Sünde 6 - Besitzanspruch

Wenn wir glauben, eine Beziehung zeichne sich dadurch aus, dass der Partner nur noch für uns lebt, machen wir uns nicht nur der Dummheit schuldig. Wir begehen auch eine der zehn Todsünden des Sex. Denn wer das Bedürfnis des anderen nach Freiraum und Individualität nicht akzeptiert, tötet das gemeinsame Liebesleben.

»Diese Umklammerung war unerträglich«

Braunschweig: Wolfgang (55) fühlt sich von Katherine (38) eingeengt.

Wenn eine Frau mich in allen Lebensbereichen zu stark vereinnahmt, löst das Fluchtreflexe aus. Mir ist so etwas schon öfter passiert, aber am deutlichsten mit Katherine. Wir arbeiten beide zusammen in einer Forschungsanstalt, die bekannt ist für ihre Spitzenforschung. Ich habe Katherine wegen ihrer hervorragenden Referenzen als meine wissenschaftliche Assistentin eingestellt, aber auch, ich gebe es zu, wegen ihres Aussehens. Sie hat etwas Besonderes an sich. Sie ist nicht auf den ersten Blick hübsch, aber sie hat eine Art, sich zu bewegen und zu sprechen, die mich für sie einnahm.

Sie bewegte sich verführerisch und warf mir auffordernde Blicke zu

Nun, in einem gemeinsamen Arbeitsumfeld gibt es eine Vielzahl von gemeinsamen Bezügen. Man forscht an demselben Thema, man hat ständig Geschäftsessen und Meetings, und so begegnet man sich nicht nur auf beruflicher Ebene, sondern auch immer wieder in der Rolle als Mann und Frau. Eine gemeinsame Forschungsreise hier, ein paar gemeinsame Tagungen dort – die Gelegenheiten zur Intimität ergeben sich dann meist von selbst.

Katherine und ich kamen uns auf einer kurzen Forschungsreise nach Chicago näher. Nach einem erfolgreichen Get-together-Abend mit unseren Kollegen saßen wir noch zusammen, um den Abend ausklingen zu lassen. Sie sah an diesem Tag besonders attraktiv aus, bewegte sich verführerisch und warf mir auch immer wieder auffordernde Blicke zu. Ich fühlte mich richtig angezogen von ihr. Und dann kam es auf einmal zum ersten Kuss. Normalerweise vermeide ich sexuelle Begegnungen innerhalb meines Instituts, weil das letztlich nur zu Komplikationen führt. Andererseits bin ich geschieden, ein freier Mann, und wir beide sind erwachsen. Und so landeten wir im Bett.

Für mich zählt allerdings das erste Mal immer nicht so richtig, weil es eigentlich nur ein Testlauf dafür ist, ob ein weiterer Kontakt möglich sein könnte. Deswegen ist für mich das erste Mal ein Nullkontakt, aus dem heraus – je nach Erfahrung – entweder etwas Vernünftiges entsteht oder eben nicht. Mit Katherine allerdings war das so eine Sache. Im Beruf wirkte sie sehr selbstständig und souverän. Aber im Bett entwickelte sie keine eigenen Ideen und zeigte kaum Leidenschaft. So bestimmte ich das Geschehen, war mir aber nicht sicher, ob ihr das alles so gefiel. Ich wusste auch nicht, wie ich sie zum Höhepunkt bringen sollte, weil sie auf nichts richtig reagierte. Schließlich kam ich selbst irgendwann zum Orgasmus und wollte mich danach etwas müde für einen kurzen Moment ausruhen. Plötzlich aber wurde sie lebendig: Sie kuschelte sich an mich, wollte mich streicheln und küssen und sagte mir ein ums anderes Mal, wie schön es gewesen sei. Aber ich bin in dieser Hinsicht ein typischer Mann, ich möchte nach dem Sex gerne erst einmal wieder die alleinige Herrschaft über meinen Körper zurückgewinnen. Ich bin dann einfach überempfindlich, vor allem auch im genitalen Bereich, sodass Berührungen fast unangenehm sind. Also stand ich auf und sagte ihr, dass ich nun auf mein Zimmer gehen würde. Sie schaute mich sehr enttäuscht an: »Ach, und ich dachte, wir verbringen die ganze Nacht zusammen.« Ich erklärte, dass ich selbst während meiner Ehe ein eigenes Schlafzimmer gehabt hatte, und ging schnell weg.

Am nächsten Tag war Katherine genauso, wie ich sie kannte: geistreich, durchsetzungskräftig und charmant, sodass ich aufs Neue von ihr eingenommen war. So beendeten wir auch diesen und die weiteren Tage in Chicago jedes Mal bei ihr im Bett. Der Sex blieb allerdings weiterhin eher mittelmäßig, doch danach kam ihr großer Gefühlsausbruch: Sie schaute mich anhimmelnd an und sagte so merkwürdige Sachen wie: »Ich liebe den Sex mit dir, dann gehörst du endlich ganz mir.« Ich weiß schon, dass Sex die Gefühlspforten öffnet. Aber trotzdem waren ihre Sprüche dazu angetan, mir im Nachhinein ein bisschen die Lust zu vergällen.

Was ich auch tat, es war ihr einfach nicht genug

Zurück in Deutschland, haben mich die Arbeit und sonstige Verpflichtungen wieder so in Anspruch genommen, dass der Kontakt mit Katherine etwas ins Hintertreffen geriet. Auch wollte ich alles noch geheim halten, weil ich mir noch nicht im Klaren darüber war, wohin die Reise mit ihr gehen sollte, was sie auch respektierte. Aber ihr Bedürfnis nach mir war offenbar groß. Sie fragte mich jeden Tag, wann wir uns denn endlich wiedersehen könnten. Ich erhielt laufend E-Mails und SMS, manchmal einfach nur mit den zwei Wörtern: »Und wann?« Sie arbeitete lange und wartete oft, bis alle anderen gegangen waren, nur um mir vorzuschlagen, noch zu ihr oder zu mir zu fahren. Sex war dabei immer ein wichtiges Thema. Das sollte mich eigentlich freuen. Aber es fehlte die Leichtigkeit, es war immer mit dem Gefühl einer Pflichterfüllung verbunden. Ich kam mir mit der Zeit vor wie in einer Vollzugsanstalt. Aber Katherine bemerkte gar nicht, dass ich mich, als ihr Sexualpartner, wie in einem Gefängnis zu fühlen begann. Ich kann im Nachhinein gar nicht sagen, warum ich die Beziehung, oder was auch immer wir führten, nicht einfach nach ein paar Wochen beendet habe. Menschlich gesehen, lag mir viel an Katherine, sexuell gesehen war das Ganze noch etwas ausbaufähig. Aber diese Umklammerung war unerträglich.

Es stellte sich eine gewisse Routine in unserem Umgang miteinander ein. Ich besuchte Katherine etwa ein- oder zweimal in der Woche, und wir gingen miteinander ins Bett. Gelegentlich aßen wir auch zusammen zu Abend, besuchten eine Kunstausstellung oder spielten Tennis. Es ergab sich auch immer wieder die Gelegenheit zu einer gemeinsamen Forschungsreise. Aber was ich auch tat, es war ihr einfach nie genug. Wenn ich nachmittags mal für ein oder zwei Stunden zu ihr kam, war sie enttäuscht, dass ich nicht auch den Abend bei ihr blieb. Wenn wir einen ganzen Tag miteinander verbrachten, war sie enttäuscht, dass es nicht das ganze Wochenende war. Wenn wir für drei Tage geschäftlich wegfuhren, war sie enttäuscht, dass daraus nicht fünf Tage wurden. Ich geriet in eine regelrechte Atemlosigkeit. Es war ein Terror, immer das Gefühl vermittelt zu bekommen, man gibt nicht genug Zeit und Aufmerksamkeit.

Nichts ahnend öffnete ich die Haustür

Einmal musste ich eine Verabredung mit ihr absagen. Ich hatte noch einen wichtigen Brief an jemanden aus der Politik zu schreiben und wollte mir Fakten und Argumente gut überlegen. Dazu brauchte ich Ruhe. Das aber wollte Katherine nicht einsehen, sondern machte ein Drama daraus: »Ich hab doch extra für dich gekocht.« – »Das sollst du aber gar nicht, das weißt du doch.« – »Ja, aber ich wollte dir was Gutes tun. … Wie lange brauchst du denn für den Brief?« – »Das weiß ich nicht. Wir sehen uns ja morgen.« Und dann ging es richtig los: »Hab ich was falsch gemacht?« – »Nein, wieso?« – »Ich bin dir egal geworden, alles ist dir wichtiger als unsere Verabredungen.« – »Das stimmt doch so gar nicht.« Irgendwann begann sie zu weinen. Aber zum Glück bin ich gegen Tränen als Erpressungsinstrument völlig unempfindlich und hab mich dann etwas ruppig verabschiedet. Aber die Szene raubte mir erst einmal die Lust, Katherine wiederzusehen.

Als der nächste Abend herannahte, griff ich zum Handy und schickte ihr eine SMS, dass wir uns heute leider auch nicht sehen könnten. Ich hatte einen auswärtigen Termin gehabt und bin dann gleich nach Hause gefahren. Ich musste einfach für mich alleine sein. Die Sehnsucht nach jemandem und das Begehren entstehen doch nur, wenn man aus einer selbstbestimmten Basis heraus freiwillig auf den anderen zugeht. Ich wollte auch nicht mehr erreichbar sein und stellte die Telefone aus. Dann freute ich mich darauf, jetzt einfach nur ein Bier öffnen, ein Buch zur Hand zu nehmen und nichts mehr sagen zu müssen.

Da klingelte es an der Haustür. Nichts ahnend – ich dachte, es sei vielleicht der Hausmeister – öffnete ich. Und da stand sie. In einem neckischen knallgelben Kleid, das toll zu ihrer schön gebräunten Haut passte. Die Haare hatte sie hochgesteckt, ein paar Strähnchen hingen herunter, was ihr einen verwegenen Ausdruck verlieh. Die Lippen waren verführerisch rot geschminkt. »Ich hab mir gedacht, ich bringe dir was zu essen«, sagte sie und drängte sich an mir vorbei in die Wohnung. Dort räumte sie meine Bierflasche beiseite, nahm zwei Weingläser aus dem Schrank und holte eine Weinflasche und eine Schüssel aus ihrem Korb. Ich sollte mich setzen, sie schenkte den Wein ein und stieß mit mir an. Ein paar Sekunden später war der Tisch gedeckt, die Kerzen brannten, Servietten waren hindekoriert und ein Essen angerichtet. »Na, was sagst du jetzt? Das ist doch schöner, als so alleine dazusitzen.« Ich war total verblüfft und einfach sprachlos. Einerseits hatte sich Katherine viel Mühe gegeben, um mich zu verwöhnen. Andererseits aber war sie einfach über mein Bedürfnis, alleine zu sein, hinweggegangen.

So ist für mich keine Intimität möglich

Katherine war nicht wiederzuerkennen. Als wir gegessen hatten, schob sie einfach das Geschirr beiseite, hob ihr Kleid hoch und setzte sich rittlings auf mich. Sie nahm meine Hand und legte sie in ihren Ausschnitt. Dann bewegte sie sich auf mir und erwartete wohl, recht bald meine Männlichkeit zu spüren. Aber in mir regte sich nichts. Obwohl sie traumhaft aussah und sich so richtig schön sinnlich verhielt, wie ich es mir die ganze Zeit über gewünscht hatte. Ich konnte einfach nicht. Ich fühlte mich wie vergewaltigt. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und hob sie von mir herunter. »Entschuldige bitte, ich bin heute einfach zu müde«, sagte ich. Sie wirkte unglaublich enttäuscht und tat mir schon wieder leid, als sie daraufhin ihre Sachen wieder packte und zur Tür ging. »Lass mir doch einfach ein bisschen Zeit«, bat ich sie und drückte sie noch einmal kurz zum Abschied.

An diesem Abend ist mir bewusst geworden, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Katherines entsetzliche Erwartung, ich möge mich ihr permanent zuwenden, und ihre sofortige Reaktion, wenn ich die Zuwendung einmal nicht geben konnte oder wollte, waren nicht mehr auszuhalten. So ist für mich auch keine Intimität möglich. Sexualität soll eine freudvolle Begegnung sein und keine Pflichterfüllung. Zu viel Nähe zerstört Nähe. Am Tag darauf habe ich die Beziehung beendet.

Oswalt Kolle ganz persönlich

»Sie hängt der Illusion einer allgegenwärtigen Liebe an«

So manche Frau rückt gleich am Anfang einer Beziehung mit einer großen Tasche an und räumt ihre gesamten kosmetischen Utensilien in das Badezimmer ihres Freundes. Dann verlangt sie von ihm, dass er seinen Terminkalender total zugunsten ihres Terminkalenders verändert. Schließlich, so denkt sie, steht sie alleine im Mittelpunkt seiner Gefühle. Diese stürmische Vereinnahmung, von der kein Mann begeistert sein dürfte, wird nur noch von einer Sache übertroffen: Die neue Freundin lädt baldmöglichst seine Mutter zu ihm nach Hause ein, um von ihr alte Geschichten über ihren Liebsten zu erfahren und ihn

auf diese Weise noch besser kennenzulernen. Das baldige Ende der Beziehung ist garantiert.

Eine solche Frau scheint, wie auch Katherine, nicht zu spüren oder nicht zu verstehen, dass sie nicht sofort all ihre Sehnsucht nach Nähe zeigen sollte, wenn sie den Freund an sich binden möchte. Denn oftmals suchen Männer einen größeren Abstand als Frauen, vor allem zu Beginn einer Beziehung. Zudem besteht eine gute Beziehung immer aus einem Wechsel von Nähe und Distanz. Ich denke dabei an den argentinischen Tango, für mich einer der schönsten Tänze. Das hinreißende daran liegt im Wechsel von Annäherung und Abstand. Diese beiden Faktoren ergeben die Spannung, die auch für eine gute sexuelle Beziehung unbedingt nötig ist. Wer zu dicht aufeinanderrückt, macht die Liebe zum Alltag. Aber Liebe sollte uns gerade aus dem Alltag herausholen. Ein Paar, das den ganzen Tag über kleine intime Zärtlichkeiten austauscht, sich ständig an Penis und Klitoris berührt, darf sich nicht wundern, wenn sich abends keine Spannung mehr einstellt. Es ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine gute Beziehung, immer wieder die Spannung zwischen Abstand und Annäherung aufzubauen.

Deswegen kann es auch von Vorteil sein, wenn ein Paar eine sogenannte LAT-Beziehung – Living apart together – aufbaut. Dies ist die Bezeichnung für ein Paar, das trotz fester Bindung auf getrennten Wohnungen im selben Wohnort besteht. Man braucht dazu aber nicht unbedingt zwei Wohnungen, zwei Schlafzimmer genügen auch. Dann trifft man sich nur dann im Bett, wenn man Lust aufeinander hat. Der eine besucht den anderen in dessen Revier. Auch das erhöht die Spannung zwischen zwei Partnern.

Katherine in unserer Geschichte hingegen hat eine sehr hohe Erwartungshaltung. Sie hängt der Illusion einer allgegenwärtigen Liebe an und will alles für ihren Partner sein: die geistig anspruchsvolle Gesprächspartnerin, die umsorgende Hausfrau und Köchin, die persönliche Vertraute, die zärtliche Geliebte. Damit wäre sie eigentlich immerzu mit ihm verbunden. Er hingegen wird ängstlich bei der Vorstellung, so viele verschiedene Rollen erfüllen zu müssen. Deswegen zieht er sich zurück. Als auch das nicht respektiert wird, tritt er die Flucht an und kündigt die Beziehung auf.

Wie viel Freiraum brauchen wir, und was lernen wir vom Stachelschwein?

Idealerweise haben beide Partner zeitgleich das Bedürfnis nach Nähe oder das Bedürfnis nach Alleinsein. Oft aber stellt sich ein Nähebedürfnis zu versetzten Zeiten ein. Zudem unterscheiden sich häufig auch die jeweiligen Vorstellungen davon, wie Nähe und Distanz aussehen sollen – Ursache von vielen Beziehungsproblemen. Erkannt haben das Phänomen bereits viele. Prägnant beschrieben hat es der Philosoph Arthur Schopenhauer in einer Parabel: Es ist ein kalter Wintertag, und die Stachelschweine frieren. So rücken sie eng aneinander, um sich zu wärmen. Dabei pieksen sie sich mit ihren Stacheln und rücken wieder auseinander. Nun aber frieren sie wieder. Immer wieder verändern sie den Abstand zwischen sich, bis sie die richtige Entfernung gefunden haben, um Schmerz und Kälte am besten zu ertragen.

Die Bedürfnisse hinsichtlich Nähe und Distanz sind individuell sehr verschieden

In der Parabel sollen die Stachelschweine die Menschen repräsentieren, die einerseits ein Gesellschaftsbedürfnis haben und sich andererseits durch die schlechten menschlichen Eigenschaften gegenseitig abstoßen. Laut Bindungstheorie sind diese Bedürfnisse nach Nähe beziehungsweise Distanz abhängig von Erfahrungen in der Kindheit. Wer schon früh vertrauensvolle Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen machen konnte, wird später eher die Nähe genießen, aber auch die Distanz ertragen können, ohne verunsichert zu sein. Wer hingegen vor allem im ersten Lebensjahr Störungen erleben musste, wie etwa eine Trennung von den Eltern, neigt dazu, sich zu einer abhängigen Persönlichkeit zu entwickeln. Spätere schlechte oder gute Beziehungserfahrungen spielen ebenfalls eine Rolle dafür, wie intensiv sich jemand auf eine Beziehung einlassen möchte. Hinzu kommen die genetischen Einflüsse, welche den Menschen von Geburt an bestimmen. Und als immer wichtiger entpuppen sich epigenetische Einflüsse. Damit sind Erkenntnisse aus der Biologie gemeint, nach denen nicht nur die genetische Ausstattung für das Wesen, die Vorlieben, Charaktereigenschaften oder auch für den Ausbruch von Krankheiten entscheidend ist. Vielmehr kommt es auch darauf an, ob diese Gene überhaupt »angeschaltet« werden. Für das An- und Ausschalten von Genen sind bestimmte Proteine verantwortlich, die vom Lebensstil, den eigenen Erfahrungen und sogar von den Erfahrungen der Mutter, die sich im Mutterleib auf uns übertragen, dirigiert werden.

Alle diese Einflüsse bestimmen auch, ob bei jemandem die Tendenz zum Alleinsein stärker ist oder die Tendenz zur Gemeinsamkeit. Der Abstand von anderen, den Menschen (oder Stachelschweine) suchen, ist demnach ganz unterschiedlich, da die Bedürfnisse hinsichtlich Nähe und Distanz individuell sehr verschieden sind. Die individuellen Vorstellungen haben Einfluss darauf, wie wir uns eine Beziehung wünschen und wie wir sie gestalten möchten. Insofern ist es durchaus verständlich, dass zwei Menschen nicht automatisch dieselbe Vorstellung von einer Beziehung haben, selbst wenn sie sich gegenseitig anziehen, wie Wolfgang und Katherine in der Geschichte.

Die Beziehungsform »Living apart together« wird immer beliebter

Das Thema »getrennt und doch zusammen« oder »Living apart together« (LAT), das weiter oben schon angesprochen wurde, beschäftigt mittlerweile auch die Beziehungs- und Sexualforscher. Denn diese Lebensform ist in den vergangenen 15 Jahren immer beliebter geworden. Der Anteil an Paaren, die in getrennten Haushalten leben, ist von 11,6 Prozent im Jahr 1992 auf 13,4 Prozent im Jahr 2006 gestiegen. Das ist zwar kein explosionsartiger Zuwachs, aber doch ein unübersehbarer Aufwärtstrend. Eine weitere Tendenz nach oben ist zu vermuten. Die Auswertung der Studie nach Altersgruppen zeigt: Bei den über 38-Jährigen hat sich der Anteil sogar von etwa fünf Prozent auf rund acht Prozent erhöht. Zusammen sein und getrennt leben wird zu einer immer häufigeren Option, vor allem in Großstädten, in denen der LAT-Anteil doppelt so hoch ist wie in Gemeinden unter 20 000 Einwohnern.

Zwar zeigen Analysen der Beziehungsdauer, dass LAT-Beziehungen in allen Altersgruppen im Durchschnitt weniger stabil sind als Partnerschaften in einem gemeinsamen Haushalt. Mit zunehmendem Alter wandelt sich jedoch das LAT-Verhalten. Während eine solche Beziehung bei den Jüngeren oft dadurch beendet wird, dass die Partner zusammenziehen, kommt dies bei älteren Menschen weniger häufig vor. Denn hier besteht meist kein Kinderwunsch mehr, und jeder ist beruflich und finanziell so weit etabliert, dass keine Notwendigkeit besteht, den Alltag gemeinsam zu organisieren. LAT-Partnerschaften sind also keineswegs nur ein Übergangsphänomen auf dem Weg zum Zusammenwohnen, sondern werden gerade von Älteren als eigenständige Form der Partnerschaft gewählt.

Wir können nicht alle Bedürfnisse gleichermaßen befriedigen

Warum aber ist das so? Können oder wollen wir den anderen nicht ertragen, obwohl wir ihn lieben? Schauen wir uns zunächst die Bedürfnispyramide nach dem US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow aus dem Jahr 1943 an. Ihm zufolge haben Menschen verschiedene Grundbedürfnisse, die hierarchisch geordnet sind. Auf unterster Stufe stehen die Bedürfnisse, die unsere Existenz gewährleisten, wie Essen, Trinken, Sicherheit. Auch die Sexualität gehört hierher, weil sie den Fortbestand unserer Spezies, also der Menschheit, sichert. Auf höheren Stufen kommen Aspekte wie Selbstverwirklichung und -bestätigung. Erst wenn die Bedürfnisse der unteren Stufen befriedigt wurden, möchte beziehungsweise kann man sich einem Bedürfnis auf einer höheren Stufe widmen.

Die Bedürfnispyramide wurde seitdem von Maslow mehrfach überarbeitet. Sie ist bis heute nicht unumstritten, aber es ist dennoch etwas Wahres daran. Wir haben verschiedene Bedürfnisse auf verschiedenen Ebenen, die nicht alle gleichzeitig und gleichermaßen zu befriedigen sind. Dies bestätigt auch der Chronobiologe Till Roenneberg aus München. Er bezieht sich auf die Bedürfnispyramide, aber vereinfacht sie wie folgt: Nachdem wir unsere Grundbedürfnisse wie Hunger, Durst und triebhaften Sex befriedigt haben, drängen uns nur noch zwei weitere Bedürfnisse, nämlich »Rudelpunkte sammeln« und »Angst vermeiden«. Wobei »Rudelpunkte« für die Anerkennung in der Gesellschaft stehen. Angstvermeidung kann Verschiedenes bedeuten, etwa eine Sicherheitsanlage zu installieren oder aber erfolgreiche Forschungsergebnisse hervorzubringen, die Körper und Psyche erklären, vorhersagbar machen und somit ebenfalls Sicherheit schaffen – wie es offenbar dem Bedürfnis von Wolfgang entspricht – oder den Partner durch strategisches Handeln an sich zu binden, wie Katherine.

Und deswegen kommt es zu Konflikten innerhalb eines jeden Individuums, aber auch innerhalb von Beziehungen. Zwar streben beide, Katherine und Wolfgang, nach Sicherheit und Angstvermeidung, doch ihre Methoden sind unterschiedlich. Für Wolfgang steht im Vordergrund, erfolgreich in seinem Beruf zu sein. Für Katherine ist vorrangig, eine gute Beziehung zu führen. Da beide Partner im gleichen beruflichen Umfeld agieren, wird die unterschiedliche Wertung sehr deutlich.

Und deswegen muss die Beziehung der beiden Personen in unserer Geschichte scheitern, wenn sie ihre unterschiedlichen Bedürfnisse nicht einschränken. Fände Katherine einen Partner, der ähnlich gelagerte Bedürfnisse besitzt wie sie, hätte sie eine größere Chance, glücklich zu werden. Allerdings gilt auch in diesem Fall, dass ein zu stark geäußerter Besitzanspruch die Liebe tötet.

Doppelbindung treibt groteske Blüten

Wenn zwei Partner wichtige Aspekte ihrer Beziehung nicht auf derselben Ebene der Bedürfnishierarchie ansiedeln, empfinden sie subjektiv das jeweilige Verlangen und Vorgehen des anderen sogar als Vernichtung. Sie fühlen sich zerrissen zwischen verschiedenen Wünschen, zum Beispiel zwischen dem nach Sexualität und dem nach Selbstständigkeit, das heißt, sie befinden sich in einer unauflöslichen »Doppelbindung«.

Die Doppelbindung kann in Beziehungen groteske Blüten treiben, etwa wenn widersprüchliche Regeln aufgestellt werden. Zum Beispiel die Regel, ehrlich zu sein, und die Regel, sensibel zu sein. Beides geht nicht immer zusammen: »Sag ehrlich, sieht man, dass ich zugenommen habe?« – »Es könnte schon sein, dass du ein bisschen kräftiger wirkst. Aber das ist nicht schlimm.« – »Was, du findest, dass ich fett bin? Gefalle ich dir nicht mehr? Warum sagst du so etwas Gemeines?« Was will man darauf antworten?

Große Unterschiede in Bezug auf Nähe beziehungsweise Distanz führen oft auch zu ganz unglaublichen Strategien. Entweder um Zweisamkeit herzustellen, etwa indem man den anderen ständig mit Essen versorgt oder ihm die verruchte Geliebte vorspielt, die man eigentlich gar nicht ist – wie Katherine. Auch teure Geschenke können den Versuch darstellen, den Partner an sich zu binden, ja ihn von sich abhängig zu machen. Doch das bewirkt häufig genau das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt, und treibt den Partner tatsächlich weg. Der oder die andere wird gerade dann sehr erfinderisch werden, wenn es darum geht, sich zu entziehen. Männer entdecken plötzlich ihre Liebe zum Golfspielen, zu Überstunden und Geschäftsreisen. Frauen, die zu stark bedrängt werden, brechen ebenfalls aus, indem sie Frauenabende einführen, das Telefon oder die Haustürklingel leise stellen und natürlich ebenfalls den Beruf besonders wichtig nehmen. Und wenn dann die Suche nach Freiräumen doch einmal in einen Flirt oder in ein sexuelles Abenteuer mündet, kann natürlich der Partner oder die Partnerin mit Recht sagen »Ich hab’s ja immer gewusst!«. Doch im vermeintlichen Triumph steckt oft nichts weiter als eine selbst inszenierte Erniedrigung. Denn die Ursache liegt nicht unbedingt im Freiheitsbedürfnis des anderen, sondern im eigenen Bedürfnis nach (zu) viel Nähe.

Die Griechen kannten fünf verschiedene Begriffe für die Liebe

All dies hat damit zu tun, dass einer der Partner oder auch beide meinen, alles im anderen finden zu müssen. Menschen aus anderen Kulturen und aus anderen Zeiten können und konnten unterschiedliche Liebesbeziehungen auseinanderhalten. So differenzierten die alten Griechen fünf Begriffe für die Liebe: Da gibt es einmal Eros, die erotische Liebe, die von sexueller Lust und Anziehung geprägt ist. Dann Agape, die uneigennützige altruistische Liebe. Weiterhin gibt es noch Pragma, die pragmatische Liebe, bei der beide Seiten einen Nutzen aus der Beziehung ziehen und diese deshalb aufrechterhalten. Es gab Mania, die verrückte Liebe, die eifersüchtig, besitzergreifend und hemmungslos ist. Und letztendlich Storge, der Zuneigung auf eher freundschaftlicher Basis, die auf gemeinsamen Interessensgebieten beruht und gar nicht auf Sexualität.

Auch hierzulande war es bis ins 20. Jahrhundert hinein in bürgerlichen Kreisen völlig normal, zu heiraten, um rechtliche und finanzielle Probleme in den Griff zu bekommen. Und bei den Bauern hieß es, das »Sach zum Sach tun«. Anziehung war überhaupt kein Kriterium, und die Lust wurde gerne auch außerhalb der Ehe befriedigt. Eigentlich entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Idee, dass die Anziehung, also die romantische Liebe, auch in die Ehe einfließen sollte.

Und nun soll plötzlich ein Partner für die Befriedigung aller Bedürfnisse zuständig sein. Aus Sicht der Paar- und Sexualtherapie ist das aber eine gefährliche Falle, da es den Bereich des Selbstseins nicht mehr gibt. Man kann sich in keinen eigenen Bereich mehr zurückziehen. Die Kontakte sind vorherbestimmt, die Abläufe des Zusammenseins geregelt. Das vernichtet jegliche Spontaneität, das zufällige Ergattern von Gelegenheiten, sich zu sehen, sich zu treffen, sich zu lieben.

Schauen wir noch einmal in die Schatzkammer der Biologie hinein. Sie lehrt uns: Das Warten auf etwas Schönes, ein Erobern, das lange Hinauszögern einer Belohnung regt die Dauer und Intensität der Dopaminproduktion im Belohnungszentrum des Gehirns an. Wenn wir also lange um jemanden werben müssen und ihn schließlich erobern, wertet das Gehirn dies als wertvoller und schüttet mehr vom »Glückshormon« aus, als wenn wir nur mit dem Finger zu schnippen brauchen, um jemanden zu bekommen. Und gar kein Dopamin wird ausgeschüttet, wenn sich der andere einem aufdrängt. Insofern sollten wir es mit dem irischen Schriftsteller Oscar Wilde halten, der sagte: »Das Wesen der Romanze ist die Ungewissheit.«

Katherine hat aus ihrer Sicht folgerichtig gehandelt: Sie war verliebt, wollte viele Bezüge herstellen und eine partnerschaftliche Verbindlichkeit auf mehreren Ebenen erreichen. Doch ihr geliebter Wolfgang hat diese vielen Bezüge als bedrohlich erlebt. Er war psychologisch anders gepolt und hatte zudem Angst, dass seine anderen Bedürfnisse ins Hintertreffen geraten könnten. Dass eine solche Differenz der Bedürfnisse generell bestehen könnte, hätte Katherine wissen können. Und darüber hinaus hatte sie es ihm auch noch zu leicht gemacht: Wolfgang musste nicht mehr erobern, nichts mehr für die Beziehung tun und konnte damit keinerlei stimulierende Erfahrungen machen. Insofern hat Wolfgang aus Angst und aus »Reizmangel« die Beziehung beendet, aus seiner Sicht zu Recht. Eine Option wäre gewesen, dass Katherine ihre Sehnsucht nach Nähe aufspart und dadurch Wolfgang die Gelegenheit gibt, seine Angst vor Vereinnahmung zu überwinden. Die Beziehung scheiterte also letztlich an einer mangelhaften Synchronisation der Bedürfnisse.

Der Heisse Tipp

Wie Sie Nähe und Distanz miteinander in Einklang bringen

Das beste Rezept für eine gute Partnerschaft kann man in wenigen Worten ausdrücken: Bleibt immer ein bisschen unverheiratet. Nicht klammern. Die Beziehung nicht als selbstverständlich betrachten. Immer noch umeinander werben. Und: Geben Sie dem anderen die Freiheit, selbstständig und allein Freundschaften von früher pflegen zu können. Der Vorteil dabei ist: Wenn Sie den Partner oder die Partnerin nicht ständig mit Nähe überschütten, geben Sie der anderen Person die Möglichkeit, sich an Sie anzunähern.

Die Vorstellung, dass man für den anderen verantwortlich ist, nachdem man ein paar Nächte miteinander verbracht hat, ist überholt. Zwei Menschen müssen einen Weg finden, auch als zärtliches Paar zwei Individuen mit verschiedenen Zeitabläufen und Bedürfnissen zu bleiben. Wichtig ist dabei, dass Sie diesen Wunsch nach Unabhängigkeit auf eine Weise äußern, die nicht verletzend für den anderen ist. Erklären Sie dem anderen auf eine liebevolle Weise zunächst Ihre positiven Gefühle. Zum Beispiel wie sehr Sie es genießen, mit dem anderen eins zu werden. Aber dass Sie dann auch wieder Zeit brauchen, um zu sich selbst zu kommen. Und derjenige, der solche Worte hört, soll sich bewusst machen, dass es seinem Partner gerade am Anfang sicher nicht leicht fällt, etwas zu sagen, von dem er annimmt, dass es nicht supergut ankommt. Nehmen Sie solche Worte also entsprechend ernst.

Es ist sehr wichtig, sich gegenseitig die Bedürfnisse und Vorstellungen mitzuteilen, ohne zu erwarten, dass der andere sie gut findet oder akzeptiert. In dem Fall müssen Sie sich selbst bestätigen, dass Ihre Wünsche legitim sind. Dies ist natürlich riskant, aber es gibt keinen anderen Weg, um in einer Beziehung glücklich zu werden.

Umgekehrt gilt: Respektieren Sie die Wünsche des anderen, selbst wenn Sie diese nicht gut finden oder nicht einmal akzeptieren können. Aber Sie müssen respektieren, dass der andere bestimmte Wünsche hat.

Nähe und Distanz ist auch beim Sex wichtig. Es ist nicht sehr erotisierend, wenn der andere zum Beispiel beim Küssen keine Pausen einlegt und man/frau irgendwann das Gefühl bekommt, man möchte sich befreien. Wenn wir dagegen beim Küssen oder auch beim Sex kleine Cliffhanger einbauen, erhöht das meistens die Spannung.