Eichörnchen sehen
Am Wochenende geht man in Bochum gerne in den Stadtpark, der zu den wenigen Dingen in unserer Stadt gehört, die objektiv schön sind. Sogar dackelfarbene Eichhörnchen gibt es hier. Manchmal beschleicht mich jedoch der Verdacht, dass es nur ein einziges Tier ist, das von der Stadtverwaltung ausgesetzt wurde, um Natur zu simulieren.
Schon als Säugling wurde ich über die gewundenen roten Wege geschoben, zum Beispiel von meinem Oppa väterlicherseits, dem alten Bergmannschorsänger. Natürlich beugten sich zahllose Sechzigerjahre-Gesichter über mich, mit viel Heititei und Guckdochmalwieeslacht, und eine Spaziergängerin wollte wissen: »Wie heißt sie denn, die Kleine?« Mein Oppa: »Gracia Patrizia!« Noch gut ein Jahrzehnt später brachte mir diese auf Familienfeiern gern vorgetragene Anekdote von anderen Kindern abschätzige Blicke ein.
Für Kinder sieht ja immer alles viel größer aus, als es ist, und so gab es auch für mich früher kaum einen Unterschied zwischen dem Bochumer Stadtpark und dem Delta des Mississippi. Die Durchquerung dieses 1876 im Stile eines Englischen Gartens angelegten Stücks organisierter Natur war für mich auf meinen kurzen, dicken Beinchen wie die Erstbesteigung eines Berges mindestens der Klasse des Kahlen Astens. Das Füttern der Enten auf den beiden Teichen war natürlich eine Sensation, auch wenn ich meistens nur versuchte, sie mit den größeren Stücken am Kopf zu treffen.
An milden Sommersonntagen nahm mein Vater mich mit zum Rudern auf dem sogenannten »Gondelteich«. Ein Tretboot war ihm zu unmännlich. Ich wollte wissen, was wäre, wenn ich ins Wasser fiele, und mein Vater sagte, dann würde er hinterherspringen und mich rausziehen. Auch wenn er seinen besten Anzug anhätte? Auch dann, versicherte er mir, und noch heute hoffe ich, dass diese eine Sekunde des Zö-gerns vor seiner Antwort mit der schönen Frau zu tun hatte, die gerade am Ufer entlangging.
Im Winter war der Stadtpark Schauplatz erster Mannbarkeitsrituale. Vom Bismarckturm führte eine als »Todesbahn« berüchtigt gewordene Rodelstrecke abwärts bis zum Teich, und wer richtig bescheuert war, schoss da nicht nur bäuchlings auf seinem Schlitten bis zum Weg, sondern gleich bis aufs Eis. Als ich das versuchte, knallte ich nach wenigen Metern gegen einen hochstehenden Gully, der sich unter einer Schneewehe versteckt hatte, rollte vom Schlitten und schlug mit der Stirn gegen einen Randstein. Kommentar Mücke: »Nicht mal DAS kann er!«
Meine nächsten erwähnenswerten Erlebnisse im Bochumer Stadtpark waren eindeutig positiverer Natur. Oder, na ja, wie man's nimmt: Auf einer Wiese oberhalb des erwähnten Gondelteiches erhielt ich meinen ersten Zungenkuss zugesprochen und wusste doch nichts damit anzufangen.
Bald folgten die legendären Osterpartys in einer Kellerbar an der Blumenstraße, zu der jeder ein möglichst fantasievoll designtes Ei und zwei normal bemalte Hartgekochte mitbringen sollte. Um Mitternacht wurden die besten Entwürfe prämiert (wobei meine Kreationen stets besonderes Gelächter auf sich zogen, obwohl ich sie gänzlich ernst gemeint hatte), und danach zog man in den nahegelegenen Park, wo ein zweiköpfiges Versteckkommando die Hartgekochten unter Büschen, hinter Bäumen und in Astgabeln versteckte, während der Rest nach den Dingern suchen musste - ein schöner Vorwand, sich sinn- und planvoll zu betrinken oder hinter Rhododendren herumzuknutschen.
Man durfte es nur nicht in eine der beiden Richtungen übertreiben: Meine eindrücklichste Erinnerung in dieser Hinsicht ist noch immer die auf meinem Sofa liegende zweiundzwanzigjährige Ute H., die sich in regelmäßigen Abständen von etwa vier Minuten schlafend in eine auf ihrem Bauch stehende Spülschüssel erbricht. Haben Sie bisher gedacht, Spinatkotze sei ekelhaft? Nun, dann sollten Sie mal sehen, was dabei herauskommt, wenn jemand vorher etwa fünf Eier zu zwei Litern Fürst Metternich verdrückt hat.
Nach dem Abflauen der Osterpartys erlahmte mein Interna esse für den Stadtpark einige Jahre. Heute gehe ich, nach fast drei Jahrzehnten Pause, wieder zum Entenfüttern und beobachte, wie der Thronfolger die Enten mit besonders harten Brotkanten zu erlegen versucht. Manchmal stehen wir auch einfach nur da und sehen dem Eichhörnchen in Diensten der Stadtverwaltung zu, wie es die Bäume hinaufwetzt.