Martin Selle
Das Zombie-
Elixier
Codename Sam
Band 03
scanned 03/2008
corrected 05/2008
Sandra, Armin und Mario reisen in den Ferien zu
Marios Onkel nach Haiti. Der Forscher möchte dort das
Geheimnis des Voodookultes lüften. Doch als die drei
Freunde grässliche Voodoopuppen erhalten, die ihnen
wie aus dem Gesicht geschnitten ähneln, ahnen sie, was
das zu bedeuten hat: Sie sollen in Zombies verwandelt
werden. Das Schicksal der SAM-Mitglieder scheint
besiegelt, doch da machen sie eine sensationelle
Entdeckung …
ISBN: 3-7074-0092-1
Verlag: G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien
Erscheinungsjahr: 2002
Umschlaggestaltung: Martin Weinknecht
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
DAS ZOMBIE-ELIXIER
Martin Selle
Illustrationen:
Martin Weinknecht
Wien – Stuttgart – Zürich
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Selle, Martin:
Codename Sam / Martin Selle. – Wien; Stuttgart; Zürich: G und G,
Kinder- und Jugendbuch
(Krimi)
Geheimfall 3. Das Zombie-Elixier. – 2000
ISBN 3-7074-0092-1
2. Auflage 2002
© 2000 by G & G Buchvertriebsgesellschaft mbH, Wien
Covergestaltung: Martin Weinknecht
Lektorat: Birgit Trinker
Satz: G & G, Wien
Druck und Bindung: BBG, Wöllersdorf
In der neuen Rechtschreibung.
Aus Umweltschutzgründen wurde dieses Buch auf chlorfrei
gebleichtem Papier gedruckt. Alle Rechte, auch die des
auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und
der Übertragung in Bildstreifen sowie der Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten.
INHALT
Der sprechende Wald ............................................. 7
Todeszauber ......................................................... 10
Onkel Otto in Gefahr? ......................................... 15
Geistermusik ........................................................ 19
Seltsame Vorgänge .............................................. 23
Puppen, die töten? ............................................... 29
Entsetzen ............................................................. 34
In großer Gefahr .................................................. 39
Lagebesprechung am Marché de Fer ................... 42
Wände mit Ohren ................................................ 45
Lauschangriff ....................................................... 48
Die letzte Warnung .............................................. 52
Das Zombie-Elixier ............................................. 54
Augen im Geschirrspüler ..................................... 59
Mit Blut geschrieben ........................................... 62
Lebendige Tote .................................................... 65
Das Schlammgesicht ........................................... 68
Tetrodotoxin ........................................................ 72
Schwarze Schlangen ............................................ 78
Freitag, der Dreizehnte ........................................ 84
Die Glühbirnenfalle ............................................. 87
Nadeln im Herz ................................................... 92
Die Zeit wird knapp ........................................... 100
Ein schwarzer Brief ........................................... 106
Aristides geheime Aufzeichnungen ................... 110
Der Zauber aller Zauber .................................... 115
Eine furchtbare Erkenntnis ................................ 120
Endlich Klarheit ................................................ 123
Das letzte Geheimnis ......................................... 126
6
1 Der sprechende Wald
Sandra hatte schon seit einigen Minuten ein ungutes Ge-
fühl. Sie war gegen dieses Himmelfahrtskommando gewe-
sen, doch ihre zwei Freunde hatten sich nicht davon ab-
bringen lassen. Dichter Nebel umfing die SAM-Detektive,
mühsam bahnten sie sich einen Weg durch das Unterholz
des haitianischen Waldes.
„Kommt, Jungs, drehen wir um. Wir gehören nicht hier-
her, das spüre ich. Wer weiß, was da draußen auf uns
lauert?“, flüsterte Sandra nicht zum ersten Mal.
„Vergiss den Zeitungsbericht und die Schauermärchen,
auch Sprachtalente wie du können sich bei Übersetzungen
irren. Hier ist nichts Gefährliches – und schon gar keine
Zombies“, gab Mario zurück.
Doch schon im nächsten Augenblick zuckten sie zu-
sammen. Spitze Schreie drangen aus dem Wald, die all-
mählich in Gewimmer übergingen.
Mit zittrigen Knien schlichen sie weiter. Sandra wusste
nicht, ob sie sich ängstigen oder ärgern sollte, während sie
hinter ihren Freunden den schmalen Grat des Waldhügels
hinaufkletterte. Sich nachts in diesem Wald herumzutrei-
ben war für sie nicht Mut, sondern Leichtsinn. Und mit
Sicherheit gab es Dinge, die man zu seiner eigenen Sicher-
heit besser nicht wusste oder sah.
7
„Wir haben Onkel Otto hoch und heilig versprochen,
das Haus nicht zu verlassen“, erinnerte sie Mario und Ar-
min.
„Ich will ja nur einen kurzen Blick auf die andere Seite
werfen. Mach dir nicht gleich in die Hosen. Interessiert es
dich nicht, wieso dieser Wald in manchen Nächten spricht?
Außerdem könnte jemand in Schwierigkeiten sein und un-
sere Hilfe brauchen“, erwiderte Armin und kroch ein Stück
weiter. Er kannte Sandras Neugier.
Als sie oben ankamen, legten sie sich flach auf den Bo-
den und versuchten etwas zu erkennen. Die Quelle der gei-
sterhaften Stimmen konnte nicht mehr weit entfernt sein.
Dumpfes Trommeln mischte sich jetzt unter das Wimmern.
Sandra, Armin und Mario bemühten sich, trotz der Aufre-
gung einen kühlen Kopf zu bewahren und durch den Nebel
hindurch etwas zu erkennen. Doch der weiße Schleier war
zu dicht.
„He!“, rief Armin in die Dunkelheit. „Ist da unten je-
mand? Brauchen Sie Hilfe?“ Die Stimmen und das Trom-
meln verstummten augenblicklich.
Es war totenstill.
„Bist du total übergeschnappt?“, zischte Mario wütend.
„Vielleicht stimmt der Zeitungsbericht ja doch! Wer weiß,
was da unten los ist? Wenn wir entdeckt werden, sind wir
so gut wie tot!“
Wieder hörten sie die Stimmen, diesmal aber näher. Sie
wurden nun von einem bedrohlichen Singsang untermalt.
Da wurde auch Armin unwohl. Er hatte schon manches
über den schwarzen Voodoo-Zauber gehört, aber nie daran
geglaubt. „Wenn das wirklich das Lied des Schlangengot-
tes Damballah ist, dann …“
8
„Halt doch die Klappe. Willst du uns noch mehr Angst
einjagen?“, fuhr Sandra ihn an. Mit pochenden Herzen
lauschten die Freunde in die Nacht. Plötzlich herrschte
wieder Stille.
„Wir müssen näher ran. Der Nebel ist zu dicht“, flüster-
te Mario.
„Ohne mich. Seid ihr völlig plemplem? Denkt dran, was
mit Samedi passiert ist!“, schimpfte Sandra.
„Du hast ja Recht. Aber wenn wir schon hier sind, kön-
nen wir auch den letzten Schritt wagen. Wir sind doch kei-
ne Feiglinge!“, sprach Mario seinen Freunden Mut zu. Er
wusste, dass dieses Wort seine Wirkung nicht verfehlen
würde.
Gemeinsam schlichen sie auf Zehenspitzen vorwärts.
Zweige knackten unter ihren Schuhen. Da setzte der Sing-
sang wieder ein, diesmal noch näher. Sie konnten Schatten
wahrnehmen, die sich rhythmisch bewegten. Ein Windstoß
riss die Nebelwand auf und gab den Blick frei auf eine ge-
spenstische Szene. Ein unglaublicher Anblick bot sich den
SAM-Detektiven. Mario sah, wie sich Sandras Augen vor
Schreck weiteten.
9
2
Todeszauber
Die drei Freunde sprangen in Deckung. Sandra verhedderte
sich in einer Wurzel, die über den Waldboden wucherte,
stürzte und schlug mit dem Kopf an einen Felsen. Blut
floss ihr über die Wange. Doch was sie sah, ließ sie den
Schmerz vergessen.
Auf einer kleinen Lichtung hatten sich Menschen ver-
sammelt. Aus ihrer Mitte ragte ein Holzpfahl, in den schau-
rige Dämonenfratzen geschnitzt waren. Er stand in einem
Kreis aus Kerzen. Flammenzungen leckten am Nebel. Ein
dunkelhäutiger Mann, der sich offenbar in Trance befand,
hielt ein lebendes Huhn zwischen den Zähnen und tanzte
zum Gesang der anderen um den Pfahl. Seine Hand um-
klammerte einen schlangenförmigen Stab. Beschwörungen
begleiteten seinen seltsamen Tanz.
Eine breitschultrige Gestalt trat in den Kreis und begann
mit einem krummen Stock Zeichen in den Boden zu ritzen.
Gesang und Tanz wurden immer ekstatischer. Als sie einen
Höhepunkt erreicht hatten, biss der Mann dem Huhn den
Hals durch und trank genussvoll sein dampfendes Blut.
„Verdammter Mist. Nichts wie weg hier, bevor sie uns
erwischen!“, zischte Mario. Er hatte einen furchtbaren Ver-
dacht. „Das ist das Todeszauber-Ritual. Ich habe in einem
alten Buch darüber gelesen. Der Mann dort hält einen Mi-
10
niatursarg, eine Puppe und eine Schlange in der Hand, die
er im Namen der unheiligen Dreifaltigkeit segnet und je-
mandem schickt, dessen Seele sie ins Jenseits holen sollen.
Diese kleinen Steingebäude rundherum, das sind Voodoo-
Tempel, in denen Menschenknochen und andere Reliquien
aufbewahrt werden. Der Tanz, den sie aufführen, wurde
von afrikanischen Sklaven nach Haiti gebracht …“
„Dann war der Zeitungsbericht doch kein fauler Zauber
und es gibt sie wirklich!?“, japste Sandra und starrte auf
die Horrorszene. Das Kerzenlicht ließ die Augen der Ein-
geborenen bedrohlich funkeln.
Langsam breitete die dunkle Gestalt die Arme aus; es
trat Stille ein. Niemand rührte sich. Der sprechende Wald
war verstummt.
Zwei Männer stellten feierlich eine Puppe auf einen
Baumstumpf und traten neben den großen Mann, huldigten
ihm mit einer tiefen Verbeugung und begannen den Boden
aufzugraben. Als sie bis zur Hüfte in der Erde verschwun-
den waren, kamen ihnen drei weitere Männer zu Hilfe.
Gemeinsam hievten sie einen Holzsarg aus dem Loch. Sie
stellten ihn im Lichterkreis ab und nahmen langsam den
Deckel ab.
Der Anführer wollte gerade in den Sarg greifen, als Ar-
min sich bewegte und dabei einen trockenen Zweig knick-
te.
In Sekundenschnelle zerstreuten sich die geisterhaften
Figuren. Der Anführer wandte sich um, starrte unter einer
Kapuze hervor in den Nebel und stieß einen drohenden
Schrei aus. Er befahl seinen Leuten offenbar, den Wald zu
durchkämmen.
11
12
Die SAM-Freunde schossen aus ihren Verstecken. Sie hat-
ten Mühe, im Nebel den richtigen Weg zu finden und bei-
sammenzubleiben. Am Fuße des Hügels zerrte Mario Ar-
min und Sandra hinter einen Felsvorsprung.
„Warum habt ihr bloß nicht auf mich gehört?“, flüsterte
Sandra verärgert.
„Schschscht!“, zischte Armin und hielt ihr den Mund zu.
Schritte näherten sich ihrem Versteck. Hatten die Ver-
folger sie entdeckt?
Mario bemerkte, dass sich der Nebel allmählich lichtete.
In wenigen Sekunden würde er keinen Schutz mehr bieten.
„Los, weiter, sonst finden sie uns!“, flüsterte er und
sprang hinter dem Felsen hervor.
Sandra und Armin wollten ihm gerade folgen, als ihr
Freund von einer monströsen Gestalt umgerannt wurde und
zu Boden fiel. Grün funkelnde Augen starrten den Jungen
aus einem weißen Gesicht an. Von den Mundwinkeln tropf-
te Blut. Jetzt ist es aus, dachte Mario. Er wollte um Hilfe
schreien, doch da war der Fremde schon wieder ver-
schwunden. Er rappelte sich hoch und stieß mit der Hand
an einen weichen Gegenstand mit rauer Oberfläche. Er hob
ihn auf, wollte ihn aber erst untersuchen, wenn sie in Si-
cherheit waren.
Eine halbe Stunde später hatten die drei Freunde ihr Fe-
rienhaus in Port-au-Prince erreicht. Sandra drehte das Licht
an, um den Gegenstand, den Mario gefunden hatte, be-
trachten zu können.
„Das ist so eine Voodoo-Puppe, wie sie die beiden To-
tengräber auf den Baumstumpf gestellt haben!“, entfuhr es
Armin. Jetzt dachte auch er an den Zeitungsbericht, den sie
kurz nach ihrer Ankunft gelesen hatten.
13
Die Puppe war aus Jute und schien mit einer Art Heu
gefüllt zu sein. Gliedmaßen und Kopf bestanden aus
Wachs. Als Mario die Puppe auf den Rücken drehte und ihr
Gesicht sah, stockte ihm das Blut in den Adern.
14
3 Onkel Otto in Gefahr?
„Das … das kann doch nicht sein!“, stotterte Mario. Doch
es gab keinen Zweifel: Die Puppe hatte Onkel Ottos Ge-
sicht! Das Beunruhigendste war der gequälte und gleich-
zeitig bösartige Ausdruck. Onkel Otto aber war ein guther-
ziger Mensch, der niemandem etwas zu Leide tat.
„Wieso er?“, fragte Armin verstört.
„Ich wette, es war dein Onkel, mit dem wir im Wald zu-
sammengestoßen sind“, meinte Sandra. „Aber was macht
er nachts in dieser gottverlassenen Gegend? Er weiß doch
besser über die mysteriösen Vorfälle Bescheid als jeder
andere.“
„Und warum schleppt er eine Puppe mit sich herum, die
ihm ähnlich sieht?“, fragte Armin.
„Redet keinen Quatsch. Das war nicht Onkel Otto. Die-
ses Gesicht …“, widersprach Mario. „Außerdem, warum
sollte er sich dort herumtreiben, völlig absurd!“
„Vielleicht war ja das der Grund dafür, dass er uns ver-
boten hat, heute das Haus zu verlassen“, setzte Sandra nach
und sah Mario fragend an.
„Nie im Leben. Onkel Otto ist völlig normal im Kopf,
der rennt doch nicht mit Puppen im Wald herum.“ Mario
nahm die Puppe wieder in die Hand.
„Da muss ich dir Recht geben“, meinte Armin und warf
15
sich auf sein Bett. „Aber komisch ist die ganze Sache doch
irgendwie. Du selbst predigst immer, dass solche Gegenstän-
de aus fremden Kulturen meist was Schlimmes bedeuten.“
Marios Hand glitt über die raue Jute. „Onkel Otto ist
Wissenschaftler. Er steht mit beiden Beinen fest im Leben,
ist bekannt für seine Leistungen auf dem Gebiet der Völ-
kerkunde. Er hat Bücher geschrieben und Preise erhalten.
Er hat gar keine Zeit für so einen Firlefanz.“
Sandra verstaute ihre Detektivausrüstung und warf sich
ebenfalls aufs Bett, müde von der Aufregung. Sie starrte
nachdenklich zur Decke, an der sich ein Ventilator drehte.
Nach einer Weile sah sie zu Mario, dem die Ähnlichkeit
der Puppe mit seinem Onkel sichtlich Unbehagen bereitete.
„Hör auf, zu grübeln. Je länger du dich damit beschäf-
tigst, desto verwirrter wirst du. Das bringt nichts. Die Pup-
pe ist völlig harmlos, ein Spielzeug, weiter nichts.“
Armin stand auf. Er wusste nicht, warum, aber er fühlte
sich in Gegenwart der Puppe nicht wohl. Er öffnete ein Fen-
ster und sah in die schwüle Nacht hinaus. Vom Meer wehte
ein warmer Wind herüber. „Warum nehmt ihr eigentlich
immer etwas Schlimmes an? Diese Puppen könnten ja auch
Glücksbringer sein. Nur weil sie unheimlich aussehen …“
„Nein“, erwiderte Mario. „Denkt doch daran, was wir
im Wald gesehen haben! Das war kein Kinderspielplatz.“
„Warum lange herumrätseln?“, schaltete sich Sandra
ein. „Geben wir die Puppe doch einfach Onkel Otto und
fragen ihn, wo er heute Nacht war.“ Sie sprang auf und
setzte sich an den kleinen Tisch.
„Es reicht, wenn wir ihn im Labor anrufen“, meinte
Armin, der noch immer aus dem Fenster starrte und sich
den lauen Wind durch das Haar streichen ließ.
16
„Ja, genau, wir rufen ihn einfach an.“ Sandra stand auf
und begann im Zimmer umherzuwandern. „Wenn es wirk-
lich Onkel Otto war, der die Puppe im Wald verloren hat,
sucht er sie sicher. Wenn er aber im Labor ist, wissen wir
wenigstens, dass wir mit jemand anderem zusammengesto-
ßen sind.“
„Auf jeden Fall müssen wir ihn fragen, was das hier zu
bedeuten hat“, sagte Mario düster und starrte auf eine Hand
der Puppe.
Sandra griff nach ihr und drehte sie in den Schein der
Lampe. Mario ging zum Telefon und wählte die Nummer
von Otto Klein. Es meldete sich eine vertraute Stimme mit
den Worten: „Doktor Klein. Wer ruft hier mitten in der
Nacht an und stört mich bei der Arbeit, wenn ich fragen
darf?“
„Ich bin’s, Mario. Entschuldige bitte, dass ich so spät
anrufe, aber ich hab gesehen, dass in deinem Haus nebenan
noch kein Licht brennt, da wollte ich mal fragen, wie’s dir
geht, wenn du so spät noch arbeitest.“
„Danke, mein Junge. Soweit alles in Ordnung. Wir se-
hen uns morgen, ich hab noch viel zu tun. Schlaft euch nur
aus, auf Haiti sind die Tage lang und aufregend. Da braucht
ihr Kraft.“
Mit diesen Worten legte Onkel Otto auf.
„Onkel Otto vermisst die Puppe offenbar nicht. Er hat
sie nicht mal erwähnt“, murmelte Mario. „Und wenn sie
doch gefährlich ist? Ich meine, wenn die Leute keine Mär-
chen erzählen und das, was wir gesehen haben, eine ‚mo-
jo‘-Beschwörung war?“
„Wenn es auf Haiti wirklich lebendige Tote gibt, ist dein
Onkel in großer Gefahr“, sagte Armin besorgt.
17
„Die Frage kann uns vielleicht jemand beantworten, der
dieses Zeichen kennt.“ Sandra zeigte auf die Puppenhand.
Darauf war ein Kreis zu erkennen, der von einem Kreuz in
vier gleiche Teile unterteilt wurde. In jedem Viertel befand
sich ein anderes Symbol.
Eine Windbö fegte durch das Zimmer und donnerte das
Fenster zu. Im selben Augenblick ging das Licht aus.
18
4
Geistermusik
„Der Strom ist wieder einmal ausgefallen“, knurrte Armin.
Mit einem geübten Handgriff im Sicherungskasten hatte er
das Problem in null komma nichts behoben.
Sandra packte die Puppe in eine Plastiktasche und griff
nach ihrer Detektivausrüstung.
„Wohin willst du noch um diese Zeit?“, fragte Mario
verwundert.
„Zu deinem Onkel. Ich will endlich wissen, womit wir
es hier zu tun haben.“
Armin und Mario waren zwar müde, wollten aber mit-
kommen, denn Sandras Blick verriet nichts Gutes.
15 Minuten später hielt der grell bemalte Bus in einer
Straße mit bunten Häusern im ‚Gingerbread-Stil‘. Pastell-
farbene Türmchen, Giebel, Balkone, Veranden und steile
Dächer schufen eine ganz eigene Atmosphäre. Reklame lud
zu Kaffee, Tanz und ‚bandera dominicana‘ ein, einem Ge-
richt aus Reis, Bohnen, Fleisch, gebratenen Bananen, Ma-
niok und Süßkartoffeln.
„Das da drüben ist das ‚Palais National‘“, sagte Mario,
das wandelnde SAM-Lexikon, als sie um eine Ecke bogen.
Armin warf Sandra einen unglücklichen Blick zu. Sie
konnten sich auf einen Vortrag gefasst machen.
„Und dort ist das ‚Musée du Panthéon National‘. Darin
19
sind die wichtigsten Schaustücke der haitianischen Ge-
schichte ausgestellt. Unter anderem der Anker der Santa
Maria – das war das Flaggschiff von Kolumbus, das vor
Cap Haitien auf ein Riff lief. Aus ihren Planken hat man
1492 die erste Siedlung der Neuen Welt errichtet, ‚La Na-
vidad‘“, dozierte Mario.
Schließlich hielten sie vor einem Gebäude, an dem ein
Schild mit folgender Aufschrift befestigt war:
VÖLKERKUNDEMUSEUM WIEN – AUSSENLABOR
HAITI. LEITER: DR. OTTO KLEIN
Sandra, Armin und Mario stiegen zum Kellereingang des
Labors hinunter. Von der Hauptstraße drang Rasin- und
Kompamusik herüber.
„Klingt wie Geistermusik – unheimlich“, flüsterte Ar-
min, als Sandra an die rosafarbene Holztür klopfte.
Die SAM-Freunde hatten von ihren Eltern die Erlaubnis
bekommen, für zwei Wochen alleine nach Haiti zu fahren,
um Marios Onkel zu besuchen. Mario hatte sich die Reise
zum Geburtstag gewünscht. Er hatte seinem Onkel immer
schon bei seiner ungewöhnlichen Arbeit über die Schulter
blicken wollen. Doktor Klein erforschte im Auftrag des
Wiener Völkerkundemuseums den Voodoo-Kult.
Sandra klopfte noch einmal, dann drückte sie auf die
Klinke. Das Labor war nicht verschlossen. Vor ihnen tat
sich ein dunkler Gang auf. Sie tasteten sich vorwärts.
Durch kleine Türfenster fiel etwas Licht auf den unheim-
lich wirkenden Gang.
„Onkel Otto!“, rief Mario in die Finsternis. Nichts rühr-
te sich. Er öffnete eine Tür. Sie sahen Bunsenbrenner, Rea-
20
genzgläser, Kühler und Tiegelzangen zwischen tropischen
Pflanzen und Vitrinen.
„Onkel Otto?“ Mario hielt inne. „Hört ihr das?“ Aus
dem Nebenraum drang Röcheln. Sandra, Armin und Mario
schlichen zur Tür und Mario trat als Erster ein. Die Holz-
dielen ächzten unter seinen Turnschuhen, als plötzlich zwei
eiskalte Hände seinen rechten Knöchel so fest umklammer-
ten, dass sie ihm fast das Blut absperrten. Mario schrie auf.
21
22
5 Seltsame Vorgänge
„Schnell, das Licht!“, rief Armin und kramte nach seiner
Taschenlampe.
Sandra suchte fieberhaft nach dem Lichtschalter, konnte
ihn aber nicht finden.
„Macht doch endlich Licht!“, kreischte Mario. Er zerrte
verbissen an seinem Bein.
Endlich entdeckte Sandra den Schalter und das gleißend
helle Licht von vier Leuchtstoffröhren durchflutete den
Raum.
Eine Tür flog auf und Onkel Otto schoss herein, gefolgt
von zwei jungen Menschen in weißen Kitteln.
„Um Gottes willen, mein Junge!“, stieß er hervor. „Ist es
schon wieder geschehen! Castera, ruf sofort Doktor Preval
an. Sag ihm, diesmal ist es verdammt ernst! Und er soll
gleich neue Medizin für uns alle mitbringen.“
Das Mädchen griff nach dem Telefonhörer.
Otto Klein flößte dem Jungen, der in einer Ecke kauerte,
etwas Kaffee ein.
„Ruhig, nur ruhig, Raoul. Das wird schon wieder“, flü-
sterte er besänftigend.
Allmählich ließ die Verkrampfung des Jungen nach und
Mario konnte sein Bein befreien. Auch das Röcheln war
gleichmäßiger Atmung gewichen. Von Onkel Otto und sei-
23
nem dritten Helfer gestützt, ließ sich Raoul erschöpft in
einen Stuhl sinken. Er nahm einen kräftigen Schluck Kaf-
fee, dann lehnte er sich zurück.
Wenig später traf Doktor Preval, ein etwas untersetzter
Mann mit grauem Kraushaar und kleinen Augen, ein und
verabreichte Raoul eine Medizin.
„Na?“, sagte er sanft. „Geht’s wieder, mein Sohn?“
Raoul sprang auf wie von der Tarantel gestochen, warf
den Stuhl um und rannte aus dem Labor. Hinter ihm fiel
die Tür donnernd ins Schloss.
„Kann uns vielleicht mal jemand erklären, was hier los
ist?“, fragte Sandra mit Nachdruck.
„Onkel Otto, hast du überhaupt schon bemerkt, dass wir
hier sind?“, fragte Mario.
„Wir reden später. Ich habe euch doch ausdrücklich ver-
boten, heute das Ferienhaus zu verlassen!“, gab Otto Klein
schroff zurück.
Castera, ein Mädchen mit langem, pechschwarzem
Haar, wollte Raoul folgen, doch Doktor Preval hielt sie
zurück. Er wusste nur zu gut, dass man seinem Sohn in
solchen Momenten lieber aus dem Weg ging.
„Onkel Otto, hör bitte kurz zu“, fing Mario an. „Wir
müssen dir etwas Wichtiges …“
„Jetzt nicht. Seht ihr nicht, dass wir andere Probleme
haben?“
„Wer sind diese Kinder?“, fragte Doktor Preval interes-
siert und stellte einige Fläschchen seiner Medizin auf den
Labortisch. „Das dürfte wieder für ein paar Tage reichen,
Otto.“
„Verzeihung, Doktor, ich habe Sie in der Aufregung
noch gar nicht vorgestellt: Kinder, das ist Doktor Preval,
24
unser Apotheker. Das sind Mario Klein, mein Neffe, und
seine beiden Freunde Sandra Wolf und Armin Hauser.“
„Ich bin Castera“, sagte das Mädchen und reichte Sand-
ra die Hand.
„Und ich heiße René“, sagte der Bursche. Er war groß
und schlaksig und hatte mindestens Schuhgröße 45. „Wir
sind Freunde von Raoul, der euch gerade einen Schreck
eingejagt hat. Wir helfen Doktor Klein jetzt schon das
zweite Jahr in unseren Uniferien. Quasi als Ferialjob.“
„Bestimmt sehr interessant“, erwiderte Mario. „Onkel
Otto, wir müssen dir etwas sehr Wichtiges …“
„Jetzt nicht, Kinder, später.“
Sandra, Armin und Mario hassten es wie die Pest, wenn
jemand sie abzuwimmeln versuchte wie kleine Kinder.
Die Labortür ging auf, und Raoul trat ein. Er blickte fin-
ster.
„Was ist los? Warum starrt ihr mich alle so an?“, knurrte
er, als er sich wieder an die Arbeit machte.
„Hoffentlich nimmt das nicht das gleiche Ende wie bei
unserem Studienkollegen Samedi“, flüsterte Castera mit
ängstlicher Stimme.
Beim Namen Samedi klingelten bei den drei Freunden
die Alarmglocken.
„Raoul benimmt sich schon seit einigen Tagen so ko-
misch. Er führt sich aber nur so auf, wenn er einen dieser
Anfälle hat, sonst ist er ganz normal.“
„Was meinst du?“, fragte Sandra erstaunt.
„Okay, Castera. Ich glaube, wir haben für heute genug
erlebt!“, sagte Onkel Otto bestimmt. „Macht Feierabend
und ruht euch aus. Morgen haben wir viel zu tun. Doktor
Preval, nehmen Sie bitte auch Raoul mit nach Hause. Er
25
soll sich morgen freinehmen, damit er wieder zu Kräften
kommt.“
„Das überlasse ich ihm lieber selbst“, erwiderte der
Apotheker und blickte besorgt zu seinem Jungen hinüber.
„Was hat Castera gemeint?“, wollte Sandra von Onkel
Otto wissen, der sich seufzend hinsetzte, und einen kräfti-
gen Schluck Kaffee nahm.
„Wir packen drüben noch Raouls restliche Sachen, dann
fahren wir. Bis zum nächsten Mal“, sagte Doktor Preval
freundlich und ging mit seinem Sohn zur Tür.
„Was für eine Nacht. Hört das denn nie auf?“, seufzte
Otto und wandte sich den SAM-Freunden zu. „Ich habe
mich bei eurer Ankunft in Haiti wohl nicht deutlich genug
ausgedrückt“, sagte er scharf. „Ich habe euch doch auf die
Gefahren dieser Insel aufmerksam gemacht. Als ob ich
nicht schon genug am Hals hätte!“
„Bitte entschuldige, Onkel Otto, aber wir sind nicht oh-
ne Grund hergekommen“, rechtfertigte sich Mario.
„Wir haben im Wald Seltsames entdeckt“, entfuhr es
Armin.
„Im Wald! Höre ich richtig? Ihr wart allein im Wald?
Das ist doch wohl nicht euer Ernst. Haiti ist kein Spielp-
latz, wie oft soll ich euch das noch sagen! Ihr habt doch
gerade selbst gesehen, was hier für merkwürdige Dinge
passieren.“
Sandra zog die Puppe aus der Plastiktasche und gab sie
Onkel Otto.
„Die haben wir im Wald gefunden. Sie gehört doch dir,
oder?“, fragte Mario gespannt.
Sein Onkel sprang auf, schlug Sandra die Puppe aus der
Hand und flüchtete sich zitternd in einen Winkel.
26
„Lasst … dieses Ding … verschwinden. Schnell, be …
bevor es zu spät ist!“, stammelte er, kreidebleich und den
Blick starr auf die Puppe gerichtet.
Dann knickten seine zitternden Beine ein, er fiel zu Bo-
den und riss dabei Teile der Laboreinrichtung mit.
„Onkel Otto!“, rief Mario geschockt.
Aber sein Onkel bewegte sich nicht mehr.
27
28
6 Puppen, die töten?
Geistesgegenwärtig hob Sandra die Jutepuppe auf und
steckte sie in die Tasche zurück. Doktor Preval hatte den
tosenden Lärm gehört und war zurückgeeilt.
„Schnell, mein Sauerstoffspray!“, keuchte Onkel Otto
und zeigte auf den Medizinschrank.
Auf seiner Stirn stand Schweiß und sein Brustkorb hob
und senkte sich unregelmäßig.
Doktor Preval füllte schnell ein Glas mit lauwarmem
Wasser, goss einige Tropfen seiner Medizin hinein und
reichte es Onkel Otto. Dieser führte es zitternd an den
Mund und trank hastig.
Armin nahm ihm das Glas ab und wechselte es gegen
die kleine Spraydose aus, in der sich reiner Sauerstoff be-
fand. Onkel Otto sprühte einige Male in seine Mundhöhle
und atmete tief ein, dann beruhigte er sich langsam.
„Alles in Ordnung, Onkel Otto. Sandra hat die Puppe
weggetan. Warum regt sie dich nur so auf? Sie kann dir
doch nichts anhaben. Es ist doch nur eine Puppe!“
Mit vereinten Kräften zerrten die Freunde Onkel Otto
auf einen Stuhl und lockerten seine Krawatte, um ihm das
Atmen zu erleichtern.
„Seit wann hast du diese Asthmaanfälle? Warum hast du
deiner Familie nichts davon gesagt?“, fragte Mario besorgt.
29
Onkel Otto war fast wie ein zweiter Vater für ihn. In vieler-
lei Hinsicht war er sein großes Vorbild.
„Ich habe gar keine Asthmaanfälle!“, brummte Otto.
„Dass ihr mir das antut! Ihr wisst überhaupt nicht, was ihr
getan habt!“
„Ich rufe sofort einen Arzt. Dein Gesundheitszustand
gefällt mir überhaupt nicht“, sagte Doktor Preval.
„Nein!“, wehrte Otto ab. „Auf keinen Fall!“
„Aber dir muss doch geholfen …“, begann Mario, doch
sein Onkel unterbrach ihn.
„Hast du nicht gehört, verdammt noch mal! Ich habe
nein gesagt. Rede ich etwa undeutlich?“
Otto Klein erhob sich und torkelte in die Laborküche,
wo er eine Suppe in den Mikrowellenherd schob.
„Ich habe euch doch gesagt, ihr sollt zu Hause bleiben“,
knurrte er. „In Zukunft werdet ihr gefälligst gehorchen.
Wenn nicht, setze ich euch in das nächste Flugzeug nach
Europa, kapiert?“
„Ich glaube langsam, es war gut, dass wir nicht gehorcht
haben“, flüsterte Armin seinen Freunden zu.
„Was hat es mit der Puppe auf sich? Warum sind Sie so
schroff?“, hakte Sandra nach.
Marios Onkel reagierte nicht. Er interessierte sich nur
für seine Suppe.
„Es hat keinen Sinn, länger zu schweigen, Otto“, sagte
Doktor Preval. Er setzte sich an den runden Holztisch und
begann zu erzählen: „Ihr müsst versprechen, den Mund
darüber zu halten, Ehrenwort?“
„Ehrenwort“, erwiderten die drei Freunde im Chor.
„Das ist keine gewöhnliche Puppe. Sie gehört nicht Ot-
to. Sie …“ Der Apotheker zögerte und atmete tief durch.
30
„Sie wird Otto eines Nachts auf grausame Weise töten!
Und es gibt keinen Ausweg!“
„Wie kann eine Puppe jemanden töten?“, stammelte Armin.
„Warum versetzt dieses Ding einen Menschen in solche Aufre-
gung, dass er fast erstickt? Das ist doch alles Aberglaube.“
„Das sagst ausgerechnet du, Mister Reinkarnation“, sag-
te Mario ätzend. Armin war nämlich überzeugt, dass die
Seele eines Menschen bei seinem Tod nicht stirbt, sondern
in einen anderen Körper übergeht.
Der Mikrowellenherd piepste und Otto Klein zog die
Suppe heraus.
„Diese Puppen“, sagte Doktor Preval, während Onkel
Otto seine Suppe löffelte. „Sie wollen Otto tatsächlich an
den Kragen.“
„Gibt es mehr davon?“, wollte Armin wissen.
„Ich weiß nicht, ob ich mit euch darüber reden soll.
Voodoo ist nicht gerade ein Thema für Kinder.“
„An diesen Quatsch glauben Sie doch nicht im Ernst?“,
sagte Mario. „Und von wegen Kinder.“
„Ach, Junge …“, seufzte Preval kopfschüttelnd. „Wir
sind hier auf Haiti. Voodoo ist viel mehr als ein dunkler
Zauber, eine Magie. Es ist eine Religion.“
„Aber Onkel Otto arbeitet doch hier als Ethnobotaniker
…“, sagte Sandra nachdenklich und begann zwischen den
Vitrinen herumzuwandern.
„Verlasst jetzt bitte alle das Labor. Ich muss weiterarbei-
ten“, sagte Onkel Otto.
Doktor Preval fuhr unbeeindruckt fort: „Exorzisten,
Wahrsager und andere Zauberer treten dabei mit übernatür-
lichen Kräften in Verbindung. Sie bringen uns das Fürchten
und Gehorchen bei!“
31
„Bitte geht jetzt – alle“, wiederholte Otto energisch.
„Beantworte zuerst unsere Fragen“, sagte Mario. „Was
geht hier vor sich?“
Sandra zeigte ihren Freunden den erhobenen Daumen
als Zeichen, dass sie etwas entdeckt hatte.
„Also gut, meinetwegen“, gab Onkel Otto nach. „Ir-
gendjemand spielt mir seit einiger Zeit diese verdammten
Jutepuppen zu. Sie haben eine magische Wirkung, jedes
Mal, wenn ich eine bekomme, spielt mein Herz verrückt,
ich kann nicht mehr atmen und habe Halluzinationen. Es
wird immer schlimmer. Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir
noch bleibt, bis ich tot bin! Bis dahin muss meine Arbeit
erledigt sein!“
Einen Moment lang herrschte betretene Stille.
„Aber das ist doch nur eine Puppe. Wie soll sie einem
Menschen etwas anhaben? Das ist doch Schwachsinn“,
sagte Mario heftig.
„Ihr habt doch gesehen, was mit Raoul und mir passiert
ist. Meine drei Gehilfen bekommen auch seit einiger Zeit
solche Puppen.“
Otto griff nach dem Wasserglas mit der Medizin und
nahm einen weiteren kräftigen Schluck. „Sogar mein Arzt,
Doktor Ramón Mella, ist der Ansicht, dass mir jemand mit
Voodoo den Garaus machen will.“
„Aber wer könnte das besser wissen als du selbst, ein
Ethnobotaniker, der sich seit Jahren mit diesem Kult be-
schäftigt?“, fragte Mario verwirrt.
„Ich weiß zwar eine Menge über Voodoo, aber noch
lange nicht alles. Noch nicht“, erwiderte Onkel Otto.
„Ramón hat mich bereits mehrmals gewarnt. Er ist der
Meinung, ich soll meine Arbeit aufgeben und Haiti verlas-
32
sen. Er findet, man darf die Puppen nicht unterschätzen.
Wenn ich weitermache, habe ich mit noch viel schlimme-
ren Dingen zu rechnen.“
„Was heißt das im Klartext?“, fragte Sandra.
„Er glaubt, jemand will verhindern, dass ich hinter das
Geheimnis der Voodoo-Religion komme und meine Er-
kenntnisse veröffentliche. Dann würde sich niemand mehr
von Voodoo verschaukeln lassen.“
„Nach Verschaukeln hat das vorhin aber nicht ausgese-
hen. Ich glaube, wir sollten mal mit Doktor Mella spre-
chen“, schlug Armin vor.
Die Labortür wurde aufgerissen und Castera stürzte he-
rein. „Doktor Preval, kommen Sie schnell!“, stieß sie her-
vor. „Etwas Furchtbares ist passiert!“
33
7
Entsetzen
„Was zum Teufel … Castera! Was ist geschehen?“, rief
Doktor Preval, während sie durch die düsteren Gänge
des Labors auf die Straße hasteten. René wartete bereits
am Steuer eines bunten Kleinbusses, eines Tap-Taps, auf
sie.
„Wir müssen schnell zum Henri-Christophe-Denkmal –
es ist wegen Raoul!“, sagte sie gehetzt.
Das Tap-Tap brauste davon, als Sandra, Armin und Ma-
rio gerade die Straße erreichten.
„Wohin fahren sie?“, rief Armin.
„Castera hat was von einem ‚Henri-Christophe-
Denkmal‘ gesagt, wenn ich richtig gehört habe“, antworte-
te Sandra.
„Ich weiß, wo das ist“, sagte Mario.
Als das Tap-Tap sein Ziel erreicht hatte, sprang Doktor
Preval hinaus. Er sah eine Ambulanz.
„Raoul!“, flüsterte er, als er sich einen Weg durch die
Schaulustigen bahnte.
Sanitäter hoben gerade eine Bahre in den Rettungswa-
gen. Auf ihr lag ein regloser Körper.
„Was ist passiert?“, fragte Doktor Preval die Umstehen-
den.
„Wieder ein Selbstmordversuch. Schon der zweite in
34
diesem Monat“, sagte ein hagerer alter Mann kopfschüt-
telnd. „Dabei ist er noch so jung.“
Der Apotheker kämpfte sich zur Ambulanz durch. Er
kam zu spät. Der Wagen donnerte schon mit Sirenengeheul
und Blaulicht davon.
„Ist er … ist er tot?“, fragte Doktor Preval zitternd einen
Polizisten, der der Ambulanz nachblickte. „Es ist mein
Junge! Lebt er?“
„Er ist mit dem Motorrad gegen das Denkmal gerast. Es
gibt keine Bremsspur. Der Notarzt hat was von schweren
Verletzungen gesagt; Lungenriss, Knochenbrüche, solche
Sachen. Hat übel geklungen.“
Doktor Preval sank in sich zusammen. „Wie konnte das
passieren? Raoul war ein sicherer Fahrer.“
„Selbstmord?“, sagte der Polizist. „Der arme Kerl war
noch bei Bewusstsein. Wir haben versucht, mit ihm zu re-
den, und er hat was davon gefaselt, dass ihn etwas Un-
heimliches verfolgt.“
„Was soll das sein?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden
habe“, erwiderte der Polizist. „Er hat offenbar in den Rück-
spiegel geblickt und etwas gesehen, das ihn zum Wahnsinn
getrieben hat. Das Motorrad ist außer Kontrolle geraten
und er ist auf das Denkmal zugerast. – Tut mir wirklich
Leid um Ihren Jungen.“ Der Polizist klopfte Doktor Preval
auf die Schulter und stieg in seinen Wagen.
Als die SAM-Freunde völlig außer Atem beim Denkmal
ankamen, hatte sich die Menge schon wieder verlaufen.
Nur Doktor Preval hockte noch auf dem Gehsteig.
„Wo ist Raoul?“, fragte Armin.
35
36
Der Apotheker hob langsam den Kopf. „Er wollte sich
angeblich umbringen. Ich kann es einfach nicht glauben.
Der Arzt hat nicht viel Hoffnung, dass er durchkommt.“
Castera fuhr mit dem Tap-Tap vor.
„Kommen Sie, Herr Preval, wir müssen ins Kranken-
haus.“
„Wir kommen mit!“, sagte Sandra. „Vielleicht können
wir helfen.“
„Nein. Geht lieber nach Hause. Danke, aber ich möchte
jetzt allein sein.“
Das Tap-Tap fuhr davon.
„Was haltet ihr von dem Ganzen?“, fragte Armin „Hy-
sterische Anfälle, Atemnot, Puppen, Selbstmorde. Wir sind
auf ein heißes Ding gestoßen!“
„Ein verdammt heißes“, murmelte Sandra, die sich das
Denkmal genauer ansah. Armin und Mario traten näher, als
sie bemerkten, dass ihre Detektivfreundin eine bestimmte
Stelle am Steinsockel fixierte. Auf der grob behauenen
Oberfläche war das gleiche schwarze Zeichen wie auf der
Puppenhand aufgemalt.
„Armin, du bist unser Geheimcode-Spezialist“, meinte
Mario.
Armin kramte in seiner Detektivausrüstung und holte
Butterpapier und einen weichen Bleistift hervor. Er kniete
sich nieder, legte das Papier über das Symbol und pauste es
ab.
„Sieht wie ein rituelles Zeichen aus“, murmelte er.
„Was hast du vor?“, fragte Sandra.
„Ich bin mir nicht sicher, aber wir sind nun mal auf Hai-
ti …“
„Das ist doch nicht dein Ernst!“, sagte Sandra, als ihr
37
dämmerte, was Armin meinte. „Du glaubst wirklich, dass
ein magischer Voodoo-Zirkel für die zwei Selbstmordver-
suche verantwortlich ist?“
Zwanzig Minuten später, es war schon nach Mitter-
nacht, sprangen die drei Freunde aus dem Taxi. In Onkel
Ottos Haus war es immer noch finster. Er übernachtete
wieder einmal im Labor.
Sandra lief zum Altpapiercontainer und kramte die Zei-
tungen der letzten Tage heraus.
„War ein anstrengender Tag“, gähnte Armin. Er sperrte
die Tür ihres Ferienhauses auf und machte Licht.
Als sie eintraten, stockte ihnen der Atem.
38
8 In großer Gefahr
Über ihren Betten hing jeweils eine Jutepuppe an einem
Strick um den Hals. Sandra ließ den Zeitungsstapel fallen,
als sie die Gesichter der drei Unheilsboten erkannte.
Es waren ihre Ebenbilder!
„Jetzt sind auch wir dran!“, hauchte Mario tonlos.
Armin stürzte wutentbrannt zu seinem Bett und schleu-
derte die Puppe in eine Ecke. Als er sich umdrehte und in
sein eigenes Gesicht starrte, war ihm, als grinse ihn die Pup-
pe hämisch an. Ihre linke Handfläche war nach oben ge-
dreht. Das seltsame Kreiszeichen war deutlich zu erkennen.
Am nächsten Morgen waren die SAM-Freunde bereits um
halb sieben auf den Beinen. Zum Frühstücken blieb ihnen
keine Zeit. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass sie sich in großer
Gefahr befanden.
„Deshalb glaubt Doktor Preval nicht an Selbstmord“,
erklärte Sandra und hielt ihren Freunden einen Zeitungsbe-
richt unter die Nase.
„Rätselhafter Selbstmordversuch eines Studenten“, las
Mario die Schlagzeile der Tageszeitung Le Nouvelliste.
„Da steht, dass der Student, der sich vor zwei Wochen
schreiend vor einen Bus geworfen hat, eine kreisförmige
Tätowierung auf der Hand hatte.“
39
„Wir müssen herausfinden, was dieses Zeichen bedeu-
tet, bevor Onkel Otto und wir auch tot sind …“ Armin
wagte nicht weiterzusprechen.
„Zuerst der Horror im Wald, dann die Anfälle von Raoul
und Onkel Otto, die Wahnsinnstat von Raoul, die Puppen
und dieser Zeitungsbericht. Hier ist was mächtig faul und
wir sollten schleunigst herausfinden, was“, sagte Sandra
entschlossen.
„Ich weiß, wer uns weiterhelfen kann. Kommt mit“,
sagte Armin und schlüpfte in ein frisches T-Shirt.
Castera bewohnte mit ihren Eltern ein bescheidenes Haus
in einer nicht gerade guten Gegend von Port-au-Prince.
Sandra klopfte.
Die Studentin hatte ihr glänzendes Haar zu einem Kno-
ten gedreht, als sie öffnete.
„Was macht ihr denn hier?“, fragte sie die drei verwun-
dert.
„Wir müssen dringend mit dir reden, Castera“, begann
Mario ohne Umschweife.
Castera bat ihre neuen Freunde auf die Veranda hinter
dem kleinen Gingerbread-Häuschen.
„Ich habe nicht viel Zeit, ich muss ins Labor. Wir haben
viel Arbeit bei Doktor Klein.“
Armin fackelte nicht lange und legte Castera das Paus-
papier mit dem Kreiszeichen vor. „Was ist das für ein
Symbol?“
Sie zögerte einen Moment, dann erzählte sie: „Raoul
war früher nie launisch, bis wir eines Tages diese Jutedin-
ger bekamen, die unsere Gesichter trugen. Es wurde mit
jedem Anfall schlimmer. Sogar Doktor Mella und Doktor
Preval konnten nicht mehr viel ausrichten.“
40
„War Raoul abergläubisch?“, fragte Mario. „Ich meine,
glaubte er an dieses Voodoozeugs? Warum glaubt sein Va-
ter nicht, dass es ein Selbstmordversuch war?“
„Ich weiß es nicht genau, aber Raoul hat erzählt, dass
dieses Zeichen etwas mit einem gefährlichen Voodoofluch
zu tun hat.“ Sie schwieg einige Zeit. Dann flüsterte sie mit
erstickter Stimme: „Ich weiß, es klingt verrückt, aber sie
werden unsere Seelen bekommen, wie und wann sie wol-
len!“
„Wer, Castera? Wer?“, fragte Sandra.
Doch das Mädchen antwortete nicht.
„Castera, warum will jemand Macht über unsere Seelen
erlangen und meinen Onkel beseitigen?“, hakte Mario
nach.
„Wegen seiner Entdeckung“, gestand Castera.
„Welche Entdeckung? Er hat uns nichts davon erzählt“,
sagte Armin.
Doch Castera wollte offenbar nichts mehr sagen. „Ich
muss jetzt wirklich los, sonst komme ich zu spät“, sagte sie
und brachte die drei zur Tür. Bevor sie ins Haus zurück-
ging, sagte sie ernst: „Ich glaube, er hat die Restlichen
wirklich gefunden …“ Für eine Sekunde war sich Mario
sicher, dass Casteras Augen ängstlich aufflackerten. Sand-
ra, Armin und Mario tauschten ratlose Blicke. Sie ahnte,
dass ihre lange Sorgenliste soeben um ein weiteres Prob-
lem gewachsen war.
41
9 Lagebesprechung am Marché de Fer
Zwei Stunden später bahnte sich Armin einen Weg durch
die Menge am Marché de Fer, dem größten Markt in Port-
au-Prince, um rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt,
einem Café, zu kommen.
Sein Weg führte ihn an zerlumpten Männern vorbei, die
schwere Karren mit Holzkohle zogen, und ausgemergelten
Frauen, die Wassereimer oder riesige Ballen mit Mais auf
dem Kopf balancierten.
Gleich nach dem Besuch bei Castera hatte sich das
jüngste SAM-Mitglied auf den Weg in die Stadtbibliothek
gemacht, um mehr über den Voodoo-Kult in Erfahrung zu
bringen.
Jetzt saßen die drei Freunde an einem Tisch in dem ver-
rauchten Mittelding zwischen Café und Kneipe.
„Was hast du rausgefunden?“, fing Sandra an, die mit
Mario das Archiv der Zeitung Le Nouvelliste durchstöbert
hatte.
Nachdem ein unfreundlicher Kellner mit platter Nase
Limonade gebracht hatte, berichtete Armin: „Das Wort
‚Voodoo‘ stammt aus der Sprache der ‚Ewe-Fon‘ im afri-
kanischen Staat Benin und bedeutet ‚Gottheit‘ oder ‚Geist‘.
Im Volksglauben Haitis gibt es zahlreiche Legenden über
böse Zauberer, so genannte ‚bokor‘, die Kinder töten, weil
sie ihr Blut für magische Elixiere und Riten brauchen.“
42
Mario lief es eiskalt den Rücken hinunter.
„Oft versammelt sich eine Gemeinschaft Gläubiger um
einen Voodoo-Tempel in Stadtnähe. In diesem Tempel
werden Rituale für Geister und Ahnen praktiziert. Man
möchte sich damit Wünsche erfüllen, einen Menschen ver-
zaubern oder Macht über seine Seele erlangen. Voodoo ist
eine der geheimnisumwittertsten und wirkungsvollsten
Magien der Welt.“
„Unsere Recherche hat Ähnliches ergeben“, sagte Sand-
ra. „Der Respekt vor Voodoo geht auf die Angst der weißen
Herren vor der Magie ihrer Sklaven zurück. Die Schwarzen
haben Voodoo-Zauber eingesetzt, um sich vor den Sklaven-
treibern zu schützen.“
„Und das mit Erfolg“, fuhr Armin fort. „Niemand konn-
te sich vor dem Zauber retten, der meist mit Hilfe von
‚ouangas‘, Puppen, durchgeführt wurde.“
Sandra entfaltete ein weiteres Blatt Papier.
„Die Puppen wirken wie ein Speer. Sie sind der direkte
Weg zu einer Person, die beseitigt werden soll!“
„Sie werden meist benutzt, um einen Rivalen oder eine
Konkurrentin auszuschalten. Mit ihnen kann man Macht
über einen Menschen ausüben.“
Einen Moment lang herrschte beängstigende Stille.
Dann flüsterte Mario: „Aber warum will uns jemand be-
seitigen? Wir sind hier nur in den Ferien.“
„Der Schlüssel ist dein Onkel“, sagte Armin. „Er ist ei-
ner mysteriösen Sache auf der Spur und das passt jeman-
dem offenbar nicht.“
„Wir stecken bis zum Hals in Schwierigkeiten. Wenn
wir der Sache nicht sofort auf den Grund gehen, sind wir
vielleicht schon die Nächsten …“
43
In ihrer Aufregung hatten die drei nicht bemerkt, dass
sie ziemlich laut geworden waren. Die übrigen Gäste war-
fen ihnen böse Blicke zu. Sandra, das Sprachentalent, ver-
suchte vergeblich zu verstehen, was sie murmelten. Sie
wusste nur, dass die Einheimischen Kreolisch sprachen.
Ein runzliger alter Mann trat an den Tisch der drei
Freunde. Mitleidig blickte er von einem zum anderen.
Dann streifte er Sandra einen schmalen Lederriemen über
den Kopf, an dem eine Holzfigur baumelte.
„Gott möge eure armen Seelen schützen und euch ein
langes Leben im Jenseits schenken. Wärt ihr nur in eurer
Welt geblieben!“, flüsterte er. Dann bekreuzigte er sich und
verließ das Lokal. Die Worte blieben Mario im Hals stek-
ken, als ihm klar wurde, was seine beste Freundin soeben
erhalten hatte.
44
10 Wände mit Ohren
Der Körper der kleinen Holzfigur war von zahlreichen
winzigen Nägeln durchbohrt. In der rechten Hand hielt sie
einen spitzen Pfeil.
„Das ist ein afrikanischer Nagelfetisch, ein Talisman,
der seinen Besitzer vor Unheil bewahrt“, wusste Mario. „In
Afrika nennt man ihn ‚bonzo‘ und …“
Armin brachte seinen Freund mit einer unwilligen
Handbewegung für einen Moment zum Schweigen. Er hat-
te keine Lust auf einen längeren Vortrag seines belesenen
Freundes. Doch da quasselte Mario schon weiter: „… und
er ist mit rostigen Nägeln gespickt, die wie ein Schutz-
schild wirken: Sie blocken die böse Energie ab und neutra-
lisieren sie.“
„Hört endlich auf. Wir haben Wichtigeres zu tun!“, fuhr
Sandra dazwischen. „Wenn wir nicht bald herausfinden,
was hier vor sich geht, werden das unsere letzten Ferien
gewesen sein, das ist euch doch klar.“
„Was schlägst du vor?“, fragte Mario.
„Armin, du knöpfst dir einmal diesen Journalisten vor,
der über den ersten Selbstmordversuch berichtet hat. Ich
glaube, er heißt Aristide Bazile, aber sieh besser noch mal
nach. Und wir beide besuchen Onkel Otto. Vielleicht weiß
er was über das Kreiszeichen. Außerdem will ich wissen,
45
was Castera gemeint hat mit den ‚Restlichen‘“, sagte Sand-
ra.
„Warum muss ich immer alleine gehen?“, beschwerte
sich Armin.
„Machst du dir vielleicht in die Hosen?“, raunte Mario.
Solche Unterstellungen wirkten bei Armin wie ein Zau-
berwort. Missmutig steckte er den Zettel mit der Zeitungs-
adresse ein und machte sich auf den Weg.
„Wir treffen uns in einer Stunde im Labor!“, rief Mario
ihm hinterher.
Im Parterre des Redaktionsgebäudes brannte trotz des
schönen Wetters das Licht. Die Rolläden waren herunterge-
lassen, um den Strom für die Klimaanlage zu sparen.
„Ich möchte Aristide Bazile sprechen. Mein Name ist
Armin Hauser“, sagte der Junge zum Portier, der ihn kurz
musterte, ehe er auf einen Knopf drückte und einige Worte
in ein Mikro krächzte.
Fünf Minuten später saß der Junge in einem düsteren
Büro im vierten Stock und lauschte seinem Gegenüber.
„Eines Tages klingelte dann das Telefon und Raoul Pre-
val war am Apparat“, erklärte der Journalist. „Er klang ver-
stört, er stotterte und wiederholte sich dauernd. Ich hatte
den Eindruck, dass er sich belauscht fühlte. Na, jedenfalls
bat er mich um ein Treffen.“
„Warum denn?“
„Er hatte vor irgendwas panische Angst. Wir trafen uns
dann auch, einen Tag vor seinem – Unfall.“ Der Redakteur
schwieg einen Moment. Er nahm einen Schluck Kaffee.
„Raoul galt als aufgeschlossen und hilfsbereit. Er hatte
eine fröhliche Natur. Doch als er diesen Ferialjob bei dem
46
österreichischen Wissenschaftler antrat, veränderte sich
seine Persönlichkeit. Die Arbeit schien ihm Angst zu ma-
chen.“
„Hat er gesagt, worum es bei seiner Arbeit geht?“
„Nein. Er redete wirres Zeug, irgendwas von einem
Zombie-Elixier. Er glaubte, dass ihn jemand verfolgte.“
„Glaubt Raoul an Voodoo?“
Aristide hätte beinahe seine Tasse fallen lassen. „Solche
Fragen solltest du nicht stellen, Junge. In Haiti haben die
Wände Ohren.“
Armin zeigte Aristide den Zettel mit dem Kreiszeichen.
„Dieses Symbol habe ich am Denkmal gefunden, wo
Raoul verunglückt ist“, erklärte er.
Der Journalist betrachtete die Zeichnung flüchtig und
legte sie schnell beiseite.
„Ja … und?“, fragte er, als wüsste er nicht, was Armin
von ihm wollte.
„Dieses Symbol haben Sie neulich in Ihrem Bericht er-
wähnt. Wofür steht es?“
„Warum interessiert dich das?“
„Weil meine Freunde und ich auch Puppen bekommen
haben, die dieses Zeichen auf der Hand tragen. Und wir
haben keine Lust, als Voodoo-Opfer zu enden“, entgegnete
Armin.
Der Journalist starrte den Jungen nachdenklich an.
„Meinetwegen, Kleiner, wie du willst. Du sollst es er-
fahren.“
47
11 Lauschangriff
Die Tür des Laborgebäudes war auch diesmal nicht ver-
sperrt. Sandra und Mario traten ein und riefen nach Onkel
Otto. Niemand antwortete. Als sie sich dem Hauptraum
näherten, hörten sie Stimmen: Die Tür war nur angelehnt.
„Allmählich habe ich die Nase voll von euren Eskapa-
den, René! Ich bin doch kein Wohltätigkeitsverein! Wenn
ihr mit dem, was ich euch bezahle, nicht zufrieden seid,
könnt ihr gerne gehen. Ihr wisst ganz genau, dass ich euch
mehr gebe als vereinbart“, war Ottos zornige Stimme zu
vernehmen.
„Das hat überhaupt nichts mit Geld zu tun“, erwiderte
Castera schroff. „Sie sind schuld, dass wir Ihr tödliches
Geheimnis mit uns herumtragen. Und jetzt bekommen wir
auch noch diese Puppen!“
„Bevor wir wie Raoul und Samedi enden, gehen wir
zum Fernsehen und lassen alles auffliegen. Die Selbst-
mordversuche sind wohl Beweis genug, dass es … dass es
geschieht! Sie hätten uns vorher sagen müssen, dass Sie
sich mit Voodoo anlegen wollen!“, zischte René.
„Was seid ihr undankbar!“, erwiderte Otto streng. „Ich
rette vielleicht euer Volk, euer Leben mit meinen Erkenn-
tnissen!“
„Am Anfang haben wir ja an Ihre Theorie geglaubt.
48
Aber dass wir dabei einer nach dem anderen draufgehen
würden, davon wussten wir nichts. Sie holen uns alle,
wenn wir nicht aufhören. Entweder Sie tun, was wir ver-
langen, oder wir packen aus und sagen, dass Sie die Restli-
chen gefunden haben!“, sagte Castera entschlossen.
Sandra und Mario sahen einander an. Sie dachten das-
selbe: Erpressung.
„Lasst uns doch noch einmal darüber reden“, bat Onkel
Otto. „So kurz vor unserem Ziel, das ist doch Wahnsinn!“
„So kurz vor unserem sicheren Tod! Das ist Wahnsinn!“,
rief René.
Mario schlug nach einem Insekt, das ihn ins Bein gesto-
chen hatte. Dabei stieß er mit dem Ellbogen an die Tür, die
quietschend aufschwang.
„Verdammt!“, entfuhr es ihm.
„Was zum Teufel macht ihr denn hier?“, rief Onkel Ot-
to. „Habt ihr etwa gelauscht?“
„Nein, haben wir nicht“, behauptete Mario nicht sehr
glaubhaft.
„Wir sind gekommen, um Ihnen ein paar wichtige Fra-
gen zu stellen“, sagte Sandra mit fester Stimme.
„Hier passieren gefährliche Dinge, Onkel Otto. Wir
müssen mit dir darüber reden. Wenn mein Verdacht stimmt
…“
„Steckt eure Nase nicht in Dinge, die euch zum Ver-
hängnis werden können“, sagte Castera kalt.
„Hört auf!“, ging Otto dazwischen. „René und Castera,
macht, dass ihr an die Arbeit kommt, und ihr beide hört
endlich auf, uns verrückt zu machen mit euren Geschich-
ten.“ Er schloss die Tür und ließ Sandra und Mario im
Gang stehen.
49
50
„Du verdächtigst Castera und René?“, fragte Sandra.
„Sie weiß jedenfalls was über eine Entdeckung von On-
kel Otto“, antwortete Mario nachdenklich.
„Aber warum kriegen sie dann selbst Puppen?“
„Ein reines Ablenkungsmanöver“, erwiderte Mario.
„Sieh dir doch Onkel Otto an. Es geht ihm von Tag zu Tag
schlechter. Erstickungsanfälle, Herzrasen …“
„Geld spielt offenbar auch eine Rolle“, meinte Sandra.
„Vielleicht hat dein Onkel noch mit anderen Leuten
Schwierigkeiten?“
„Leute, mit denen auch Raoul und Samedi Schwierig-
keiten hatten?“, spann Mario den Gedanken seiner Freun-
din weiter.
„Vielleicht jemand, der mit ihnen zur Uni ging oder ar-
beitete. Die beiden wussten vielleicht zu viel und spielten
nicht mit.“
„Ich habe eine Idee“, sagte Mario. „Es ist zwar gefähr-
lich, aber unsere einzige Chance, was herauszufinden.“
Sandra kannte diesen Gesichtsausdruck und wusste so-
fort, was Mario vorhatte.
„Das ist verdammt gefährlich. Wenn wir dabei erwischt
werden …“
„Sie hat Recht“, nickte Armin zustimmend. „Wir haben
noch nie einen Plan entwickelt, bei dem so viel schief ge-
hen kann!“
51
12 Die letzte Warnung
„Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter“, sagte Ar-
min ungeduldig. „Ich bin in Schwierigkeiten. Meine
Freunde und mein Onkel sind in großer Gefahr.“
Aristide rückte endlich mit der Sprache heraus. „Das
Symbol ist haitianisch. Wir bezeichnen es als ‚Loco Mi-
roir‘.“
„Und wofür steht es?“
„Für den Scheideweg zwischen Diesseits und Jenseits.“
Die Stimme des Journalisten klang ehrfürchtig. „Es ist ge-
wissermaßen der Spiegel, in den wir alle eines Tages blik-
ken müssen, der Spiegel, in dem die Menschen ihrem wah-
ren Selbst begegnen.“ Aristide zögerte einen Moment.
„Diese beiden Selbstmordversuche – wer weiß, was auf sie
gewartet hat? Vielleicht hat ihnen nicht gefallen, was sie
gesehen haben.“
Er gab Armin seine Zeichnung zurück. Armin war klar,
dass er nicht mehr erfahren würde. Er hatte offensichtlich
keine Lust weiterzusprechen.
Da hörte man aufgeregte Stimmen, die wild durchei-
nanderriefen. Es waren Sandra und Mario. Der Portier
schien sie nicht in Aristide Baziles Büro lassen zu wollen.
„Armin! Wo bist du? Wir müssen sofort mit dir reden!“,
rief Sandra.
52
Armin öffnete die Tür und die beiden stürmten herein.
„Armin!“, keuchte Sandra erschöpft. „Stell dir vor, was
wir …“ Sie schnappte nach Luft.
„Beruhige dich erst mal“, sagte Armin. „Was ist pas-
siert?“
Mario setzte zu einer Erklärung an, doch Aristide kam
ihm zuvor. „Deine Freunde wollen dir mitteilen, dass
Raoul aus dem Krankenhaus verschwunden ist.“
Sandra drehte sich mit offenem Mund zu ihm um. „Wo-
her wissen Sie das?“
Die Lippen des Journalisten verzogen sich zu einem Lä-
cheln. „Ich kann eben Dinge ahnen, die andere sehen. Eine
außersinnliche Wahrnehmungsgabe, oder Intuition, wie
man will.“ Schlagartig wurde er sehr ernst. „Die Götter
haben euch gewarnt. Versteht die Warnungen endlich und
verlasst Haiti!“
„Mario, was ist passiert?“, fragte Armin. „Raoul kann
nicht verschwunden sein. Er war in der Intensivstation.
Angeschlossen an Maschinen und Infusionen, ohne die er
angeblich nicht überleben kann!“
„Ich verstehe es auch nicht“, sagte Sandra kleinlaut.
„Wir sind in das Krankenhaus geschlichen, um ihm ein
paar Fragen zu stellen. Aber sein Bett war leer!“
Aristide sagte mit düsterer Stimme: „Das war sicher die
letzte Warnung. Wenn ihr jetzt nicht vernünftig werdet,
kann euch kein Zauber dieser Welt mehr helfen.“ Den
SAM-Freunden lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.
53
13 Das Zombie-Elixier
Nach einer kurzen Lagebesprechung hatten Sandra, Armin
und Mario beschlossen, einen letzten Versuch zu unter-
nehmen, von Onkel Otto Näheres zu erfahren. Als sie das
Labor betraten, verriegelte Armin zur Sicherheit die Ein-
gangstür.
Onkel Otto brütete nicht wie gewohnt über seinen
Pflanzen. Doktor Mella war bei ihm, er hatte soeben seine
tägliche Visite beendet. Müde hockte Otto unter den Neon-
lampen, vor sich eine Tasse Kaffee mit seiner Medizin, und
rieb sich die müden Augen.
„Hallo, Onkel Otto! Du siehst ziemlich geschafft aus.
Hattest du schon wieder einen Anfall?“ Mario setzte sich
neben seinen Onkel.
„Hallo, Kinder, schön, euch zu sehen“, erwiderte Otto
schwach. „Alles in Ordnung. Kein Grund zur Aufregung.
Doktor Mella schaut jeden Tag vorbei.“
„Dein Onkel könnte ein paar Wochen Ruhe gut vertra-
gen“, bemerkte der Arzt, während er seine Tasche schloss.
„Also, Otto, dann bis morgen. Und mach mal eine Pause.
Wiedersehen, Kinder.“
Als der Arzt gegangen war und Armin die Tür hinter ihm
verriegelt hatte, begann Mario vorsichtig zu sprechen: „On-
kel Otto, du musst uns endlich ein paar Fragen beantworten.
54
Wenn unsere Vermutungen stimmen, befinden wir uns in
Lebensgefahr. Offenbar hat jemand einen tödlichen Voodoo-
Fluch über uns alle verhängt und wir wissen nicht warum.“
Otto stöhnte auf. „Was wisst ihr denn schon über Voo-
doo!“
„Was hast du entdeckt, was Castera als die ‚Restlichen‘
bezeichnet? Hängt damit auch die Erpressung zusammen?
Du darfst deinen Ferialpraktikanten nicht länger trauen!“,
warnte Mario eindringlich. „Sie sind hinter deinem Geld
her. Da ist ihnen jeder abergläubische Zauber recht.“
Marios Onkel fasste sich ans Herz. Sein Atem ging
stoßweise.
„Meine Schmerzen bilde ich mir jedenfalls nicht ein“,
begann er müde. „Ihr haltet mich wohl für verrückt, was?
Das Herzrasen und die Atemnot – das sind Tatsachen. Ich
stehe in meiner Arbeit kurz vor dem Durchbruch, dann kann
ich den schwarzen Zauber für immer entzaubern. Ich muss
jetzt durchhalten. Das wird auch eine Menge Geld bringen.“
„Was wird eine Menge Geld bringen? Woran arbeitest
du so besessen?“
„Wärt ihr bloß in Österreich geblieben, ihr Nervensä-
gen. Ihr bringt noch alles in Gefahr. Aber ihr gebt ja sowie-
so keine Ruhe, bevor ich es euch erzählt habe. Jetzt weiß
ich, was eure Eltern gemeint haben, als sie mich vor euren
Detektivspielen gewarnt haben. Doch ich wollte ihnen
nicht glauben.“
„Das sind keine Spiele!“, protestierte Sandra energisch.
„Jemand will uns über die Klinge springen lassen!“
„Voodoo, meine Lieben, ist viel mehr, als wir uns darun-
ter vorstellen“, begann Otto. Seine Stimme hatte plötzlich
den stolzen Klang eines Wissenschaftlers angenommen
55
und seine Augen funkelten. „Diese Magie wäre im Westen
nie so bekannt geworden, wenn es nicht so mutige For-
scher wie Wade Davis gegeben hätte. Ich will ihre Arbeit
zu Ende bringen und stehe dabei kurz vor dem Durch-
bruch. Bald wird die ganze Welt erfahren, wie der Voodoo-
Zauber funktioniert. Was dahinter steckt.“
„Wade Davis“, wiederholte Sandra nachdenklich. „Das
war doch der Ethnobotaniker, der 1982 nach Haiti kam, um
das Phänomen der Zombies zu erforschen.“
„Kluges Köpfchen“, sagte Otto anerkennend. „Wade Da-
vis befasste sich mit der am häufigsten verfälschten Voodoo-
Legende – dem sogenannten ‚coup poudre‘, dem Zombie-
Elixier! Damit kann man von der Seele eines Menschen auf
abscheuliche Weise Besitz ergreifen, doch außer den ‚bo-
kor‘, den Voodoo-Priestern, weiß niemand, wie man diese
schreckliche Mixtur herstellt. Die Macht von Voodoo ist
durch dieses Elixier so groß, dass sich Menschen in Trance
versetzen und in diesem Zustand glühende Kohlen in die
Hand nehmen können, ohne etwas zu spüren.“
Sandra schluckte. „Aber das ist doch alles nur fauler
Zauber, nichts als Illusion.“
„Das konnte bisher niemand beweisen“, sagte Armin.
„Ja, ja. Du glaubst ja auch an die Reinkarnation“, spöt-
telte Sandra.
„Die Haitianer glauben, dass die Voodoo-Priester Tote
zum Leben erwecken und über diese Zombies verfügen
können, wie es ihnen gefällt. Zombies gehorchen angeblich
ihrem Erwecker willenlos, egal, was er von ihnen ver-
langt!“, sagte Otto.
„So ein Quatsch. Niemand kann Tote zum Leben er-
wecken“, entgegnete Mario Onkel Otto energisch.
56
„Dieser Ansicht war auch Wade Davis. Er wollte den
Beweis dafür erbringen – aber das schaffte er nicht.“ Onkel
Otto hielt inne. „Es gibt viel Seltsames unter der Sonne.
Merkwürdige Dinge geschehen auf Haiti. Dazu zählen
auch diese Puppen. Jetzt vollende ich Davis’ Werk. Nie-
mand außer meinen Gehilfen weiß, dass ich seine restli-
chen Aufzeichnungen gefunden habe, die als verschollen
galten“, flüsterte Onkel Otto.
„Deshalb sprach Castera von den ‚Restlichen‘“, mur-
melte Armin.
Die Puzzleteile fügten sich allmählich zusammen.
„Ja. Ich stehe kurz davor, beweisen zu können, was es
mit Voodoo und Zombies in Wahrheit auf sich hat“, sagte
Onkel Otto. „Dann ist der faule Zauber für immer vorbei.
Dann ist auch Schluss mit den Wiederbelebungszeremo-
nien im Wald.“
Beim Wort ‚Wiederbelebungszeremonie‘ zuckte Sandra
zusammen. „Dann waren wir also im Wald Zeugen, wie ein
Toter zum Leben erweckt wurde!“, sagte sie aufgebracht.
Plötzlich hörten sie ein dumpfes Pochen. Otto sprang
auf und ging nach nebenan in die Küche. Sandra, Armin
und Mario folgten ihm. Der Geschirrspüler war wie von
Geisterhand in Betrieb.
„Wie ist das möglich? In der letzten halben Stunde war
keiner von uns in der Nähe des Geräts!“, hauchte Sandra
verwirrt. Sie drückte vorsichtig den Stopp-Knopf, atmete
tief durch und riss den Geschirrspüler auf.
Wasserdampf waberte ihr entgegen. Als er sich ver-
flüchtigt hatte, starrte Sandra in den Spülraum. Und er-
schauderte bis in die Zehenspitzen.
57
58
14 Augen im Geschirrspüler
„Das kann doch nicht sein!“, stieß sie hervor.
Acht Augen sahen sie durchdringend an.
Onkel Otto begann zu keuchen und stürzte mit
schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden.
„Er hat wieder einen Anfall!“, schrie Mario.
„Wir müssen ihn aufs Sofa legen“, sagte Sandra. Mit
vereinten Kräften hoben sie Otto auf. Am ganzen Körper
zitternd sank er in die Kissen. Mario lockerte seine Kra-
watte und redete beruhigend auf ihn ein. Diesmal schienen
die Atembeschwerden noch schlimmer als sonst.
Keuchend starrte Onkel Otto auf den Geschirrspüler.
„Wie … wie kommen die da rein? Heute hat niemand die
Spülmaschine eingeräumt! Hier spukt es!“
„Reg dich ab, Onkel Otto. Hier hat offenbar wer was
gegen deine Forschungsarbeit und will dir Angst einjagen.
Mit Zauberei hat das nichts zu tun. Wir dürfen uns nicht
länger einschüchtern lassen“, sagte Mario nüchtern.
„Ihr haltet mich wohl für irre, was?“, krächzte Onkel
Otto mühsam. „Diese Atemnot ist furchtbar. Sie setzt im-
mer ein, wenn die Puppen auftauchen. Sie müssen verhext
sein.“
Sandra ging zum Geschirrspüler, griff sich einen Topf-
lappen und holte alle vier durchnässten Puppen heraus. Die
59
Puppe mit Onkel Ottos Gesicht hielt eine kleine Plastiktüte
in der Hand, in der ein gelber Zettel lag. Sandra holte ihn
heraus und schlenderte lesend zu den anderen zurück, die
Otto gerade seine Medizin verabreichten.
„Was steht da?“, fragte Armin ungeduldig.
„Sicher nichts Erfreuliches, darauf kannst du Gift neh-
men“, entgegnete Mario.
„Scheint sich um eine verschlüsselte Botschaft zu han-
deln. Sie ergibt keinen Sinn“, erklärte Sandra und reichte
den Zettel Armin, dem Spezialisten für Geheimschriften.
Der Detektiv rieb sich das Kinn.
„Sieht wesentlich einfacher aus als unser SAM-
TopSecretCode“, meinte er grübelnd.
Otto erhob sich mühsam vom Sofa und sie setzten sich
an den Tisch.
Armin kramte in seiner Detektivausrüstung nach der
SAM-Dechiffrierscheibe.
„Das ist der ABC-1-Code. Überhaupt kein Problem, ihn
zu enträtseln!“
Sandra, Mario und Onkel Otto starrten gespannt auf den
Zettel, auf dem eine merkwürdige Buchstabenkombination
stand: 1-BZIDZNNO ZPMZ GZOUOZI NOPIYZI!
WVGY RZMYZO DCM APZM DHHZM UJHWDZN
NZDI! ZPZM ZIYZ IVCO. YDZ KPKKZI QJGGZIYZI
WVGY DCM BMVPNDBZN RZMF …
Behende drehte Armin die SAM-Decodierscheibe, wo-
bei sich die Buchstabenreihe um einige Zeichen verschob
und so jeder Buchstabe durch einen anderen ersetzt wurde.
Beim SAM-ABC-1-Code stand für den Buchstaben A ein
V, für B ein W und so fort. Dann schrieb er die richtigen
Buchstaben unter die Botschaft.
60
Je weiter seine Arbeit fortschritt, desto fassungsloser
wurden seine Freunde, bis er schließlich das gesamte
Schreiben dechiffriert hatte: GENIESST EURE LETZTEN
STUNDEN! BALD WERDET IHR FÜR IMMER
ZOMBIES SEIN! EUER ENDE NAHT. DIE PUPPEN
VOLLENDEN BALD IHR GRAUSIGES WERK …
„Warum codiert jemand eine Warnung und erschwert
dadurch das Verständnis? Das ergibt doch keinen Sinn“,
überlegte Mario.
„Es sei denn, der Absender will seiner Drohung auf die-
se Weise besonderen Nachdruck verleihen“, meinte Sandra
mit besorgter Miene.
Onkel Otto war fassungslos. Ihm blieben die Worte im
Hals stecken. „Ich … ich kenne diese Drohbriefe!“, stam-
melte er. „Ich wäre beinahe draufgegangen, als ich vor ein
paar Wochen den ersten bekam. Es war schrecklich …“
„Wir sind ganz Ohr Onkel Otto“, sagte Mario erwar-
tungsvoll.
61
15 Mit Blut geschrieben
„Immer wenn mir eine dieser Puppen zugespielt wird, be-
komme ich kurz darauf einen schlimmen Anfall. Es fing
schon am zweiten Tag nach meiner Ankunft in Port-au-
Prince und der Pressekonferenz im Hotel Oloffson an. Ich
wollte am Nachmittag mit dem Motorboot aufs Meer hi-
nausfahren und ein wenig tauchen.
Gegen sieben Uhr machte ich meinen dritten Tauch-
gang. Ich sprang ins Wasser und glitt langsam zu den Ko-
rallenriffen hinab, als sich über mir plötzlich das Wasser
rot färbte. Mir war sofort klar, dass es sich um Blut handel-
te und dass ich in akuter Gefahr war. Da griffen mich auch
schon zwei riesige Haie an. Ich hatte nicht einmal eine
Harpune bei mir, weil es in dieser Gegend normalerweise
keine Haie gibt. Im letzten Moment entdeckte ich eine
kleine Höhle in den Felsen am Meeresboden, in die ich
mich flüchtete. Die Haie griffen weiter an; die waren rich-
tig rabiat. Ich sah auf die Taucheruhr und stellte entsetzt
fest, dass ich nur noch für drei Minuten Sauerstoff hatte.
Wenn ich nach oben sah, konnte ich mein Boot erkennen.
Als die Haie sich für einen weiteren Angriff etwas ent-
fernt hatten, schoss ich aus meinem Versteck und
schwamm nach oben. Die Atemluft begann zu versiegen,
die Haie näherten sich blitzschnell. Ich zerrte mich mit
62
letzter Kraft in das Boot. Knapp hinter mir rasten die Be-
stien aus dem Wasser und bissen mit voller Wucht ins Lee-
re. Ich entkam ihnen nur um Haaresbreite. Es war schreck-
lich! Aber das war noch nicht alles – hinter dem Steuer saß
eine dieser Puppen. Sie sah mir ähnlich und hatte einen
Drohbrief in der Hand.“
Otto Klein eilte zum Wandschrank und entnahm ihm ein
zerknülltes Blatt Papier.
Mario sah sich den Brief an; er war offensichtlich mit
Hühnerblut geschrieben: GEH ZURÜCK IN DEINE
WELT ODER DU WIRST WÜNSCHEN, NIEMALS
HIERHER GEKOMMEN ZU SEIN!
Darunter war ein Loco Miroir aufgezeichnet.
„Es war weit und breit kein anderes Boot zu sehen. Ich
kann mir nicht erklären, wie die Puppe dahin gekommen
ist. Und das Blut, das die Haie angelockt hat?“
„Es ist wie bei den Puppen im Geschirrspüler“, murmel-
te Armin.
„Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wie
die Puppen da reingekommen sind“, erklärte Otto. „Außer
uns ist niemand hier.“
„Es könnte jemand durch das Fenster eingestiegen
sein“, gab Mario zu bedenken.
„Das ist doch Unfug!“, meinte Onkel Otto. „Das hätten
wir gehört.“
„Aber durch die Tür konnte niemand kommen“, schalte-
te sich Armin ein. „Die war doch verriegelt.“
„Bleibt nur Doktor Mella“, sagte Sandra.
Otto wehrte ab. „Auf keinen Fall!“, sagte er. „Er behan-
delt mich seit dem Beginn dieser Beschwerden und ist ein
guter Freund von mir.“
63
Fünfzehn Minuten später hatten die SAM-Mitglieder
das ganze Haus durchsucht. Nicht ein einziges Fenster
stand offen, nichts wies auf einen heimlichen Eindringling
hin. Sie konnten es einfach nicht fassen. Ihr Gegner hatte
sich bis auf wenige Meter an sie herangewagt.
Oder war der Voodoo-Zauber doch mehr als Einbil-
dung?
Armin griff nach der Puppe mit seinem Gesicht und be-
trachtete sie ratlos. An der Innenseite der Hand befand sich
das Loco-Miroir-Zeichen. „Der Spiegel, in den wir alle
eines Tages blicken müssen …“, murmelte er mit wach-
sender Beunruhigung.
Da klingelte es und Doktor Preval trat ein, um Onkel
Otto Medizin zu bringen.
„Was ist denn hier los?“, fragte er erstaunt, als er Armin
mit der Puppe in der Hand sah. „Ihr solltet nicht mit sol-
chen Dingen spielen“, warnte er und stellte seine Tasche
auf dem Küchentisch ab. Er war klitschnass. Das Wetter
hatte umgeschlagen und der Tropenregen prasselte auf die
Stadt nieder. Böiger Wind beugte Palmen und Sträucher.
Tiefe Besorgnis legte sich auf das Gesicht des Apothe-
kers, als er den Drohbrief auf dem Tisch sah.
„Ist euch überhaupt klar, was das für euch bedeutet?“,
fragte er. „Ich glaube, ich muss euch etwas über schwarze
Magie erzählen.“ Sein Blick verdunkelte sich schlagartig.
„Sie birgt Kräfte, an die ihr nicht im Traum zu denken
wagt!“
64
16 Lebendige Tote
Den drei Freunden war klar, dass sie Doktor Preval zuerst
von Raouls Verschwinden erzählen mussten. Er nahm es
verwundert, aber doch recht gelassen auf. Offenbar glaubte
er, sein Sohn sei nur verlegt worden. Er begann zu erzäh-
len: „Ursprünglich hieß die Volksreligion Voodoo ‚Vodun‘
und bezeichnete eine Klasse von Gottheiten. Heute besteht
sie aus Katholizismus, schwarzer Magie und Psychologie.
Es gibt einen schrecklichen Gott namens Guede, der mit
Hilfe finsterer Geister über die Geheimnisse des Todes,
über Zauberflüche und Schadenszauberei wacht. Für die
Anhänger des Voodoo ist unsere Welt nur eine Fassade,
hinter der die mächtigen Geister wirken, die man auf kei-
nen Fall reizen sollte. In der gefährlichsten Ausprägung des
Voodoo finden dabei seltsame Zeremonien im ‚houmfor‘,
einem Tempel, statt. Der besteht aus kleinen Gebäuden, in
denen Reliquien aufbewahrt werden, und einer Lichtung,
auf der sich die Gläubigen versammeln. Der Anführer be-
ginnt dann die Zeremonie mit Beschwörungen. Dabei
zeichnet er sogenannte ‚veves‘ in den Boden – Zeichen wie
dieses hier.“ Der Apotheker zeigte auf das Loco Miroir.
„Die Anhänger geraten zunehmend in Ekstase und schließ-
lich werden den Göttern Opfer dargebracht, meist Ziegen
oder Hühner …“
65
„Hühner!“, entfuhr es Sandra. Sie dachte daran, wie
die Gestalt im Wald einem Huhn den Hals durchgebissen
hatte.
„Manchmal opfern sie aber auch Menschen“, sagte
Doktor Preval mit belegter Stimme.
Einen Moment lang herrschte betretene Stille. Den
SAM-Freunden wurde jetzt richtig bewusst, in welcher
Gefahr sie sich befanden.
„Doch das absolut Erschreckendste daran ist“, fuhr der
Apotheker fort, „dass die Voodoo-Priester auch mit Puppen
töten können. Sie fertigen eine Puppe an, die dem Opfer
ähnlich sieht, und durchstechen sie mit spitzen Nadeln. Sie
sind Boten des nahenden Unheils.“
„Aber es gibt doch keine Zauberei!“, rief Mario.
„Diese Zauberer sind keine gewöhnlichen, wie sie in
Märchen vorkommen. Sie gehören zu der gefürchteten
‚Roten Sekte‘, die sich ausschließlich mit Kannibalismus,
schwarzer Magie und Zombies befasst. Die Priester verflu-
chen ihre Opfer und durch die Puppen treiben sie sie zu
Wahnsinnstaten. Wenn sie dann gestorben sind, erwecken
sie sie zu neuem Leben, machen sie zu lebendigen Toten –
zu Zombies.“
Armin und Mario blickten auf den Talismam, den Sand-
ra um den Hals trug.
„Verdammter Mist! Ich habe es geahnt, dass wir bis zum
Hals in der Tinte sitzen“, zischte Mario und schlug mit der
Faust auf den Tisch.
Sie wollten einfach nicht glauben, dass es so etwas Be-
drohliches gab. Andererseits …
Herr Preval gab Onkel Otto seine Medizin, verabschie-
dete sich höflich und machte sich auf den Weg.
66
„Ich glaube, es ist besser, wenn ihr auch nach Hause
geht und euch ein wenig ausruht“, meinte Onkel Otto.
„Du hast Recht“, stimmte Mario zu. „Die Macht der
Suggestion ist zwar beeindruckend, aber das gilt auch für
die Kraft der Vernunft. Und die ist jetzt gefragt, Freunde.“
Die drei Freunde verabschiedeten sich und baten ihn,
die Haustür zu seiner eigenen Sicherheit hinter ihnen abzu-
schließen. Dann winkten sie ein Tap-Tap-Taxi herbei.
Daheim angekommen, liefen sie durch den strömenden
Regen und den Nebel zur Veranda.
„Ich schließe noch schnell das Garagentor!“, rief Mario
und rannte zum Nebengebäude. Armin und Sandra waren
soeben ins Trockene gekommen, da hörten sie Mario
schreien: „Armiiin, Sandraaa, schnell!“
67
17 Das Schlammgesicht
Armin und Sandra rannten zur Garage.
Mario leuchtete mit seiner Minitaschenlampe in den
Nebel und versuchte verzweifelt, im Schein des Lichtes
etwas zu sehen. Er hörte Sandra nach ihm rufen. Der
Lichtkegel huschte über einen dunklen Schatten.
„Vorsicht! Hier ist irgendwer – irgendwas“, rief er.
Da wurden seine Freunde von einer torkelnden Gestalt
umgerannt. Sandra erschauderte.
Marios Lichtstrahl näherte sich durch Nebel und Regen.
„Mario, hier bin ich!“, stieß Sandra hervor, den Blick
auf die Gestalt gerichtet, die drohend über ihr stand. Ihre
Hände versanken immer weiter im sumpfigen Boden. Die
Gestalt hob langsam ihren linken Fuß und lenkte ihn gegen
Sandras Kopf. Dann trat sie zu. Im letzten Augenblick
packten zwei Hände Sandra und zerrten sie zur Seite. Der
schwere Schuh platschte in den Morast und schleuderte
Sandra und Armin Schlamm ins Gesicht.
„Das war knapp! Danke!“, jampste Sandra erleichtert.
Der Lichtkegel von Marios Taschenlampe streifte das
unheimliche Wesen noch einmal, dann verschwand es im
Regen.
Sandra sah etwas auf dem Boden liegen. Sie griff da-
nach: Es war eine Puppe, die ihr Gesicht hatte und an der
68
ein weiterer Drohbrief mit dem Loco Miroir und folgenden
Worten befestigt war: IHR WOLLTET NICHT HÖREN –
JETZT WERDE ICH EUCH HOLEN!
Mario schaltete am schnellsten. „Los, macht schon! Er
darf uns nicht entkommen!“, rief er. Sie rannten der Gestalt
hinterher.
Es dauerte nicht lange und der Strahl seiner Taschen-
lampe hatte den breiten Rücken des Fremden erfasst. Er
war schwarz gekleidet und wankte seltsam. Er wirkte wie
ein Schlafwandler.
„Sofort stehen bleiben!“, schrie Sandra. Der Mann rea-
gierte nicht.
Armin erreichte ihn als erster und warf sich mutig auf
seine Beine. Der Mann stürzte zu Boden.
„Was wollen Sie von uns? Für wen arbeiten Sie?“, rief
Armin. Er verdrehte seinem Gegner den Arm, wie er es im
Selbstverteidigungskurs gelernt hatte. Der Mann wehrte
sich nicht. Armin drehte ihn auf den Rücken, sodass sie
sein Gesicht sehen konnten. Die SAM-Freunde erstarrten
vor Schreck.
Fassungslos blickten sie in ein gruseliges Antlitz, das
von tiefen Wunden entstellt war. Die leblosen Augen
schienen durch die SAM-Freunde durchzusehen. Der
Fremde machte keinen Versuch zu fliehen. Auch nicht, als
ihn Armin losgelassen und er sich mühsam aufgerichtet
hatte. Er sprach kein Wort und stand wie eine Statue im
strömenden Regen.
„Wie kann das sein?“, hauchte Sandra schließlich her-
vor.
Vor ihnen stand Raoul Preval, der nach Aussage der
Krankenhausärzte klinisch tot war, also nur noch künstlich
69
am Leben erhalten werden konnte. Den drei Freunden
wurde klar, dass er tatsächlich einem Zombie glich, wie ihn
die Bücher beschrieben.
„Wo … wo sind wir da nur reingeraten?“, stotterte Ma-
rio. In seiner Stimme klang Angst.
„Raoul, was ist passiert?“, fragte Sandra.
Raouls Augen starrten weiter ausdruckslos in den Nebel.
„Wir müssen ihn sofort ins Krankenhaus zurückbrin-
gen“, beschloss Mario. „Die Ärzte können sicher sagen,
was mit ihm geschehen ist.“
Herr Preval konnte es kaum fassen. Er entging nur
knapp einem Nervenzusammenbruch, als ihm Armin die
schockierende Nachricht überbrachte.
Raoul befand sich als einziger Patient in der psychiatri-
schen Abteilung des Krankenhauses. Diese Abteilung war
durch dicke Stahlgitter von den übrigen Stationen getrennt
und glich in den Augen der drei Freunde einem Gefängnis.
Doktor Mella kümmerte sich um Raoul. Niemand wus-
ste genau, was mit ihm geschehen war; es sah aus, als hätte
er den Verstand verloren.
Sandra, Armin und Mario traten an die Tür von Raouls
Zimmer und blickten besorgt durch das kleine Panzerglas-
fenster.
„Seitdem wir ihn hergebracht haben, sitzt er so da und
wiegt geistesabwesend den Oberkörper“, murmelte Mario.
„Wir müssen rausfinden, was mit ihm passiert ist“, sagte
Sandra. „Ich will nicht sterben oder als Zombie enden.“
„Aus Raoul kriegen wir nichts raus, das können wir
vergessen“, meinte Armin nach einer Weile.
„Aber es muss doch einen Weg geben!“ Sandra überleg-
te fieberhaft.
70
Sie warf einen letzten Blick durch das kleine Fenster.
Da sah sie, dass sich Raouls Lippen bewegten. Sie starrte
auf seinen Mund. Er wiederholte offenbar ständig ein Wort.
„Armin, Mario!“, flüsterte sie aufgeregt. „Seht nur, er
bewegt die Lippen! Ich glaube, er möchte uns etwas mittei-
len“
„Was stammelt er da?“, fragte Mario.
„B … bok … boko … bokor!“, flüsterte Armin.
„Das ist doch die Bezeichnung für Voodoo-Zauberer“,
sagte Sandra. „Ich glaube, ich weiß, was er uns sagen will,
Freunde.“
„Mach es nicht so spannend“, zischte Mario.
„Hofft lieber, dass ich nicht Recht habe!“, murmelte sie
ängstlich.
71
18 Tetrodotoxin
Eine halbe Stunde später hatten Onkel Otto und Doktor
Preval das Krankenhaus verlassen, um sich bei einem
Abendessen im Café Terrasse hinter dem Air-France-
Gebäude ein wenig vom Schock zu erholen.
Sandra, Armin und Mario blieben noch eine Weile. Sie
hatten vorgegeben, nach Hause fahren zu wollen. Doch in
Wahrheit hatten sie einen höchst riskanten Plan.
„Ich halte das für zu gefährlich“, flüsterte Mario. „Stellt
euch vor, wir werden erwischt. Dann wandern wir ins Ge-
fängnis, und wie die Gefängnisse auf Haiti aussehen, brau-
che ich euch wohl nicht zu sagen.“
„Das wissen wir“, unterbrach ihn Armin. „Aber es gibt
keine andere Möglichkeit. Raoul ist in diesem Zustand kei-
ne Hilfe.“
Auf leisen Sohlen schlichen die drei Freunde zum Büro
von Doktor Mella, dem Primarius. Außer der Reinigungs-
frau und der Nachtschwester war inzwischen niemand
mehr anwesend.
Armin holte seinen Dietrich hervor und machte sich am
Schloss der Bürotür zu schaffen.
„Wenn uns die Krankenakten auch keinen Hinweis ge-
ben, sind wir verloren“, flüsterte Mario, der sich nicht wohl
fühlte bei dem, was sie da taten.
72
Als Armin die Tür geöffnet hatte, huschten die drei De-
tektive hinein, knipsten ihre Minitaschenlampen an und
machten sich am Aktenschrank zu schaffen.
„Pass auf, ob jemand kommt, Armin“, flüsterte Mario.
Sandra fand, was sie suchten. Vorsichtig zog sie die Schub-
lade mit den vertraulichen Unterlagen heraus.
„Macht schneller! Die Nachtschwester macht sicher
bald wieder einen Rundgang“, drängte Armin.
„Da ist die Akte: Preval, Raoul“, wisperte Sandra, als
sie die dunkelblaue Mappe aus der Lade zog. Unter Raouls
Name prangte ein Stempel, der die Akte als ‚streng vertrau-
lich‘ qualifizierte. Sie öffnete die Krankenakte, als sich auf
dem Gang plötzlich dumpfe Schritte näherten.
„Alarmstufe Rot!“, zischte Armin. „Es ist Doktor Mella!
Er kommt noch einmal zurück!“
Sandra klappte die Mappe zu, knipste die Taschenlampe
aus und sah sich nach einem Versteck um.
Die Tür öffnete sich und das Licht wurde angedreht.
Langsam ging Doktor Mella zum Aktenschrank.
Armin beobachtete aus seinem Versteck den groß ge-
wachsenen Mann, dessen braune Augen unter buschigen
schwarzen Brauen lagen. Das pechschwarze, gelockte Haar
und die Nickelbrille ließen ihn ein wenig wie einen Küns-
tler aussehen.
Doktor Mella bemerkte, dass der Schrank mit den
Krankenakten offen stand. Er runzelte die Stirn und sah
sich im Büro um.
Sandra, Armin und Mario wagten kaum zu atmen.
„Ist hier jemand?“, fragte Doktor Mella in die Stille hi-
nein.
73
74
Mario, der unter dem Schreibtisch kauerte, rann der
Angstschweiß übers Gesicht. Die Füße des Primarius war-
en nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Er versuchte
verzweifelt, ein Niesen zu unterdrücken; der Teppichstaub
stieg ihm in die Nase. Auch Sandra liefen kitzelnde
Schweißperlen den Rücken hinunter. ‚Alles, nur nicht
Raouls Unterlagen darf er suchen‘, dachte sie.
Doktor Mella wandte sich langsam wieder dem Akten-
schrank zu und nahm eine orangefarbene Mappe heraus.
Wieder kitzelte Mario der Staub in der Nase. Lange
würde er nicht mehr durchhalten.
Da erschien die Nachtschwester und rief Doktor Mella
zu: „Telefon für Sie, Herr Doktor! Bitte kommen Sie
schnell, es ist dringend!“
„Danke, Schwester Garcia. Ich komme.“ Der Primarius
verließ mit der Schwester hastig das Büro. Kaum hatten
sich ihre Schritte entfernt, platzte Mario mit einem
furchtbaren Niesen heraus. Sandra und Armin erstarrten,
doch die Schritte entfernten sich zum Glück.
„Mann, o Mann, das war mehr als knapp“, stellte Armin
fest.
Sandra schlug Raouls Akte wieder auf. Mario überflog
die ersten Seiten. Plötzlich verdunkelte sich sein Gesichts-
ausdruck: „Jetzt wird mir einiges klar …“
„Spann uns nicht länger auf die Folter“, drängte Armin.
„Der Bluttest!“, murmelte Sandra nachdenklich. „Oh
Gott, nein! Mein Verdacht hat sich bestätigt!“
„In Raouls Blut wurden geringe Mengen Tetrodotoxin
gefunden“, sagte Mario langsam.
„Tetrodotoxin?“, wiederholte Armin. „Du sprichst von
einem tödlichen Gift, das ist dir doch klar, oder?“
„Du meinst … das Zombie-Elixier? Raoul ist ein echter
75
Zombie, der durch einen Voodoo-Priester wieder zum Le-
ben erweckt wurde?“, fragte Sandra ungläubig.
Mario nickte.
Sandra brach das Schweigen: „Ich schlage vor, wir re-
den noch einmal mit Aristide. Ich möchte wissen, was mit
Samedi nach seinem Selbstmordversuch passiert ist, und
dann werden wir uns das erste Buch von Onkel Otto zu
Gemüte führen – und zwar schleunigst, bevor wir enden
wie Raoul.“
Der Journalist reagierte unwirsch: „Ich hab euch doch klar
und deutlich gesagt: Lasst das gottverdammte Herum-
schnüffeln. Ihr bringt euch ernsthaft in Gefahr!“
„Das sind wir schon“, gab Armin zurück. „Wir brauchen
Antworten auf unsere Fragen, sonst werden Sie bald einen
Bericht über unser Ableben schreiben können.“
„Wärt ihr bloß nie aufgetaucht!“, seufzte Aristide mür-
risch. „Na gut. Samedi ist spurlos verschwunden. Nachdem
man ihn schwer verletzt gefunden hatte, brachte man ihn
ins Krankenhaus. Dort kam er auf die Intensivstation. Sei-
ne Freunde, ein Mädchen namens Castera und ein gewisser
René, haben ihn einmal besucht. Das war einen Tag nach
seiner Einlieferung.
Tags darauf starb er. Aber als man ihn beerdigen wollte,
war die Leiche verschwunden. Die Polizei hat tagelang
nach ihr gesucht. Keine Spur – bis heute. Mehr weiß ich
auch nicht.“
„Das war nicht sehr ergiebig“, sagte Armin, als die drei
Freunde auf dem Weg ins Labor waren. Die Bücher von
Onkel Otto waren jetzt der letzte Anhaltspunkt.
76
Als sie zum Laborgebäude kamen, ließ sie ein knarzen-
des Geräusch aufhorchen. Unmittelbar vor ihnen wurde ein
Fenster nach oben geschoben und eine Gestalt kletterte
rückwärts heraus.
„Der Überbringer der Puppen! Jetzt haben wir das
Aas!“, zischte Armin.
Sie schlichen weiter und erkannten den Übeltäter – vor
ihnen stand Castera!
„Es wird Zeit, dass du uns ein paar Erklärungen lie-
ferst“, fuhr Sandra sie verärgert an und zeigte auf einen
verschnürten Jutesack, den Castera fallen lassen hatte.
Doch sie hielt augenblicklich inne, als der Sack begann,
sich zu bewegen.
77
19 Schwarze Schlangen
Schritt für Schritt näherten sie sich dem merkwürdigen
Ding.
Zischende Geräusche drangen heraus.
„Was zum Teufel ist da drin?“, murmelte Mario nervös
und sah seine Freunde an.
Die Schnur, mit der der Sack verschnürt war, löste sich
und eine glänzende schwarze Schlange kroch heraus, ge-
folgt von zwei weiteren.
„Ihr blöden Idioten!“, fauchte Castera.
„Das sind die Schlangen aus Onkel Ottos Labor“, er-
klärte Mario. „Ich hab sie gestern in einem Raum mit tropi-
schen Pflanzen, Kugelfischen und bunten Fröschen gese-
hen.“
„Und deshalb so viel Aufregung“, murrte Armin.
„Warum wolltest du sie stehlen?“, fragte Sandra und sah
Castera fest in die Augen.
Die junge Haitianerin bebte vor Wut. Sie machte keine
Anstalten, die Frage zu beantworten, sondern wandte den
Blick ab und versuchte Sandra zu ignorieren.
„Sei nicht so dumm!“, schrie Armin sie an. „Du und
René bekommt genau wie wir diese Puppen. Ihr seid also
auch genauso in Gefahr wie wir! Wir wollen endlich wis-
sen, was hier los ist!“
78
79
Missmutig entschloss sich die Ferialpraktikantin zu re-
den und den drei Freunden die Situation zu erklären.
„Ich kriege für jede Schlange, die ich am vereinbarten
Ort abliefere, 25 Gourdes. Das ist sowieso viel zu wenig in
Anbetracht der gefährlichen Umstände. Die Schlangen sind
hochgiftig!“, presste sie zwischen den Zähnen hervor.
„Wer bezahlt dich?“, fragte Mario.
Castera blickte sich um, als hätte sie Angst, belauscht zu
werden. Dann flüsterte sie: „Ich weiß nicht, wer die Tiere
abholt. Aber solange ich welche bringe, bin ich angeblich
nicht in Gefahr; das stand in einem Brief, der am Treff-
punkt hinterlegt war. Er war mit Blut geschrieben!“
Sie erschauderte. Die SAM-Detektive sahen einander
an. Casteras Furcht schien echt zu sein.
„Würdet ihr mich jetzt bitte in Ruhe lassen!“
Die drei Freunde steckten die Köpfe zusammen. Mario
flüsterte: „Ich hab mal im Fernsehen eine Dokumentation
über Fische und Amphibien gesehen, die nervenlähmende
Gifte produzieren.“
„Du meinst so was Ähnliches wie Tetrodotoxin?“, fragte
Sandra gespannt.
„Wär doch möglich.“
„Sprecht weiter und verhaltet euch unauffällig“, unterb-
rach Armin plötzlich ihre Spekulationen. „Ich glaube, wir
werden von der Straßenecke aus beobachtet.“
Mario wandte vorsichtig den Kopf und warf einen Blick
zur Hauptstraße hinüber, wo er jemanden stehen sah.
Sandra bückte sich langsam und täuschte vor, ihre
Schnürsenkel neu zu binden. „Ja, jetzt seh ich ihn auch.“
„Ich hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, dass uns jemand
folgt; ich war mir aber nicht ganz sicher“, wisperte Armin.
80
„Wer sollte das tun? Und wieso?“ Mario sah seine bei-
den Detektivfreunde fragend an. „Tut weiter so, als hättet
ihr nichts bemerkt, klar? Ich werde der Sache auf den
Grund gehen“, sagte er und stieg durch das offene Fenster
flink ins Laborgebäude ein.
Im Gebäude schlich Mario sich zum Haupteingang. Vor-
sichtig öffnete er die Tür und trat ins Freie. Von hier aus
konnte er ungesehen die Straße überqueren und sich im
Schutz der Häuser und des Verkehrs von hinten unbemerkt
an den Fremden heranschleichen.
Als er sich ihm bis auf fünf Schritte genähert hatte,
sprach er ihn an.
Aristide Bazile zuckte zusammen und brachte einen
Moment kein Wort hervor.
„Was machen Sie hier?“, fragte Mario ihn scharf.
Der SAM-Detektiv glaubte etwas wie Angst in den Au-
gen des Journalisten aufblitzen zu sehen. Er wirkte ver-
krampft.
„Warum verfolgen Sie uns? So reden Sie doch! Stecken
Sie hinter diesem ganzen Hokuspokus? Wir wollen endlich
wissen, was hier los ist.“
Aristide bemühte sich, verständliche Worte hervorzub-
ringen. „Ich bin euch … nachgeschlichen, um euch zu
warnen!“
„Wovor?“
Ängstlich blickte Aristide sich um und zog Mario um
die Hausecke.
„Nehmt euch auch vor ihr in Acht“, flüsterte er und
meinte offenbar Castera. „Jemand hat es auf euer Leben
abgesehen, genauso wie auf das von Doktor Klein. Meine
Recherchen bestätigen das. Die Voodoo-Priester töten in
81
kleinen Etappen. Sie treiben ihr Opfer langsam in den
Wahnsinn. Zuerst sind es nur ganz leichte Schmerzen, die
von den Puppen auf sie übertragen werden. Es fängt mei-
stens mit Schlafstörungen und Stresserscheinungen an.
Dann kommen Atembeschwerden, Herzstechen und
Asthmaanfälle.“
„Wie bei Onkel Otto“, sagte Mario besorgt.
„Ja“, bestätigte Aristide. „Die Schmerzen werden fast
unerträglich, bis der Schlangengott Damballah das Opfer
endlich durch den Tod erlöst und sich seiner Seele bemäch-
tigt. Kurz zuvor lässt er ihm eine Jutepuppe zukommen, die
von einer spitzen Nadel durchbohrt ist. Sie kündigt an, dass
das Ende unmittelbar bevorsteht.“
„Das ist doch ein Witz. Sind denn auf dieser Insel alle
verrückt?“, zischte Mario. Sosehr ihn Onkel Ottos Anfälle
beunruhigten, er war doch zu sehr daran gewöhnt, sich von
der Vernunft leiten zu lassen, als dass er Aristides Ge-
schichte einfach so hinnehmen hätte können.
„Voodoo-Zauberer verstehen keinen Spaß. Die Zeichen
sprechen eine deutliche Sprache. Mir fällt es zwar schwer,
das zu sagen, aber wenn kein Wunder geschieht, sind eure
Tage gezählt.“
Aristides Stimme war immer leiser geworden.
„Nennen Sie mir einen vernünftigen Grund!“, forderte
Mario. „Wer hat einen Vorteil davon, wenn Onkel Otto und
wir beseitigt werden?“
„Tut mit Leid, aber diese Frage könnt nur ihr selbst be-
antworten. Irgendwo in dieser Stadt gibt es jemanden, für
den ihr eine große Gefahr darstellt.“
Der Journalist verstummte. Sein Gesicht war zu einer
Grimasse der Angst verzerrt.
82
„Seid vorsichtig. Ihr wisst ja, was mit Samedi und
Raoul geschehen ist.“
Mit diesen Worten machte sich Aristide aus dem Staub.
Mario kehrte nachdenklich zu seinen Freunden zurück.
„Was hat er gesagt?“, wollte Armin sofort wissen.
„Nichts Neues. Er wirkt, als hätte er furchtbare Angst.
Er meint, wir sind in großer Gefahr. Aber vielleicht ist er
auch nur ein Journalist auf der Suche nach einer Sensati-
onsstory. Ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten
soll“, antwortete Mario.
„Ist doch alles Aberglaube“, versuchte Sandra ihn zu be-
ruhigen. „Aberglaube erzeugt Angst. Und Angst erzeugt
dann noch mehr Aberglaube. Einbildung, darauf beruht der
Voodoo-Zauber, das sage ich euch!“
„Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte Mario.
„Voodoo jagt den Menschen solche Angst ein, dass sie
alles glauben, aber genau genommen ist diese Angst völlig
unsinnig, genau wie die vor Freitag, dem Dreizehnten.“
„Vielleicht arbeitet Castera heimlich für den Unbekann-
ten, der uns und Onkel Otto an den Kragen will?“, meinte
Armin nachdenklich. „Ich habe den Eindruck, dass sie viel
mehr weiß, als sie preisgibt.“
„Das werden wir jetzt aus ihr herausholen. Mir reicht’s
endgültig!“, schimpfte Sandra. Sie wandte sich um – und
riss die Augen verblüfft auf.
83
20 Freitag, der Dreizehnte
Castera war spurlos verschwunden.
„Sie ist abgehauen. Ob sie Angst vor Aristide hat?“,
mutmaßte Sandra.
„Nein, sicher nicht“, erwiderte Mario mit zusammen-
gekniffenen Augen. „Ich glaube eher, Aristide hat Angst
vor ihr.“
„Wahrscheinlich wollte sie nur unseren Fragen auswei-
chen“, meinte Armin.
„Dann holen wir uns die Antworten jetzt erst recht“,
sagte Sandra entschlossen.
„Los, gehen wir sie suchen!“, sagte Armin bestimmt.
„Sie wird entweder nach Hause gehen oder zu Onkel
Otto ins Labor“, überlegte Sandra.
„Das glaube ich nicht. Da würden wir sie doch zuerst
vermuten“, gab Mario zurück.
„Wie sollen wir sie denn in dieser großen Stadt finden?“
„Sie kann noch nicht weit sein, los!“
„Warum können wir nicht mal normale Ferien haben,
wie andere auch?“, ächzte Sandra, als sie losmarschierten.
Während die drei Freunde die Rue José de San Martin
entlangliefen, sahen sie auch in jede Seitengasse. Sie ka-
men an einer Arena vorbei, aus der Merengue-Musik klang
und die vor Menschen wimmelte. Offenbar fanden hier
84
Hahnenkämpfe statt. Sandra, Armin und Mario mischten
sich unter die johlende Menge. Die Luft war getränkt von
Rumdunst, Schweiß und Zigarrenqualm. Männer gestiku-
lierten erregt, Fäuste krachten auf das Geländer nieder und
grelle Scheinwerfer beleuchteten die Szene. Stolz präsen-
tierten die Kontrahenten gerade ihre gefiederten Gladiato-
ren. Fachmännische Kommentare machten die Runde, my-
steriöse Handzeichen und Zurufe bestimmten die Einsätze.
Dann wurden die mit messerscharfen Sporen ausgestatteten
Hähne aufeinander gehetzt.
„Tierquälerei! Man sollte diese Idioten alle einsperren!“,
schimpfte Armin aufgebracht, denn er war ein großer Tier-
freund und half seinem Vater oft in der Tierklinik.
Die SAM-Freunde ließen ihre Blicke über die Menge
schweifen. Ein Mensch von Casteras Körpergröße konnte
hier leicht untertauchen.
Doch dann entdeckten sie das Mädchen.
Castera hatte sie auch gesehen. Sie verschwand in ei-
nem Keller.
Sandra, Armin und Mario zwängten sich zwischen den
kreischenden Leuten durch.
„Castera!“, schrie Sandra. „Warte, wir müssen mit dir
reden!“
Sie riss die Kellertür auf und stolperte über eine dunkle
Treppe hinunter. Beinahe wäre sie gestürzt.
Sie hörte, wie sich Casteras Schritte beschleunigten.
Jetzt rannte auch sie schneller, was in der Dunkelheit
gar nicht einfach war. Sie holte auf. Vor ihr wurde eine Tür
zugeschlagen.
Jetzt saß Castera in der Falle. Es gab sicher keinen zwei-
ten Ausgang aus dem Raum, in dem sie sich jetzt befand.
85
Sandra hörte Armin und Mario hinter sich. Gemeinsam
stießen sie die alte Holztür auf und polterten in den dahin-
ter liegenden Raum.
„So! Jetzt kannst du uns nicht mehr einfach davonren-
nen. Jetzt wollen wir Antworten hören!“, rief Armin.
Mario legte den Lichtschalter um und eine schwache
Glühbirne ging an.
Der Raum war leer!
Keine Kisten, kein Gerümpel, keine Castera.
Die SAM-Detektive sahen auf eine kleine Kellerluke,
die auf die Straße hinausführte.
„Ich würde sagen: 1:0 für Castera“, brummte Mario
verärgert.
Betretenes Schweigen machte sich breit. Das einzige
Lebenszeichen kam von der Straße. Ein Tap-Tap hielt und
eine Autotür wurde geöffnet. Einen Moment lang hörte
man eine Radiostimme: „Heute ist Freitag, der Dreizehnte,
für manche unter uns ein Tag, den sie wohl nie vergessen
werden. Es ist zwanzig Uhr und es folgen die Kurznach-
richten …“ Die Autotür wurde zugeschlagen und das Tap-
Tap brauste davon.
Mario seufzte. „Was jetzt?“
„Jetzt tritt Plan B in Kraft“, sagte Armin. „Für wen auch
immer Castera die Schlangen gestohlen hat – er kennt sich
mit Giften wie Tetrodotoxin aus und hat seine Ware nicht
erhalten.“
„Ein Arzt wie Doktor Mella!“, sagte Sandra mit einer
Mischung aus Angst und Ärger in ihrer Stimme.
„Er wird kommen und sie holen, und dann schlagen wir
zu! Darauf kann er Gift nehmen!“
86
21 Die Glühbirnenfalle
Etwa eine halbe Stunde später waren die SAM-Freunde im
Labor von Onkel Otto eingetroffen und hatten ihm alles
erzählt, was in den letzten Stunden geschehen war.
Fassungslos hatte der Forscher den Jutesack hereinge-
holt und die einzige in ihm verbliebene Schlange in ihren
Glasbehälter zurückgegeben.
„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass
Doktor Mella hinter diesen Anschlägen stecken soll, das
habe ich euch doch schon gesagt“, protestierte Otto ener-
gisch. „Er kommt regelmäßig vorbei und kümmert sich
vorbildlich um mich. Wir gehen sogar hin und wieder zu-
sammen essen oder tauchen. Er hat auch einen Artikel für
mein erstes Buch über die Illusion des Voodoo geschrie-
ben. Wieso sollte er das tun, wenn er im Grunde gegen
mich ist? Das macht doch keinen Sinn. Und Castera – das
kann ich auch nicht glauben; sie ist eine zuverlässige und
tüchtige Mitarbeiterin. Ich bin froh, dass ich sie habe.“
„Immerhin hat sie deine Giftschlangen gestohlen“, gab
Armin zu bedenken. „Und Doktor Mella kennt sich als
Arzt mit Giften sicher sehr gut aus. Das lässt sich nicht
abstreiten.“
„Zufälle, Zufälle und Spekulation“, wehrte Onkel Otto
kopfschüttelnd ab.
87
Angst und Nervosität schienen von ihm gewichen zu
sein. Mario merkte, dass sein Onkel wieder vollkommen in
seiner Arbeit aufging. Sein Gesicht war entspannt wie noch
nie, seit sie in Port-au-Prince eingetroffen waren.
Doch dieser Gemütszustand änderte sich schlagartig, als
Sandra, Armin und Mario begannen, ihre Glühbirnenfalle
im ganzen Labor auszulegen.
Sandra, die SAM-Spezialistin für Tarnen und Täu-
schen, hatte einen Sack voller kaputter Glühbirnen mit-
gebracht. Jetzt nahm sie sie heraus, wickelte sie sorgfältig
in ein Handtuch und schlug dieses kräftig gegen die
Wand.
Die feinen Glassplitter verteilte sie gleichmäßig auf dem
Boden.
Otto ließ jetzt vollends von seiner Arbeit ab. Missmutig
beobachtete er die drei Freunde bei ihrem Tun.
„Ehrlich gestanden habe ich seit meinem letzten Anfall
ein unheimliches Gefühl. Ja, sogar Angst, das muss ich
zugeben. Ich dachte schon, ich müsste sterben, so arg war-
en die Schmerzen“, sagte er. „Seitdem diese Puppen in
meinem Geschirrspüler saßen, traue ich mich keine Lade
und keinen Schrank mehr zu öffnen. Ständig denke ich
daran, dass jeden Augenblick wieder eine auftauchen könn-
te, bis zur letzten, der mit der tödlichen Nadel.“
„Und eben dazu darf es nicht kommen“, erwiderte Ma-
rio, während sie ihre Falle auslegten. Zwanzig Minuten
später waren in Onkel Ottos ganzem Labor inklusive Kü-
che fachmännisch Scherben verteilt.
Die drei Freunde hatten die Detektivausrüstung und die
Wolldecken, die sie mitgebracht hatten, in drei verschiede-
nen Räumen deponiert und sich dort einen Wachposten
88
eingerichtet. Verbindung würden sie über die Funkeinrich-
tung ihrer SAM-Spezialarmbanduhren halten.
Gegen Mitternacht beendete Onkel Otto hundemüde
seine Arbeit und ließ sich vor dem Fernseher aufs Sofa sin-
ken. Er hatte noch einen Schluck Kaffee und seine Medizin
genommen. Ohne die Wirkung dieses Getränks, die auch
rasch einsetzte, wäre er längst nicht mehr in der Lage ge-
wesen zu arbeiten. Er wollte noch einmal nach SAM sehen,
aber die Augen fielen ihm zu. Er sank in einen tiefen
Schlaf, Kurz darauf löschten die drei Freunde im Labor das
Licht. Sandra, die zwischen tropischen Pflanzen, Kugelfi-
schen, Kröten und Schlangen Posten bezogen hatte, war
etwas unwohl zumute. Diesmal musste es klappen. Eine
weitere Chance würden sie wohl nicht mehr bekommen.
Armin und Mario gingen ähnliche Gedanken durch den
Kopf.
Als Marios Armbanduhr um Mitternacht dreimal piepste
und so die Geisterstunde ankündigte, hatte sich noch nichts
ereignet.
Er drückte den obersten Knopf und flüsterte ins Mini-
mikrophon: „Hier 007 – irgendwas Neues?“
Sandra, Armin und Mario benützten häufig ihre Detek-
tivvorbilder als Codenamen zum Funken.
„Hier Marple. Alles ruhig, keine besonderen Vorkomm-
nisse“, antwortete Sandra.
„Auch im Bereich von Hercule alles in Ordnung. Feind
nicht in Sicht“, stimmte Armin zu.
Die Minuten verstrichen und die drei Freunde mussten
immer häufiger gähnen.
Müde von den Strapazen der letzten Tage krochen sie
unter ihre Wolldecken.
89
Armin kämpfte gegen die Müdigkeit an. Außer dem lei-
sen Schnarchen von Onkel Otto, der wie ein Sack Kartof-
feln auf dem Sofa lag, das Gesicht vom bläulichen Flim-
mern des Bildschirms beleuchtet, war nichts zu hören.
Auch Mario lauschte in die Stille, die sich im Labor
breit gemacht hatte.
Dann fielen ihm die Augen zu und bald schlief er tief
und fest.
Minuten später wurde Sandra von knackenden Geräu-
schen aus dem Schlaf gerissen. Mit pochendem Herzen
lauschte sie in die Dunkelheit.
Da war es wieder, das leise Knacken. Die Falle funktio-
nierte perfekt. Jemand war im Labor und zertrat die kleinen
Glassplitter.
Sandra schob den Kopf langsam unter der Wolldecke
hervor und versuchte den Eindringling auszumachen.
Ein gellender Angstschrei ließ Mario und Armin aus
dem Schlaf hochfahren.
Sie sprangen auf, durch die Dunkelheit waren sie jedoch
völlig orientierungslos.
Mario funkte an Armin: „Er ist hier!“
Armin tastete sich zur Wand vor und suchte nach dem
Lichtschalter.
Ein weiterer Hilfeschrei Sandras drang zu ihnen.
Endlich hatte Armin den Schalter gefunden und legte
ihn um. Nichts geschah. Es blieb dunkel.
Der SAM-Detektiv tastete sich zu seiner Ausrüstung
und versuchte die Taschenlampe zu finden.
Sandra schrie weiter erbärmlich um Hilfe, während Ma-
rio sich in den nächsten Raum vorwagte, um dort Licht zu
machen.
90
Es blieb wieder dunkel!
„Verdammter Mist!“, zischte er wütend. „Der Kerl hat
wirklich an alles gedacht; sogar die Sicherungen hat er
rausgedreht!“
Mario war zu weit von seinem Platz entfernt, um wegen
der Taschenlampe zurückzulaufen.
„Komm schnell mit der Taschenlampe her, Armin!“, rief
er seinem Freund zu. Seine Stimme überschlug sich vor
Aufregung.
„Einen Moment … ich … ich bin gleich da!“
Da stolperte Armin auch schon heran und wollte mit der
Taschenlampe herumleuchten.
„Nicht … Warte!“, flüsterte Mario und hielt ihn an der
Schulter zurück.
Ihr Blick wanderte durch die offene Tür in den Raum
mit den Pflanzen, Tieren und Glasbehältern.
Ein Schatten schlich in dem Zimmer herum, in dem
Sandra sein musste, und bewegte sich jetzt auf das Fenster
zu, das in den Hinterhof führte.
Sandra war nach einem letzten Aufschrei verstummt.
91
22 Nadeln im Herz
„Sofort stehen bleiben!“, rief Mario. „Es gibt kein Ent-
kommen, wir sind zu dritt!“
Der Eindringling stand etwa zwei bis drei Meter von
den beiden SAM-Freunden entfernt. Je näher sie kamen,
umso größer und übermächtiger wirkte der gespenstische
Schatten auf sie.
Plötzlich wandte sich die unheimliche Gestalt ab, um zu
fliehen.
Fest entschlossen, den Feind nicht entkommen zu las-
sen, warf Armin Mario die Taschenlampe zu und stürzte
sich auf den Fremden.
Beinahe hätte er ihn zu fassen bekommen, doch er stol-
perte über eine der zahlreichen Tropenpflanzen, die in Töp-
fen auf den Boden standen. Mit einem Schrei stürzte er zu
Boden.
Mario glaubte es im Gesicht des Eindringlings silbrig
aufblitzen zu sehen. Vielleicht eine Brille, dachte er, war
sich aber nicht sicher. Er sah die Gestalt nur noch einen
kurzen Moment, bevor sie aus dem Fenster kletterte.
„Habt ihr ihn erwischt?“, drang Sandras zittrige Stimme
aus einer Ecke.
Mario leuchtete herum und entdeckte seine Freundin.
Behutsam schlängelte er sich zwischen den Pflanzen durch.
92
93
Sandra kauerte auf dem Boden und starrte ihn mit weit
aufgerissenen Augen an. Von den Fingern ihrer rechten
Hand, die sie mit der linken festhielt, tropfte Blut.
„Zu spät …“, stammelte sie. „Ich hab das Knacken zu
spät gehört.“
„Schon gut, wir haben ja auch geschlafen“, beruhigte
Mario sie und reichte ihr sein Taschentuch, damit sie es auf
die Wunde drücken konnte.
Armin bückte sich und kramte eine zweite Taschenlam-
pe aus Sandras Detektivausrüstung. Er leuchtete herum und
sah etwas glänzend aufblitzen.
Inzwischen war auch Onkel Otto durch den Lärm wach
geworden und durch die Dunkelheit herübergekommen.
„Was ist denn hier los?“, fragte er gähnend.
Mario und Armin leuchteten gemeinsam auf die blitzen-
de Stelle neben Sandra.
„O nein! Das ist unser Ende!“, stotterte Armin verzwei-
felt.
Neben Sandra kauerten vier Jutepuppen. Sie sahen je-
weils einem von ihnen ähnlich. Doch diesmal waren es
keine gewöhnlichen Puppen wie die letzten Male. Es waren
die letzten Unheilsboten, die den Tod ankündigten. Jede
Puppe war von einer dünnen, etwa dreißig Zentimeter lan-
gen Nadel im Herz durchbohrt.
Von der Nadel, die in Sandras Puppe steckte, tropfte
Blut. Die SAM-Detektivin hatte sich in der Dunkelheit
daran verletzt. Die vier fanden das mehr als makaber.
„Wie Aristide es prophezeit hat“, flüsterte Mario. „Wenn
er Recht hat, ist unser Ende gekommen und wir werden
qualvoll sterben. Sie werden uns die Seelen aus dem Leib
reißen!“
94
„Wir sollten verdammt auf der Hut sein“, befand Armin
etwas nüchterner.
„Vor allem sollten wir unserem Feind – wer auch immer
es ist – zeigen, dass seine Einschüchterungsversuche bei uns
nicht wirken“, sagte Mario beinahe schon kämpferisch. Ar-
mins relative Ruhe hatte ihm ein wenig Sicherheit gegeben.
Er musterte Sandra mit besorgten Blicken. Sie schien
den größten Schock davongetragen zu haben. Nicht weiter
verwunderlich, wenn man bedachte, dass sie sich am läng-
sten in der Nähe des Feindes aufgehalten und sich von ihm
bedroht gefühlt hatte, wie sie jetzt schilderte: „Ich bin si-
cher, dass er mich um die Ecke bringen wollte.“ Sandra
war noch immer verstört.
„Dieser Schatten … Er ist vor mir aufgetaucht, hat dro-
hend die Arme gehoben und ist auf mich zugekommen.
Unsere Scherben haben ihn keine Sekunde lang gestört. Er
war nicht mal irritiert davon, dass hier überall Glas herum-
liegt. In der Aufregung ist mir nichts anderes eingefallen,
als zu schreien. Er hat mir was zugeworfen, da war er nur
mehr ein, zwei Meter von mir entfernt. Ich hab mich dran
gestochen und im ersten Moment gedacht, es ist eine
Schlange, die mich gebissen hat. Wahrscheinlich hab ich
wegen Castera und den gestohlenen Schlangen daran ge-
dacht. Aber Schlangen fühlen sich kalt an. Diese Dinger
nicht. Da hab ich erst gemerkt, dass es wieder diese ver-
dammten Jutepuppen waren.“
„Dieser Scheißkerl hat jeden Schritt geplant. Sogar den
Stromkreis hat er unterbrochen, damit man ihn nicht so
leicht erkennt“, bemerkte Mario. „Wo ist der Sicherungs-
kasten untergebracht, Onkel Otto? Vielleicht kann ich den
Schaden beheben.“
95
„Draußen, am Ende des Gangs auf der rechten Seite!“
Otto hatte kaum fertig gesprochen, da war Mario auch
schon auf dem Gang. Seine Augen hatten sich inzwischen
an die Dunkelheit gewöhnt.
„Zu dumm, dass wir ihn nicht festhalten konnten“, hü-
stelte Sandra. Sie war noch immer leichenblass. Aus ihrem
Gesicht war jede Farbe gewichen.
„Ich hab’s vermasselt“, ärgerte sich Armin. „Ich hab ihn
schon fast gehabt, dann bin ich hingefallen. Diese ganzen
Pflanzen hier sind aber auch wirklich lästig.“
Mit einem leisen Summen begannen die Leuchtstoffröh-
ren zu flackern und das Licht ging wieder an.
„Der Typ hat ganze Arbeit geleistet“, sagte Mario, als er
vom Sicherungskasten zurückkam. „Er ist auf Nummer
sicher gegangen und hat nicht die Sicherungen herausged-
reht, sondern gleich die Kabel durchtrennt. Ich hab sie not-
dürftig zusammengeklemmt – soweit das mit meiner Aus-
rüstung möglich war.“
„Sieh einer an“, sagte Armin. „Unser nächtlicher Besu-
cher kennt sich hier offenbar bestens aus.“
Otto war inzwischen in die Küche geeilt und hatte Kaf-
fee gemacht. Die SAM-Freunde folgten ihm.
„Du meinst also, dass nur jemand als Eindringling in
Frage kommt, der schon öfter hier war – oder überhaupt
hier aus und ein geht?“, fragte Mario.
„Ja“, erwiderte Armin. „Anders kann ich mir nicht erklären,
dass wir ihn nicht früher bemerkt haben. Hinter diesen Ma-
chenschaften steckt jemand, der sich im Labor gut auskennt.“
„Ich frage mich, weshalb Aristide und Doktor Mella die
Ereignisse so genau vorhersagen konnten“, gab Mario
nachdenklich zurück.
96
„Für mich ist es eine klare Sache: Das Auftauchen der
Puppen und die Anfälle hängen zusammen! Hinter beidem
steckt ein Geheimnis. Und das wiederum hat mit der For-
schungsarbeit von Onkel Otto zu tun, wahrscheinlich mit
den restlichen Aufzeichnungen von Wade Davis, die er
entdeckt hat. Vielleicht hat jemand davon Wind bekommen
und sie sind einen Haufen Geld wert. Geld, das in einem
armen Land wie Haiti wohl jeder gebrauchen kann“, flü-
sterte Armin seinem Freund zu.
„Außerdem könnte es sein, dass der Staat Anspruch auf
die Unterlagen erhebt, wenn sie auf der Insel entdeckt
wurden“, ergänzte Mario. „Ein Spion, der sie im Auftrag
der Regierung an sich bringen will?“
„Gut möglich. Es könnte auch sein, dass dein Onkel in
irgendeiner Weise erpresst wird, weil er die Bücher gefun-
den hat. Es gibt so viele Möglichkeiten“, ließ Armin seinen
Gedanken freien Lauf. Als geübter Detektiv zog er mehrere
Varianten in Betracht.
„Doch nicht Castera?“, sagte Mario.
„Denk an den Streit, den wir belauscht haben. Dabei
ging es eindeutig um Geld.“
„Hm … Der Fall wird immer verworrener, scheint mir“,
sagte Mario trocken. „Vielleicht hätten wir schon längst die
Polizei einschalten sollen, was meinst du? Wäre das klüger
gewesen?“
„Das wäre sinnlos. Die haben doch selber die Hosen
voll, wenn es um diesen faulen Zauber, dieses Voodoo,
geht. Denk doch an den alten Mann im Café am Marché de
Fer, der Sandra den Talisman gegeben hat. Der Aberglaube
ist hier so weit verbreitet, dass er sicher auch die Polizei
nicht verschont.“
97
„Wahrscheinlich hast du Recht und wir sind wirklich
ganz auf uns allein gestellt – wie in Tibet, da war’s ja auch
nicht anders.“*
„Kaffee ist fertig!“, sagte Onkel Otto, tropfte ein bis-
schen von seiner Medizin in Sandras Tasse und nahm einen
Schluck von seinem Kaffee. „Das hilft uns eine Weile.
Trink, Sandra.“
Sandra hatte sich noch immer nicht erholt.
Nachdenklich saßen die vier um den Tisch.
„Was sollen wir jetzt tun?“, brach Armin das Schwei-
gen. Ihm war klar, dass es jetzt auch schon bei seiner De-
tektivfreundin begonnen hatte, und er war sich nicht sicher,
ob ihnen noch genug Zeit bleiben würde, um den Kopf aus
der Schlinge zu ziehen.
Sandra hob den Blick. „Wir sollten unbedingt noch
einmal mit Aristide sprechen. Ich finde, er kennt sich ein
bisschen zu gut mit Voodoo aus – auch wenn er Journalist
ist. Und er hat uns sicher nicht verfolgt, weil er uns warnen
wollte. Das hat er doch vorher schon getan“, krächzte sie.
„Mich wundert nur, dass mit den Anschlägen auf Onkel
Otto nie eine Forderung verbunden war“, bemerkte Armin.
„Wahrscheinlich will der Unbekannte unsere Seelen,
uns selbst, unser Ich“, sagt Sandra.
„Und du bist dir sicher, dass es niemanden gibt, der ei-
nen Grund hätte, dieses gefährliche Spiel mit uns zu trei-
ben?“, wandte sich Mario nochmals an seinen Onkel.
Otto seufzte auf.
„Tut mir wirklich Leid. Aber glaubt mir, mir fällt nie-
mand Bestimmter ein. Die einzigen, mit denen ich hier
* siehe CodeName SAM, Geheimfall 2, „Der Gral des Todes-
mönchs”
98
verkehre, sind Doktor Ramón Mella, meine Ferialgehilfen
und Raouls Vater.“
„Und Aristide Bazile? Könnte der einen Grund haben,
dir das anzutun?“
„Er hat vor einiger Zeit eine Kurzreportage über mich
und meine Arbeit gebracht, ansonsten kenne ich ihn nicht
genauer. Aber sie sind alle in Ordnung, bis eben auf die
kleinen Meinungsverschiedenheiten, die das Berufsleben
so mit sich bringt. Nicht der Rede wert.“
„Welche Meinungsverschiedenheiten?“, fragte Armin.
„Nichts von Bedeutung. Um mein erstes Buch über
Voodoo ein wenig bekannt zu machen, bat ich Doktor Mel-
la und Doktor Preval um einen Gastkommentar und Aris-
tide um eine Kolumne in seiner Zeitung. Ich glaube, Aris-
tide hätte sich eine Bezahlung erhofft. Er ist der Ansicht,
dass er das Werk groß gemacht hat. Ich habe es als Freund-
schaftsdienst angesehen“, erklärte Otto und trank seinen
Kaffee.
„Wer weiß schon, was für andere als Motiv ausreicht?“,
sagte Mario.
„Grund genug, ihm noch einmal auf den Zahn zu füh-
len“, sagte Sandra entschlossen. „Falls er der Drahtzieher
ist, wird er eine Überraschung erleben, die er so schnell
nicht vergisst!“
„Oder wir“, sagte Armin nachdenklich und zog langsam
die Nadel aus seiner Puppe. Er hätte seine Freunde und
Onkel Otto gern aufgemuntert, aber ihm fiel beim besten
Willen nichts Positives ein, und von seiner dunklen Ah-
nung, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand, sagte er
lieber nichts.
Er sollte Recht behalten, wie schon so oft …
99
23 Die Zeit wird knapp
Sandra war zum Telefon geeilt, um Aristide anzurufen. Sie
hoffte inständig, dass er um diese Zeit schon in seinem Bü-
ro war.
Es tagte inzwischen. Die Nacht war über den Aufregun-
gen wie im Flug verstrichen.
Während sie wählte, klemmte sie den Hörer zwischen
Ohr und Schulter. Ungeduldig horchte sie auf das Knacken
in der Leitung. Die Telefonleitungen auf Haiti sind auch
nicht gerade von der stabilen Sorte, dachte sie.
Das endlose Warten machte sie fast wahnsinnig. Sie
fühlte, dass etwas Gefährliches mit ihr geschah. Die
Schmerzen wurden stärker, ihr Körper schwächer. Wich
das Leben aus ihr, wurde sie ein Zombie? Sie schüttelte
sich und versuchte den Gedanken als lächerlich abzutun.
„Hallo!“, rief sie ungeduldig in den Hörer. Die Person
am anderen Ende der Leitung schien sie nicht zu hören.
„Hallo … Ist da jemand?“, wiederholte sie.
„Was wollen Sie denn um diese Zeit?“, meldete sich ei-
ne unfreundliche Stimme.
„Ich warte jetzt schon eine Viertelstunde!“, beschwerte
sich Sandra.
„Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin eigentlich nicht
für dieses Telefon zuständig. Der Portier macht gerade sei-
100
nen Rundgang“, entgegnete die Frau. Sie war jetzt etwas
freundlicher. „Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Ich muss unbedingt mit Aristide Bazile sprechen. Es ist
sehr dringend“, krächzte Sandra.
„Aristide?“, wiederholte die Frau. „Einen Moment bitte,
ich muss nachsehen, ob er heute überhaupt kommt. Soweit
ich weiß, ist er unterwegs – er muss irgendwelche Recher-
chen machen.“
Eine Minute später meldete sie sich wieder: „Ich hatte
Recht. Aristide ist den ganzen Tag außer Haus.“
„Vielleicht ist er noch in seinem Büro …“
„Okay, warten Sie bitte einen Augenblick. Ich versuche
Sie zu verbinden.“
Noch ehe Sandra etwas erwidern konnte, hörte sie wie-
der das Knacken.
Während sie mit zusammengepressten Lippen vor sich
hin summte, um sich zu beruhigen, strich sie geistesabwe-
send mit dem Daumen über die Fingerkuppen der rechten
Hand. Ein brennender Schmerz durchfuhr sie. Sandra starr-
te auf ihre Hand und erschrak.
Die Stichwunde, die sie sich an der Nadel zugezogen
hatte, sah böse aus. Onkel Ottos Desinfektionstinktur hatte
nicht geholfen.
Ganz im Gegenteil. Um den Einstich herum war der
Finger rot und geschwollen, und der kleinste Druck darauf
verursachte schlimme Schmerzen.
Sandra ließ den Hörer sinken und kramte einen kleinen
Spiegel aus ihrer Detektivausrüstung. Sie erschrak, als sie
sich darin betrachtete. Ihr Gesicht war noch farbloser ge-
worden. Ihre Augen schienen sich in die Höhlen zurückzu-
ziehen und ihre Lippen waren geschwollen. Sie sah gräss-
101
lich aus – beinahe schon wie ein Zombie.
Ich habe nicht mehr viel Zeit, dachte sie und im selben
Augenblick wurde ihr speiübel und schwindlig.
Zu allem Überfluss begannen sie bohrende Kopf-
schmerzen zu quälen. Lange würde sie nicht mehr durch-
halten, das war ihr klar.
Da meldete sich die Stimme wieder.
Sandra verzog das Gesicht und zwang sich zuzuhören.
Es fiel ihr immer schwerer, sich zu konzentrieren.
„Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Aristide ist
nicht in seinem Büro. Er ist sicher von daheim zu seinen
Recherchen aufgebrochen.“
Sandra biss die Zähne zusammen. Sie durfte jetzt auf
keinen Fall schlappmachen. Das würde ihr Ende bedeuten!
Vielleicht hatte sie einfach zu wenig Jod aufgetragen. Spä-
ter würde sie für die Behandlung ihrer Wunde Zeit finden.
Wenn es denn ein Später für sie geben sollte …
Doch jetzt hatte sie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen.
Armin und Mario hatten sich zu Castera aufgemacht, und
bis sie zurück waren, musste sie mit Aristide gesprochen
haben.
„Vielen Dank“, krächzte sie und legte auf. Sie murmel-
te: „Faule Zicke. Die ist doch bloß zu bequem, um eine
Verbindung herzustellen. Die kann jemand anderen täu-
schen, aber nicht mich.“
Fünfzehn Minuten später sprang Sandra aus dem Taxi
und eilte ins Redaktionsgebäude von Le Nouvelliste. So
schnell sie konnte, ging sie die große Treppe hinauf und
den Korridor entlang zu Aristides Büro.
Sie klopfte. Niemand antwortete, niemand bat sie he-
rein. Vielleicht war er ja doch nicht da?
102
„Aristide!“, rief sie. „Ich muss dringend mit Ihnen re-
den. Bitte – ich brauche Ihre Hilfe.“
Noch immer keine Antwort.
„Merkwürdig“, murmelte Sandra und drückte langsam
die Türklinke hinunter. Zu ihrer Verwunderung war Aristi-
des Büro nicht abgeschlossen, Die SAM-Detektivin trat
vorsichtig ein und sagte zu sich: „Das ist ziemlich leicht-
sinnig.“ Doch das hatte sie sich bei ihren SAM-Aktionen
schon öfter gesagt.
Sie wandte sich nach rechts und sah, dass das Fenster
offen stand. Das Büro war leer. Der Luftzug wehte verein-
zelte Blätter durch den Raum; der Inhalt der Schreibtisch-
schubladen war über den Boden verstreut.
„Was um alles in der Welt ist denn hier passiert?“, rief
Sandra. „Aristide!“
Sie blickte sich um und sah, dass das gesamte Büro
verwüstet war.
Behutsam ging sie zur kleinen Kochnische. Die Kaffee-
tassen waren unberührt. Aristide hatte sein Büro heute
morgen also noch gar nicht betreten!
Sie musterte das Durcheinander, bückte sich und wisch-
te mit ihrer schmerzenden Hand einige Blätter zur Seite.
Die Entdeckung, die sie machte, ließ sie betroffen zu-
rückweichen. Jemand hatte mit roter Kreide das Loco Mi-
roir auf den Fußboden gezeichnet!
Ihr Blick wanderte langsam aufwärts zum Fensterbrett.
Was sie dort sah, ließ sie erstarren.
Eine Puppe mit Aristides Gesicht blickte sie durch einen
dünnen Vorhang an.
Was war bloß mit Aristide geschehen? Sie fand keinen
Hinweis, keine Spur.
103
Sandra kam nicht mehr dazu, weiter über Aristides Ver-
schwinden nachzudenken, denn plötzlich hörte sie Schritte.
Die SAM-Detektivin wirbelte herum und blickte dem
Angreifer in die Augen, die wilde Entschlossenheit aus-
drückten.
„Raoul!“, kreischte sie.
Wilder Hass sprach aus Raouls weit geöffneten Augen.
Er war totenbleich, die Adern an seinem Hals traten dick
wie Fahrradschläuche hervor. Während er ungelenk auf
Sandra zukam, umklammerten seine Hände einen hölzer-
nen Baseballschläger.
Der Zombie holte zum Schlag aus …
104
105
24 Ein schwarzer Brief
Sandras Herz raste. Es schien, als wollte es ihr jeden Mo-
ment aus der Brust springen.
Sie öffnete die Lippen zu einem lautlosen Schrei, als der
grässlich vernarbte Zombie plötzlich auf sie zustürmte und
die Keule hob. Wenn er sie damit traf, war es aus. Doch die
Keule landete ein ganzes Stück neben ihr auf dem Boden.
Armin und Mario hatten Raoul von hinten einen kräfti-
gen Stoß gegeben.
Sandra rang nach Luft. Sie war furchtbar erschrocken.
Außerdem litt sie inzwischen unter denselben Symptomen
wie Onkel Otto.
Raoul torkelte an Sandra vorbei und stürzte über den
Schreibtischsessel.
„Bist du okay?“, fragte Armin Sandra, ohne den Angrei-
fer auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
„Da sind wir ja gerade noch rechtzeitig gekommen.“
„Die Schmerzen und Atembeschwerden werden immer
stärker“, sagte Sandra keuchend. „Aristide war heute noch
nicht in seinem Büro. Er ist verschwunden. Niemand konn-
te mir sagen, wo er sich aufhält.“
Raoul rappelte sich langsam hoch. Wie eine Marionette,
die aus heiterem Himmel zu Leben erwacht, stolperte er
auf die SAM-Freunde zu.
106
Mario reagierte sofort und trat ihm den Baseballschläger
aus der Hand. Als er sich auf ihn stürzte und ihn zu Boden
riss, merkte er verwundert, dass sich Raoul plötzlich nicht
mehr zur Wehr setzte. Auch der hasserfüllte Ausdruck war
aus seinem Gesicht verschwunden. Seine Züge zeigten
stattdessen Schmerz und Pein.
Armin griff sich den Baseballschläger, um keine bösen
Überraschungen zu erleben. Angewidert musterte er die
Waffe, auf deren Knauf das Loco Miroir prangte. Die Keu-
le selbst zierte eine Feuer speiende Schlange.
„Das Zeichen des gnadenlosen Voodoo-Gottes Dambal-
lah“, murmelte er.
Mario und Armin hievten Raoul auf einen Sessel. Der
verstört dreinblickende Bursche saß auf der einen Seite des
Schreibtisches, während sich die SAM-Freunde zur Si-
cherheit auf der anderen niederließen.
Armin registrierte mit wachsender Unruhe, dass es
Sandra von Minute zu Minute schlechter ging, und begann
die Befragung.
„Raoul, hörst du mich? Kannst du dich erinnern, wie du
das Krankenhaus verlassen hast?“, fragte er Onkel Ottos
ehemaligen Ferialpraktikanten.
Raoul hob den Kopf, starrte die drei Freunde ausdruckslos
an, als sähe er sie zum ersten Mal, und versuchte offenbar
einen klaren Gedanken zu fassen. Aus seinen blutunterlaufe-
nen Augen sprach die nackte Angst. Er schüttelte langsam
den Kopf. „Ich … kann mich nur daran erinnern, dass … dass
ich dort war“, stammelte er. „Er war … plötzlich da und …“
„Und was?“, fragte Mario ungeduldig.
„… und er wollte mich … holen, von meiner Seele Be-
sitz ergreifen …“
107
Raouls Pupillen hatten sich geweitet und sein Mund
stand jetzt offen, doch er sprach nicht weiter. Seine Lippen
zitterten.
„Warum bist du hierher gekommen?“, fragte Mario
drängend.
Raoul blieb einen Moment stumm, dann presste er her-
vor: „Ich muss ihm gehorchen, sonst … sterbe ich für im-
mer. Er war es, der mich … ins Leben zurückgeholt hat.“
„Wer ist er?“, wollte Sandra wissen, die aus dem Husten
und Keuchen nicht mehr heraus kam. Ihre Glieder
schmerzten und ihr Körper fühlte sich immer schwerer an.
„Er ist unser aller Meister. Der Herrscher über die bei-
den Welten, die der Lebenden und die der Toten“, erwider-
te Raoul ehrfürchtig.
„Wo ist Aristide?“
Raoul wandte sich zu Mario und starrte ihn an. „Er hat
verloren und Selbstmord begangen“, erklärte er so gleich-
gültig, als läse er das Fernsehprogramm vor. „Er wird bald
einer von uns sein, so wie ihr und Doktor Klein auch.“
Raouls Muskeln begannen unkontrolliert zu zucken. Es
schien, als wehre er sich gegen eine unsichtbare Kraft. Er
begann wild um sich zu schlagen und fegte den Schreib-
tisch leer. Sein Atem ging stoßweise; die Adern an seinen
Schläfen pochten. Dann löste sich der Krampf und der ar-
me Kerl sank bewusstlos zu Boden.
„Das sieht übel aus. Ich weiß zwar nicht, was genau mit
ihm los ist, aber er muss auf jeden Fall behandelt werden“,
sagte Mario.
Als ein Luftzug das Fenster hinter ihr zufallen ließ,
zuckte Sandra zusammen. Ihre Kopfschmerzen waren jetzt
schon beinahe unerträglich. Erschöpft rieb sie sich die Au-
108
gen, obwohl das das Pochen in ihrem Schädel natürlich
auch nicht lindern konnte.
„Und du brauchst auch schleunigst Hilfe, soweit ich se-
he“, sagte Armin besorgt.
„Lass nur. Es geht schon. Nur die Kopfschmerzen sind
schlimm“, antwortete Sandra tapfer, doch ihr war schwind-
lig, und als sie um sich griff, um sich festzuhalten, warf sie
einen Kaktus zu Boden, der auf dem Fensterbrett gestanden
hatte. Mit einem Klirren zerbrach der Topf.
Marios fürsorglicher Blick ruhte auf seiner Freundin.
„Wann haben diese Kopfschmerzen angefangen?“, er-
kundigte er sich.
„Ich sagte doch, es geht schon“, wiederholte sie und
versuchte sich zusammenzunehmen.
„Zeig mir bitte mal deine Hand“, sagte Mario, doch da
fiel sein Blick auf einen schwarzen Briefumschlag, der aus
dem Erdhaufen auf dem Boden ragte.
Er hob das Kuvert auf und musterte es. Es war weder
mit einem Absender noch mit einer Adresse versehen. Ma-
rio öffnete es und zog ein paar Blätter heraus.
Nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, wandte
er sich an seine Freunde. Die Aufregung war ihm anzuse-
hen. Er musste eine wichtige Entdeckung gemacht haben.
„Leute, ich hab euch was Interessantes zu zeigen – was
sehr Interessantes!“
109
25 Aristides geheime Aufzeichnungen
Jetzt reiß dich zusammen, du bist doch kein kleines Kind,
ermahnte sich Sandra. Doch der Schmerz in ihrer Hand
ließ nicht nach, im Gegenteil, er wurde immer schlimmer.
Die SAM-Detektivin musste ihre ganze Willenskraft auf-
wenden, um nicht zu weinen und sich darauf zu konzent-
rieren, was Mario sagte.
„Das sind geheime Unterlagen von Aristide“, sagte Ma-
rio. „Und sie sind an Onkel Otto adressiert.“
„Was steht da?“, fragte Armin voller Ungeduld.
Mario begann vorzulesen:
Verehrter Doktor Klein!
Wenn Sie diese Zeilen zu lesen bekommen, bin ich be-
reits ein Zombie und Sie werden der Letzte sein, der das
Geheimnis des tödlichen Voodoo-Zaubers lüften kann. Als
stiller Bewunderer ihrer Forschungsarbeit vermache ich
Ihnen hiermit meine eigenen Recherche-Ergebnisse – in
der Hoffnung, dass Sie damit die Arbeit von Wade Davis
noch rechtzeitig vollenden und den furchtbaren Grausam-
keiten ein Ende setzen können.
„Aristide hat selbst Nachforschungen angestellt!“, entfuhr
es Armin.
„Hört nur, was er rausgefunden hat!“ Mario las eilig
weiter.
110
„1930
unternahm
der
französische
Anthropologe
Dr. Georges de Rouquet eine Forschungsreise nach Haiti.
Er freundete sich bald mit einem Landbesitzer an, der ihm
seltsame Wesen zeigte, die er als echte Zombies bezeichne-
te. De Rouquet durfte die ‚Untoten Toten‘ nicht berühren,
sondern sie nur aus nächster Nähe betrachten. In seinem
Tagebuch hielt er fest: ‚Gegen Abend trafen wir auf eine
Gruppe von vier männlichen Gestalten, die von einem nahe
gelegenen Baumwollfeld kamen. Sie hatten sehr hart gear-
beitet. Mir fiel ihr seltsamer Gang auf der ganz anders war
als das gelenkige Dahinschreiten der anderen Einheimi-
schen. Der Aufseher, der bei ihnen war, ließ sie anhalten,
sodass ich sie einige Minuten lang aus der Nähe betrach-
ten konnte.
Sie waren in Lumpen gekleidet, die aus Jute und Sack-
leinen bestanden. Ihre Arme hingen seitlich herunter und
baumelten in merkwürdig lebloser Manier an ihnen. Ge-
sicht und Hände schienen völlig ohne Fleisch zu sein, denn
die Haut klebte an den Knochen wie faltiges, braunes
Packpapier. Mir fiel auf, dass sie nicht schwitzten, obwohl
sie hart gearbeitet hatten und die Sonne heiß vom Himmel
brannte. Ich konnte nicht einmal annähernd schätzen, wie
alt sie waren. Vielleicht waren es junge Männer, Kinder,
vielleicht waren sie auch schon etwas älter.
Das markanteste Merkmal war aber ihr Blick. Die
glanzlosen Augen starrten geradeaus, auf kein bestimmtes
Ziel gerichtet, als wären sie blind. Sie gaben keinerlei An-
zeichen von sich, dass sie meine Anwesenheit bemerkt hat-
ten, auch nicht, als ich ganz dicht an sie herantrat. Um die
Reflexe zu testen, hielt ich einem von ihnen meine ausgest-
reckten Finger vor die Pupillen, als wollte ich sie ihm ins
111
Auge stechen. Weder blinzelte er, noch wich er zurück.
Mein erster Eindruck war, dass diese gefährlichen Krea-
turen Schwachsinnige waren, die für ihren Lebensunterhalt
arbeiten mussten. Der Landbesitzer versicherte mir jedoch,
dass es wirkliche Zombies seien, das heißt, Verstorbene,
die durch Hexerei wieder unter die Lebenden zurückgeholt
worden waren und als unbezahlte Feldarbeiter eingesetzt
wurden!‘“
„Genau wie bei Raoul – es gibt also wirklich Zombies!“,
murmelte Sandra.
„Es geht noch weiter“, sagte Mario aufgeregt.
„Nehmen Sie sich in Acht! Trinken Sie auf Haiti täglich
hoch konzentriertes Salzwasser, das schützt vor dem Zau-
ber. Der Weg zum Zombie ist vom chemischen Ge-
sichtspunkt aus ein sehr heikler und erfordert großes Kön-
nen bei der Zubereitung von speziellen Drogen und Elixie-
ren. Doch er hat es geschafft! Er kennt das Rezept des ver-
nichtenden Zombie-Elixiers! Sie finden es in seinem Büro
hinter …“
„Hinter was?“, fragte Armin gespannt.
„Hier endet der Brief leider.“ Mario zog ein Foto aus
dem Umschlag. Das Bild nahm die Freunde gefangen.
„Aristide scheint geahnt zu haben, dass hier was Merk-
würdiges vor sich geht“, sagte Sandra betroffen, als sie auf
das Farbfoto starrte.
„Er wollte uns und Onkel Otto auf seine eigene Art und
Weise helfen. Und wir haben es nicht bemerkt“, sagte Ar-
min bedauernd.
112
Auf dem Foto war eine Waldlichtung zu sehen, auf der
offenbar eine schaurige Zeremonie stattfand. In der Mitte
brannte ein Feuer. Im Vordergrund befanden sich singende
und tanzende Haitianer. Ein Voodoo-Priester hatte die Ar-
me erhoben. Im Schein des Feuers sah man auch ein be-
kanntes Gesicht.
„Doktor Mella!“, entfuhr es Mario.
„Unverkennbar mit dem schwarzen Kraushaar und der
Nickelbrille“, bestätigte Armin.
„Dann steckt er hinter den schrecklichen Selbstmord-
versuchen und den Puppen. Aber wie macht er das?“,
krächzte Sandra.
„Jetzt kennen wir unseren Feind und müssen ihn nur
noch zur Strecke bringen. Immerhin sind wir jetzt schon
einen Schritt weiter“, sagte Armin.
„Auf dem Bild sieht es so aus, als sei er grade dabei, die
Voodoo-Magie zu erlernen“, bemerkte Mario.
„Offenbar war er recht gelehrig“, sagte Armin und sah
dabei zu Raoul und Sandra, deren Gesichter sich schon
beunruhigend ähnlich sahen. „Wir müssen uns beeilen, be-
vor er uns alle zu Zombies macht!“
Der SAM-Detektiv rannte zur Kochnische und füllte
vier Gläser mit Wasser. In jedes kippte er einige Teelöffel
Kochsalz.
„Los, runter damit und dann ab zum Krankenhaus, in
Doktor Mellas Büro. Wenn wir das Rezept für das Zombie-
Elixier finden, kann uns Herr Preval vielleicht ein rettendes
Gegenmittel mischen.“
Voller Ekel tranken sie das salzige Wasser und flößten
auch Raoul etwas davon ein.
„Ich rufe Onkel Otto an und sage ihm, dass wir uns in
113
fünfzehn Minuten im Krankenhaus treffen!“, sagte Mario
und tat es, dann machten sich die tapferen Freunde auf den
Weg.
Sie ahnten, dass das ihre letzte Chance war, jetzt durfte
SAM nicht mehr der geringste Fehler unterlaufen …
114
26 Der Zauber aller Zauber
Die nahe Turmuhr schlug zur vollen Stunde, als Onkel Otto
und die Freunde vor dem Krankenhaus ankamen.
Die Portiersloge war unbesetzt, der Portier war wohl auf
seinem Rundgang. Sie traten durchs Hauptportal. Im Inne-
ren des Gebäudes war es sehr still.
Auf Zehenspitzen schlichen sie an den Krankenzimmern
vorbei und stiegen die Treppe zu Ramón Mellas Büro hinauf.
Die Tür war versperrt.
„Gebt mir Rückendeckung“, flüsterte Armin. Flink zog
er seinen SAM-Dietrich aus der Tasche und machte sich
am Schloss zu schaffen.
Onkel Otto, der sich kaum noch auf den Beinen halten
konnte, blickte sich nach allen Seiten um. Er sah aus, als
würde er jeden Moment umkippen.
Mit einem Klicken sprang die Tür auf. Ein triumphie-
rendes Lächeln huschte über Armins Gesicht, dann
schlüpften sie hinein und schlossen die Tür. Erst jetzt
schalteten die SAM-Detektive ihre Taschenlampen ein.
Mario ging zum Schreibtisch und knipste die Leselampe an.
„Ich werde den Aktenschrank unter die Lupe nehmen“,
flüsterte Sandra. Sie zog die oberste Lade heraus und zuck-
te erschrocken zusammen.
„Uhh!“, entfuhr es ihr angeekelt.
115
„Was ist?“, zischte Armin, der sich an einem Bücherre-
gal in der Ecke zu schaffen machte, und wandte sich um.
Sandra hielt ihren Fund in die Höhe.
„Was um Himmels willen ist denn das?“, fragte er.
„Das ist ein abgetrennter Hahnenfuß. Er war in eine Zei-
tung eingewickelt“, erklärte Sandra.
Sie nahm die Zeitung heraus und begann zu lesen.
„Das ist Aristides Reportage über die Selbstmordversu-
che von Raoul und Samedi. Er meint, dass ein wahnsinni-
ger Voodoo-Priester sein Unwesen treibt und für die
Selbstmordversuche verantwortlich ist.“
„Das hätte er wohl besser für sich behalten“, entgegnete
Onkel Otto. „Dann wäre er vielleicht noch am Leben.
Wenn Doktor Mella wirklich das Zombie-Elixier herstellen
kann, dann wird er uns umbringen, ohne mit der Wimper
zu zucken. Er weiß, dass ich seit Jahren danach suche, um
Mördern wie ihm das Handwerk zu legen und diesem Spuk
ein Ende zu machen. Aber ich habe eben noch nicht he-
rausgefunden, wie der Zauber funktioniert.“
Inzwischen hatte Armin die Tür eines weiteren Schranks
geöffnet und leuchtete hinein.
„Was ist da drin?“, wollte Mario wissen. Sein Tonfall
verriet, das er nichts Gutes ahnte.
„Kommt selbst und seht es euch an“, erwiderte Armin.
Doch noch bevor sie den Schrank erreicht hatten, ging
die Bürotür auf und der kräftige Strahl einer Taschenlampe
traf sie.
Erschrocken wirbelten die SAM-Freunde herum und
starrten ins blendende Licht. Die zitternde Lichtquelle lag
in Aristide Baziles linker Hand. Mit der rechten Hand um-
klammerte er den Griff einer Pistole.
116
„Aristide, Sie leben? Sie … Sie erkennen uns doch?“,
hauchte Mario und richtete seine Taschenlampe auf das
Gesicht des Journalisten.
Dessen blutunterlaufene Augen reagierten nicht, das
Licht schien sie nicht zu blenden.
„Es hat keinen Sinn mehr. Ihr habt verloren, wie auch
wir verloren haben“, sagte er ausdruckslos.
Er trat mit dem Fuß gegen den Türrahmen und Castera trat
ein. Sie war stark abgemagert und ihre Augen schienen ins
Nichts zu starren. Es war erschreckend zu sehen, was in so kur-
zer Zeit aus dem blühenden jungen Mädchen geworden war.
Ohne ein Wort zu sagen, schritt sie auf SAM zu und
nahm ihnen die Taschenlampen ab.
„Wo ist Doktor Mella?“, rief Armin.
„Ihr werdet ihn noch früher zu Gesicht bekommen, als
euch lieb ist. Und dann wird er sich zum letzten Mal mit
euch befassen, das könnt ihr mir glauben.“
„Er ist der Verräter, der euch zu Zombies gemacht hat“,
sagte Onkel Otto mit scharfer Stimme.
„Wenn Sie uns nicht helfen, wird er auch uns noch in
Zombies verwandeln“, redete Sandra auf Aristide ein, so
gut es ihre schwindenden Kräfte erlaubten. „Wir und Herr
Preval können euch noch retten, wenn ihr uns an das Re-
zept lasst! Er könnte ein Gegenmittel herstellen.“
Aristide hob den Kopf ein Stück, behielt aber seine
feindselige Haltung bei.
Mario hakte nach. Der Journalist schien ein wenig ver-
unsichert. „Sehen Sie sich doch nur an, was er aus Ihnen
gemacht hat! Wir können Ihr Leben vielleicht noch retten!“
Aristide senkte einen Augenblick den Kopf und sah an
sich hinab.
117
Mario nutzte diesen Moment der Unachtsamkeit und
schleuderte die Tischlampe auf ihn.
Sie traf ihn am Kopf und ließ ihn gegen den Akten-
schrank taumeln, wobei er die Pistole fallen ließ.
Während sich Armin auf Castera stürzte und sie mit ei-
nem gezielten Schlag aus dem Selbstverteidigungskurs
außer Gefecht setzte, hob Mario die Waffe auf und schlug
damit Aristide in den Nacken. Der Journalist sank bewuss-
tlos zu Boden.
„Ihr seid wirklich Klasse, das muss ich schon sagen!“,
sagte Onkel Otto beeindruckt.
Armin hastete zum Schrank zurück, an dessen Rückseite
sich ein Geheimfach befand.
„Das hat Aristide in seinem Brief also gemeint: Hinter
dem Schrank!“
Er öffnete das Metalltürchen und nahm eine Akte he-
raus, auf der in großen Lettern „coup poudre – Zombie-
Elixier“ stand.
Onkel Otto entriss sie ihm und starrte mit großen Augen
darauf.
„Das Rezept für den Zauber aller Zauber. Dieses Rezept
ist der Schlüssel!“, flüsterte er ehrfürchtig.
„Schnell – wir haben nicht mehr viel Zeit. Doktor Pre-
val muss versuchen, ein Gegenmittel herzustellen, bevor es
zu spät ist. Mit seiner Hilfe kann ich die Arbeit von Wade
Davis doch noch zu Ende führen und den mörderischen
Kult entlarven. Dann ist der Zauber der Jutepuppen hof-
fentlich gebrochen!“ SAM war, als hätten sie das Tor zur
Hölle aufgestoßen.
118
119
27 Eine furchtbare Erkenntnis
Als die drei Freunde und Onkel Otto außer Atem bei Dok-
tor Prevals Apotheke ankamen, hing in der kleinen Auslage
das Schild ‚Geschlossen‘, doch die Tür stand zu ihrer Ver-
wunderung offen.
Die Holzdielen knarrten unter ihren Schritten, als sie
den Verkaufsraum betraten.
„Herr Preval!“, rief Armin sofort. „Herr Preval, kommen
Sie schnell! Sie müssen ein Gegenmittel zum Zombie-Elixier
anfertigen. Sandra geht es schon verdammt schlecht.“
Armin erhielt keine Antwort. Aus einem Nebenraum
drang leise Merengue-Musik.
Die vier sahen sich in den düsteren Räumen um.
„Herr Preval?“, fragte Mario.
Nichts rührte sich.
Vorsichtig zog er neben einem Schrank einen schwarzen
Samtvorhang zur Seite. Was er dahinter entdeckte, ließ ihn
die Augen aufreißen.
„Eine versteckte Tür!“, entfuhr es ihm.
In Sekundenschnelle waren die anderen herbeigeeilt. Sie
öffneten die Tür. Eine wackelige Holztreppe führte in einen
dunklen Keller hinab.
„Wollt ihr wirklich da runter?“, keuchte Onkel Otto, der
von Minute zu Minute schlechter aussah.
120
„Natürlich, wir brauchen ein Gegenmittel. Herr Preval
wird uns nicht gehört haben“, erwiderte Sandra mühsam.
Auch ihr ging es immer schlechter. Wenn ihr nicht bald ein
Gegenmittel zur Verfügung stünde, würde sie sterben und
als Zombie enden, daran gab es keinen Zweifel.
Sie tasteten also nach einem Lichtschalter und stiegen
die Treppe hinunter.
Der Raum war voller Dinge, die sie hier nicht erwartet
hätten. In der hinteren Ecke stand ein Aquarium mit japani-
schen Kugelfischen. In einiger Entfernung befanden sich
Behälter mit Kröten und Schlangen.
„Das sind Seeschlangen der Gattung Polychaeta und das
dort sind Zweige der Tcha-tcha-Pflanze!“, murmelte Onkel
Otto schwer atmend.
Sandra wandte sich um und erblickte eine Holztruhe.
Darauf lagen mehrere zugeschnittene Jutestücke. Daneben
Bindfaden, getrocknetes Gras, eine Schere und rund ein
Dutzend lange, dünne Nadeln, die hohl waren.
„Eine hohle Nadel, sie war also mit Zombie-Elixier ge-
füllt!“, rief Sandra erschrocken und starrte auf ihre grässli-
che Wunde.
„Ich … verstehe das alles nicht“, stotterte Onkel Otto
verstört. „Was geht hier vor?“
„Komm her und sieh dir den Inhalt der Truhe an, dann
wirst du gleich verstehen“, japste Mario und hielt den
Holzdeckel für seinen Onkel auf.
Onkel Otto ging zur Kiste und beugte sich darüber.
Ein Laut des Entsetzens drang aus seiner Kehle.
Sandra und Armin traten hinter ihn, um auch einen
Blick in die Truhe zu werfen.
„Das glaub ich einfach nicht. Seht euch das an!“ Armins
121
Stimme bebte, sein Herz schlug schneller. Er griff in die
Kiste und hob eine Schachtel heraus, in der eine Menge
bleicher Tierknochen lagen.
Die SAM-Freunde wagten kaum zu atmen. Ihnen war
klar, dass sie sich direkt in die Höhle des Löwen begeben
hatten.
„Ich hätte schwören können, dass Doktor Mella der
Zombie-Hexer ist“, sagte Mario.
In einem Glasschrank befanden sich einige Spritzen und
Fläschchen, die eine farblose Flüssigkeit enthielten und
genauso aussahen wie die Medizin, die Doktor Preval On-
kel Otto immer mitbrachte. Auf den Etiketten stand ‚coup
poudre‘.
Wahnsinnige Gedanken schossen den SAM-Detektiven
durch den Kopf. Das konnte doch nicht sein! Plötzlich füg-
ten sich ihre Ermittlungsergebnisse zu einer furchtbaren
Erkenntnis.
„Deine Medizin ist das Zombie-Elixier!“, rief Mario
aufgebracht.
Dem Geheimdetektiv schwante Fürchterliches. Wenn
das das Zombie-Elixier war, dann …
Auch Sandra und Armin hatten sofort begriffen, was das
bedeutete. Einen Moment lang wagten sie sich kaum zu
bewegen, so tief saß ihnen der Schreck in den Gliedern.
122
28 Endlich Klarheit
Armin zog zwei weitere Gegenstände aus der Holztruhe:
eine schwarze Lockenperücke und eine Nickelbrille!
„Doktor Mella und Doktor Preval sind ein und dieselbe
Person!“, rief Sandra fassungslos.
„Der skrupellose Kerl hat sich einen tollen Plan ausge-
dacht“, sagte Mario beinahe anerkennend. „Als Apotheker
verabreicht er seinen Opfern das Zombie-Elixier und als
Arzt hat er sie auch noch im Krankenhaus unter Kontrol-
le.“
„Und wenn du deine Forschungsarbeit abgeschlossen
hättest, hättest du den faulen Voodoo-Zauber entlarvt. Die
ganze Welt hätten erfahren, dass Voodoo mit Drogen und
Nervengiften arbeitet“, sagte Sandra zu Onkel Otto.
„Wir müssen das Gegenmittel finden, sonst sind wir
verloren“, sagte Onkel Otto nervös.
„Atropin ist das einzige Mittel auf der Welt, das die
Wirkung von Tetrodotoxin neutralisieren kann“, knurrte
eine tiefe Stimme hinter den SAM-Freunden.
Sie klang eiskalt.
Die düstere Gestalt von Doktor Preval füllte den Tür-
rahmen.
„Aber ich kann euch beruhigen. Ihr braucht euch darü-
ber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, denn ihr werdet
123
das Gegenmittel nicht mehr benötigen“, sagte er und lachte
niederträchtig. Der Apotheker trug einen blutroten Um-
hang, auf dessen Brust ein Loco Miroir in Weiß aufgenäht
war.
„Gott steh uns heil“, entfuhr es Onkel Otto.
Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür hinter dem Voo-
doo-Priester ins Schloss.
Er zog ein langes Messer aus dem Umhang, auf dem ei-
ne züngelnde Schlange eingraviert war. Er nahm eines der
Fläschchen mit dem Zombie-Elixier aus dem Glasschrank
und öffnete es mit seinem Furcht erregenden Messer. Dann
verteilte er den Inhalt gleichmäßig auf vier Gläser und
sprach einige Beschwörungsformeln in Kreolisch.
Die SAM-Detektive fühlten ihr Ende nahen. Die Stim-
me des ‚bokor‘ schwoll zu einem triumphierenden Sing-
sang an.
„Die Stunde der Vollendung ist gekommen … Jetzt kann
nichts mehr meinen Plan zerstören. Nicht ihr und nicht
deine schändlichen Bücher!“
Preval starrte Onkel Otto an und richtete das scharfe
Messer auf ihn.
„Welchen Plan?“, fragte Mario. Er versuchte, etwas Zeit
zu gewinnen. Preval hatte wohl das Bedürfnis zu reden,
denn er ging darauf ein.
„In Haiti war es nicht immer so wie heute“, begann er.
„Bis ins 19. Jahrhundert galt unsere Heimat als die reichste
Karibik-Kolonie, aber dann seid ihr Europäer gekommen
und habt die Bäume auf unserer schönen Insel umgeschnit-
ten, um Platz für euer Zuckerrohr zu machen. Meine Vor-
fahren mussten für die süßen Vorlieben der euren mit einer
Umweltkatastrophe und furchtbarer Verarmung bezahlen.
124
Unser Land wurde wirtschaftlich ausgebeutet, ihr habt uns
ausbluten lassen, als wir unsere Unabhängigkeit von
Frankreich mit horrenden Entschädigungszahlungen erkau-
fen mussten. Und jetzt wollt ihr uns noch das Letzte neh-
men, was uns geblieben ist: unseren Glauben, die Voodoo-
Religion. Dafür werde ich jetzt euch ausbluten lassen und
nach eurem Tod zu willigen Zombies machen, die mir Tag
und Nacht helfen, meinen Reichtum zurückzubekommen!“
In Prevals Augen standen Hass und Gier.
„Trinkt endlich!“, befahl er mit einem fiesen Grinsen.
Ratlos griffen die vier nach den Gläsern mit dem tödli-
chen Inhalt.
„Na los! Bringt es hinter euch.“
Sandra führte das Glas zittrig an die Lippen. Ihre letzten
Sekunden hatte sie sich anders vorgestellt. Da erinnerte sie
sich an den Inhalt des Glasschranks und hatte eine riskante
Idee.
Es musste einfach klappen!
125
29 Das letzte Geheimnis
Sandra schleuderte Preval das Glas mit dem Zombie-
Elixier blitzartig ins Gesicht.
Der Apotheker schlug die Hände vors Gesicht.
Im selben Augenblick stürzten sich Armin und Mario
hellwach auf ihn und rissen ihn zu Boden. Prevals Hand
griff verbissen nach dem Messer.
Sandra hastete zum Schrank, schnappte sich eine der
Spritzen, zog die Schutzhülle von der Nadel und zielte.
Otto erstarrte.
„Nein! Wenn du einen der Jungen erwischt, kannst du
ihn dadurch töten!“
Sandras Gedanken rasten. Sie hatte keine andere Wahl,
sie musste das Risiko eingehen.
Das Mädchen warf. Die Spritze flog nur wenige Mili-
meter an Marios Gesicht vorbei. Wie ein kleiner Speer
bohrte sich die Nadel durch Herrn Prevals Umhang in seine
Schulter. Ihre beiden Freunde hatten alle Mühe, den wü-
tenden Mann zu bändigen. Es trat ein, was Sandra erhofft
hatte: Das Zombie-Elixier, mit dem die Spritzen gefüllt
waren, hatte eine so hohe Konzentration, dass der Apothe-
ker augenblicklich von heftigen Atembeschwerden und
Muskelkrämpfen heimgesucht wurde. Er konnte sich nicht
länger wehren und blieb schließlich bewusstlos liegen.
126
127
Armin eilte zum Telefon und verständigte die Polizei,
während sich Onkel Otto schnellstens an die Zubereitung
des Gegengifts machte.
Eine Stunde später hatte der Spuk ein Ende. Onkel Otto,
Sandra, Aristide, Raoul und Castera hatten ihr wahres Ich
im letzten Moment zurückerhalten, bevor sie durch die
starken Gifte bleibende Organschäden davongetragen hät-
ten. Raoul würde noch für längere Zeit im Krankenhaus
bleiben müssen, schließlich hatte er sich bei seinem
Selbstmordversuch schwere Verletzungen zugezogen. Die
Polizei suchte nach weiteren Opfern Prevals und die SAM-
Detektive hatten für das Polizeiprotokoll so manche Frage
mehrmals zu beantworten, so unglaublich klang die Wahr-
heit.
„Es ist erschreckend, dass ein Vater seinen eigenen Sohn
zu einem Zombie machen will, wie das Doktor Preval bei
Raoul versucht hat“, meinte ein Polizist.
„Na ja“, gab Armin zurück, „wenn man skrupellos ge-
nug ist … Raoul hat mit Onkel Otto an der Entlarvung des
Voodoo-Zaubers gearbeitet. Er hätte die Pläne seines Vaters
zunichte gemacht.“
„Preval war klar, dass Onkel Otto ihm bald auf die Spur
kommen würde, nachdem er die restlichen Aufzeichnungen
von Wade Davis gefunden hatte. Er hätte offenbart, dass
Voodoo auf Einbildung beruht und dass die Symptome
durch Drogen hervorgerufen werden. Eine exakt bemesse-
ne Dosis Tetrodotoxin bewirkt alle Anzeichen des Todes
oder lässt die Opfer aus Angst vor Wahnbildern Selbstmord
begehen. Das Opfer ist hellwach, bei vollem Bewusstsein,
aber durch das Tetrodotoxin vollständig gelähmt. Es hört,
128
wie sein Tod verkündet wird und die Nägel in den Sarg
geschlagen werden. Dann wird es lebendig begraben und in
einer düsteren Waldzeremonie wiederbelebt. Die Kunst der
Voodoo-Zauberer besteht darin, die richtige Menge Tetro-
dotoxin zu finden, sonst stirbt das Opfer“, ergänzte Sandra
und riss sich den Talisman vom Hals. „Anders ist es mit
diesen Dingern. Wirken ausschließlich durch Einbildung,
und nicht einmal das.“
„Damit ist auch das letzte Geheimnis gelüftet“, meinte
Armin erleichtert.
„Aber wieso diese Anfälle, die Atembeschwerden und
das Herzrasen?“, fragte Onkel Otto. „Das war keine Ein-
bildung!“
„Der Kerl hat an alles gedacht. Gezielte Angstmache-
rei“, sagte Armin und zeigte ihnen eine kleine Schachtel,
die er im Glasschrank gefunden hatte. Darauf stand „Effor-
til“.
„Effortil ist ein blutdrucksteigerndes Medikament. Bei
überhöhter Dosierung treten Herzklopfen, Unruhe, Schwit-
zen, Kopfdruck und Herzmuskelbeschwerden auf. Ich habe
eine Schachtel im Büro von Doktor Mella gesehen, als wir
nach Raouls Krankenakte gesucht haben. Effortil kann in
zu hoher Dosierung zu Panikattacken und Atemnot führen,
wodurch das Blut mit zuviel Sauerstoff angereichert wird.
Das Ergebnis sind Übelkeit, Ohnmacht und Schwindelge-
fühle.“
„Also genau die Zustände, die Onkel Otto die ganze
Zeit geplagt haben“, sagte Mario. „Und zu jeder Dosis eine
dieser Voodoo-Puppen, und schon ist die schwarze Zaube-
rei perfekt.“
„Aber wie hat es Preval geschafft, dass das Effortil ge-
129
nau dann seine Wirkung entfaltete, wenn Doktor Klein eine
dieser Puppen erhielt?“, wollte ein Polizeibeamter wissen.
„Preval hat die Tabletten einfach zu einem Pulver zer-
rieben und ins Zombie-Elixier gemischt“, erklärte Sandra.
„Wenn Onkel Otto eine Puppe bekam und sich darüber
aufregte, nahm er immer etwas von der ‚Medizin‘ ein, die
Preval ihm gegeben hatte – sie sollte ihn beruhigen, doch
in Wahrheit tat sie das Gegenteil.“
„Aber der eigentliche Wirkstoff im Zombie-Elixier ist
das Tetrodotoxin, eine Substanz, die aus dem weiblichen
Kugelfisch gewonnen wird. Sie ist als Gift, das unempfind-
lich gegen Schmerz macht, fast 200000 Mal wirksamer als
Kokain. Als Apotheker hatte Preval also Zutritt zum Labor,
konnte Onkel Ottos Vertrauen missbrauchen, sein Teufels-
zeug an den Mann bringen und die Puppen deponieren.“
„Ich muss sagen, einfach genial, wie ihr den Fall gelöst
habt. Das war das Werk von Meisterdetektiven“, sagte der
Revierleiter, als er mit Aristide Bazile den Raum betrat.
„Vielleicht sollten wir euch einen Job bei der Polizei von
Port-au-Prince anbieten.“
„Danke, ich glaube, darauf verzichten wir lieber“, erwi-
derte Sandra impulsiv. „Ich habe von Voodoo, Magie und
Zauberei im Moment die Nase voll. Schließlich war ich auf
dem besten Weg, ein Zombie zu werden, eine lebendige
Tote. Das war nicht gerade eine angenehme Erfahrung.“
„Auf jeden Fall ist euch Haiti zu Dank verpflichtet. Ihr
habt einem skrupellosen Gauner das Handwerk gelegt und
das Geheimnis der Voodoo-Priester gelüftet. Ihr habt vielen
Menschen das Leben gerettet“, sagte der Revierleiter mit
Nachdruck.
Aristide trat zu den SAM-Freunden und schüttelte ihnen
130
die Hand. „Auch ich danke euch aus tiefstem Herzen. Ohne
euch wäre ich jetzt ein Zombie. Euer Abenteuer wird in
den nächsten Tagen die Titelseite von Le Nouvelliste füllen,
wenn ihr gestattet.“
„Aber klar doch“, grinsten die drei Freunde „Ich habe
eine Spitzenstory, um die mich alle Kollegen beneiden
werden, und Doktor Klein wird die Sache wissenschaftlich
bearbeiten, nicht wahr?“
„Ja, ich werde sicher ein Buch darüber schreiben. Das
wird eine Sensation, das kann ich euch sagen! Aber jetzt
will ich erst mal nach Europa zurück. Haiti, das ist nicht
meine Welt, so schön es hier auch ist.“
„Da schließe ich mich an“, sagte Sandra.
„Gebt bloß Acht, dass euch Preval nicht aus dem Knast
abhaut, wenn er wieder zu sich kommt“, scherzte Mario,
während sie sich von Castera und René verabschiedeten,
um das Flugzeug nicht zu versäumen. Auf der Straße war-
tete bereits ein Tap-Tap, das sie zum Flughafen bringen
sollte.
„Ich hoffe, ihr habt jetzt noch ein paar ruhige Tage. Es
war toll, euch kennen zu lernen. Und danke für alles!“, rief
Castera ihnen nach.
„Was die nächsten Ferien wohl bringen werden?“, fragte
sich Sandra, als ahnte sie, dass ihnen schon bald ein Ver-
brechersyndikat auf den Fersen wäre …*
* siehe CodeName SAM, Geheimfall 4, „Das Rätsel der lebendi-
gen Orakelknochen“
131
132
Heute gehört Haiti, die Heimat der
Voodoo-Magie, zu den ärmsten Staaten der
Welt, obwohl es bis ins 19. Jahrhundert als
reichste Karibik-Kolonie galt. Seine Hauptstadt Port-au-
Prince verdankt ihren noblen Namen der Prince, dem
ersten französischen Schiff, das um 1700 in der Bucht von
Gonave vor Anker ging.
Christoph Kolumbus kam bereits 1492 nach Haiti. Heute
kann man den vier Meter hohen Anker seines Flaggschiffes
Santa Maria im Musée du Panthéon National Haitien
bestaunen. Es lief vor Cap Haitien auf ein
Riff auf. Aus seinen Planken entstand zu
Weihnachten die erste Siedlung der
Neuen Welt, La Navidad. Außerdem zeigt
das Museum die Plantagenglocke, mit der
1793 das Ende der Sklaverei eingeläutet
wurde. Die Sklaven aus Afrika waren es
auch, die die Voodoo-Religion nach Haiti
brachten. Sie war und ist für viele
Haitianer der einzige Hoffnungsschimmer
in der Armut. Noch heute ist die Wallfahrt
zum 30 Meter hohen Wasserfall von Saut
d’Eau ein religiöser Höhepunkt, den sich
viele Pilger nicht entgehen lassen.
Bis in die Gegenwart hinein haben
Herrscher den Voodoo-Glauben für ihre
Zwecke missbraucht, zum Beispiel der
Diktator François Duvalier, der sich zum
Präsidenten auf Lebenszeit ernannte und
seine Macht mit einem Heer von Zombies
sicherte.
Er betrat am 6. Dezember 1492 als erster
133
Europäer den Boden von Hispaniola (= Haiti und
Dominikanische Republik). Bereits als 14-Jähriger fuhr der
im
italienischen
Genua
geborene Abenteurer
als
Schiffsjunge zur See. Sein Traum war es, die Ostküste
Asiens durch eine Fahrt nach Westen zu erreichen. Nach
vielen Rückschlägen konnte er Isabella von Kastilien für
sein Vorhaben gewinnen.
Mit drei Schiffen und 100 Mann stach er am 3. August
1492 in See und steuerte nach Westen, wo er am 12. Okto-
ber Land sichtete. Er hatte die heutige Watling-Insel der
Bahama-Gruppe erreicht, die er San Salvador taufte. In
weiterer Folge ent-
deckte er Kuba und
schließlich Haiti. Mit
Ehren
überhäuft
brach er 1493 mit 17
Schiffen und 1500
Mann zu einer zwei-
ten Reise auf, auf der
er Jamaika, Puerto
Rico und die Kleinen
Antillen
entdeckte.
Erst auf der dritten
Reise
(1498-1500)
erreichte er bei Trini-
dad das amerikani-
sche Festland und
hielt es für einen
Ausläufer des asiati-
schen Kontinents. Von seiner vierten Reise kehrte der be-
rühmteste aller Entdecker krank nach Spanien zurück, wo
er am 21. Mai 1506 in Valladolid starb.
134
135
Zu seiner Herstellung benötigt man zunächst einen
„Donnerstein“, einen Felsbrocken, der ein Jahr lang
vergraben sein muss. Dazu kommen neben einem
Sortiment an zerriebenen Knochen zwei Kugelfische, von
denen einer ein ‚crapaud de mer‘, eine Meereskröte, sein
muss, dann eine Seeschlange der Gattung Polychaeta, ein
Zweig der Tcha-tcha-Pflanze, Pflanzenöl, ein halbes
Dutzend Juckerbsen, zwei blaue Eidechsen, eine große
Kröte, die so genannte Bufo marinus (Bufotenin wirkt wie
Tetrodotoxin), und eine Mischung aus Taranteln, weißen
Laubfröschen und verschiedene Insekten. Zunächst wird
die Seeschlange an das Bein des Bufo marinus geknotet.
Anschließend steckt man beide zusammen in ein Gefäß
und vergräbt sie. Die Kröte soll „vor Wut sterben“, was
angeblich die Wirkung des Gifts verstärkt, das sie in das
Gefäß absondert. Man darf während der Zubereitung mit
keiner der Zutaten in Berührung kommen, da einige davon
durch die Haut aufgenommen werden können und in
konzentrierter Form tödlich sind.
Der Voodoo-Priester legt einen Totenschädel mit dem
Donnerstein und anderen Zutaten in ein Feuer, bis sich der
Knochen schwarz färbt. Dann zermahlt er die pflanzlichen
Bestandteile samt den Insekten und mengt Knochenpulver
hinzu, das er vor dem Rösten des Schädels abgerieben hat.
Danach wird die Mixtur zusammen mit dem Schädel, dem
Donnerstein und dem von den Kugelfischen abgesonderten
Giften zu einer Tinktur vermengt. Anschließend wird die
Mischung drei Tage lang in einem vergrabenen Sarg
aufbewahrt. Das gefährliche Zombie-
Elixier ist fertig und die Voodoo-Puppen
sind einsatzbereit.
In der richtigen Dosierung führt das
136
Elixier zu Symptomen, die den Anschein erwecken, dass
das Opfer stirbt. Die Betroffenen fallen in einen
tranceähnlichen Zustand, ihre Atmung ist am Ende kaum
noch wahrnehmbar.
Der Voodoo-Priester belebt das Opfer in einer
Zeremonie auf einer Waldlichtung wieder. Der ‚bokor‘
gräbt das Opfer aus und verwandelt es in einen Untoten
Toten, einen Zombie, indem er wild auf den Körper
einschlägt. Das ist wichtig, da der Zombie durch die
Schläge ruhig gestellt wird, während die Wirkung des
Bufotenins und des Tetrodotoxins allmählich nachlässt.
Nun wird eine Paste verabreicht, die Atropin (das
Gegenmittel zu Tetrodotoxin) enthält. Durch diesen neuen
chemischen Mix wird der Zombie aus seiner mit
Muskelkrämpfen einhergehenden Geistesstörung befreit,
um gleich im Anschluss in ein dauerndes psychotisches
Delirium zu verfallen, ähnlich
einem starken Rauschgift-
Trip.
Jetzt
ist
der
willenlose
Zombie fertig, der auf Haiti
zu Feldarbeit und Ähnlichem
herangezogen wurde – und
vielleicht noch wird. Der
Zombie kann essen und
trinken, aber nicht sprechen
und
seine
Umgebung
wahrnehmen.
137
Ein weiterer wichtiger Aspekt des
Voodoo-Kultes ist die Kunst,
Opfer durch Suggestion aus der
Ferne zu verletzen oder gar zu
töten. Dies ist die Kunst des ‚mojo‘ (ein Fluch, der anderen
Schaden zufügen soll).
Bei der traditionellen Variante steckt der Voodoo-Priester
Nadeln durch Jutepuppen, die dem Opfer gleichen. Das hat
scheußliche Schmerzen und sogar den Tod zur Folge. Oft
kommen dabei Medikamente und halluzinogene Drogen
zum Einsatz, wodurch das Opfer von den übrigen
Stammesmitgliedern für verflucht gehalten wird. Sie
wenden sich aus Angst gegen diesen Menschen, der
deshalb in Depression verfällt. Der Ethnobiologe Wade
Davis hat herausgefunden, dass das Opfer für die
Gemeinde tatsächlich zur Bedrohung wird, sodass ihre
Mitglieder
sich
verschwören,
um
seinen
Tod
herbeizuführen. Diese Verschwörung ruft beim Opfer einen
Selbstaufgabekomplex
hervor,
es
verliert
seinen
Lebenswillen aufgrund von Aussichtslosigkeit. Weil die
Einbildungskraft stark von der Glaubensbereitschaft
abhängt, schüchtern Voodoo-Priester ihre Opfer mithilfe
von Medikamenten ein.
Wenn die Gemeinde das Opfer dann behandelt, als wäre es
bereits gestorben, hat die mit dem Bann belegte Person
Schwierigkeiten, so zu leben wie bisher. Sie kann nur die
Gruppe verlassen, doch diese lässt sie nicht fort.
Zwangsläufig leidet die Gesundheit des Verfluchten
darunter, so dass es mit ihm rasch bergab geht.
138
Es hat also den Anschein, als wären sowohl die
Fähigkeiten des ‚bokor‘, Zombies zu schaffen, als auch die
Macht des Voodoo-Priesters, den Tod einer Person durch
Einbildung und Puppen herbeizuführen, wissenschaftlich
erklärbare Phänomene. Immer spielen Drogen und soziale
Faktoren eine wichtige Rolle. Und das alles in einem Land
mit niedrigem Bildungsniveau. Voodoo-Rituale bauen auf
Angst auf. Diese Angst löst biochemische Reaktionen im
Körper aus, die schließlich zum Tod führen können, wenn
nicht rechtzeitig geholfen wird.
139