist denn hier los?“, fragte er erstaunt, als er Armin

mit der Puppe in der Hand sah. „Ihr solltet nicht mit sol-

chen Dingen spielen“, warnte er und stellte seine Tasche

auf dem Küchentisch ab. Er war klitschnass. Das Wetter

hatte umgeschlagen und der Tropenregen prasselte auf die

Stadt nieder. Böiger Wind beugte Palmen und Sträucher.

Tiefe Besorgnis legte sich auf das Gesicht des Apothe-

kers, als er den Drohbrief auf dem Tisch sah.

„Ist euch überhaupt klar, was das für euch bedeutet?“,

fragte er. „Ich glaube, ich muss euch etwas über schwarze

Magie erzählen.“ Sein Blick verdunkelte sich schlagartig.

„Sie birgt Kräfte, an die ihr nicht im Traum zu denken

wagt!“

64

16 Lebendige Tote

Den drei Freunden war klar, dass sie Doktor Preval zuerst

von Raouls Verschwinden erzählen mussten. Er nahm es

verwundert, aber doch recht gelassen auf. Offenbar glaubte

er, sein Sohn sei nur verlegt worden. Er begann zu erzäh-

len: „Ursprünglich hieß die Volksreligion Voodoo ‚Vodun‘

und bezeichnete eine Klasse von Gottheiten. Heute besteht

sie aus Katholizismus, schwarzer Magie und Psychologie.

Es gibt einen schrecklichen Gott namens Guede, der mit

Hilfe finsterer Geister über die Geheimnisse des Todes,

über Zauberflüche und Schadenszauberei wacht. Für die

Anhänger des Voodoo ist unsere Welt nur eine Fassade,

hinter der die mächtigen Geister wirken, die man auf kei-

nen Fall reizen sollte. In der gefährlichsten Ausprägung des

Voodoo finden dabei seltsame Zeremonien im ‚houmfor‘,

einem Tempel, statt. Der besteht aus kleinen Gebäuden, in

denen Reliquien aufbewahrt werden, und einer Lichtung,

auf der sich die Gläubigen versammeln. Der Anführer be-

ginnt dann die Zeremonie mit Beschwörungen. Dabei

zeichnet er sogenannte ‚veves‘ in den Boden – Zeichen wie

dieses hier.“ Der Apotheker zeigte auf das Loco Miroir.

„Die Anhänger geraten zunehmend in Ekstase und schließ-

lich werden den Göttern Opfer dargebracht, meist Ziegen

oder Hühner …“

65

„Hühner!“, entfuhr es Sandra. Sie dachte daran, wie

die Gestalt im Wald einem Huhn den Hals durchgebissen

hatte.

„Manchmal opfern sie aber auch Menschen“, sagte

Doktor Preval mit belegter Stimme.

Einen Moment lang herrschte betretene Stille. Den

SAM-Freunden wurde jetzt richtig bewusst, in welcher

Gefahr sie sich befanden.

„Doch das absolut Erschreckendste daran ist“, fuhr der

Apotheker fort, „dass die Voodoo-Priester auch mit Puppen

töten können. Sie fertigen eine Puppe an, die dem Opfer

ähnlich sieht, und durchstechen sie mit spitzen Nadeln. Sie

sind Boten des nahenden Unheils.“

„Aber es gibt doch keine Zauberei!“, rief Mario.

„Diese Zauberer sind keine gewöhnlichen, wie sie in

Märchen vorkommen. Sie gehören zu der gefürchteten

‚Roten Sekte‘, die sich ausschließlich mit Kannibalismus,

schwarzer Magie und Zombies befasst. Die Priester verflu-

chen ihre Opfer und durch die Puppen treiben sie sie zu

Wahnsinnstaten. Wenn sie dann gestorben sind, erwecken

sie sie zu neuem Leben, machen sie zu lebendigen Toten –

zu Zombies.“

Armin und Mario blickten auf den Talismam, den Sand-

ra um den Hals trug.

„Verdammter Mist! Ich habe es geahnt, dass wir bis zum

Hals in der Tinte sitzen“, zischte Mario und schlug mit der

Faust auf den Tisch.

Sie wollten einfach nicht glauben, dass es so etwas Be-

drohliches gab. Andererseits …

Herr Preval gab Onkel Otto seine Medizin, verabschie-

dete sich höflich und machte sich auf den Weg.

66

„Ich glaube, es ist besser, wenn ihr auch nach Hause

geht und euch ein wenig ausruht“, meinte Onkel Otto.

„Du hast Recht“, stimmte Mario zu. „Die Macht der

Suggestion ist zwar beeindruckend, aber das gilt auch für

die Kraft der Vernunft. Und die ist jetzt gefragt, Freunde.“

Die drei Freunde verabschiedeten sich und baten ihn,

die Haustür zu seiner eigenen Sicherheit hinter ihnen abzu-

schließen. Dann winkten sie ein Tap-Tap-Taxi herbei.

Daheim angekommen, liefen sie durch den strömenden

Regen und den Nebel zur Veranda.

„Ich schließe noch schnell das Garagentor!“, rief Mario

und rannte zum Nebengebäude. Armin und Sandra waren

soeben ins Trockene gekommen, da hörten sie Mario

schreien: „Armiiin, Sandraaa, schnell!“

67

17 Das Schlammgesicht

Armin und Sandra rannten zur Garage.

Mario leuchtete mit seiner Minitaschenlampe in den

Nebel und versuchte verzweifelt, im Schein des Lichtes

etwas zu sehen. Er hörte Sandra nach ihm rufen. Der

Lichtkegel huschte über einen dunklen Schatten.

„Vorsicht! Hier ist irgendwer – irgendwas“, rief er.

Da wurden seine Freunde von einer torkelnden Gestalt

umgerannt. Sandra erschauderte.

Marios Lichtstrahl näherte sich durch Nebel und Regen.

„Mario, hier bin ich!“, stieß Sandra hervor, den Blick

auf die Gestalt gerichtet, die drohend über ihr stand. Ihre

Hände versanken immer weiter im sumpfigen Boden. Die

Gestalt hob langsam ihren linken Fuß und lenkte ihn gegen

Sandras Kopf. Dann trat sie zu. Im letzten Augenblick

packten zwei Hände Sandra und zerrten sie zur Seite. Der

schwere Schuh platschte in den Morast und schleuderte

Sandra und Armin Schlamm ins Gesicht.

„Das war knapp! Danke!“, jampste Sandra erleichtert.

Der Lichtkegel von Marios Taschenlampe streifte das

unheimliche Wesen noch einmal, dann verschwand es im

Regen.

Sandra sah etwas auf dem Boden liegen. Sie griff da-

nach: Es war eine Puppe, die ihr Gesicht hatte und an der

68

ein weiterer Drohbrief mit dem Loco Miroir und folgenden

Worten befestigt war: IHR WOLLTET NICHT HÖREN –

JETZT WERDE ICH EUCH HOLEN!

Mario schaltete am schnellsten. „Los, macht schon! Er

darf uns nicht entkommen!“, rief er. Sie rannten der Gestalt

hinterher.

Es dauerte nicht lange und der Strahl seiner Taschen-

lampe hatte den breiten Rücken des Fremden erfasst. Er

war schwarz gekleidet und wankte seltsam. Er wirkte wie

ein Schlafwandler.

„Sofort stehen bleiben!“, schrie Sandra. Der Mann rea-

gierte nicht.

Armin erreichte ihn als erster und warf sich mutig auf

seine Beine. Der Mann stürzte zu Boden.

„Was wollen Sie von uns? Für wen arbeiten Sie?“, rief

Armin. Er verdrehte seinem Gegner den Arm, wie er es im

Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Der Mann wehrte

sich nicht. Armin drehte ihn auf den Rücken, sodass sie

sein Gesicht sehen konnten. Die SAM-Freunde erstarrten

vor Schreck.

Fassungslos blickten sie in ein gruseliges Antlitz, das

von tiefen Wunden entstellt war. Die leblosen Augen

schienen durch die SAM-Freunde durchzusehen. Der

Fremde machte keinen Versuch zu fliehen. Auch nicht, als

ihn Armin losgelassen und er sich mühsam aufgerichtet

hatte. Er sprach kein Wort und stand wie eine Statue im

strömenden Regen.

„Wie kann das sein?“, hauchte Sandra schließlich her-

vor.

Vor ihnen stand Raoul Preval, der nach Aussage der

Krankenhausärzte klinisch tot war, also nur noch künstlich

69

am Leben erhalten werden konnte. Den drei Freunden

wurde klar, dass er tatsächlich einem Zombie glich, wie ihn

die Bücher beschrieben.

„Wo … wo sind wir da nur reingeraten?“, stotterte Ma-

rio. In seiner Stimme klang Angst.

„Raoul, was ist passiert?“, fragte Sandra.

Raouls Augen starrten weiter ausdruckslos in den Nebel.

„Wir müssen ihn sofort ins Krankenhaus zurückbrin-

gen“, beschloss Mario. „Die Ärzte können sicher sagen,

was mit ihm geschehen ist.“

Herr Preval konnte es kaum fassen. Er entging nur

knapp einem Nervenzusammenbruch, als ihm Armin die

schockierende Nachricht überbrachte.

Raoul befand sich als einziger Patient in der psychiatri-

schen Abteilung des Krankenhauses. Diese Abteilung war

durch dicke Stahlgitter von den übrigen Stationen getrennt

und glich in den Augen der drei Freunde einem Gefängnis.

Doktor Mella kümmerte sich um Raoul. Niemand wus-

ste genau, was mit ihm geschehen war; es sah aus, als hätte

er den Verstand verloren.

Sandra, Armin und Mario traten an die Tür von Raouls

Zimmer und blickten besorgt durch das kleine Panzerglas-

fenster.

„Seitdem wir ihn hergebracht haben, sitzt er so da und

wiegt geistesabwesend den Oberkörper“, murmelte Mario.

„Wir müssen rausfinden, was mit ihm passiert ist“, sagte

Sandra. „Ich will nicht sterben oder als Zombie enden.“

„Aus Raoul kriegen wir nichts raus, das können wir

vergessen“, meinte Armin nach einer Weile.

„Aber es muss doch einen Weg geben!“ Sandra überleg-

te fieberhaft.

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Sie warf einen letzten Blick durch das kleine Fenster.

Da sah sie, dass sich Raouls Lippen bewegten. Sie starrte

auf seinen Mund. Er wiederholte offenbar ständig ein Wort.

„Armin, Mario!“, flüsterte sie aufgeregt. „Seht nur, er

bewegt die Lippen! Ich glaube, er möchte uns etwas mittei-

len“

„Was stammelt er da?“, fragte Mario.

„B … bok … boko … bokor!“, flüsterte Armin.

„Das ist doch die Bezeichnung für Voodoo-Zauberer“,

sagte Sandra. „Ich glaube, ich weiß, was er uns sagen will,

Freunde.“

„Mach es nicht so spannend“, zischte Mario.

„Hofft lieber, dass ich nicht Recht habe!“, murmelte sie

ängstlich.

71

18 Tetrodotoxin

Eine halbe Stunde später hatten Onkel Otto und Doktor

Preval das Krankenhaus verlassen, um sich bei einem

Abendessen im Café Terrasse hinter dem Air-France-

Gebäude ein wenig vom Schock zu erholen.

Sandra, Armin und Mario blieben noch eine Weile. Sie

hatten vorgegeben, nach Hause fahren zu wollen. Doch in

Wahrheit hatten sie einen höchst riskanten Plan.

„Ich halte das für zu gefährlich“, flüsterte Mario. „Stellt

euch vor, wir werden erwischt. Dann wandern wir ins Ge-

fängnis, und wie die Gefängnisse auf Haiti aussehen, brau-

che ich euch wohl nicht zu sagen.“

„Das wissen wir“, unterbrach ihn Armin. „Aber es gibt

keine andere Möglichkeit. Raoul ist in diesem Zustand kei-

ne Hilfe.“

Auf leisen Sohlen schlichen die drei Freunde zum Büro

von Doktor Mella, dem Primarius. Außer der Reinigungs-

frau und der Nachtschwester war inzwischen niemand

mehr anwesend.

Armin holte seinen Dietrich hervor und machte sich am

Schloss der Bürotür zu schaffen.

„Wenn uns die Krankenakten auch keinen Hinweis ge-

ben, sind wir verloren“, flüsterte Mario, der sich nicht wohl

fühlte bei dem, was sie da taten.

72

Als Armin die Tür geöffnet hatte, huschten die drei De-

tektive hinein, knipsten ihre Minitaschenlampen an und

machten sich am Aktenschrank zu schaffen.

„Pass auf, ob jemand kommt, Armin“, flüsterte Mario.

Sandra fand, was sie suchten. Vorsichtig zog sie die Schub-

lade mit den vertraulichen Unterlagen heraus.

„Macht schneller! Die Nachtschwester macht sicher

bald wieder einen Rundgang“, drängte Armin.

„Da ist die Akte: Preval, Raoul“, wisperte Sandra, als

sie die dunkelblaue Mappe aus der Lade zog. Unter Raouls

Name prangte ein Stempel, der die Akte als ‚streng vertrau-

lich‘ qualifizierte. Sie öffnete die Krankenakte, als sich auf

dem Gang plötzlich dumpfe Schritte näherten.

„Alarmstufe Rot!“, zischte Armin. „Es ist Doktor Mella!

Er kommt noch einmal zurück!“

Sandra klappte die Mappe zu, knipste die Taschenlampe

aus und sah sich nach einem Versteck um.

Die Tür öffnete sich und das Licht wurde angedreht.

Langsam ging Doktor Mella zum Aktenschrank.

Armin beobachtete aus seinem Versteck den groß ge-

wachsenen Mann, dessen braune Augen unter buschigen

schwarzen Brauen lagen. Das pechschwarze, gelockte Haar

und die Nickelbrille ließen ihn ein wenig wie einen Küns-

tler aussehen.

Doktor Mella bemerkte, dass der Schrank mit den

Krankenakten offen stand. Er runzelte die Stirn und sah

sich im Büro um.

Sandra, Armin und Mario wagten kaum zu atmen.

„Ist hier jemand?“, fragte Doktor Mella in die Stille hi-

nein.

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Mario, der unter dem Schreibtisch kauerte, rann der

Angstschweiß übers Gesicht. Die Füße des Primarius war-

en nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Er versuchte

verzweifelt, ein Niesen zu unterdrücken; der Teppichstaub

stieg ihm in die Nase. Auch Sandra liefen kitzelnde

Schweißperlen den Rücken hinunter. ‚Alles, nur nicht

Raouls Unterlagen darf er suchen‘, dachte sie.

Doktor Mella wandte sich langsam wieder dem Akten-

schrank zu und nahm eine orangefarbene Mappe heraus.

Wieder kitzelte Mario der Staub in der Nase. Lange

würde er nicht mehr durchhalten.

Da erschien die Nachtschwester und rief Doktor Mella

zu: „Telefon für Sie, Herr Doktor! Bitte kommen Sie

schnell, es ist dringend!“

„Danke, Schwester Garcia. Ich komme.“ Der Primarius

verließ mit der Schwester hastig das Büro. Kaum hatten

sich ihre Schritte entfernt, platzte Mario mit einem

furchtbaren Niesen heraus. Sandra und Armin erstarrten,

doch die Schritte entfernten sich zum Glück.

„Mann, o Mann, das war mehr als knapp“, stellte Armin

fest.

Sandra schlug Raouls Akte wieder auf. Mario überflog

die ersten Seiten. Plötzlich verdunkelte sich sein Gesichts-

ausdruck: „Jetzt wird mir einiges klar …“

„Spann uns nicht länger auf die Folter“, drängte Armin.

„Der Bluttest!“, murmelte Sandra nachdenklich. „Oh

Gott, nein! Mein Verdacht hat sich bestätigt!“

„In Raouls Blut wurden geringe Mengen Tetrodotoxin

gefunden“, sagte Mario langsam.

„Tetrodotoxin?“, wiederholte Armin. „Du sprichst von

einem tödlichen Gift, das ist dir doch klar, oder?“

„Du meinst … das Zombie-Elixier? Raoul ist ein echter

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Zombie, der durch einen Voodoo-Priester wieder zum Le-

ben erweckt wurde?“, fragte Sandra ungläubig.

Mario nickte.

Sandra brach das Schweigen: „Ich schlage vor, wir re-

den noch einmal mit Aristide. Ich möchte wissen, was mit

Samedi nach seinem Selbstmordversuch passiert ist, und

dann werden wir uns das erste Buch von Onkel Otto zu

Gemüte führen – und zwar schleunigst, bevor wir enden

wie Raoul.“

Der Journalist reagierte unwirsch: „Ich hab euch doch klar

und deutlich gesagt: Lasst das gottverdammte Herum-

schnüffeln. Ihr bringt euch ernsthaft in Gefahr!“

„Das sind wir schon“, gab Armin zurück. „Wir brauchen

Antworten auf unsere Fragen, sonst werden Sie bald einen

Bericht über unser Ableben schreiben können.“

„Wärt ihr bloß nie aufgetaucht!“, seufzte Aristide mür-

risch. „Na gut. Samedi ist spurlos verschwunden. Nachdem

man ihn schwer verletzt gefunden hatte, brachte man ihn

ins Krankenhaus. Dort kam er auf die Intensivstation. Sei-

ne Freunde, ein Mädchen namens Castera und ein gewisser

René, haben ihn einmal besucht. Das war einen Tag nach

seiner Einlieferung.

Tags darauf starb er. Aber als man ihn beerdigen wollte,

war die Leiche verschwunden. Die Polizei hat tagelang

nach ihr gesucht. Keine Spur – bis heute. Mehr weiß ich

auch nicht.“

„Das war nicht sehr ergiebig“, sagte Armin, als die drei

Freunde auf dem Weg ins Labor waren. Die Bücher von

Onkel Otto waren jetzt der letzte Anhaltspunkt.

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Als sie zum Laborgebäude kamen, ließ sie ein knarzen-

des Geräusch aufhorchen. Unmittelbar vor ihnen wurde ein

Fenster nach oben geschoben und eine Gestalt kletterte

rückwärts heraus.

„Der Überbringer der Puppen! Jetzt haben wir das

Aas!“, zischte Armin.

Sie schlichen weiter und erkannten den Übeltäter – vor

ihnen stand Castera!

„Es wird Zeit, dass du uns ein paar Erklärungen lie-

ferst“, fuhr Sandra sie verärgert an und zeigte auf einen

verschnürten Jutesack, den Castera fallen lassen hatte.

Doch sie hielt augenblicklich inne, als der Sack begann,

sich zu bewegen.

77

19 Schwarze Schlangen

Schritt für Schritt näherten sie sich dem merkwürdigen

Ding.

Zischende Geräusche drangen heraus.

„Was zum Teufel ist da drin?“, murmelte Mario nervös

und sah seine Freunde an.

Die Schnur, mit der der Sack verschnürt war, löste sich

und eine glänzende schwarze Schlange kroch heraus, ge-

folgt von zwei weiteren.

„Ihr blöden Idioten!“, fauchte Castera.

„Das sind die Schlangen aus Onkel Ottos Labor“, er-

klärte Mario. „Ich hab sie gestern in einem Raum mit tropi-

schen Pflanzen, Kugelfischen und bunten Fröschen gese-

hen.“

„Und deshalb so viel Aufregung“, murrte Armin.

„Warum wolltest du sie stehlen?“, fragte Sandra und sah

Castera fest in die Augen.

Die junge Haitianerin bebte vor Wut. Sie machte keine

Anstalten, die Frage zu beantworten, sondern wandte den

Blick ab und versuchte Sandra zu ignorieren.

„Sei nicht so dumm!“, schrie Armin sie an. „Du und

René bekommt genau wie wir diese Puppen. Ihr seid also

auch genauso in Gefahr wie wir! Wir wollen endlich wis-

sen, was hier los ist!“

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Missmutig entschloss sich die Ferialpraktikantin zu re-

den und den drei Freunden die Situation zu erklären.

„Ich kriege für jede Schlange, die ich am vereinbarten

Ort abliefere, 25 Gourdes. Das ist sowieso viel zu wenig in

Anbetracht der gefährlichen Umstände. Die Schlangen sind

hochgiftig!“, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

„Wer bezahlt dich?“, fragte Mario.

Castera blickte sich um, als hätte sie Angst, belauscht zu

werden. Dann flüsterte sie: „Ich weiß nicht, wer die Tiere

abholt. Aber solange ich welche bringe, bin ich angeblich

nicht in Gefahr; das stand in einem Brief, der am Treff-

punkt hinterlegt war. Er war mit Blut geschrieben!“

Sie erschauderte. Die SAM-Detektive sahen einander

an. Casteras Furcht schien echt zu sein.

„Würdet ihr mich jetzt bitte in Ruhe lassen!“

Die drei Freunde steckten die Köpfe zusammen. Mario

flüsterte: „Ich hab mal im Fernsehen eine Dokumentation

über Fische und Amphibien gesehen, die nervenlähmende

Gifte produzieren.“

„Du meinst so was Ähnliches wie Tetrodotoxin?“, fragte

Sandra gespannt.

„Wär doch möglich.“

„Sprecht weiter und verhaltet euch unauffällig“, unterb-

rach Armin plötzlich ihre Spekulationen. „Ich glaube, wir

werden von der Straßenecke aus beobachtet.“

Mario wandte vorsichtig den Kopf und warf einen Blick

zur Hauptstraße hinüber, wo er jemanden stehen sah.

Sandra bückte sich langsam und täuschte vor, ihre

Schnürsenkel neu zu binden. „Ja, jetzt seh ich ihn auch.“

„Ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass uns jemand

folgt; ich war mir aber nicht ganz sicher“, wisperte Armin.

80

„Wer sollte das tun? Und wieso?“ Mario sah seine bei-

den Detektivfreunde fragend an. „Tut weiter so, als hättet

ihr nichts bemerkt, klar? Ich werde der Sache auf den

Grund gehen“, sagte er und stieg durch das offene Fenster

flink ins Laborgebäude ein.

Im Gebäude schlich Mario sich zum Haupteingang. Vor-

sichtig öffnete er die Tür und trat ins Freie. Von hier aus

konnte er ungesehen die Straße überqueren und sich im

Schutz der Häuser und des Verkehrs von hinten unbemerkt

an den Fremden heranschleichen.

Als er sich ihm bis auf fünf Schritte genähert hatte,

sprach er ihn an.

Aristide Bazile zuckte zusammen und brachte einen

Moment kein Wort hervor.

„Was machen Sie hier?“, fragte Mario ihn scharf.

Der SAM-Detektiv glaubte etwas wie Angst in den Au-

gen des Journalisten aufblitzen zu sehen. Er wirkte ver-

krampft.

„Warum verfolgen Sie uns? So reden Sie doch! Stecken

Sie hinter diesem ganzen Hokuspokus? Wir wollen endlich

wissen, was hier los ist.“

Aristide bemühte sich, verständliche Worte hervorzub-

ringen. „Ich bin euch … nachgeschlichen, um euch zu

warnen!“

„Wovor?“

Ängstlich blickte Aristide sich um und zog Mario um

die Hausecke.

„Nehmt euch auch vor ihr in Acht“, flüsterte er und

meinte offenbar Castera. „Jemand hat es auf euer Leben

abgesehen, genauso wie auf das von Doktor Klein. Meine

Recherchen bestätigen das. Die Voodoo-Priester töten in

81

kleinen Etappen. Sie treiben ihr Opfer langsam in den

Wahnsinn. Zuerst sind es nur ganz leichte Schmerzen, die

von den Puppen auf sie übertragen werden. Es fängt mei-

stens mit Schlafstörungen und Stresserscheinungen an.

Dann kommen Atembeschwerden, Herzstechen und

Asthmaanfälle.“

„Wie bei Onkel Otto“, sagte Mario besorgt.

„Ja“, bestätigte Aristide. „Die Schmerzen werden fast

unerträglich, bis der Schlangengott Damballah das Opfer

endlich durch den Tod erlöst und sich seiner Seele bemäch-

tigt. Kurz zuvor lässt er ihm eine Jutepuppe zukommen, die

von einer spitzen Nadel durchbohrt ist. Sie kündigt an, dass

das Ende unmittelbar bevorsteht.“

„Das ist doch ein Witz. Sind denn auf dieser Insel alle

verrückt?“, zischte Mario. Sosehr ihn Onkel Ottos Anfälle

beunruhigten, er war doch zu sehr daran gewöhnt, sich von

der Vernunft leiten zu lassen, als dass er Aristides Ge-

schichte einfach so hinnehmen hätte können.

„Voodoo-Zauberer verstehen keinen Spaß. Die Zeichen

sprechen eine deutliche Sprache. Mir fällt es zwar schwer,

das zu sagen, aber wenn kein Wunder geschieht, sind eure

Tage gezählt.“

Aristides Stimme war immer leiser geworden.

„Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund!“, forderte

Mario. „Wer hat einen Vorteil davon, wenn Onkel Otto und

wir beseitigt werden?“

„Tut mit Leid, aber diese Frage könnt nur ihr selbst be-

antworten. Irgendwo in dieser Stadt gibt es jemanden, für

den ihr eine große Gefahr darstellt.“

Der Journalist verstummte. Sein Gesicht war zu einer

Grimasse der Angst verzerrt.

82

„Seid vorsichtig. Ihr wisst ja, was mit Samedi und

Raoul geschehen ist.“

Mit diesen Worten machte sich Aristide aus dem Staub.

Mario kehrte nachdenklich zu seinen Freunden zurück.

„Was hat er gesagt?“, wollte Armin sofort wissen.

„Nichts Neues. Er wirkt, als hätte er furchtbare Angst.

Er meint, wir sind in großer Gefahr. Aber vielleicht ist er

auch nur ein Journalist auf der Suche nach einer Sensati-

onsstory. Ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten

soll“, antwortete Mario.

„Ist doch alles Aberglaube“, versuchte Sandra ihn zu be-

ruhigen. „Aberglaube erzeugt Angst. Und Angst erzeugt

dann noch mehr Aberglaube. Einbildung, darauf beruht der

Voodoo-Zauber, das sage ich euch!“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte Mario.

„Voodoo jagt den Menschen solche Angst ein, dass sie

alles glauben, aber genau genommen ist diese Angst völlig

unsinnig, genau wie die vor Freitag, dem Dreizehnten.“

„Vielleicht arbeitet Castera heimlich für den Unbekann-

ten, der uns und Onkel Otto an den Kragen will?“, meinte

Armin nachdenklich. „Ich habe den Eindruck, dass sie viel

mehr weiß, als sie preisgibt.“

„Das werden wir jetzt aus ihr herausholen. Mir reicht’s

endgültig!“, schimpfte Sandra. Sie wandte sich um – und

riss die Augen verblüfft auf.

83

20 Freitag, der Dreizehnte

Castera war spurlos verschwunden.

„Sie ist abgehauen. Ob sie Angst vor Aristide hat?“,

mutmaßte Sandra.

„Nein, sicher nicht“, erwiderte Mario mit zusammen-

gekniffenen Augen. „Ich glaube eher, Aristide hat Angst

vor ihr.“

„Wahrscheinlich wollte sie nur unseren Fragen auswei-

chen“, meinte Armin.

„Dann holen wir uns die Antworten jetzt erst recht“,

sagte Sandra entschlossen.

„Los, gehen wir sie suchen!“, sagte Armin bestimmt.

„Sie wird entweder nach Hause gehen oder zu Onkel

Otto ins Labor“, überlegte Sandra.

„Das glaube ich nicht. Da würden wir sie doch zuerst

vermuten“, gab Mario zurück.

„Wie sollen wir sie denn in dieser großen Stadt finden?“

„Sie kann noch nicht weit sein, los!“

„Warum können wir nicht mal normale Ferien haben,

wie andere auch?“, ächzte Sandra, als sie losmarschierten.

Während die drei Freunde die Rue José de San Martin

entlangliefen, sahen sie auch in jede Seitengasse. Sie ka-

men an einer Arena vorbei, aus der Merengue-Musik klang

und die vor Menschen wimmelte. Offenbar fanden hier

84

Hahnenkämpfe statt. Sandra, Armin und Mario mischten

sich unter die johlende Menge. Die Luft war getränkt von

Rumdunst, Schweiß und Zigarrenqualm. Männer gestiku-

lierten erregt, Fäuste krachten auf das Geländer nieder und

grelle Scheinwerfer beleuchteten die Szene. Stolz präsen-

tierten die Kontrahenten gerade ihre gefiederten Gladiato-

ren. Fachmännische Kommentare machten die Runde, my-

steriöse Handzeichen und Zurufe bestimmten die Einsätze.

Dann wurden die mit messerscharfen Sporen ausgestatteten

Hähne aufeinander gehetzt.

„Tierquälerei! Man sollte diese Idioten alle einsperren!“,

schimpfte Armin aufgebracht, denn er war ein großer Tier-

freund und half seinem Vater oft in der Tierklinik.

Die SAM-Freunde ließen ihre Blicke über die Menge

schweifen. Ein Mensch von Casteras Körpergröße konnte

hier leicht untertauchen.

Doch dann entdeckten sie das Mädchen.

Castera hatte sie auch gesehen. Sie verschwand in ei-

nem Keller.

Sandra, Armin und Mario zwängten sich zwischen den

kreischenden Leuten durch.

„Castera!“, schrie Sandra. „Warte, wir müssen mit dir

reden!“

Sie riss die Kellertür auf und stolperte über eine dunkle

Treppe hinunter. Beinahe wäre sie gestürzt.

Sie hörte, wie sich Casteras Schritte beschleunigten.

Jetzt rannte auch sie schneller, was in der Dunkelheit

gar nicht einfach war. Sie holte auf. Vor ihr wurde eine Tür

zugeschlagen.

Jetzt saß Castera in der Falle. Es gab sicher keinen zwei-

ten Ausgang aus dem Raum, in dem sie sich jetzt befand.

85

Sandra hörte Armin und Mario hinter sich. Gemeinsam

stießen sie die alte Holztür auf und polterten in den dahin-

ter liegenden Raum.

„So! Jetzt kannst du uns nicht mehr einfach davonren-

nen. Jetzt wollen wir Antworten hören!“, rief Armin.

Mario legte den Lichtschalter um und eine schwache

Glühbirne ging an.

Der Raum war leer!

Keine Kisten, kein Gerümpel, keine Castera.

Die SAM-Detektive sahen auf eine kleine Kellerluke,

die auf die Straße hinausführte.

„Ich würde sagen: 1:0 für Castera“, brummte Mario

verärgert.

Betretenes Schweigen machte sich breit. Das einzige

Lebenszeichen kam von der Straße. Ein Tap-Tap hielt und

eine Autotür wurde geöffnet. Einen Moment lang hörte

man eine Radiostimme: „Heute ist Freitag, der Dreizehnte,

für manche unter uns ein Tag, den sie wohl nie vergessen

werden. Es ist zwanzig Uhr und es folgen die Kurznach-

richten …“ Die Autotür wurde zugeschlagen und das Tap-

Tap brauste davon.

Mario seufzte. „Was jetzt?“

„Jetzt tritt Plan B in Kraft“, sagte Armin. „Für wen auch

immer Castera die Schlangen gestohlen hat – er kennt sich

mit Giften wie Tetrodotoxin aus und hat seine Ware nicht

erhalten.“

„Ein Arzt wie Doktor Mella!“, sagte Sandra mit einer

Mischung aus Angst und Ärger in ihrer Stimme.

„Er wird kommen und sie holen, und dann schlagen wir

zu! Darauf kann er Gift nehmen!“

86

21 Die Glühbirnenfalle

Etwa eine halbe Stunde später waren die SAM-Freunde im

Labor von Onkel Otto eingetroffen und hatten ihm alles

erzählt, was in den letzten Stunden geschehen war.

Fassungslos hatte der Forscher den Jutesack hereinge-

holt und die einzige in ihm verbliebene Schlange in ihren

Glasbehälter zurückgegeben.

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass

Doktor Mella hinter diesen Anschlägen stecken soll, das

habe ich euch doch schon gesagt“, protestierte Otto ener-

gisch. „Er kommt regelmäßig vorbei und kümmert sich

vorbildlich um mich. Wir gehen sogar hin und wieder zu-

sammen essen oder tauchen. Er hat auch einen Artikel für

mein erstes Buch über die Illusion des Voodoo geschrie-

ben. Wieso sollte er das tun, wenn er im Grunde gegen

mich ist? Das macht doch keinen Sinn. Und Castera – das

kann ich auch nicht glauben; sie ist eine zuverlässige und

tüchtige Mitarbeiterin. Ich bin froh, dass ich sie habe.“

„Immerhin hat sie deine Giftschlangen gestohlen“, gab

Armin zu bedenken. „Und Doktor Mella kennt sich als

Arzt mit Giften sicher sehr gut aus. Das lässt sich nicht

abstreiten.“

„Zufälle, Zufälle und Spekulation“, wehrte Onkel Otto

kopfschüttelnd ab.

87

Angst und Nervosität schienen von ihm gewichen zu

sein. Mario merkte, dass sein Onkel wieder vollkommen in

seiner Arbeit aufging. Sein Gesicht war entspannt wie noch

nie, seit sie in Port-au-Prince eingetroffen waren.

Doch dieser Gemütszustand änderte sich schlagartig, als

Sandra, Armin und Mario begannen, ihre Glühbirnenfalle

im ganzen Labor auszulegen.

Sandra, die SAM-Spezialistin für Tarnen und Täu-

schen, hatte einen Sack voller kaputter Glühbirnen mit-

gebracht. Jetzt nahm sie sie heraus, wickelte sie sorgfältig

in ein Handtuch und schlug dieses kräftig gegen die

Wand.

Die feinen Glassplitter verteilte sie gleichmäßig auf dem

Boden.

Otto ließ jetzt vollends von seiner Arbeit ab. Missmutig

beobachtete er die drei Freunde bei ihrem Tun.

„Ehrlich gestanden habe ich seit meinem letzten Anfall

ein unheimliches Gefühl. Ja, sogar Angst, das muss ich

zugeben. Ich dachte schon, ich müsste sterben, so arg war-

en die Schmerzen“, sagte er. „Seitdem diese Puppen in

meinem Geschirrspüler saßen, traue ich mich keine Lade

und keinen Schrank mehr zu öffnen. Ständig denke ich

daran, dass jeden Augenblick wieder eine auftauchen könn-

te, bis zur letzten, der mit der tödlichen Nadel.“

„Und eben dazu darf es nicht kommen“, erwiderte Ma-

rio, während sie ihre Falle auslegten. Zwanzig Minuten

später waren in Onkel Ottos ganzem Labor inklusive Kü-

che fachmännisch Scherben verteilt.

Die drei Freunde hatten die Detektivausrüstung und die

Wolldecken, die sie mitgebracht hatten, in drei verschiede-

nen Räumen deponiert und sich dort einen Wachposten

88

eingerichtet. Verbindung würden sie über die Funkeinrich-

tung ihrer SAM-Spezialarmbanduhren halten.

Gegen Mitternacht beendete Onkel Otto hundemüde

seine Arbeit und ließ sich vor dem Fernseher aufs Sofa sin-

ken. Er hatte noch einen Schluck Kaffee und seine Medizin

genommen. Ohne die Wirkung dieses Getränks, die auch

rasch einsetzte, wäre er längst nicht mehr in der Lage ge-

wesen zu arbeiten. Er wollte noch einmal nach SAM sehen,

aber die Augen fielen ihm zu. Er sank in einen tiefen

Schlaf, Kurz darauf löschten die drei Freunde im Labor das

Licht. Sandra, die zwischen tropischen Pflanzen, Kugelfi-

schen, Kröten und Schlangen Posten bezogen hatte, war

etwas unwohl zumute. Diesmal musste es klappen. Eine

weitere Chance würden sie wohl nicht mehr bekommen.

Armin und Mario gingen ähnliche Gedanken durch den

Kopf.

Als Marios Armbanduhr um Mitternacht dreimal piepste

und so die Geisterstunde ankündigte, hatte sich noch nichts

ereignet.

Er drückte den obersten Knopf und flüsterte ins Mini-

mikrophon: „Hier 007 – irgendwas Neues?“

Sandra, Armin und Mario benützten häufig ihre Detek-

tivvorbilder als Codenamen zum Funken.

„Hier Marple. Alles ruhig, keine besonderen Vorkomm-

nisse“, antwortete Sandra.

„Auch im Bereich von Hercule alles in Ordnung. Feind

nicht in Sicht“, stimmte Armin zu.

Die Minuten verstrichen und die drei Freunde mussten

immer häufiger gähnen.

Müde von den Strapazen der letzten Tage krochen sie

unter ihre Wolldecken.

89

Armin kämpfte gegen die Müdigkeit an. Außer dem lei-

sen Schnarchen von Onkel Otto, der wie ein Sack Kartof-

feln auf dem Sofa lag, das Gesicht vom bläulichen Flim-

mern des Bildschirms beleuchtet, war nichts zu hören.

Auch Mario lauschte in die Stille, die sich im Labor

breit gemacht hatte.

Dann fielen ihm die Augen zu und bald schlief er tief

und fest.

Minuten später wurde Sandra von knackenden Geräu-

schen aus dem Schlaf gerissen. Mit pochendem Herzen

lauschte sie in die Dunkelheit.

Da war es wieder, das leise Knacken. Die Falle funktio-

nierte perfekt. Jemand war im Labor und zertrat die kleinen

Glassplitter.

Sandra schob den Kopf langsam unter der Wolldecke

hervor und versuchte den Eindringling auszumachen.

Ein gellender Angstschrei ließ Mario und Armin aus

dem Schlaf hochfahren.

Sie sprangen auf, durch die Dunkelheit waren sie jedoch

völlig orientierungslos.

Mario funkte an Armin: „Er ist hier!“

Armin tastete sich zur Wand vor und suchte nach dem

Lichtschalter.

Ein weiterer Hilfeschrei Sandras drang zu ihnen.

Endlich hatte Armin den Schalter gefunden und legte

ihn um. Nichts geschah. Es blieb dunkel.

Der SAM-Detektiv tastete sich zu seiner Ausrüstung

und versuchte die Taschenlampe zu finden.

Sandra schrie weiter erbärmlich um Hilfe, während Ma-

rio sich in den nächsten Raum vorwagte, um dort Licht zu

machen.

90

Es blieb wieder dunkel!

„Verdammter Mist!“, zischte er wütend. „Der Kerl hat

wirklich an alles gedacht; sogar die Sicherungen hat er

rausgedreht!“

Mario war zu weit von seinem Platz entfernt, um wegen

der Taschenlampe zurückzulaufen.

„Komm schnell mit der Taschenlampe her, Armin!“, rief

er seinem Freund zu. Seine Stimme überschlug sich vor

Aufregung.

„Einen Moment … ich … ich bin gleich da!“

Da stolperte Armin auch schon heran und wollte mit der

Taschenlampe herumleuchten.

„Nicht … Warte!“, flüsterte Mario und hielt ihn an der

Schulter zurück.

Ihr Blick wanderte durch die offene Tür in den Raum

mit den Pflanzen, Tieren und Glasbehältern.

Ein Schatten schlich in dem Zimmer herum, in dem

Sandra sein musste, und bewegte sich jetzt auf das Fenster

zu, das in den Hinterhof führte.

Sandra war nach einem letzten Aufschrei verstummt.

91

22 Nadeln im Herz

„Sofort stehen bleiben!“, rief Mario. „Es gibt kein Ent-

kommen, wir sind zu dritt!“

Der Eindringling stand etwa zwei bis drei Meter von

den beiden SAM-Freunden entfernt. Je näher sie kamen,

umso größer und übermächtiger wirkte der gespenstische

Schatten auf sie.

Plötzlich wandte sich die unheimliche Gestalt ab, um zu

fliehen.

Fest entschlossen, den Feind nicht entkommen zu las-

sen, warf Armin Mario die Taschenlampe zu und stürzte

sich auf den Fremden.

Beinahe hätte er ihn zu fassen bekommen, doch er stol-

perte über eine der zahlreichen Tropenpflanzen, die in Töp-

fen auf den Boden standen. Mit einem Schrei stürzte er zu

Boden.

Mario glaubte es im Gesicht des Eindringlings silbrig

aufblitzen zu sehen. Vielleicht eine Brille, dachte er, war

sich aber nicht sicher. Er sah die Gestalt nur noch einen

kurzen Moment, bevor sie aus dem Fenster kletterte.

„Habt ihr ihn erwischt?“, drang Sandras zittrige Stimme

aus einer Ecke.

Mario leuchtete herum und entdeckte seine Freundin.

Behutsam schlängelte er sich zwischen den Pflanzen durch.

92

93

Sandra kauerte auf dem Boden und starrte ihn mit weit

aufgerissenen Augen an. Von den Fingern ihrer rechten

Hand, die sie mit der linken festhielt, tropfte Blut.

„Zu spät …“, stammelte sie. „Ich hab das Knacken zu

spät gehört.“

„Schon gut, wir haben ja auch geschlafen“, beruhigte

Mario sie und reichte ihr sein Taschentuch, damit sie es auf

die Wunde drücken konnte.

Armin bückte sich und kramte eine zweite Taschenlam-

pe aus Sandras Detektivausrüstung. Er leuchtete herum und

sah etwas glänzend aufblitzen.

Inzwischen war auch Onkel Otto durch den Lärm wach

geworden und durch die Dunkelheit herübergekommen.

„Was ist denn hier los?“, fragte er gähnend.

Mario und Armin leuchteten gemeinsam auf die blitzen-

de Stelle neben Sandra.

„O nein! Das ist unser Ende!“, stotterte Armin verzwei-

felt.

Neben Sandra kauerten vier Jutepuppen. Sie sahen je-

weils einem von ihnen ähnlich. Doch diesmal waren es

keine gewöhnlichen Puppen wie die letzten Male. Es waren

die letzten Unheilsboten, die den Tod ankündigten. Jede

Puppe war von einer dünnen, etwa dreißig Zentimeter lan-

gen Nadel im Herz durchbohrt.

Von der Nadel, die in Sandras Puppe steckte, tropfte

Blut. Die SAM-Detektivin hatte sich in der Dunkelheit

daran verletzt. Die vier fanden das mehr als makaber.

„Wie Aristide es prophezeit hat“, flüsterte Mario. „Wenn

er Recht hat, ist unser Ende gekommen und wir werden

qualvoll sterben. Sie werden uns die Seelen aus dem Leib

reißen!“

94

„Wir sollten verdammt auf der Hut sein“, befand Armin

etwas nüchterner.

„Vor allem sollten wir unserem Feind – wer auch immer

es ist – zeigen, dass seine Einschüchterungsversuche bei uns

nicht wirken“, sagte Mario beinahe schon kämpferisch. Ar-

mins relative Ruhe hatte ihm ein wenig Sicherheit gegeben.

Er musterte Sandra mit besorgten Blicken. Sie schien

den größten Schock davongetragen zu haben. Nicht weiter

verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie sich am läng-

sten in der Nähe des Feindes aufgehalten und sich von ihm

bedroht gefühlt hatte, wie sie jetzt schilderte: „Ich bin si-

cher, dass er mich um die Ecke bringen wollte.“ Sandra

war noch immer verstört.

„Dieser Schatten … Er ist vor mir aufgetaucht, hat dro-

hend die Arme gehoben und ist auf mich zugekommen.

Unsere Scherben haben ihn keine Sekunde lang gestört. Er

war nicht mal irritiert davon, dass hier überall Glas herum-

liegt. In der Aufregung ist mir nichts anderes eingefallen,

als zu schreien. Er hat mir was zugeworfen, da war er nur

mehr ein, zwei Meter von mir entfernt. Ich hab mich dran

gestochen und im ersten Moment gedacht, es ist eine

Schlange, die mich gebissen hat. Wahrscheinlich hab ich

wegen Castera und den gestohlenen Schlangen daran ge-

dacht. Aber Schlangen fühlen sich kalt an. Diese Dinger

nicht. Da hab ich erst gemerkt, dass es wieder diese ver-

dammten Jutepuppen waren.“

„Dieser Scheißkerl hat jeden Schritt geplant. Sogar den

Stromkreis hat er unterbrochen, damit man ihn nicht so

leicht erkennt“, bemerkte Mario. „Wo ist der Sicherungs-

kasten untergebracht, Onkel Otto? Vielleicht kann ich den

Schaden beheben.“

95

„Draußen, am Ende des Gangs auf der rechten Seite!“

Otto hatte kaum fertig gesprochen, da war Mario auch

schon auf dem Gang. Seine Augen hatten sich inzwischen

an die Dunkelheit gewöhnt.

„Zu dumm, dass wir ihn nicht festhalten konnten“, hü-

stelte Sandra. Sie war noch immer leichenblass. Aus ihrem

Gesicht war jede Farbe gewichen.

„Ich hab’s vermasselt“, ärgerte sich Armin. „Ich hab ihn

schon fast gehabt, dann bin ich hingefallen. Diese ganzen

Pflanzen hier sind aber auch wirklich lästig.“

Mit einem leisen Summen begannen die Leuchtstoffröh-

ren zu flackern und das Licht ging wieder an.

„Der Typ hat ganze Arbeit geleistet“, sagte Mario, als er

vom Sicherungskasten zurückkam. „Er ist auf Nummer

sicher gegangen und hat nicht die Sicherungen herausged-

reht, sondern gleich die Kabel durchtrennt. Ich hab sie not-

dürftig zusammengeklemmt – soweit das mit meiner Aus-

rüstung möglich war.“

„Sieh einer an“, sagte Armin. „Unser nächtlicher Besu-

cher kennt sich hier offenbar bestens aus.“

Otto war inzwischen in die Küche geeilt und hatte Kaf-

fee gemacht. Die SAM-Freunde folgten ihm.

„Du meinst also, dass nur jemand als Eindringling in

Frage kommt, der schon öfter hier war – oder überhaupt

hier aus und ein geht?“, fragte Mario.

„Ja“, erwiderte Armin. „Anders kann ich mir nicht erklären,

dass wir ihn nicht früher bemerkt haben. Hinter diesen Ma-

chenschaften steckt jemand, der sich im Labor gut auskennt.“

„Ich frage mich, weshalb Aristide und Doktor Mella die

Ereignisse so genau vorhersagen konnten“, gab Mario

nachdenklich zurück.

96

„Für mich ist es eine klare Sache: Das Auftauchen der

Puppen und die Anfälle hängen zusammen! Hinter beidem

steckt ein Geheimnis. Und das wiederum hat mit der For-

schungsarbeit von Onkel Otto zu tun, wahrscheinlich mit

den restlichen Aufzeichnungen von Wade Davis, die er

entdeckt hat. Vielleicht hat jemand davon Wind bekommen

und sie sind einen Haufen Geld wert. Geld, das in einem

armen Land wie Haiti wohl jeder gebrauchen kann“, flü-

sterte Armin seinem Freund zu.

„Außerdem könnte es sein, dass der Staat Anspruch auf

die Unterlagen erhebt, wenn sie auf der Insel entdeckt

wurden“, ergänzte Mario. „Ein Spion, der sie im Auftrag

der Regierung an sich bringen will?“

„Gut möglich. Es könnte auch sein, dass dein Onkel in

irgendeiner Weise erpresst wird, weil er die Bücher gefun-

den hat. Es gibt so viele Möglichkeiten“, ließ Armin seinen

Gedanken freien Lauf. Als geübter Detektiv zog er mehrere

Varianten in Betracht.

„Doch nicht Castera?“, sagte Mario.

„Denk an den Streit, den wir belauscht haben. Dabei

ging es eindeutig um Geld.“

„Hm … Der Fall wird immer verworrener, scheint mir“,

sagte Mario trocken. „Vielleicht hätten wir schon längst die

Polizei einschalten sollen, was meinst du? Wäre das klüger

gewesen?“

„Das wäre sinnlos. Die haben doch selber die Hosen

voll, wenn es um diesen faulen Zauber, dieses Voodoo,

geht. Denk doch an den alten Mann im Café am Marché de

Fer, der Sandra den Talisman gegeben hat. Der Aberglaube

ist hier so weit verbreitet, dass er sicher auch die Polizei

nicht verschont.“

97

„Wahrscheinlich hast du Recht und wir sind wirklich

ganz auf uns allein gestellt – wie in Tibet, da war’s ja auch

nicht anders.“*

„Kaffee ist fertig!“, sagte Onkel Otto, tropfte ein bis-

schen von seiner Medizin in Sandras Tasse und nahm einen

Schluck von seinem Kaffee. „Das hilft uns eine Weile.

Trink, Sandra.“

Sandra hatte sich noch immer nicht erholt.

Nachdenklich saßen die vier um den Tisch.

„Was sollen wir jetzt tun?“, brach Armin das Schwei-

gen. Ihm war klar, dass es jetzt auch schon bei seiner De-

tektivfreundin begonnen hatte, und er war sich nicht sicher,

ob ihnen noch genug Zeit bleiben würde, um den Kopf aus

der Schlinge zu ziehen.

Sandra hob den Blick. „Wir sollten unbedingt noch

einmal mit Aristide sprechen. Ich finde, er kennt sich ein

bisschen zu gut mit Voodoo aus – auch wenn er Journalist

ist. Und er hat uns sicher nicht verfolgt, weil er uns warnen

wollte. Das hat er doch vorher schon getan“, krächzte sie.

„Mich wundert nur, dass mit den Anschlägen auf Onkel

Otto nie eine Forderung verbunden war“, bemerkte Armin.

„Wahrscheinlich will der Unbekannte unsere Seelen,

uns selbst, unser Ich“, sagt Sandra.

„Und du bist dir sicher, dass es niemanden gibt, der ei-

nen Grund hätte, dieses gefährliche Spiel mit uns zu trei-

ben?“, wandte sich Mario nochmals an seinen Onkel.

Otto seufzte auf.

„Tut mir wirklich Leid. Aber glaubt mir, mir fällt nie-

mand Bestimmter ein. Die einzigen, mit denen ich hier

* siehe CodeName SAM, Geheimfall 2, „Der Gral des Todes-

mönchs”

98

verkehre, sind Doktor Ramón Mella, meine Ferialgehilfen

und Raouls Vater.“

„Und Aristide Bazile? Könnte der einen Grund haben,

dir das anzutun?“

„Er hat vor einiger Zeit eine Kurzreportage über mich

und meine Arbeit gebracht, ansonsten kenne ich ihn nicht

genauer. Aber sie sind alle in Ordnung, bis eben auf die

kleinen Meinungsverschiedenheiten, die das Berufsleben

so mit sich bringt. Nicht der Rede wert.“

„Welche Meinungsverschiedenheiten?“, fragte Armin.

„Nichts von Bedeutung. Um mein erstes Buch über

Voodoo ein wenig bekannt zu machen, bat ich Doktor Mel-

la und Doktor Preval um einen Gastkommentar und Aris-

tide um eine Kolumne in seiner Zeitung. Ich glaube, Aris-

tide hätte sich eine Bezahlung erhofft. Er ist der Ansicht,

dass er das Werk groß gemacht hat. Ich habe es als Freund-

schaftsdienst angesehen“, erklärte Otto und trank seinen

Kaffee.

„Wer weiß schon, was für andere als Motiv ausreicht?“,

sagte Mario.

„Grund genug, ihm noch einmal auf den Zahn zu füh-

len“, sagte Sandra entschlossen. „Falls er der Drahtzieher

ist, wird er eine Überraschung erleben, die er so schnell

nicht vergisst!“

„Oder wir“, sagte Armin nachdenklich und zog langsam

die Nadel aus seiner Puppe. Er hätte seine Freunde und

Onkel Otto gern aufgemuntert, aber ihm fiel beim besten

Willen nichts Positives ein, und von seiner dunklen Ah-

nung, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand, sagte er

lieber nichts.

Er sollte Recht behalten, wie schon so oft …

99

23 Die Zeit wird knapp

Sandra war zum Telefon geeilt, um Aristide anzurufen. Sie

hoffte inständig, dass er um diese Zeit schon in seinem Bü-

ro war.

Es tagte inzwischen. Die Nacht war über den Aufregun-

gen wie im Flug verstrichen.

Während sie wählte, klemmte sie den Hörer zwischen

Ohr und Schulter. Ungeduldig horchte sie auf das Knacken

in der Leitung. Die Telefonleitungen auf Haiti sind auch

nicht gerade von der stabilen Sorte, dachte sie.

Das endlose Warten machte sie fast wahnsinnig. Sie

fühlte, dass etwas Gefährliches mit ihr geschah. Die

Schmerzen wurden stärker, ihr Körper schwächer. Wich

das Leben aus ihr, wurde sie ein Zombie? Sie schüttelte

sich und versuchte den Gedanken als lächerlich abzutun.

„Hallo!“, rief sie ungeduldig in den Hörer. Die Person

am anderen Ende der Leitung schien sie nicht zu hören.

„Hallo … Ist da jemand?“, wiederholte sie.

„Was wollen Sie denn um diese Zeit?“, meldete sich ei-

ne unfreundliche Stimme.

„Ich warte jetzt schon eine Viertelstunde!“, beschwerte

sich Sandra.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin eigentlich nicht

für dieses Telefon zuständig. Der Portier macht gerade sei-

100

nen Rundgang“, entgegnete die Frau. Sie war jetzt etwas

freundlicher. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Ich muss unbedingt mit Aristide Bazile sprechen. Es ist

sehr dringend“, krächzte Sandra.

„Aristide?“, wiederholte die Frau. „Einen Moment bitte,

ich muss nachsehen, ob er heute überhaupt kommt. Soweit

ich weiß, ist er unterwegs – er muss irgendwelche Recher-

chen machen.“

Eine Minute später meldete sie sich wieder: „Ich hatte

Recht. Aristide ist den ganzen Tag außer Haus.“

„Vielleicht ist er noch in seinem Büro …“

„Okay, warten Sie bitte einen Augenblick. Ich versuche

Sie zu verbinden.“

Noch ehe Sandra etwas erwidern konnte, hörte sie wie-

der das Knacken.

Während sie mit zusammengepressten Lippen vor sich

hin summte, um sich zu beruhigen, strich sie geistesabwe-

send mit dem Daumen über die Fingerkuppen der rechten

Hand. Ein brennender Schmerz durchfuhr sie. Sandra starr-

te auf ihre Hand und erschrak.

Die Stichwunde, die sie sich an der Nadel zugezogen

hatte, sah böse aus. Onkel Ottos Desinfektionstinktur hatte

nicht geholfen.

Ganz im Gegenteil. Um den Einstich herum war der

Finger rot und geschwollen, und der kleinste Druck darauf

verursachte schlimme Schmerzen.

Sandra ließ den Hörer sinken und kramte einen kleinen

Spiegel aus ihrer Detektivausrüstung. Sie erschrak, als sie

sich darin betrachtete. Ihr Gesicht war noch farbloser ge-

worden. Ihre Augen schienen sich in die Höhlen zurückzu-

ziehen und ihre Lippen waren geschwollen. Sie sah gräss-

101

lich aus – beinahe schon wie ein Zombie.

Ich habe nicht mehr viel Zeit, dachte sie und im selben

Augenblick wurde ihr speiübel und schwindlig.

Zu allem Überfluss begannen sie bohrende Kopf-

schmerzen zu quälen. Lange würde sie nicht mehr durch-

halten, das war ihr klar.

Da meldete sich die Stimme wieder.

Sandra verzog das Gesicht und zwang sich zuzuhören.

Es fiel ihr immer schwerer, sich zu konzentrieren.

„Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Aristide ist

nicht in seinem Büro. Er ist sicher von daheim zu seinen

Recherchen aufgebrochen.“

Sandra biss die Zähne zusammen. Sie durfte jetzt auf

keinen Fall schlappmachen. Das würde ihr Ende bedeuten!

Vielleicht hatte sie einfach zu wenig Jod aufgetragen. Spä-

ter würde sie für die Behandlung ihrer Wunde Zeit finden.

Wenn es denn ein Später für sie geben sollte …

Doch jetzt hatte sie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.

Armin und Mario hatten sich zu Castera aufgemacht, und

bis sie zurück waren, musste sie mit Aristide gesprochen

haben.

„Vielen Dank“, krächzte sie und legte auf. Sie murmel-

te: „Faule Zicke. Die ist doch bloß zu bequem, um eine

Verbindung herzustellen. Die kann jemand anderen täu-

schen, aber nicht mich.“

Fünfzehn Minuten später sprang Sandra aus dem Taxi

und eilte ins Redaktionsgebäude von Le Nouvelliste. So

schnell sie konnte, ging sie die große Treppe hinauf und

den Korridor entlang zu Aristides Büro.

Sie klopfte. Niemand antwortete, niemand bat sie he-

rein. Vielleicht war er ja doch nicht da?

102

„Aristide!“, rief sie. „Ich muss dringend mit Ihnen re-

den. Bitte – ich brauche Ihre Hilfe.“

Noch immer keine Antwort.

„Merkwürdig“, murmelte Sandra und drückte langsam

die Türklinke hinunter. Zu ihrer Verwunderung war Aristi-

des Büro nicht abgeschlossen, Die SAM-Detektivin trat

vorsichtig ein und sagte zu sich: „Das ist ziemlich leicht-

sinnig.“ Doch das hatte sie sich bei ihren SAM-Aktionen

schon öfter gesagt.

Sie wandte sich nach rechts und sah, dass das Fenster

offen stand. Das Büro war leer. Der Luftzug wehte verein-

zelte Blätter durch den Raum; der Inhalt der Schreibtisch-

schubladen war über den Boden verstreut.

„Was um alles in der Welt ist denn hier passiert?“, rief

Sandra. „Aristide!“

Sie blickte sich um und sah, dass das gesamte Büro

verwüstet war.

Behutsam ging sie zur kleinen Kochnische. Die Kaffee-

tassen waren unberührt. Aristide hatte sein Büro heute

morgen also noch gar nicht betreten!

Sie musterte das Durcheinander, bückte sich und wisch-

te mit ihrer schmerzenden Hand einige Blätter zur Seite.

Die Entdeckung, die sie machte, ließ sie betroffen zu-

rückweichen. Jemand hatte mit roter Kreide das Loco Mi-

roir auf den Fußboden gezeichnet!

Ihr Blick wanderte langsam aufwärts zum Fensterbrett.

Was sie dort sah, ließ sie erstarren.

Eine Puppe mit Aristides Gesicht blickte sie durch einen

dünnen Vorhang an.

Was war bloß mit Aristide geschehen? Sie fand keinen

Hinweis, keine Spur.

103

Sandra kam nicht mehr dazu, weiter über Aristides Ver-

schwinden nachzudenken, denn plötzlich hörte sie Schritte.

Die SAM-Detektivin wirbelte herum und blickte dem

Angreifer in die Augen, die wilde Entschlossenheit aus-

drückten.

„Raoul!“, kreischte sie.

Wilder Hass sprach aus Raouls weit geöffneten Augen.

Er war totenbleich, die Adern an seinem Hals traten dick

wie Fahrradschläuche hervor. Während er ungelenk auf

Sandra zukam, umklammerten seine Hände einen hölzer-

nen Baseballschläger.

Der Zombie holte zum Schlag aus …

104

105

24 Ein schwarzer Brief

Sandras Herz raste. Es schien, als wollte es ihr jeden Mo-

ment aus der Brust springen.

Sie öffnete die Lippen zu einem lautlosen Schrei, als der

grässlich vernarbte Zombie plötzlich auf sie zustürmte und

die Keule hob. Wenn er sie damit traf, war es aus. Doch die

Keule landete ein ganzes Stück neben ihr auf dem Boden.

Armin und Mario hatten Raoul von hinten einen kräfti-

gen Stoß gegeben.

Sandra rang nach Luft. Sie war furchtbar erschrocken.

Außerdem litt sie inzwischen unter denselben Symptomen

wie Onkel Otto.

Raoul torkelte an Sandra vorbei und stürzte über den

Schreibtischsessel.

„Bist du okay?“, fragte Armin Sandra, ohne den Angrei-

fer auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

„Da sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen.“

„Die Schmerzen und Atembeschwerden werden immer

stärker“, sagte Sandra keuchend. „Aristide war heute noch

nicht in seinem Büro. Er ist verschwunden. Niemand konn-

te mir sagen, wo er sich aufhält.“

Raoul rappelte sich langsam hoch. Wie eine Marionette,

die aus heiterem Himmel zu Leben erwacht, stolperte er

auf die SAM-Freunde zu.

106

Mario reagierte sofort und trat ihm den Baseballschläger

aus der Hand. Als er sich auf ihn stürzte und ihn zu Boden

riss, merkte er verwundert, dass sich Raoul plötzlich nicht

mehr zur Wehr setzte. Auch der hasserfüllte Ausdruck war

aus seinem Gesicht verschwunden. Seine Züge zeigten

stattdessen Schmerz und Pein.

Armin griff sich den Baseballschläger, um keine bösen

Überraschungen zu erleben. Angewidert musterte er die

Waffe, auf deren Knauf das Loco Miroir prangte. Die Keu-

le selbst zierte eine Feuer speiende Schlange.

„Das Zeichen des gnadenlosen Voodoo-Gottes Dambal-

lah“, murmelte er.

Mario und Armin hievten Raoul auf einen Sessel. Der

verstört dreinblickende Bursche saß auf der einen Seite des

Schreibtisches, während sich die SAM-Freunde zur Si-

cherheit auf der anderen niederließen.

Armin registrierte mit wachsender Unruhe, dass es

Sandra von Minute zu Minute schlechter ging, und begann

die Befragung.

„Raoul, hörst du mich? Kannst du dich erinnern, wie du

das Krankenhaus verlassen hast?“, fragte er Onkel Ottos

ehemaligen Ferialpraktikanten.

Raoul hob den Kopf, starrte die drei Freunde ausdruckslos

an, als sähe er sie zum ersten Mal, und versuchte offenbar

einen klaren Gedanken zu fassen. Aus seinen blutunterlaufe-

nen Augen sprach die nackte Angst. Er schüttelte langsam

den Kopf. „Ich … kann mich nur daran erinnern, dass … dass

ich dort war“, stammelte er. „Er war … plötzlich da und …“

„Und was?“, fragte Mario ungeduldig.

„… und er wollte mich … holen, von meiner Seele Be-

sitz ergreifen …“

107

Raouls Pupillen hatten sich geweitet und sein Mund

stand jetzt offen, doch er sprach nicht weiter. Seine Lippen

zitterten.

„Warum bist du hierher gekommen?“, fragte Mario

drängend.

Raoul blieb einen Moment stumm, dann presste er her-

vor: „Ich muss ihm gehorchen, sonst … sterbe ich für im-

mer. Er war es, der mich … ins Leben zurückgeholt hat.“

„Wer ist er?“, wollte Sandra wissen, die aus dem Husten

und Keuchen nicht mehr heraus kam. Ihre Glieder

schmerzten und ihr Körper fühlte sich immer schwerer an.

„Er ist unser aller Meister. Der Herrscher über die bei-

den Welten, die der Lebenden und die der Toten“, erwider-

te Raoul ehrfürchtig.

„Wo ist Aristide?“

Raoul wandte sich zu Mario und starrte ihn an. „Er hat

verloren und Selbstmord begangen“, erklärte er so gleich-

gültig, als läse er das Fernsehprogramm vor. „Er wird bald

einer von uns sein, so wie ihr und Doktor Klein auch.“

Raouls Muskeln begannen unkontrolliert zu zucken. Es

schien, als wehre er sich gegen eine unsichtbare Kraft. Er

begann wild um sich zu schlagen und fegte den Schreib-

tisch leer. Sein Atem ging stoßweise; die Adern an seinen

Schläfen pochten. Dann löste sich der Krampf und der ar-

me Kerl sank bewusstlos zu Boden.

„Das sieht übel aus. Ich weiß zwar nicht, was genau mit

ihm los ist, aber er muss auf jeden Fall behandelt werden“,

sagte Mario.

Als ein Luftzug das Fenster hinter ihr zufallen ließ,

zuckte Sandra zusammen. Ihre Kopfschmerzen waren jetzt

schon beinahe unerträglich. Erschöpft rieb sie sich die Au-

108

gen, obwohl das das Pochen in ihrem Schädel natürlich

auch nicht lindern konnte.

„Und du brauchst auch schleunigst Hilfe, soweit ich se-

he“, sagte Armin besorgt.

„Lass nur. Es geht schon. Nur die Kopfschmerzen sind

schlimm“, antwortete Sandra tapfer, doch ihr war schwind-

lig, und als sie um sich griff, um sich festzuhalten, warf sie

einen Kaktus zu Boden, der auf dem Fensterbrett gestanden

hatte. Mit einem Klirren zerbrach der Topf.

Marios fürsorglicher Blick ruhte auf seiner Freundin.

„Wann haben diese Kopfschmerzen angefangen?“, er-

kundigte er sich.

„Ich sagte doch, es geht schon“, wiederholte sie und

versuchte sich zusammenzunehmen.

„Zeig mir bitte mal deine Hand“, sagte Mario, doch da

fiel sein Blick auf einen schwarzen Briefumschlag, der aus

dem Erdhaufen auf dem Boden ragte.

Er hob das Kuvert auf und musterte es. Es war weder

mit einem Absender noch mit einer Adresse versehen. Ma-

rio öffnete es und zog ein paar Blätter heraus.

Nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, wandte

er sich an seine Freunde. Die Aufregung war ihm anzuse-

hen. Er musste eine wichtige Entdeckung gemacht haben.

„Leute, ich hab euch was Interessantes zu zeigen – was

sehr Interessantes!“

109

25 Aristides geheime Aufzeichnungen

Jetzt reiß dich zusammen, du bist doch kein kleines Kind,

ermahnte sich Sandra. Doch der Schmerz in ihrer Hand

ließ nicht nach, im Gegenteil, er wurde immer schlimmer.

Die SAM-Detektivin musste ihre ganze Willenskraft auf-

wenden, um nicht zu weinen und sich darauf zu konzent-

rieren, was Mario sagte.

„Das sind geheime Unterlagen von Aristide“, sagte Ma-

rio. „Und sie sind an Onkel Otto adressiert.“

„Was steht da?“, fragte Armin voller Ungeduld.

Mario begann vorzulesen:

Verehrter Doktor Klein!

Wenn Sie diese Zeilen zu lesen bekommen, bin ich be-

reits ein Zombie und Sie werden der Letzte sein, der das

Geheimnis des tödlichen Voodoo-Zaubers lüften kann. Als

stiller Bewunderer ihrer Forschungsarbeit vermache ich

Ihnen hiermit meine eigenen Recherche-Ergebnisse – in

der Hoffnung, dass Sie damit die Arbeit von Wade Davis

noch rechtzeitig vollenden und den furchtbaren Grausam-

keiten ein Ende setzen können.

„Aristide hat selbst Nachforschungen angestellt!“, entfuhr

es Armin.

„Hört nur, was er rausgefunden hat!“ Mario las eilig

weiter.

110

„1930

unternahm

der

französische

Anthropologe

Dr. Georges de Rouquet eine Forschungsreise nach Haiti.

Er freundete sich bald mit einem Landbesitzer an, der ihm

seltsame Wesen zeigte, die er als echte Zombies bezeichne-

te. De Rouquet durfte die ‚Untoten Toten‘ nicht berühren,

sondern sie nur aus nächster Nähe betrachten. In seinem

Tagebuch hielt er fest: ‚Gegen Abend trafen wir auf eine

Gruppe von vier männlichen Gestalten, die von einem nahe

gelegenen Baumwollfeld kamen. Sie hatten sehr hart gear-

beitet. Mir fiel ihr seltsamer Gang auf der ganz anders war

als das gelenkige Dahinschreiten der anderen Einheimi-

schen. Der Aufseher, der bei ihnen war, ließ sie anhalten,

sodass ich sie einige Minuten lang aus der Nähe betrach-

ten konnte.

Sie waren in Lumpen gekleidet, die aus Jute und Sack-

leinen bestanden. Ihre Arme hingen seitlich herunter und

baumelten in merkwürdig lebloser Manier an ihnen. Ge-

sicht und Hände schienen völlig ohne Fleisch zu sein, denn

die Haut klebte an den Knochen wie faltiges, braunes

Packpapier. Mir fiel auf, dass sie nicht schwitzten, obwohl

sie hart gearbeitet hatten und die Sonne heiß vom Himmel

brannte. Ich konnte nicht einmal annähernd schätzen, wie

alt sie waren. Vielleicht waren es junge Männer, Kinder,

vielleicht waren sie auch schon etwas älter.

Das markanteste Merkmal war aber ihr Blick. Die

glanzlosen Augen starrten geradeaus, auf kein bestimmtes

Ziel gerichtet, als wären sie blind. Sie gaben keinerlei An-

zeichen von sich, dass sie meine Anwesenheit bemerkt hat-

ten, auch nicht, als ich ganz dicht an sie herantrat. Um die

Reflexe zu testen, hielt ich einem von ihnen meine ausgest-

reckten Finger vor die Pupillen, als wollte ich sie ihm ins

111

Auge stechen. Weder blinzelte er, noch wich er zurück.

Mein erster Eindruck war, dass diese gefährlichen Krea-

turen Schwachsinnige waren, die für ihren Lebensunterhalt

arbeiten mussten. Der Landbesitzer versicherte mir jedoch,

dass es wirkliche Zombies seien, das heißt, Verstorbene,

die durch Hexerei wieder unter die Lebenden zurückgeholt

worden waren und als unbezahlte Feldarbeiter eingesetzt

wurden!‘“

„Genau wie bei Raoul – es gibt also wirklich Zombies!“,

murmelte Sandra.

„Es geht noch weiter“, sagte Mario aufgeregt.

„Nehmen Sie sich in Acht! Trinken Sie auf Haiti täglich

hoch konzentriertes Salzwasser, das schützt vor dem Zau-

ber. Der Weg zum Zombie ist vom chemischen Ge-

sichtspunkt aus ein sehr heikler und erfordert großes Kön-

nen bei der Zubereitung von speziellen Drogen und Elixie-

ren. Doch er hat es geschafft! Er kennt das Rezept des ver-

nichtenden Zombie-Elixiers! Sie finden es in seinem Büro

hinter …“

„Hinter was?“, fragte Armin gespannt.

„Hier endet der Brief leider.“ Mario zog ein Foto aus

dem Umschlag. Das Bild nahm die Freunde gefangen.

„Aristide scheint geahnt zu haben, dass hier was Merk-

würdiges vor sich geht“, sagte Sandra betroffen, als sie auf

das Farbfoto starrte.

„Er wollte uns und Onkel Otto auf seine eigene Art und

Weise helfen. Und wir haben es nicht bemerkt“, sagte Ar-

min bedauernd.

112

Auf dem Foto war eine Waldlichtung zu sehen, auf der

offenbar eine schaurige Zeremonie stattfand. In der Mitte

brannte ein Feuer. Im Vordergrund befanden sich singende

und tanzende Haitianer. Ein Voodoo-Priester hatte die Ar-

me erhoben. Im Schein des Feuers sah man auch ein be-

kanntes Gesicht.

„Doktor Mella!“, entfuhr es Mario.

„Unverkennbar mit dem schwarzen Kraushaar und der

Nickelbrille“, bestätigte Armin.

„Dann steckt er hinter den schrecklichen Selbstmord-

versuchen und den Puppen. Aber wie macht er das?“,

krächzte Sandra.

„Jetzt kennen wir unseren Feind und müssen ihn nur

noch zur Strecke bringen. Immerhin sind wir jetzt schon

einen Schritt weiter“, sagte Armin.

„Auf dem Bild sieht es so aus, als sei er grade dabei, die

Voodoo-Magie zu erlernen“, bemerkte Mario.

„Offenbar war er recht gelehrig“, sagte Armin und sah

dabei zu Raoul und Sandra, deren Gesichter sich schon

beunruhigend ähnlich sahen. „Wir müssen uns beeilen, be-

vor er uns alle zu Zombies macht!“

Der SAM-Detektiv rannte zur Kochnische und füllte

vier Gläser mit Wasser. In jedes kippte er einige Teelöffel

Kochsalz.

„Los, runter damit und dann ab zum Krankenhaus, in

Doktor Mellas Büro. Wenn wir das Rezept für das Zombie-

Elixier finden, kann uns Herr Preval vielleicht ein rettendes

Gegenmittel mischen.“

Voller Ekel tranken sie das salzige Wasser und flößten

auch Raoul etwas davon ein.

„Ich rufe Onkel Otto an und sage ihm, dass wir uns in

113

fünfzehn Minuten im Krankenhaus treffen!“, sagte Mario

und tat es, dann machten sich die tapferen Freunde auf den

Weg.

Sie ahnten, dass das ihre letzte Chance war, jetzt durfte

SAM nicht mehr der geringste Fehler unterlaufen …

114

26 Der Zauber aller Zauber

Die nahe Turmuhr schlug zur vollen Stunde, als Onkel Otto

und die Freunde vor dem Krankenhaus ankamen.

Die Portiersloge war unbesetzt, der Portier war wohl auf

seinem Rundgang. Sie traten durchs Hauptportal. Im Inne-

ren des Gebäudes war es sehr still.

Auf Zehenspitzen schlichen sie an den Krankenzimmern

vorbei und stiegen die Treppe zu Ramón Mellas Büro hinauf.

Die Tür war versperrt.

„Gebt mir Rückendeckung“, flüsterte Armin. Flink zog

er seinen SAM-Dietrich aus der Tasche und machte sich

am Schloss zu schaffen.

Onkel Otto, der sich kaum noch auf den Beinen halten

konnte, blickte sich nach allen Seiten um. Er sah aus, als

würde er jeden Moment umkippen.

Mit einem Klicken sprang die Tür auf. Ein triumphie-

rendes Lächeln huschte über Armins Gesicht, dann

schlüpften sie hinein und schlossen die Tür. Erst jetzt

schalteten die SAM-Detektive ihre Taschenlampen ein.

Mario ging zum Schreibtisch und knipste die Leselampe an.

„Ich werde den Aktenschrank unter die Lupe nehmen“,

flüsterte Sandra. Sie zog die oberste Lade heraus und zuck-

te erschrocken zusammen.

„Uhh!“, entfuhr es ihr angeekelt.

115

„Was ist?“, zischte Armin, der sich an einem Bücherre-

gal in der Ecke zu schaffen machte, und wandte sich um.

Sandra hielt ihren Fund in die Höhe.

„Was um Himmels willen ist denn das?“, fragte er.

„Das ist ein abgetrennter Hahnenfuß. Er war in eine Zei-

tung eingewickelt“, erklärte Sandra.

Sie nahm die Zeitung heraus und begann zu lesen.

„Das ist Aristides Reportage über die Selbstmordversu-

che von Raoul und Samedi. Er meint, dass ein wahnsinni-

ger Voodoo-Priester sein Unwesen treibt und für die

Selbstmordversuche verantwortlich ist.“

„Das hätte er wohl besser für sich behalten“, entgegnete

Onkel Otto. „Dann wäre er vielleicht noch am Leben.

Wenn Doktor Mella wirklich das Zombie-Elixier herstellen

kann, dann wird er uns umbringen, ohne mit der Wimper

zu zucken. Er weiß, dass ich seit Jahren danach suche, um

Mördern wie ihm das Handwerk zu legen und diesem Spuk

ein Ende zu machen. Aber ich habe eben noch nicht he-

rausgefunden, wie der Zauber funktioniert.“

Inzwischen hatte Armin die Tür eines weiteren Schranks

geöffnet und leuchtete hinein.

„Was ist da drin?“, wollte Mario wissen. Sein Tonfall

verriet, das er nichts Gutes ahnte.

„Kommt selbst und seht es euch an“, erwiderte Armin.

Doch noch bevor sie den Schrank erreicht hatten, ging

die Bürotür auf und der kräftige Strahl einer Taschenlampe

traf sie.

Erschrocken wirbelten die SAM-Freunde herum und

starrten ins blendende Licht. Die zitternde Lichtquelle lag

in Aristide Baziles linker Hand. Mit der rechten Hand um-

klammerte er den Griff einer Pistole.

116

„Aristide, Sie leben? Sie … Sie erkennen uns doch?“,

hauchte Mario und richtete seine Taschenlampe auf das

Gesicht des Journalisten.

Dessen blutunterlaufene Augen reagierten nicht, das

Licht schien sie nicht zu blenden.

„Es hat keinen Sinn mehr. Ihr habt verloren, wie auch

wir verloren haben“, sagte er ausdruckslos.

Er trat mit dem Fuß gegen den Türrahmen und Castera trat

ein. Sie war stark abgemagert und ihre Augen schienen ins

Nichts zu starren. Es war erschreckend zu sehen, was in so kur-

zer Zeit aus dem blühenden jungen Mädchen geworden war.

Ohne ein Wort zu sagen, schritt sie auf SAM zu und

nahm ihnen die Taschenlampen ab.

„Wo ist Doktor Mella?“, rief Armin.

„Ihr werdet ihn noch früher zu Gesicht bekommen, als

euch lieb ist. Und dann wird er sich zum letzten Mal mit

euch befassen, das könnt ihr mir glauben.“

„Er ist der Verräter, der euch zu Zombies gemacht hat“,

sagte Onkel Otto mit scharfer Stimme.

„Wenn Sie uns nicht helfen, wird er auch uns noch in

Zombies verwandeln“, redete Sandra auf Aristide ein, so

gut es ihre schwindenden Kräfte erlaubten. „Wir und Herr

Preval können euch noch retten, wenn ihr uns an das Re-

zept lasst! Er könnte ein Gegenmittel herstellen.“

Aristide hob den Kopf ein Stück, behielt aber seine

feindselige Haltung bei.

Mario hakte nach. Der Journalist schien ein wenig ver-

unsichert. „Sehen Sie sich doch nur an, was er aus Ihnen

gemacht hat! Wir können Ihr Leben vielleicht noch retten!“

Aristide senkte einen Augenblick den Kopf und sah an

sich hinab.

117

Mario nutzte diesen Moment der Unachtsamkeit und

schleuderte die Tischlampe auf ihn.

Sie traf ihn am Kopf und ließ ihn gegen den Akten-

schrank taumeln, wobei er die Pistole fallen ließ.

Während sich Armin auf Castera stürzte und sie mit ei-

nem gezielten Schlag aus dem Selbstverteidigungskurs

außer Gefecht setzte, hob Mario die Waffe auf und schlug

damit Aristide in den Nacken. Der Journalist sank bewuss-

tlos zu Boden.

„Ihr seid wirklich Klasse, das muss ich schon sagen!“,

sagte Onkel Otto beeindruckt.

Armin hastete zum Schrank zurück, an dessen Rückseite

sich ein Geheimfach befand.

„Das hat Aristide in seinem Brief also gemeint: Hinter

dem Schrank!“

Er öffnete das Metalltürchen und nahm eine Akte he-

raus, auf der in großen Lettern „coup poudre – Zombie-

Elixier“ stand.

Onkel Otto entriss sie ihm und starrte mit großen Augen

darauf.

„Das Rezept für den Zauber aller Zauber. Dieses Rezept

ist der Schlüssel!“, flüsterte er ehrfürchtig.

„Schnell – wir haben nicht mehr viel Zeit. Doktor Pre-

val muss versuchen, ein Gegenmittel herzustellen, bevor es

zu spät ist. Mit seiner Hilfe kann ich die Arbeit von Wade

Davis doch noch zu Ende führen und den mörderischen

Kult entlarven. Dann ist der Zauber der Jutepuppen hof-

fentlich gebrochen!“ SAM war, als hätten sie das Tor zur

Hölle aufgestoßen.

118

119

27 Eine furchtbare Erkenntnis

Als die drei Freunde und Onkel Otto außer Atem bei Dok-

tor Prevals Apotheke ankamen, hing in der kleinen Auslage

das Schild ‚Geschlossen‘, doch die Tür stand zu ihrer Ver-

wunderung offen.

Die Holzdielen knarrten unter ihren Schritten, als sie

den Verkaufsraum betraten.

„Herr Preval!“, rief Armin sofort. „Herr Preval, kommen

Sie schnell! Sie müssen ein Gegenmittel zum Zombie-Elixier

anfertigen. Sandra geht es schon verdammt schlecht.“

Armin erhielt keine Antwort. Aus einem Nebenraum

drang leise Merengue-Musik.

Die vier sahen sich in den düsteren Räumen um.

„Herr Preval?“, fragte Mario.

Nichts rührte sich.

Vorsichtig zog er neben einem Schrank einen schwarzen

Samtvorhang zur Seite. Was er dahinter entdeckte, ließ ihn

die Augen aufreißen.

„Eine versteckte Tür!“, entfuhr es ihm.

In Sekundenschnelle waren die anderen herbeigeeilt. Sie

öffneten die Tür. Eine wackelige Holztreppe führte in einen

dunklen Keller hinab.

„Wollt ihr wirklich da runter?“, keuchte Onkel Otto, der

von Minute zu Minute schlechter aussah.

120

„Natürlich, wir brauchen ein Gegenmittel. Herr Preval

wird uns nicht gehört haben“, erwiderte Sandra mühsam.

Auch ihr ging es immer schlechter. Wenn ihr nicht bald ein

Gegenmittel zur Verfügung stünde, würde sie sterben und

als Zombie enden, daran gab es keinen Zweifel.

Sie tasteten also nach einem Lichtschalter und stiegen

die Treppe hinunter.

Der Raum war voller Dinge, die sie hier nicht erwartet

hätten. In der hinteren Ecke stand ein Aquarium mit japani-

schen Kugelfischen. In einiger Entfernung befanden sich

Behälter mit Kröten und Schlangen.

„Das sind Seeschlangen der Gattung Polychaeta und das

dort sind Zweige der Tcha-tcha-Pflanze!“, murmelte Onkel

Otto schwer atmend.

Sandra wandte sich um und erblickte eine Holztruhe.

Darauf lagen mehrere zugeschnittene Jutestücke. Daneben

Bindfaden, getrocknetes Gras, eine Schere und rund ein

Dutzend lange, dünne Nadeln, die hohl waren.

„Eine hohle Nadel, sie war also mit Zombie-Elixier ge-

füllt!“, rief Sandra erschrocken und starrte auf ihre grässli-

che Wunde.

„Ich … verstehe das alles nicht“, stotterte Onkel Otto

verstört. „Was geht hier vor?“

„Komm her und sieh dir den Inhalt der Truhe an, dann

wirst du gleich verstehen“, japste Mario und hielt den

Holzdeckel für seinen Onkel auf.

Onkel Otto ging zur Kiste und beugte sich darüber.

Ein Laut des Entsetzens drang aus seiner Kehle.

Sandra und Armin traten hinter ihn, um auch einen

Blick in die Truhe zu werfen.

„Das glaub ich einfach nicht. Seht euch das an!“ Armins

121

Stimme bebte, sein Herz schlug schneller. Er griff in die

Kiste und hob eine Schachtel heraus, in der eine Menge

bleicher Tierknochen lagen.

Die SAM-Freunde wagten kaum zu atmen. Ihnen war

klar, dass sie sich direkt in die Höhle des Löwen begeben

hatten.

„Ich hätte schwören können, dass Doktor Mella der

Zombie-Hexer ist“, sagte Mario.

In einem Glasschrank befanden sich einige Spritzen und

Fläschchen, die eine farblose Flüssigkeit enthielten und

genauso aussahen wie die Medizin, die Doktor Preval On-

kel Otto immer mitbrachte. Auf den Etiketten stand ‚coup

poudre‘.

Wahnsinnige Gedanken schossen den SAM-Detektiven

durch den Kopf. Das konnte doch nicht sein! Plötzlich füg-

ten sich ihre Ermittlungsergebnisse zu einer furchtbaren

Erkenntnis.

„Deine Medizin ist das Zombie-Elixier!“, rief Mario

aufgebracht.

Dem Geheimdetektiv schwante Fürchterliches. Wenn

das das Zombie-Elixier war, dann …

Auch Sandra und Armin hatten sofort begriffen, was das

bedeutete. Einen Moment lang wagten sie sich kaum zu

bewegen, so tief saß ihnen der Schreck in den Gliedern.

122

28 Endlich Klarheit

Armin zog zwei weitere Gegenstände aus der Holztruhe:

eine schwarze Lockenperücke und eine Nickelbrille!

„Doktor Mella und Doktor Preval sind ein und dieselbe

Person!“, rief Sandra fassungslos.

„Der skrupellose Kerl hat sich einen tollen Plan ausge-

dacht“, sagte Mario beinahe anerkennend. „Als Apotheker

verabreicht er seinen Opfern das Zombie-Elixier und als

Arzt hat er sie auch noch im Krankenhaus unter Kontrol-

le.“

„Und wenn du deine Forschungsarbeit abgeschlossen

hättest, hättest du den faulen Voodoo-Zauber entlarvt. Die

ganze Welt hätten erfahren, dass Voodoo mit Drogen und

Nervengiften arbeitet“, sagte Sandra zu Onkel Otto.

„Wir müssen das Gegenmittel finden, sonst sind wir

verloren“, sagte Onkel Otto nervös.

„Atropin ist das einzige Mittel auf der Welt, das die

Wirkung von Tetrodotoxin neutralisieren kann“, knurrte

eine tiefe Stimme hinter den SAM-Freunden.

Sie klang eiskalt.

Die düstere Gestalt von Doktor Preval füllte den Tür-

rahmen.

„Aber ich kann euch beruhigen. Ihr braucht euch darü-

ber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, denn ihr werdet

123

das Gegenmittel nicht mehr benötigen“, sagte er und lachte

niederträchtig. Der Apotheker trug einen blutroten Um-

hang, auf dessen Brust ein Loco Miroir in Weiß aufgenäht

war.

„Gott steh uns heil“, entfuhr es Onkel Otto.

Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür hinter dem Voo-

doo-Priester ins Schloss.

Er zog ein langes Messer aus dem Umhang, auf dem ei-

ne züngelnde Schlange eingraviert war. Er nahm eines der

Fläschchen mit dem Zombie-Elixier aus dem Glasschrank

und öffnete es mit seinem Furcht erregenden Messer. Dann

verteilte er den Inhalt gleichmäßig auf vier Gläser und

sprach einige Beschwörungsformeln in Kreolisch.

Die SAM-Detektive fühlten ihr Ende nahen. Die Stim-

me des ‚bokor‘ schwoll zu einem triumphierenden Sing-

sang an.

„Die Stunde der Vollendung ist gekommen … Jetzt kann

nichts mehr meinen Plan zerstören. Nicht ihr und nicht

deine schändlichen Bücher!“

Preval starrte Onkel Otto an und richtete das scharfe

Messer auf ihn.

„Welchen Plan?“, fragte Mario. Er versuchte, etwas Zeit

zu gewinnen. Preval hatte wohl das Bedürfnis zu reden,

denn er ging darauf ein.

„In Haiti war es nicht immer so wie heute“, begann er.

„Bis ins 19. Jahrhundert galt unsere Heimat als die reichste

Karibik-Kolonie, aber dann seid ihr Europäer gekommen

und habt die Bäume auf unserer schönen Insel umgeschnit-

ten, um Platz für euer Zuckerrohr zu machen. Meine Vor-

fahren mussten für die süßen Vorlieben der euren mit einer

Umweltkatastrophe und furchtbarer Verarmung bezahlen.

124

Unser Land wurde wirtschaftlich ausgebeutet, ihr habt uns

ausbluten lassen, als wir unsere Unabhängigkeit von

Frankreich mit horrenden Entschädigungszahlungen erkau-

fen mussten. Und jetzt wollt ihr uns noch das Letzte neh-

men, was uns geblieben ist: unseren Glauben, die Voodoo-

Religion. Dafür werde ich jetzt euch ausbluten lassen und

nach eurem Tod zu willigen Zombies machen, die mir Tag

und Nacht helfen, meinen Reichtum zurückzubekommen!“

In Prevals Augen standen Hass und Gier.

„Trinkt endlich!“, befahl er mit einem fiesen Grinsen.

Ratlos griffen die vier nach den Gläsern mit dem tödli-

chen Inhalt.

„Na los! Bringt es hinter euch.“

Sandra führte das Glas zittrig an die Lippen. Ihre letzten

Sekunden hatte sie sich anders vorgestellt. Da erinnerte sie

sich an den Inhalt des Glasschranks und hatte eine riskante

Idee.

Es musste einfach klappen!

125

29 Das letzte Geheimnis

Sandra schleuderte Preval das Glas mit dem Zombie-

Elixier blitzartig ins Gesicht.

Der Apotheker schlug die Hände vors Gesicht.

Im selben Augenblick stürzten sich Armin und Mario

hellwach auf ihn und rissen ihn zu Boden. Prevals Hand

griff verbissen nach dem Messer.

Sandra hastete zum Schrank, schnappte sich eine der

Spritzen, zog die Schutzhülle von der Nadel und zielte.

Otto erstarrte.

„Nein! Wenn du einen der Jungen erwischt, kannst du

ihn dadurch töten!“

Sandras Gedanken rasten. Sie hatte keine andere Wahl,

sie musste das Risiko eingehen.

Das Mädchen warf. Die Spritze flog nur wenige Mili-

meter an Marios Gesicht vorbei. Wie ein kleiner Speer

bohrte sich die Nadel durch Herrn Prevals Umhang in seine

Schulter. Ihre beiden Freunde hatten alle Mühe, den wü-

tenden Mann zu bändigen. Es trat ein, was Sandra erhofft

hatte: Das Zombie-Elixier, mit dem die Spritzen gefüllt

waren, hatte eine so hohe Konzentration, dass der Apothe-

ker augenblicklich von heftigen Atembeschwerden und

Muskelkrämpfen heimgesucht wurde. Er konnte sich nicht

länger wehren und blieb schließlich bewusstlos liegen.

126

127

Armin eilte zum Telefon und verständigte die Polizei,

während sich Onkel Otto schnellstens an die Zubereitung

des Gegengifts machte.

Eine Stunde später hatte der Spuk ein Ende. Onkel Otto,

Sandra, Aristide, Raoul und Castera hatten ihr wahres Ich

im letzten Moment zurückerhalten, bevor sie durch die

starken Gifte bleibende Organschäden davongetragen hät-

ten. Raoul würde noch für längere Zeit im Krankenhaus

bleiben müssen, schließlich hatte er sich bei seinem

Selbstmordversuch schwere Verletzungen zugezogen. Die

Polizei suchte nach weiteren Opfern Prevals und die SAM-

Detektive hatten für das Polizeiprotokoll so manche Frage

mehrmals zu beantworten, so unglaublich klang die Wahr-

heit.

„Es ist erschreckend, dass ein Vater seinen eigenen Sohn

zu einem Zombie machen will, wie das Doktor Preval bei

Raoul versucht hat“, meinte ein Polizist.

„Na ja“, gab Armin zurück, „wenn man skrupellos ge-

nug ist … Raoul hat mit Onkel Otto an der Entlarvung des

Voodoo-Zaubers gearbeitet. Er hätte die Pläne seines Vaters

zunichte gemacht.“

„Preval war klar, dass Onkel Otto ihm bald auf die Spur

kommen würde, nachdem er die restlichen Aufzeichnungen

von Wade Davis gefunden hatte. Er hätte offenbart, dass

Voodoo auf Einbildung beruht und dass die Symptome

durch Drogen hervorgerufen werden. Eine exakt bemesse-

ne Dosis Tetrodotoxin bewirkt alle Anzeichen des Todes

oder lässt die Opfer aus Angst vor Wahnbildern Selbstmord

begehen. Das Opfer ist hellwach, bei vollem Bewusstsein,

aber durch das Tetrodotoxin vollständig gelähmt. Es hört,

128

wie sein Tod verkündet wird und die Nägel in den Sarg

geschlagen werden. Dann wird es lebendig begraben und in

einer düsteren Waldzeremonie wiederbelebt. Die Kunst der

Voodoo-Zauberer besteht darin, die richtige Menge Tetro-

dotoxin zu finden, sonst stirbt das Opfer“, ergänzte Sandra

und riss sich den Talisman vom Hals. „Anders ist es mit

diesen Dingern. Wirken ausschließlich durch Einbildung,

und nicht einmal das.“

„Damit ist auch das letzte Geheimnis gelüftet“, meinte

Armin erleichtert.

„Aber wieso diese Anfälle, die Atembeschwerden und

das Herzrasen?“, fragte Onkel Otto. „Das war keine Ein-

bildung!“

„Der Kerl hat an alles gedacht. Gezielte Angstmache-

rei“, sagte Armin und zeigte ihnen eine kleine Schachtel,

die er im Glasschrank gefunden hatte. Darauf stand „Effor-

til“.

„Effortil ist ein blutdrucksteigerndes Medikament. Bei

überhöhter Dosierung treten Herzklopfen, Unruhe, Schwit-

zen, Kopfdruck und Herzmuskelbeschwerden auf. Ich habe

eine Schachtel im Büro von Doktor Mella gesehen, als wir

nach Raouls Krankenakte gesucht haben. Effortil kann in

zu hoher Dosierung zu Panikattacken und Atemnot führen,

wodurch das Blut mit zuviel Sauerstoff angereichert wird.

Das Ergebnis sind Übelkeit, Ohnmacht und Schwindelge-

fühle.“

„Also genau die Zustände, die Onkel Otto die ganze

Zeit geplagt haben“, sagte Mario. „Und zu jeder Dosis eine

dieser Voodoo-Puppen, und schon ist die schwarze Zaube-

rei perfekt.“

„Aber wie hat es Preval geschafft, dass das Effortil ge-

129

nau dann seine Wirkung entfaltete, wenn Doktor Klein eine

dieser Puppen erhielt?“, wollte ein Polizeibeamter wissen.

„Preval hat die Tabletten einfach zu einem Pulver zer-

rieben und ins Zombie-Elixier gemischt“, erklärte Sandra.

„Wenn Onkel Otto eine Puppe bekam und sich darüber

aufregte, nahm er immer etwas von der ‚Medizin‘ ein, die

Preval ihm gegeben hatte – sie sollte ihn beruhigen, doch

in Wahrheit tat sie das Gegenteil.“

„Aber der eigentliche Wirkstoff im Zombie-Elixier ist

das Tetrodotoxin, eine Substanz, die aus dem weiblichen

Kugelfisch gewonnen wird. Sie ist als Gift, das unempfind-

lich gegen Schmerz macht, fast 200000 Mal wirksamer als

Kokain. Als Apotheker hatte Preval also Zutritt zum Labor,

konnte Onkel Ottos Vertrauen missbrauchen, sein Teufels-

zeug an den Mann bringen und die Puppen deponieren.“

„Ich muss sagen, einfach genial, wie ihr den Fall gelöst

habt. Das war das Werk von Meisterdetektiven“, sagte der

Revierleiter, als er mit Aristide Bazile den Raum betrat.

„Vielleicht sollten wir euch einen Job bei der Polizei von

Port-au-Prince anbieten.“

„Danke, ich glaube, darauf verzichten wir lieber“, erwi-

derte Sandra impulsiv. „Ich habe von Voodoo, Magie und

Zauberei im Moment die Nase voll. Schließlich war ich auf

dem besten Weg, ein Zombie zu werden, eine lebendige

Tote. Das war nicht gerade eine angenehme Erfahrung.“

„Auf jeden Fall ist euch Haiti zu Dank verpflichtet. Ihr

habt einem skrupellosen Gauner das Handwerk gelegt und

das Geheimnis der Voodoo-Priester gelüftet. Ihr habt vielen

Menschen das Leben gerettet“, sagte der Revierleiter mit

Nachdruck.

Aristide trat zu den SAM-Freunden und schüttelte ihnen

130

die Hand. „Auch ich danke euch aus tiefstem Herzen. Ohne

euch wäre ich jetzt ein Zombie. Euer Abenteuer wird in

den nächsten Tagen die Titelseite von Le Nouvelliste füllen,

wenn ihr gestattet.“

„Aber klar doch“, grinsten die drei Freunde „Ich habe

eine Spitzenstory, um die mich alle Kollegen beneiden

werden, und Doktor Klein wird die Sache wissenschaftlich

bearbeiten, nicht wahr?“

„Ja, ich werde sicher ein Buch darüber schreiben. Das

wird eine Sensation, das kann ich euch sagen! Aber jetzt

will ich erst mal nach Europa zurück. Haiti, das ist nicht

meine Welt, so schön es hier auch ist.“

„Da schließe ich mich an“, sagte Sandra.

„Gebt bloß Acht, dass euch Preval nicht aus dem Knast

abhaut, wenn er wieder zu sich kommt“, scherzte Mario,

während sie sich von Castera und René verabschiedeten,

um das Flugzeug nicht zu versäumen. Auf der Straße war-

tete bereits ein Tap-Tap, das sie zum Flughafen bringen

sollte.

„Ich hoffe, ihr habt jetzt noch ein paar ruhige Tage. Es

war toll, euch kennen zu lernen. Und danke für alles!“, rief

Castera ihnen nach.

„Was die nächsten Ferien wohl bringen werden?“, fragte

sich Sandra, als ahnte sie, dass ihnen schon bald ein Ver-

brechersyndikat auf den Fersen wäre …*

* siehe CodeName SAM, Geheimfall 4, „Das Rätsel der lebendi-

gen Orakelknochen“

131

132

Heute gehört Haiti, die Heimat der

Voodoo-Magie, zu den ärmsten Staaten der

Welt, obwohl es bis ins 19. Jahrhundert als

reichste Karibik-Kolonie galt. Seine Hauptstadt Port-au-

Prince verdankt ihren noblen Namen der Prince, dem

ersten französischen Schiff, das um 1700 in der Bucht von

Gonave vor Anker ging.

Christoph Kolumbus kam bereits 1492 nach Haiti. Heute

kann man den vier Meter hohen Anker seines Flaggschiffes

Santa Maria im Musée du Panthéon National Haitien

bestaunen. Es lief vor Cap Haitien auf ein

Riff auf. Aus seinen Planken entstand zu

Weihnachten die erste Siedlung der

Neuen Welt, La Navidad. Außerdem zeigt

das Museum die Plantagenglocke, mit der

1793 das Ende der Sklaverei eingeläutet

wurde. Die Sklaven aus Afrika waren es

auch, die die Voodoo-Religion nach Haiti

brachten. Sie war und ist für viele

Haitianer der einzige Hoffnungsschimmer

in der Armut. Noch heute ist die Wallfahrt

zum 30 Meter hohen Wasserfall von Saut

d’Eau ein religiöser Höhepunkt, den sich

viele Pilger nicht entgehen lassen.

Bis in die Gegenwart hinein haben

Herrscher den Voodoo-Glauben für ihre

Zwecke missbraucht, zum Beispiel der

Diktator François Duvalier, der sich zum

Präsidenten auf Lebenszeit ernannte und

seine Macht mit einem Heer von Zombies

sicherte.

Er betrat am 6. Dezember 1492 als erster

133

Europäer den Boden von Hispaniola (= Haiti und

Dominikanische Republik). Bereits als 14-Jähriger fuhr der

im

italienischen

Genua

geborene Abenteurer

als

Schiffsjunge zur See. Sein Traum war es, die Ostküste

Asiens durch eine Fahrt nach Westen zu erreichen. Nach

vielen Rückschlägen konnte er Isabella von Kastilien für

sein Vorhaben gewinnen.

Mit drei Schiffen und 100 Mann stach er am 3. August

1492 in See und steuerte nach Westen, wo er am 12. Okto-

ber Land sichtete. Er hatte die heutige Watling-Insel der

Bahama-Gruppe erreicht, die er San Salvador taufte. In

weiterer Folge ent-

deckte er Kuba und

schließlich Haiti. Mit

Ehren

überhäuft

brach er 1493 mit 17

Schiffen und 1500

Mann zu einer zwei-

ten Reise auf, auf der

er Jamaika, Puerto

Rico und die Kleinen

Antillen

entdeckte.

Erst auf der dritten

Reise

(1498-1500)

erreichte er bei Trini-

dad das amerikani-

sche Festland und

hielt es für einen

Ausläufer des asiati-

schen Kontinents. Von seiner vierten Reise kehrte der be-

rühmteste aller Entdecker krank nach Spanien zurück, wo

er am 21. Mai 1506 in Valladolid starb.

134

135

Zu seiner Herstellung benötigt man zunächst einen

„Donnerstein“, einen Felsbrocken, der ein Jahr lang

vergraben sein muss. Dazu kommen neben einem

Sortiment an zerriebenen Knochen zwei Kugelfische, von

denen einer ein ‚crapaud de mer‘, eine Meereskröte, sein

muss, dann eine Seeschlange der Gattung Polychaeta, ein

Zweig der Tcha-tcha-Pflanze, Pflanzenöl, ein halbes

Dutzend Juckerbsen, zwei blaue Eidechsen, eine große

Kröte, die so genannte Bufo marinus (Bufotenin wirkt wie

Tetrodotoxin), und eine Mischung aus Taranteln, weißen

Laubfröschen und verschiedene Insekten. Zunächst wird

die Seeschlange an das Bein des Bufo marinus geknotet.

Anschließend steckt man beide zusammen in ein Gefäß

und vergräbt sie. Die Kröte soll „vor Wut sterben“, was

angeblich die Wirkung des Gifts verstärkt, das sie in das

Gefäß absondert. Man darf während der Zubereitung mit

keiner der Zutaten in Berührung kommen, da einige davon

durch die Haut aufgenommen werden können und in

konzentrierter Form tödlich sind.

Der Voodoo-Priester legt einen Totenschädel mit dem

Donnerstein und anderen Zutaten in ein Feuer, bis sich der

Knochen schwarz färbt. Dann zermahlt er die pflanzlichen

Bestandteile samt den Insekten und mengt Knochenpulver

hinzu, das er vor dem Rösten des Schädels abgerieben hat.

Danach wird die Mixtur zusammen mit dem Schädel, dem

Donnerstein und dem von den Kugelfischen abgesonderten

Giften zu einer Tinktur vermengt. Anschließend wird die

Mischung drei Tage lang in einem vergrabenen Sarg

aufbewahrt. Das gefährliche Zombie-

Elixier ist fertig und die Voodoo-Puppen

sind einsatzbereit.

In der richtigen Dosierung führt das

136

Elixier zu Symptomen, die den Anschein erwecken, dass

das Opfer stirbt. Die Betroffenen fallen in einen

tranceähnlichen Zustand, ihre Atmung ist am Ende kaum

noch wahrnehmbar.

Der Voodoo-Priester belebt das Opfer in einer

Zeremonie auf einer Waldlichtung wieder. Der ‚bokor‘

gräbt das Opfer aus und verwandelt es in einen Untoten

Toten, einen Zombie, indem er wild auf den Körper

einschlägt. Das ist wichtig, da der Zombie durch die

Schläge ruhig gestellt wird, während die Wirkung des

Bufotenins und des Tetrodotoxins allmählich nachlässt.

Nun wird eine Paste verabreicht, die Atropin (das

Gegenmittel zu Tetrodotoxin) enthält. Durch diesen neuen

chemischen Mix wird der Zombie aus seiner mit

Muskelkrämpfen einhergehenden Geistesstörung befreit,

um gleich im Anschluss in ein dauerndes psychotisches

Delirium zu verfallen, ähnlich

einem starken Rauschgift-

Trip.

Jetzt

ist

der

willenlose

Zombie fertig, der auf Haiti

zu Feldarbeit und Ähnlichem

herangezogen wurde – und

vielleicht noch wird. Der

Zombie kann essen und

trinken, aber nicht sprechen

und

seine

Umgebung

wahrnehmen.

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Ein weiterer wichtiger Aspekt des

Voodoo-Kultes ist die Kunst,

Opfer durch Suggestion aus der

Ferne zu verletzen oder gar zu

töten. Dies ist die Kunst des ‚mojo‘ (ein Fluch, der anderen

Schaden zufügen soll).

Bei der traditionellen Variante steckt der Voodoo-Priester

Nadeln durch Jutepuppen, die dem Opfer gleichen. Das hat

scheußliche Schmerzen und sogar den Tod zur Folge. Oft

kommen dabei Medikamente und halluzinogene Drogen

zum Einsatz, wodurch das Opfer von den übrigen

Stammesmitgliedern für verflucht gehalten wird. Sie

wenden sich aus Angst gegen diesen Menschen, der

deshalb in Depression verfällt. Der Ethnobiologe Wade

Davis hat herausgefunden, dass das Opfer für die

Gemeinde tatsächlich zur Bedrohung wird, sodass ihre

Mitglieder

sich

verschwören,

um

seinen

Tod

herbeizuführen. Diese Verschwörung ruft beim Opfer einen

Selbstaufgabekomplex

hervor,

es

verliert

seinen

Lebenswillen aufgrund von Aussichtslosigkeit. Weil die

Einbildungskraft stark von der Glaubensbereitschaft

abhängt, schüchtern Voodoo-Priester ihre Opfer mithilfe

von Medikamenten ein.

Wenn die Gemeinde das Opfer dann behandelt, als wäre es

bereits gestorben, hat die mit dem Bann belegte Person

Schwierigkeiten, so zu leben wie bisher. Sie kann nur die

Gruppe verlassen, doch diese lässt sie nicht fort.

Zwangsläufig leidet die Gesundheit des Verfluchten

darunter, so dass es mit ihm rasch bergab geht.

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Es hat also den Anschein, als wären sowohl die

Fähigkeiten des ‚bokor‘, Zombies zu schaffen, als auch die

Macht des Voodoo-Priesters, den Tod einer Person durch

Einbildung und Puppen herbeizuführen, wissenschaftlich

erklärbare Phänomene. Immer spielen Drogen und soziale

Faktoren eine wichtige Rolle. Und das alles in einem Land

mit niedrigem Bildungsniveau. Voodoo-Rituale bauen auf

Angst auf. Diese Angst löst biochemische Reaktionen im

Körper aus, die schließlich zum Tod führen können, wenn

nicht rechtzeitig geholfen wird.

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Martin Selle - Das Zombie Elixier
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