KAPITEL 1

DER TOD hatte im Verlauf der letzten sechs Monate viel Raum in Maurice Appletons Gedanken eingenommen. Als Priester konnte er kaum umhin, über die Sterblichkeit des Menschen nachzusinnen. Doch diesmal war es seine eigene Sterblichkeit. Diesmal wusste er, dass er selbst sterben würde.

Der bevorstehende Tod hatte Maurices Bewusstsein nicht auf wunderbare Weise scharf und klar werden lassen, sondern behinderte im Gegenteil jegliche Konzentration. Jeder Versuch logischen Denkens glitt ihm aus den Händen wie ein sich entrollendes Wollknäuel. Er hatte keine Angst. Stattdessen fühlte er sich wie jemand, der auf den Bus wartet. Er mochte ein wenig Verspätung haben, und nicht selten spürte Maurice milde Verärgerung, weil er hilflos dastand und wartete. Doch er wusste, dass der Bus seine Garage bereits verlassen hatte und auf dem Weg war. Bald würde er eintreffen. Und Maurice würde einsteigen.

Bis dahin verbrachte er einen großen Teil seiner Zeit mit Dösen, jenem angenehmen Zustand zwischen Wachsein und Schlafen, der seine Situation so vollkommen widerspiegelte. Auch nun nickte er wieder ein, gegen Ende des monatlichen Treffens seines Kirchenvorstands.

Die Sitzung, die im Salon seines Bamforder Vikariats stattfand, war wie immer langweilig gewesen. Maurice hatte zum Abendessen (Rindfleisch-Nieren-Pastete, sein Lieblingsessen, und seine Haushälterin machte sie ganz ausgezeichnet) ein Glas Wein getrunken. In letzter Zeit hatte er unter Appetitlosigkeit gelitten, doch an diesem Abend war er hungrig gewesen und hatte die Mahlzeit genossen. Ringsum leierten endlos Stimmen. Worte gingen ungehört an ihm vorbei und verloren sich in den staubigen Ecken des Zimmers. Maurices Kopf sank nach vorn, die Augenlider wurden schwer, und die Brille rutschte auf seinem Nasenrücken nach unten.

»… schlimmer noch«, verkündete eine Stimme, die energischer klang als die übrigen und sich daher einen Weg in Maurices Halbschlaf bahnte, »es ist eine Verschwendung!«

Die Sprecherin war eine hagere Frau mit eisengrauen strengen Locken und der Andeutung eines Schnurrbarts auf der Oberlippe. Die übrigen Mitglieder des Kirchenvorstands rutschten unbehaglich auf dem Sammelsurium unbequemer Stühle hin und her, die für den Abend aus dem ganzen Haus in den Salon gebracht worden waren. Einer oder zwei blickten unverhüllt auf ihre Armbanduhren.

Obwohl wie stets am Ende eines Treffens die Frage

»Gibt es noch etwas zu besprechen?« gestellt worden war, kam es sehr selten vor, dass noch etwas gesagt wurde. Die Frage war zu einer Floskel geworden, wie die Frage bei Hochzeiten, ob jemand Einwände gegen die Eheschließung habe. Bei dieser Gelegenheit aufzuspringen und ja zu sagen, galt als durch und durch unschickliches Benehmen.

Maurice ruckte hoch, und wie um zu beweisen, dass er die ganze Zeit über wach gewesen war, erkundigte er sich grantig:

»Was bitte schön ist eine Verschwendung, Mrs. Etheridge?«

Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, der deutlich sagte:

»Der alte Knabe hat es wirklich hinter sich. Gott sei Dank, dass er zum Ende des Sommers in den Ruhestand geht. Ich hoffe nur, der Nachfolger hat seine fünf Sinne besser beisammen.«

Laut erwiderte sie mit einer unangenehm schneidenden Stimme, die so sehr zu ihrem Aussehen passte:

»Kerzen, die nach dem Gottesdienst auf dem Altar weiterbrennen, das ist Verschwendung! Was kostet es? Auf jeden Fall ist es eine unnötige Ausgabe.«

Die anderen blickten besorgt drein. Sie fürchteten, dass sie sich länger über diese Angelegenheit ergehen würde und daraus ein völlig neues und kompliziertes Thema entstand, das sie noch wenigstens eine weitere halbe Stunde beschäftigte.

»Schlimmer noch, es könnte ein Feuer geben!« Sie spie die letzten Worte aus, und zur ungemeinen Erleichterung aller setzte sie sich – rot im Gesicht, aber sichtlich triumphierend, wieder hin.

Maurice blinzelte mit wässrig blauen Augen.

»Ich verstehe das nicht, gute Frau! Der Ministrant löscht doch nach jedem Gottesdienst die Kerzen. Das gehört zu seiner Arbeit.«

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«, gab sie zurück.

Der rotgesichtige Schatzmeister der Kirchengemeinde, Derek Archibald, meldete sich zu Wort. Seit der Vikar angefangen hatte, während des größten Teils ihrer Sitzungen zu dösen, hatte sich Derek mehr und mehr in die Rolle des De-factoVorsitzenden gedrängt.

»Vielleicht könnte Mrs. Etheridge ein wenig genauer werden?«

Seine humorvolle Bemerkung erntete verstohlenes Kichern. Mrs. Etheridge hob wütend den Kopf.

»Wann genau soll das denn gewesen sein?«, fuhr Derek fort. Er war Metzger und führte ein Familienunternehmen, und er hatte nur wenig Geduld mit Janet Etheridge, nicht zuletzt deswegen, weil sie eine fanatische Vegetarierin mit missionarischen Ambitionen war. Hier saßen nun alle und sehnten sich danach, nach Hause zu kommen, um vielleicht noch die letzte Fernsehsendung des Abends zu sehen, und die Frau schwatzte von brennenden Kerzen!

»Sie brennen jetzt, in diesem Augenblick!«, keifte Mrs. Etheridge. Was einige Aufregung verursachte. Maurices Verstand beschloss, nicht am Rätsel der brennenden Kerze mitzuarbeiten und sich stattdessen wieder dem Dösen hinzugeben.

»O nein«, murmelte er.

»Es ist beinahe schon, äh, halb neun. Meine Güte, so spät!« Die anderen fingen das Stichwort auf und begannen, ihre Siebensachen zusammenzuräumen. Doch Mrs. Etheridge war nicht bereit, so schnell aufzugeben.

»Ich bin heute Abend auf dem Weg ins Vikariat in der Kirche gewesen. Ich hatte meine Silberfolien dabei und wollte sie in den Sammelsack beim Eingang tun. Zu meiner Überraschung sah ich Licht in der Kanzel. Also habe ich einen Blick hineingeworfen und musste entsetzt feststellen, dass wenigstens eine Kerze fröhlich auf dem Hochaltar vor sich hin brannte. Noch dazu eine neue, denn sie war ziemlich groß. Und nicht eine Menschenseele war in der Kirche!« Unruhe ging durch den Raum.

»Ich habe um sechzehn Uhr dreißig die Abendandacht gehalten«, sagte Maurice verwirrt.

»Ich habe keine brennenden Kerzen gesehen. Ich war ganz allein.«

»Und das ist nicht das Einzige, was ich zur Sprache bringen wollte«, fuhr Mrs. Etheridge fort. Sie ignorierte das hörbare Stöhnen ringsum.

»Bullen, der Totengräber, ist eine Schande für die Kirchengemeinde! Er ist ein Trunkenbold und ein frecher Bursche obendrein, und er nimmt schon am frühen Morgen unflätige Worte in den Mund. Erst vor ein paar Tagen …« Derek Archibald ergriff die Initiative.

»Es wird später und später. Einige von uns müssen sicherlich nach Hause«, grollte er.

»Vielleicht sollten wir für heute besser Schluss machen. Nat Bullen ist ein guter Totengräber, und wenn du seine Arbeit machen müsstest, Janet Etheridge, dann würdest du sicherlich genau wie er hin und wieder den ein oder anderen Tropfen über den Durst trinken. Ich danke allen, dass sie heute Abend hier waren. Der Vikar und ich – Ihre Zustimmung vorausgesetzt, Herr Pfarrer! – werden noch bei der Kirche vorbeischauen und Mrs. Etheridges Geschichte überprüfen.«

»Das war keine Geschichte!«, fauchte sie.

»Ich erzähle keine Unwahrheiten, Derek Archibald! Ich habe es mit meinen eigenen Augen …«

»Nun, wir gehen zur Kirche und sehen nach«, erstickte Derek ihren aufgebrachten Protest.

»Wenn Sie nun ein abschließendes Gebet sprechen würden, Herr Pfarrer?« Die übrigen Mitglieder des Vorstands hatten sich bereits erhoben und wollten zur Tür. Nun setzten sich alle eilig auf verschiedene Stühle, als hätte die Musik bei einem Gesellschaftsspiel aufgehört, falteten die Hände und schlossen fest die Augen. Maurice sprach seinen Abschiedssegen.

Es war Spätsommer, und die Abende wurden bereits wieder kürzer. Bis die drei das kurze Stück Weg vom Vikariat zur Kirche zurückgelegt hatten, war es bereits dunkel. Die Straßenlaterne vor dem Pfarrhaus flackerte unregelmäßig und gab ein brummendes Geräusch von sich.

Die beiden Männer gingen schweigend nebeneinander her. Mrs. Etheridge, begierig zu zeigen, dass sie Recht gehabt hatte, eilte voraus, und die Absätze ihrer weichen Sohlen trappelten auf den Pflastersteinen. Als sie an der brummenden Straßenlaterne vorbei waren, sah Maurice ihren stumpfen, kegelförmigen Schatten, den sie mit ihrem Filzhut und dem voluminösen Regenmantel warf. Er wirkte irgendwie Unheil verkündend.

Maurice seufzte. Vielleicht hätte er besser daran getan, sich schon vor einem oder zwei Jahren in den Ruhestand zurückzuziehen. Die Gemeinde war in dieser Zeit beträchtlich gewachsen, und er war nicht damit zurechtgekommen. Er hatte versagt und seine Schafe im Stich gelassen. Die Frau hatte wahrscheinlich Recht mit der Kritik, die ihre Augen und ihr Verhalten so beredt ausdrückten. Er hoffte nur, dass sie sich wenigstens mit der Kerze irrte. Diese Geschichte ergab keinen Sinn, und Maurice hatte keine Lust, sich damit zu beschäftigen.

Doch Janet Etheridge hatte sich nicht geirrt. Irgendjemand schien den Kerzenschrank in der Sakristei gefunden zu haben. Er hatte eine der größeren Kerzen in einen Tonständer gesteckt und mitten auf dem Altar aufgestellt. Um den Fuß des Ständers hatte er ein Stück schwarzen Stoffs gewunden, und ringsum verstreut lagen Blumen, große einzelne malvenfarbene oder weiße Blüten, mit farnähnlichen Blattwedeln.

»Kosmos!«, murmelte Maurice. Er hatte sich immer um seinen Garten gekümmert, noch bis letztes Jahr. Kosmos waren hübsche Blumen, erinnerte er sich, obwohl sie wild wucherten, und wenn man sie einmal in seinem Garten ausgesät hatte, wurde man sie nie wieder los. Sie kamen jedes Jahr wieder, wie Unkraut, zwischen den Pflastersteinen, im Gemüsebeet …

Die Kerze war zu einer Pfütze aus Wachs niedergebrannt, in deren Mitte der Docht herausfordernd flackerte. Maurice trat zum Altar und drückte ihn aus. Gekräuselter Rauch stieg in die Höhe, und der Geruch nach heißem Wachs war überwältigend. Archibald war, als sie die Kirche betreten hatten, zum Schalterkasten an der Nordtür gegangen und hatte die Kanzelbeleuchtung eingeschaltet. Der restliche Raum lag im Dunkeln, doch hier vorn glänzten der Messingaltar und die Kerzenständer im Licht der Scheinwerfer.

Vom Tonständer mit seinem schwarzen Tuch stiegen noch immer Wachsdämpfe auf. Es war kein Schal, sondern tatsächlich nur ein Stück schwarzen Stoffs mit ausgefransten Rändern, aus irgendeinem Kleidungsstück herausgerissen. Abgesehen davon waren nirgends Hinweise auf weitere Dekoration zu entdecken. Maurice verspürte einen Anflug von Erleichterung.

»Hören Sie, Herr Pfarrer!«, flüsterte Derek Archibald heiser.

»Da stimmt etwas nicht! Jemand hat sich in der Kirche zu schaffen gemacht. Was meinen Sie? Kinder? Oder ist es eine krumme Sache?«

Mrs. Etheridge gab ein erschrockenes Quieken von sich und starrte furchtsam in die Schatten.

»Eine schwarze Messe? O mein Gott – der Gedanke, dass ich hier drin war, ganz allein!«

»Nein, nein.« Für einen kurzen Augenblick gewann Maurice seine frühere Entschlossenheit zurück.

»Das ist nichts weiter als ein alberner Streich. Aber gefährlich ist er trotzdem. Genau wie Sie sagten – es bestand tatsächlich Brandgefahr.«

Das priesterliche Eingeständnis, dass sie Recht gehabt hatte, munterte Mrs. Etheridge beträchtlich auf.

»Ich hab’s doch gleich gewusst! Sie müssen die Polizei verständigen, Herr Pfarrer. Und den Bischof.«

»Wir müssen die Kirche in Zukunft ein wenig früher verschließen«, murmelte Derek Archibald.

»Wir dürfen nicht zulassen, dass so etwas noch einmal geschieht!« Er stand vor dem Altar und hielt den schweren runden Kopf gesenkt, weniger aus Respekt als in ratlosem Ärger, und in ihm breitete sich ein ungutes Gefühl aus wie bei einem Vieh, das im Schlachthof eingetroffen war.

Maurices launischer Verstand verriet seinem Besitzer, dass es viel zu spät war, um noch Vegetarier zu werden. Vielleicht hatte Mrs. Etheridge ja auch damit Recht. Es war stets überaus ärgerlich, wenn sich herausstellte, dass dermaßen unsympathische Zeitgenossen Recht hatten. Er wandte sich wieder dem vorliegenden Problem zu.

»Aber in den sommerlichen Abendstunden kommen häufig Menschen vorbei, um ein Gebet zu sprechen oder sich auch einfach nur umzusehen!«, gab er zu bedenken.

»Oder Unsinn anzustellen«, widersprach Archibald entschieden. Mit einem Finger, der aussah wie eine von seinen Würsten, deutete er auf den qualmenden Kerzenstumpf mit seinem eigenartigen schwarzen Kragen.

»Das Messingzeugs muss auf jeden Fall weggeschlossen werden, Herr Pfarrer. Die Menschen respektieren die Kirche nicht mehr so wie früher. Wenn Sie einen Beweis brauchen – dort haben Sie ihn. Als Nächstes werden die Messingsachen geklaut – ich meine gestohlen.«

Maurices Depression vertiefte sich. Er hatte vergessen, das Altarbesteck wegzuschließen, obwohl er dem Küster versprochen hatte, sich darum zu kümmern. Trotzdem flackerte nun in ihm eine eher seltene Verärgerung auf wegen der Tatsache, dass er Tadel von einem Mann hinnehmen musste, der bei allen Heiligen lediglich ein Lieferant toten Fleisches war und bekanntermaßen jeden Sonntag gleich nach dem Abendgottesdienst in das Pub ging. Dies hier war immer noch seine, Maurices Kirche. Er trug immer noch die Verantwortung. Entschlossen trat er vor und packte den Kerzenleuchter.

»Ich werde dies hier und alles andere im Schrank in der Sakristei wegschließen, Derek, machen Sie sich deswegen keine Gedanken! Und anschließend werden wir uns gründlich umsehen, bevor wir die Kirche absperren. Sie können ganz beruhigt nach Hause gehen, Mrs. Etheridge. Ich danke Ihnen, dass Sie uns auf die Angelegenheit aufmerksam gemacht haben.«

»Allein nach Hause gehen?«, krächzte Janet entsetzt.

»Nach dieser Sache? Derek, du musst mich fahren! Du bist doch mit dem Wagen da, oder?«

»Ja, ja, schon gut, Janet. Setz dich dort drüben hin.« Er deutete auf die erste Kirchenbank.

»Ganz bestimmt nicht!«, entgegnete sie.

»Ich bleibe dicht bei dir!« Sie tappten hintereinander her wie drei blinde Mäuse, während sie den gesamten Bau absuchten, Schränke öffneten, staubige Wandbehänge zur Seite schoben und unter Sitzbänke schielten. Sie fanden nichts außer einem Füllfederhalter, den Maurice einen Monat zuvor verlegt hatte, und einer Sammlung Bonbonpapiere im Chorgestühl. Maurice war froh, seinen Füllfederhalter wiederzuhaben. Er hatte das Gerät viele Jahre benutzt und seit seinem Verlust mit einem Kugelschreiber geschrieben, was ihm gar nicht gefallen hatte. Der Federhalter war ein Geschenk von Nancy gewesen. Vielleicht würden sie sich bald wieder begegnen, er und Nancy. Er hoffte es sehr. Es wäre schön, wenn sich der Himmel als der Ort herausstellte, den die traditionellen Vorstellungen zeichneten. Vielleicht stand Nancy ja schon dort und erwartete ihn mit ausgestreckten Händen. Sie schlossen die Kirche ab und gingen.

Später am Abend, als Maurice sich von den Knien erhob und in sein Bett stieg, überlegte er, dass man die Geschichte nicht zu ernst nehmen sollte. Nichts war gestohlen oder beschädigt worden. Wahrscheinlich hatte nur irgendjemand einen fehlgeleiteten Sinn für Humor. Der Altar war schließlich nicht wirklich entweiht worden. Maurice verspürte keine Lust, am nächsten Tag zur Bamforder Polizeistation zu fahren und einen ermüdenden Bericht auszufüllen. Noch weniger wollte er den Bischof belästigen, einen energischen Mann, der ganz ohne Zweifel eine Untersuchung anstrengen würde. Außerdem war da auch noch die einheimische Presse. Sie konnte Wind von der Sache bekommen und die Geschichte zu etwas aufbauschen, was sie nicht war – und das, so wusste Maurice, brachte manche Menschen überhaupt erst auf dumme Ideen.

Er würde die Kirche in Zukunft ein wenig früher verschließen, wie Derek Archibald es vorgeschlagen hatte, und er würde sich zusammenreißen und nach jedem Gottesdienst das Altarbesteck wegschließen. Archibald hatte Recht. Die Menschen respektierten das Gotteshaus tatsächlich nicht mehr so wie früher. Maurice hatte Glück gehabt, sein Priesteramt größtenteils zu einer Zeit bekleidet zu haben, in der das Priestergewand noch als Symbol der Autorität respektiert worden war. Heutzutage war dieses Symbol längst verblasst. Und die jungen Priester, zumindest einige von ihnen, waren sehr eigenartig. Ihm war zu Ohren gekommen, dass sein Nachfolger ein Motorrad fuhr.

Maurice hatte den beiden anderen seinen Unwillen verkündet, die Angelegenheit zu melden, und sie gebeten, nichts über das Rätsel der Kerze und die Kosmos-Blüten zu erzählen. Sie waren einverstanden gewesen.

»So etwas«, hatte Derek gepoltert und eifrig im Licht der Straßenlaterne vor dem Tor des Pfarrhauses genickt, »so etwas bringt eine Gemeinde ganz schnell in Verruf. Nicht nur die Kirche, die ganze Stadt. Ich bin ein einheimischer Geschäftsmann, und ich will keine Gerüchte von heimlichen schwarzen Messen. Das beeinträchtigt das Geschäft, ganz sicher tut es das.«

Er hatte nicht erklärt, wie eine schwarze Messe seine Metzgerei beeinträchtigen könnte, doch Maurice hatte ironisch gedacht, dass es Archibalds Geschäft vielleicht sogar beflügeln würde, und sei es nur durch den Handel mit Geflügel und eine gestiegene Nachfrage nach weißen Küken. Doch Derek hatte wie gewöhnlich Recht. Beide hatten in jeder Hinsicht Recht, Mrs. Etheridge und Derek Archibald. Wie unglaublich ärgerlich das doch war.

»Dann sind wir alle einverstanden, Mrs. Etheridge?«, hatte

Maurice die Frau gefragt.

»O ja! Ich werde kein Sterbenswort erzählen! Man weiß schließlich nie, was geschieht, wenn man über solche Dinge redet. Es könnte alles noch schlimmer machen!« Sie hatte die Augen verdreht, bis nur noch das Weiße zu sehen gewesen war wie bei einem verängstigten Pferd. Die naive Frau hatte wahrscheinlich gefürchtet, dass ein schreckliches Gespenst erscheinen könnte, ein riesiger gehörnter Ziegenbock oder sonst etwas, doppelt schlimm für jemanden, der so streng vegetarisch lebte und sich um das Wohlergehen der Tiere sorgte. Doch Aberglaube hatte auch seine nützlichen Seiten, und Maurice spürte, dass er sich auf Janets Schweigen verlassen konnte.

»Allerdings …«, sagte er, als sie sich verabschiedeten, »… sollte sich dieser Vorfall wiederholen …«

Er wiederholte sich nicht. Gegen Ende des Sommers ging Maurice Appleton in den Ruhestand, und gegen Weihnachten hielt der himmlische Bus vor seiner Tür. Maurice stieg ein und machte sich auf seine letzte Reise.

Der neue Vikar, oder, um seinen korrekten Titel zu nennen, der neue Dekan – denn er kümmerte sich auch um einige umliegende Gemeinden, die in vergangenen Tagen eigene Vikariate gewesen waren – hieß James Holland. Er war aus einem gänzlich anderen Holz geschnitzt als Maurice. Er fuhr tatsächlich ein Motorrad. Und er wusste nicht das Geringste über das Rätsel der brennenden Kerze, weil Derek Archibald und Janet Etheridge getreu ihrem Versprechen nicht darüber geredet hatten. Ob es auf lange Sicht einen Unterschied gemacht hätte, lässt sich im Nachhinein nicht mehr sagen, denn zu diesem Zeitpunkt war Kimberley Oates bereits tot.

KAPITEL 2

»UND WAS machen wir jetzt, Pater?«

Pater Holland vermied den Augenkontakt. Trotzdem war er sich des Sprechers nur zu gewahr, als wäre er ein Hund von unberechenbarem Temperament.

Der Fragesteller hatte tatsächlich etwas Wildes an sich. Er war ein großer, kraftvoller Mann mit einem zurückweichenden Kinn und spitzer Nase. Er besaß kleine, eng zusammenstehende Augen unter einem Schopf gelbbraun melierten Haares, das gegenwärtig von einer Strickmütze gebändigt wurde. Und als spürte er das Unbehagen seines Gegenübers, verzog er das lederne, sonnengebräunte Gesicht zu einem böswilligen Grinsen.

Rechts von der flachen Grube, neben dem frisch ausgehobenen Erdhaufen, stand ein kleinerer, stämmigerer und jüngerer Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem ersten besaß. Pater Holland zog elend die Schultern hoch. Es nieselte, und er blickte auf das neue Grab, während er sich nicht zum ersten Mal wünschte, die beiden Lowe-Brüder würden ihn nicht so sehr an zwei Wiesel erinnern.

Der jüngere Lowe kramte hektisch in den Taschen seiner dicken Jacke. Seine Hand kam mit einem zerdrückten Päckchen Zigaretten wieder zum Vorschein, und er steckte sich eine an. Seine Finger, fleckig von Erde und Nikotin, zitterten.

Er stieß den Rauch durch die Nase und murmelte:

»Wir haben sie gerade erst entdeckt, Herr Pfarrer.«

 

»Ich verstehe«, antwortete Pater Holland.

»Nun beruhigen

Sie sich wieder, Gordon.«

»Es ist ja nicht das erste Mal, Herr Pfarrer! Wir haben schon viele ausgegraben, ich und Denny. Aber noch nie so dicht an der Oberfläche wie die da.« Denny, der auf seinen Spaten gestützt dastand und allem Anschein nach so unerschütterlich ruhig war wie sein Bruder Gordon aufgeregt, wiederholte seine Frage:

»Was machen wir jetzt?« Pater Holland blickte sich verzweifelt suchend auf dem Friedhof um, als erwartete er eine Inspiration von seiner Umgebung. Doch was sie ihm sagte, war so vertraut, so familiär, so normal. Die alten Gräber, einige eingesunken, kaum noch lesbare Grabsteine, überwachsen von Moos und Flechten, die heruntergekommenen Überreste einst prachtvoller Gräber, tropfende Bäume und nasses Gras, alles genau wie gestern und die Tage davor. Das Gras war zu Beginn des Monats gemäht worden, und es fing nun wieder an zu wachsen. Auf einigen der lange nicht mehr besuchten Hügel hatte es einen dichten grünen Teppich gebildet, und weil es dort nicht gemäht worden war, hatte sich Kosmos festgesetzt, der nun blühte. Die Blüten bildeten ein hübsches Muster aus Farben, angefangen bei reinem Weiß über blasses Pink, dunkles Pink und Malve bis hin zu einem dunklen, vollen Magenta. Unter dem bedeckten Himmel des heutigen Tages leuchteten sie mit fast übernatürlicher Intensität. Wahrscheinlich hatte vor langer Zeit irgendjemand Kosmos auf einem Grab ausgesät, und seither gab es jedes Jahr aufs Neue diese sommerliche Explosion von Farben, die das Auge erfreute und vielleicht sogar ein wenig schockierte. Holland zwang sich, den Blick von der friedlichen, wenngleich ein wenig unordentlichen Szenerie zu nehmen und in die Gegenwart der rauen Wunde in der Erde zu seinen Füßen zurückzukehren. Der Schädel lag in einer Vertiefung aus Erde, und noch immer klebten Reste von rotem Haar am Kopf. Die Zähne waren klein und gleichmäßig mit einer deutlichen Lücke zwischen den beiden oberen Schneidezähnen. Unter dem Kiefer waren ein paar Wirbel zu sehen, der Rest war von klebriger Erde bedeckt. Rasch bildeten sich Pfützen in der aufgewühlten Erde. Der Schädel grinste Holland an, eingerahmt von Wasser, und ein großer Regenwurm kam in seinem Bemühen, der Flut zu entkommen, durch eine leere Augenhöhle gekrochen. Gordon stellte die nahe liegende Frage.

»Wer is’ das?« Er deutete mit der Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger auf den Leichnam. Pater Holland unterdrückte den Impuls, unwirsch

»Woher um alles in der Welt soll ich das wissen?« zu entgegnen. Stattdessen blickte er auf den Grabstein, obwohl er wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass er dort eine Antwort auf das Rätsel fand. Die Grabarbeiten hatten den Stein gelockert, und er stand nun in schrägem Winkel nach hinten geneigt. Die Lowes hatten ihn mit zwei Holzstäben abgestützt, bevor sie mit ihrer Arbeit angefangen hatten. Der Pfarrer streckte die Hand aus und kratzte am Moos und den Flechten über der Inschrift. Er murmelte die Worte leise in der Reihenfolge ihres Erscheinens vor sich hin.

»Walter … Gresham … und … seine … Frau … Marie.« Walter war 1947 gestorben, und Marie 1962. Die Ruhestätte war offiziell seit jenem Tag im Jahre 1962 bis zu diesem nassen Sommermorgen, an dem die Brüder Lowe gekommen waren, um das Grab zu öffnen, ungestört gewesen. Heiser sagte Denzil:

»Nun ja, von den beiden Greshams isses bestimmt keiner! Das Grab is’ viel zu flach, wie Gordon schon sagt. Nur einen Fuß unter der Oberfläche. Die Knochen sin’ hübsch weiß und sauber. Ich frage mich, ob sich nich’ einer von ihnen nach oben gearbeitet hat. Wär’ nich’ das erste Mal, dass jemand die Zehen rausstreckt un’ …«

»Ja, schon gut, Denny!«, unterbrach ihn Pater Holland scharf. Unbeirrt stieß Denzil die Spatenspitze in das weiche Erdreich.

»Außerdem gibt’s kein verrottetes Holz, keine Messinggriffe, nichts. Da war kein Sarg, Pater.« Pater Holland rieb sich mit der Hand über das bärtige Gesicht. Denny, der Experte, bückte sich und untersuchte die aufgewühlte Erde.

»Das dort könnte ’n Stück Kleidung sein. Ja, das isses. Das muss es sein. Irgend so’n synthetisches Zeugs, was nich’ verrottet.«

»Synthetisch?« Pater Holland starrte ihn an, dann sah er auf das schmutzige Gewebe.

»Ja, ich glaube, Sie haben tatsächlich Recht, Denny! Damit wäre alles klar. Hören Sie sofort mit den Arbeiten auf und decken Sie das Grab ab!«

»Meinetwegen«, sagte Denzil phlegmatisch.

»Ich hab noch ’n paar Planen im Schuppen.«

»Und keiner von Ihnen beiden wird ein Wort über das hier verlieren, sonst ist der Friedhof bald voller Schaulustiger. Sie werden den Mund halten, bis die Polizei hier ist.« Er zögerte.

»Ich werde sie jetzt gleich anrufen.« Er eilte zum Tor, und als er einen letzten Blick nach hinten warf, sah er, wie die beiden Lowe-Brüder mit geschickten Griffen eine wasserdichte Plane über das Grab warfen. Gott sei Dank war keiner von beiden sonderlich gesprächig, auch wenn es vielleicht nur daran lag, dass kaum jemand sich gerne mit ihnen unterhielt. Ihr Beruf – und möglicherweise auch ihr unansehnliches Erscheinungsbild – rief bei den Menschen eine abergläubische Scheu gemischt mit Widerwillen hervor. Die Lowes lebten ein isoliertes Leben in einem kleinen Haus, dem es an allem außer den grundlegendsten Annehmlichkeiten fehlte, doch ihre spartanische Existenz ohne Freunde schien ihnen nichts auszumachen. Der Pfarrer überlegte kurz, was sie zu ihrer melancholischen, nichtsdestotrotz notwendigen Arbeit gebracht haben mochte. Dann verdrängte er alle Gedanken an unbeantwortete Fragen und begann im Geiste damit, sich sein Telefonat mit der Polizei zurechtzulegen.

Meredith Mitchell lenkte ihr Fahrrad in den Weg, der zum Vikariat und der Kirche führte. Unklugerweise versuchte sie zur gleichen Zeit, sich die Gischt aus dem Gesicht zu wischen, die ein vorüberkommendes Fahrzeug versprühte. Sie schwankte unsicher.

Es war schon eine Zeit lang her, dass sie auf einem Fahrrad gesessen hatte. Genau genommen seit ihrer Kindheit nicht mehr. Dieses Fahrrad hier hatte sie von ihrer Freundin Ursula ausgeliehen, die in Oxford lebte, der Stadt der Fahrräder. Und Ursula hatte es ihr für den geplanten Urlaub auf dem Flussboot geliehen.

»Ihr müsst die Fahrräder nur auf dem Kabinendach festzurren«, hatte Ursula zuversichtlich gesagt.

»Und wenn ihr für den Abend irgendwo festmacht, nehmt ihr sie herunter und fahrt damit zum nächsten Pub.«

Alles hatte so einfach und angenehm geklungen, genau wie der Urlaub auf dem Kanal selbst. Alan Markby und sie hatten vor einigen Wochen darüber gesprochen, gemeinsam Urlaub zu machen, als sie im Garten des Trout Inn in Wolvercote zusammensaßen. Auf dem Rückweg zum Parkplatz waren sie stehen geblieben und hatten die Flussboote bewundert, die am Ufer vertäut lagen. Und ohne über irgendwelche Einzelheiten zu reden, hatte es urplötzlich nach einer wunderbaren Idee ausgesehen.

Meredith hatte noch nie zuvor ein Flussboot gesteuert. Alan hingegen war vor zwanzig Jahren mehrmals genau dieses Stück Kanal hinauf- und hinuntergefahren, mit verschiedenen hübschen und athletisch gebauten jungen Frauen, die auf dem Kabinendach sonnengebadet hatten, bereit, ans Ufer zu springen und die Schleusen zu bedienen.

Er hatte groß und breit in Erinnerungen geschwelgt, angefeuert von einem guten Essen und ein paar Pints.

»Ich will gar nicht so viele Einzelheiten über deine fehlgeleitete Jugend wissen«, hatte Meredith gesagt.

»Die Frage lautet: Weißt du noch, wie man so ein Boot steuert?« Selbstverständlich wusste er es. Es war nicht schwer. Auf dem Kanal gab es eine strenge Geschwindigkeitsbegrenzung. Mehr noch, der Mann, von dem sie ihr Boot mieten wollten, hatte versprochen, ihnen jeden Trick zu zeigen. Es würde, so hatte er versprochen, nicht das kleinste Problem geben. Das Boot selbst lag gegenwärtig in Thrupp. Sie hatten es besichtigt. Es sah sehr hübsch aus, rot und grün gestrichen, mit gehäkelten Vorhängen hinter den kleinen Bullaugen oder Fenstern oder wie auch immer man so etwas auf einem Kanalboot nannte. Es besaß sogar einen kleinen Garten auf dem Dach in Form zweier Holzkisten mit Geranien darin. Dann hatte Ursula vorgeschlagen, dass sie die Fahrräder mitnahmen. Inzwischen galt die ganze Sache als abgemacht, und das, obwohl immer noch keiner von beiden eine bewusste Entscheidung getroffen hatte. Es war zu diesem Zeitpunkt gewesen, dass Meredith zu vermuten begann, alles würde sich als verhängnisvoller Fehler erweisen. Sie erinnerte sich an die unzähligen Pannen in Drei Männer in einem Boot. Schlimmer noch, das Wetter war zunehmend schlechter geworden, und es schien wieder einer dieser vollkommen verregneten Sommer zu werden. Frischlufturlaube gleich welcher Art setzten Sonnenschein voraus. Beim Tor der Pfarrei angekommen, stellte Meredith erleichtert den Fuß auf den Boden. Nach so langer Zeit führte die ungewohnte Anstrengung zu steifen Beinen, wie sie feststellte, um nicht zu sagen einem tauben Hintern. Mehr noch, an Tagen wie diesem, an denen es ununterbrochen nieselte, wurde man ziemlich nass. Falls der Regen bis zur kommenden Woche nicht aufgehört hatte, wenn sie erst auf dem Kanal waren, würde es nur noch heißen:

»Wasser, Wasser überall …« Ihr Jahresurlaub vom Schreibtisch des Büros im Foreign Office hatte heute begonnen. Vor ein paar Monaten erst war sie auf einen Posten in der Administration versetzt worden. Ihre Erfahrung im Konsulardienst hätte sie eigentlich irgendwie darauf vorbereiten müssen, obwohl sie nicht sehen konnte, wie. In letzter Zeit hatte sie angefangen zu vermuten, dass sie irgendwann im Verlauf ihrer Karriere Mist gebaut haben musste. Sie fragte sich nur, wo. Sie hatte ihre Pflichten als Konsulin mit unbeirrbarer Entschlossenheit erfüllt. Sie hatte keinen der offensichtlichen Fehler begangen. Sie war nie bei einem offiziellen Empfang betrunken umgefallen und hatte sich auf keiner Botschaftstoilette übergeben. Sie hatte nie mit den falschen Personen geschlafen. Sie hatte nie unvorsichtig mit der Presse gesprochen. Hätte sie Veranlagung dafür gezeigt, hätte sie sich den Kopf über ihre Versetzung zerbrochen. Aber nicht in den nächsten drei Wochen. Das Vergnügen, von den Problemen anderer Menschen wegzukommen, wurde von der Aussicht auf den bevorstehenden Urlaub noch versüßt. Ein Schritt ins Ungewisse, dachte sie mit schiefem Grinsen, als sie das Rad durch das Tor und die Auffahrt zur Haustür hinaufschob. Es war dieses Gefühl und die Hoffnung, noch ein wenig mehr zu erfahren, bevor sie sich auf ein Boot wagte, die sie an diesem Morgen hierher zum Vikariat geführt hatten. Pater Holland war in unerwartete Begeisterung für das Projekt ausgebrochen, als er von ihren Urlaubsplänen erfahren hatte. Wie sich herausstellte, hatte er als Knabe bis zu den Oberschenkeln im Schlamm des Kanals gesteckt, zwischen Schilf und alten Kinderwagen, und dort gespielt. Er besaß eine kleine Bibliothek über die inländischen Wasserstraßen. Einen Sommer lang war er über die Kanäle und Flüsse des nördlichen Frankreich und Belgiens gefahren. Er hatte Karten vor ihnen ausgebreitet und staubige Fotoalben hervorgezogen. Er sagte, er wünschte, er könnte mit ihnen kommen, eine nicht ganz uninteressante Bemerkung. Je eifriger er sich für ihren Plan begeistert hatte, desto größer waren in Meredith die Zweifel geworden. Doch sie konnte nicht mit Alan darüber reden. Es war zu spät: Alan hatte sich von Pater Holland mitreißen lassen, der ihre geplante Route auf den Karten nachverfolgte und offensichtlich völlig darin aufging. Es wäre nicht fair gewesen, die Sache abzublasen, wenn er sich bereits so sehr auf die Fahrt freute. Außerdem hatte er sich seinen Urlaub wirklich verdient. Am Ende hatte sie ihre bösen Ahnungen verdrängt. Unvermittelt wurde sie vom Geräusch eiliger Schritte und angestrengten Atmens aus ihren Gedanken gerissen, das sich hinter ihr näherte. Sie blieb stehen und drehte sich um. Zu ihrer Verblüffung sah sie den Pfarrer selbst, der über den Plattenweg herbeihastete, in Richtung seiner Haustür. Er trug einen unansehnlichen grünen Anorak und hatte die Kapuze gegen den anhaltenden Regen über den dichten schwarzen Schopf gezogen. Seine mächtigen Fäuste hielten den Saum der Soutane wie ein viktorianisches Fräulein, um sie vor den Pfützen zu schützen, und enthüllten auf diese Weise den Blick auf die schweren Stiefel, sein bevorzugtes Schuhwerk. Bei seinem Anblick fühlte sich Meredith unwillkürlich an eine Amateurproduktion von Charleys Tante erinnert. Sie bemerkte, dass Hollands Stiefel mit frischer Erde verklebt waren. Er schien vom Friedhof zu kommen. Das Garagentor stand offen, und sie konnte sein Motorrad sehen, auf dem er Besuche in den umliegenden Gemeinden machte.

»Oh, Meredith!« Er kam heran und ächzte, während er die Kapuze seines Anoraks nach hinten warf und sie anstarrte. Er war noch zerzauster als gewöhnlich, und er wirkte ungewöhnlich aufgelöst.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie. Seine Unruhe war nicht zu übersehen.

»Ja … Ich muss sofort die Polizei anrufen!« Er eilte an ihr vorüber und rief über die Schulter:

»Es dauert nicht lange. Stellen Sie das Fahrrad auf der Veranda ab und gehen Sie rein. Machen Sie sich Kaffee …« Er verschwand im Innern, und seine Stimme verklang. Gehorsam seinen Anweisungen folgend, kettete sie das Fahrrad an einer Holzstütze der Veranda an, nur für den Fall, und betrat das Haus. Während sie durch den Flur nach hinten und zur Küche des Pfarrhauses ging, konnte sie hören, wie Holland in das Telefon brüllte. Die einseitige Konversation schien größtenteils aus Antworten zu bestehen. Sie hatte den Anfang des Gesprächs nicht mitbekommen, daher konnte sie sich keinen Reim auf die Fragen machen, die zweifelsohne am anderen Ende der Leitung gestellt wurden.

»Ganz bestimmt nicht! Sie haben es wieder zugedeckt! Mit einer Plane. Nein, niemand sonst weiß davon … Wer da ist? Die beiden Totengräber, die Lowes … Das wissen sie sicherlich selbst! Ja, ja … Gut.« Die Küche war in vorhersehbarer Unordnung. Der Pfarrer besaß zwar eine Haushälterin, die jeden Tag kam, doch sie war keine fleißige Frau, und heute war sie aus irgendeinem Grund überhaupt nicht erschienen. Sie kochte ihm normalerweise ein Mittagessen, bevor sie gegen zwei Uhr nachmittags wieder ging, doch heute schien es, als wäre der Pfarrer dazu verdammt, ohne Mahlzeit auszukommen, es sei denn, er bekochte sich selbst. Mitten auf dem Tisch stand eine einsame Dose Baxters Royal Wildsuppe. Meredith entschied, dass Tee passender war als Kaffee. In England war es Brauch, bei Notfällen aller Art Tee zu trinken. Sie schaltete den Wasserkocher ein und nahm die angeknackste Teekanne herunter. Sie hatte schon einmal Tee in dieser Küche gemacht. Sie wusste, dass der Deckel der Teekanne nicht passte und herunterfiel, wenn man beim Ausschenken nicht aufpasste. Sie wusste, dass die Milch im Kühlschrank in einer Flasche stand, nicht in einem Krug, und dass Pater Holland eine Schwäche für verdauungsfördernde Schokoladenbiskuits besaß. Er bewahrte sie in einer Blechdose auf, verziert mit einem Bild von zwei Kindern, die ein Kaltblut fütterten. Meredith kannte all die Zeichen, die verrieten, dass der Pfarrer allein lebte. Genau wie sie selbst, und wie Alan und wahrscheinlich tausende anderer auch. Ein lautes Klappern kündete davon, dass Holland den Hörer schwer auf die Gabel zurückgelegt hatte. Der Pfarrer tauchte im Eingang zur Küche auf, als sie den Deckel auf die Kanne drückte und sich am heißen Metall die Finger verbrannte. Sie blickte ihn an. Seine Stirn war nass, doch Meredith war sicher, dass es Schweißperlen waren und keine Regentropfen.

»Ich muss mich entschuldigen wegen vorhin«, sagte er, setzte sich an den Tisch und legte beide Hände auf die Platte. Unter seinen Fingernägeln klebte Schmutz; keine Erde, sondern etwas Grünliches, Körniges.

»Was ist passiert?«, fragte sie, während sie ihnen Tee einschenkte und die Biskuitdose öffnete. Pater Holland streckte automatisch die Hand nach einem tröstenden Biskuit aus, doch dann hielt er inne, musterte seine verdreckten Fingernägel und stand auf, um die Hände unter dem Wasserhahn zu waschen.

»Flechten«, sagte er über die Schulter hinweg.

»Ich habe die Inschrift auf einem Grabstein freigekratzt.« Er kehrte zu seinem Stuhl zurück.

»Denny und Gordon – das sind die beiden Totengräber – haben einen Leichnam ausgegraben.« Erschrocken starrte Meredith ihn an. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Gedanke an Leichenfledderer drängte sich in ihr Bewusstsein, mit all seinen widerlichen Bedeutungen.

»Eine Exhumierung?«, stammelte sie.

»Macht man so etwas nicht im ersten Licht des Tages? Oder wollen Sie sagen, dass es ein Versehen war?«

»Ein Versehen? Hm, vermutlich könnte man es so nennen.« Er blickte auf seine Armbanduhr.

»Die Polizei schickt jemanden vorbei. Er wird sich hier melden, und ich bringe ihn zum Friedhof hinunter. Gott sei Dank regnet es. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen könnten, wäre jemand, der ein Grab besuchen und Blumen bringen will – wenn er es sehen würde, wüsste es bald ganz Bamford! Diese Geschichte wird sich sowieso schnell genug verbreiten. Ich verstehe einfach nicht, wie der Leichnam dorthin kommen konnte!« Meredith dachte einen Augenblick über die erhaltenen Informationen nach.

»James, wollen Sie vielleicht andeuten, dass es sich um eine Art nicht genehmigtes Begräbnis handelt?«

»Es muss so sein.« Er kaute düster auf seinem Biskuit, und Krümel verfingen sich in seinem Bart.

»Aber wie? Ich meine, man kann doch nicht einfach auf einen Friedhof gehen und seine Oma begraben, wo es einem gefällt? Sind Sie ganz sicher?«

»So sicher, wie ich nur sein kann. Sie werden doch Stillschweigen bewahren?« Er sah ihr Nicken und fügte hinzu:

»Obwohl es über kurz oder lang jeder erfahren wird, wie gesagt. Ich verstehe nur einfach nicht, wie es geschehen konnte! Ich meine, wie Sie gesagt haben: Niemand kann einfach auf den Friedhof gehen und … und jemanden begraben!«

»Bestimmt ist es ein Fehler in den Aufzeichnungen, James. Regen Sie sich deswegen nicht unnötig auf«, sagte Meredith eindringlich. Doch er schien nur noch nervöser zu werden und spielte geistesabwesend mit den Gegenständen auf dem Tisch. Er packte die Dose mit der Wildsuppe, starrte auf das Bild, auf dem ein Hirsch zu sehen war, und schob sie wieder von sich.

»Wo steckt eigentlich Mrs. Harmer?«, fragte Meredith.

»Auf Krankenbesuch bei ihrer Schwester. Was sich im Grunde genommen gut trifft; ich bin froh, dass sie heute nicht hier ist. Sie würde sich nur unnötig aufregen, nach dem, was sich ereignet hat.« Die altmodische Türglocke über der Küchentür ging, ein Relikt aus jenen Tagen, als die Pfarrei noch einen kleinen Stab von Dienstboten beschäftigt hatte. Beide schraken zusammen. Die Vordertür des Pfarrers war während des Tages nur selten verschlossen, und Besucher steckten im Allgemeinen die Köpfe herein und riefen Hallo. Die formelle Türglocke kündete einen Fremden an.

»Das wird die Polizei sein. Ich gehe besser und zeige den Beamten die Stelle.« Pater Holland stand auf und ging nach draußen. Einen Augenblick später hörte Meredith seine Stimme im Flur. Sie klang überrascht.

»Margaret? Ich dachte, es wäre die … äh, ich habe jemand anderen erwartet. Kommen Sie in die Küche. Wir trinken gerade Tee.«

»Ich habe Oscar im Wagen. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ihn mit hereinbringe? Wenn er sich langweilt, bellt er Passanten an.«

»Ja, natürlich. Bringen Sie ihn herein.« Meredith hörte das Schlagen einer Wagentür und eine befehlende Frauenstimme.

»Sitz, Oscar! Halt endlich still, hörst du?« Ein tiefes, volles Bellen antwortete. Meredith stellte sich einigermaßen nervös ein großes, wildes Tier von der finsteren Sorte vor, wie es im Hund von Baskerville beschrieben wird. Sie war misstrauisch gegenüber fremden Hunden. Die Küchentür wurde geöffnet, und Pater Holland sowie eine Frau stürzten herein wie von einer unsichtbaren Macht gestoßen. Pfotenscharren auf dem Steinfußboden, zusammen mit einem heftigen Schnaufen irgendwo unten, verriet, dass diese Macht Oscar war. Als Meredith die Besucherin erkannte, entspannte sie sich. Ihr Verstand war noch ganz durcheinander von den Neuigkeiten, und sie hätte sich nicht gerne mit einer Fremden unterhalten. Doch sie war Margaret Holden bereits flüchtig bei verschiedenen halb inoffiziellen Veranstaltungen begegnet. Als Mutter des jungen parteilosen Abgeordneten war Margaret im Wahlkreis wohl bekannt. Sie war Ende fünfzig und wahrscheinlich niemals eine Schönheit gewesen – dazu waren ihre Nase zu lang und ihr Mund zu breit –, doch mit einer hohen, glatten Stirn über stark ausgeprägten Augenbrauen und dem aschblonden Haar, das glatt nach hinten gekämmt war, besaß sie eine starke Ausstrahlung. Merediths Blick fiel auf eine grässliche Brosche auf dem Mantel der Besucherin, eine Raubvogelkralle in einer silbernen Fassung.

»Sie kennen sicherlich Meredith Mitchell, oder?«, fragte Pater Holland. Mrs. Holdens Stimme klang überraschend tief und warm zugleich.

»Selbstverständlich. Warten Sie bitte einen Augenblick, ich möchte nur gerade Oscar von der Leine lassen.« Sie bückte sich, dann richtete sie sich wieder auf und faltete die Leine ordentlich zusammen, bevor sie Meredith ein wenig steif die Hand hinhielt.

»Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen, Meredith. Und wie praktisch – ich wollte Sie sowieso heute anrufen.« Meredith stand auf, um die angebotene Hand zu nehmen, doch bevor es dazu kam, kollidierte ein massives Etwas mit ihren Knöcheln und beförderte sie vorwärts taumelnd über den Tisch.

»Oscar!«, tadelte seine Besitzerin. Meredith sah nach unten. Der Besitzer der dunklen Bellstimme hatte einen langen, kräftigen Leib und sehr kurze Beine, eine tonnenförmige Brust, lange, an den Rändern kahl werdende Ohren sowie – über einer langen spitzen Schnauze – stechend braune Augen, die Meredith erbost von unten her anblickten. Oscar war ein ausgewachsener schwarz-braun gescheckter Dachshund. Ein Dackel.

»Hallo«, begrüßte ihn Meredith und bückte sich. Oscar wich hastig zurück und bellte sie mit seiner tiefen Stimme an. Dabei hüpfte er auf seinen Stummelbeinen auf und ab und schoss abwechselnd auf Meredith zu und ging wieder auf Abstand.

»Ignorieren Sie ihn einfach«, riet Oscars Besitzerin. Meredith setzte sich wieder. Oscar schob sich misstrauisch heran, schnüffelte an ihren Schuhen, kam allem Anschein nach zu dem Schluss, dass sie harmlos war, und verlor das Interesse. Er wandte sich ab und rannte durch die Tür in den Flur hinaus, die Nase tief am Boden, den wedelnden Schwanz hoch aufgereckt wie eine Peitschenantenne auf einem Auto.

»Oscar ist ein Spürhund«, erklärte Mrs. Holden.

»Sein Instinkt lässt ihn jeder Spur folgen. Er tut niemandem etwas, aber wenn er irgendwo neu ist, will er herumrennen und alles untersuchen. Manche Leute mögen das nicht, deswegen frage ich immer zuerst, bevor ich ihn mit in ein fremdes Haus nehme.«

»Sie wissen doch, dass Oscar und ich alte Freunde sind«, sagte Pater Holland von der Spüle her. Er füllte eine Schale mit Wasser und stellte sie auf den Boden.

»Damit er etwas trinken kann, wenn er von seiner Erkundungstour zurück ist.« Vor der Vordertür erklangen knirschende Schritte und verstummten.

»Jemand zu Hause?«, rief eine männliche Stimme. Die Glocke ging erneut. Dies war Wasser auf die Mühlen von Oscars Lieblingsbeschäftigung. Er antwortete mit einem Japsen und raste zur Tür, um sich wie ein Irrer aus vollem Hals bellend dagegenzuwerfen.

»Da sind sie«, murmelte Pater Holland.

»Meredith, darf ich Sie bitten, mich zu vertreten? Es wird nicht lange dauern, Margaret. Hoffe ich.« Er ging nach draußen. Einen Augenblick später hörten sie ihn rufen:

»Still, Oscar!«

»Vielleicht sollte ich ihn lieber holen«, sagte Margaret und drehte sich um. Noch während sie sprach, wurde Oscar von einer energischen klerikalen Hand am Halsband in die Küche geschoben und die Tür vor seiner Nase geschlossen. Er nahm die rücksichtslose Behandlung übel auf und war deutlich hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, angestrengt dem Treiben im Flur zu lauschen, aus dem er verbannt worden war, und dem dazu in Konflikt stehenden Bedürfnis, ein höllisches Kläffen anzustimmen. Draußen murmelten Männerstimmen, dann herrschte Stille. Oscar legte den Kopf zur Seite.

»Wuff?«, fragte er probehalber. Doch die Beute war verschwunden. Margaret Holden ließ ihn wieder in den Flur. Er schoss hinaus wie eine Rakete und gab eine Reihe herausfordernder Beller von sich, und sei es nur deshalb, weil er das letzte Wort haben musste. Dann tappte er davon, um zu sehen, ob sich nicht irgendwo im Haus ein weiteres Erfolg versprechendes Wild aufscheuchen ließ. Margaret blickte Meredith fragend an. Mrs. Holdens Augenbrauen waren blassblond, wie ihr Haar, und ließen die tief liegenden blaugrauen Augen merkwürdig nackt erscheinen. Meredith überlegte, warum sie keine Wimperntusche benutzte oder sich die Wimpern färben ließ, wie es heutzutage modern war.

»Ist etwas passiert? James wirkte recht beunruhigt. Es hat doch wohl keinen Unfall gegeben, hoffe ich?« Während sie redete, stellte sie ihre Lederhandtasche auf den Tisch neben Oscars Hundeleine. Irgendetwas an ihrer sorgfältigen Aussprache verriet Meredith, dass Englisch nicht Margaret Holdens Muttersprache war.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Meredith.

»Ich bin auch eben erst gekommen, und Pater Holland hat fast die ganze Zeit über telefoniert. Warten Sie, ich hole Ihnen eine Tasse.« Margaret zog ihre Handschuhe aus, glättete jeden einzeln und legte sie fein säuberlich über ihrer Handtasche übereinander. Sie schien nachzudenken.

»Ich frage mich, ob er länger wegbleiben wird. Sie wissen nicht rein zufällig, ob das Gresham-Begräbnis nur im engsten Familienkreis stattfindet?«

»Gresham?« Meredith kam mit einer frischen Tasse zurück.

»Tut mir Leid, aber ich fürchte, darüber weiß ich nichts.« Oscar erschien in der Küche, tappte zur Wasserschüssel, die der Pfarrer für ihn hingestellt hatte, verspritzte überall auf dem Boden Wasser und verschwand wieder. Dann war Trappeln auf der Treppe zu hören.

»Verflixt, jetzt ist er nach oben gerannt«, murmelte seine Besitzerin.

»Nun ja, wahrscheinlich kommt er alleine wieder runter. Natürlich, Sie können Mrs. Gresham nicht kennen. Dazu leben Sie noch nicht lange genug hier. Sie starb vor kurzem. Ihre Familie ist alteingesessen und betätigt sich in der lokalen Politik. Als ich hierher gezogen bin, war Mrs. Gresham selbst Gemeinderätin und Mitglied des Bezirksrats. Sie hat Lars’ Karriere aufmerksam verfolgt. Ich besuchte sie kurz vor ihrem Tod, und bei dieser Gelegenheit gab sie mir dies hier.« Margaret berührte die hässliche Brosche mit der Raubvogelklaue.

»Sie war eine sehr aufgeschlossene Frau.« Das erklärte, warum Mrs. Holden ein Schmuckstück im edwardianischen Stil trug, das so überhaupt nicht mehr in die heutige, naturbewusste Zeit passte.

»Ich habe mich sehr gefreut, dass sie an mich gedacht hat, und ich würde gerne an ihrem Begräbnis teilnehmen, falls es nicht rein familiär ist, wissen Sie?«, fuhr Margaret fort. Trotz des Informationsflusses schien sie mit den Gedanken woanders. Ein schwaches Stirnrunzeln stand auf ihrem Gesicht, und die Worte kamen rasch und abgehackt. Dann verschwand das Stirnrunzeln wieder. Etwas lebhafter fuhr sie fort:

»Ich wollte Sie anrufen, wissen Sie, und Sie und Alan für nächsten Samstag zum Essen einladen. Es ist vielleicht ein wenig kurzfristig. Ich bitte dafür um Entschuldigung. Aber mein Sohn wird da sein, und wann immer ich Lars mit einbeziehen möchte, muss ich seinen engen Terminkalender berücksichtigen. Jedes Mal tauchen im letzten Augenblick Probleme auf, die ihn in London festhalten.« Ein Schatten überflog ihr Gesicht. Für einen kurzen Augenblick sah sie älter aus. Doch wie schon zuvor hatte sie sich auch diesmal rasch wieder im Griff und fuhr auf ihre forsche Art fort:

»Allerdings hat er versprochen, dass er am Wochenende kommt. Ich wollte James Holland ebenfalls einladen. Ich glaube, Sie haben meinen Sohn noch nicht kennen gelernt?« Es war Frage und Feststellung zugleich. Hätte Meredith Lars Holden gekannt, würde seine Mutter davon gewusst haben. Hätten sie sich kennen gelernt, ohne dass sie etwas davon wusste, dann würde Margaret den Grund dafür erfahren wollen, dachte Meredith. Einigermaßen erleichtert antwortete sie:

»Kennen gelernt nicht, nein. Ich habe ihn einmal bei einem Fest gesehen, aber nur aus der Entfernung.«

»Dann müssen Sie unbedingt am Samstag kommen. Lars interessiert sich sehr für auswärtige Angelegenheiten.« Meredith kam der Gedanke, dass es eine riskante Angelegenheit war, seinen Kindern ausländische Namen zu geben. Auf der einen Seite vergaß man den Namen sicherlich nicht so leicht. Auf der anderen war es eine lästige Bürde für Lars, wenn er jedes Mal aufs Neue seinen Vornamen erklären musste.

»Ich komme sehr gerne. Ich kann zwar nicht für Alan sprechen, doch soweit ich weiß, hat er Zeit. Nächste Woche sind wir weg – wir machen gemeinsam Urlaub. Wir wollen auf einem Boot über den Kanal schippern.« Unwillkürlich schlich sich ein beunruhigter Unterton in Merediths Stimme. Ein ungebetenes Bild kam ihr in den Kopf. Ein Bild, über das sie in letzter Zeit häufiger nachgedacht hatte. Darin kauerten sie und Alan in einer winzigen, voll gestopften Kabine und tranken Fertigsuppe aus Bechern, während der Regen unablässig auf das Holzdach prasselte und das Kanalwasser draußen eine einzige grau-grüne Suppe war. Über ihren Köpfen trappelten Oscars Füße im ersten Stock des Pfarrhauses über nackte Dielenbretter und verstärkten Merediths Stimmung. Sie riss sich zusammen und verdrängte den Gedanken.

»Wirklich? Das klingt hübsch«, murmelte Mrs. Holden höflich. Sie hatte ein kleines Notizbuch hervorgezogen und hakte etwas darin ab – wahrscheinlich Merediths Namen.

»Ich werde Alan anrufen.« Sie steckte das Notizbuch wieder ein und lächelte.

»Ich bin Lars’ Hostess und seine Sekretärin für den Wahlkreis, wissen Sie?«

»Ist Lars ein alter Name in Ihrer Familie?« Meredith konnte ihre Neugier nicht länger beherrschen.

»Ja. Es ist der Name meines Vaters. Ich komme aus Schweden, wissen Sie?« Sie sah auf ihre hübsche kleine goldene Armbanduhr. Merediths Blick fiel erneut auf die hässliche Brosche.

»Ich glaube nicht, dass ich noch länger auf James warten kann. Es könnte noch eine ganze Weile dauern, und ich habe viel zu tun. Sagen wir, zwischen sieben und halb acht am Samstagabend?« Sie erhob sich von ihrem Stuhl, nahm Handtasche, Handschuhe und Hundeleine und ging zur Tür, wo sie noch einmal stehen blieb. Unvermittelt wandte sie sich um und fragte:

»Und Sie wissen wirklich nicht, was passiert ist?«

»Sie meinen, warum der Pfarrer gegangen ist? Nein. Ich weiß es nicht.« Meredith war sich ihrer Notlüge schmerzlich bewusst. Doch James Holland hatte sie gebeten, Stillschweigen über die Entdeckung zu bewahren, und – wie er bereits gesagt hatte – bald genug würde sowieso jedermann Bescheid wissen. Auch wenn die Mutter des Abgeordneten Holden sich wohl kaum als jedermann betrachtete.

»Ich verstehe.« Meredith hatte das Gefühl, als glaubte Margaret Holden ihr nicht. Einen Augenblick lang lag eine weitere Frage auf ihren Lippen, doch dann sagte sie nur:

»Danke sehr für den Tee. Bis Samstag dann.« Sie ging hinaus in den Flur, und Oscar kam lautstark die Treppe herunter.

»Steh still!«, befahl sein Frauchen. Meredith erhaschte einen letzten Blick auf Margaret, als sie sich bückte und das Tier an die Leine nahm. Die Vordertür ging. Ein Motor wurde angelassen, und ein Wagen fuhr davon. Allein in der Küche trank Meredith ihren erkaltenden Tee und überlegte, wie der Pfarrer auf dem Friedhof wohl zurechtkam. Der kommende Samstag fiel ihr ein.

»Ich bin Lars’ Hostess.« Eine sehr energische Mutter, diese Margaret Holden. War die politische Karriere ihres Sohnes seine oder ihre Idee gewesen? Ein Satz von Gilbert und Sullivan kam ihr in den Sinn.

»Ich habe stets gewählt, wenn meine Partei rief, und dabei niemals an mich selbst gedacht.« Sie wusch das Teegeschirr ab, goss das restliche Wasser aus, das Oscar in der Schüssel gelassen hatte, und wischte die Pfütze auf. Es sah nicht danach aus, als würde der Pfarrer in nächster Zeit zurückkehren. Sie würde später noch einmal vorbeikommen, um ihn nach dem Buch zu fragen. Meredith ging nach draußen und schloss ihr Fahrrad auf. Sie schob es zum Tor hinunter und hielt, den Fuß bereits auf das Pedal gestellt, noch einmal inne. Ein Polizeifahrzeug auf dem Weg zum Friedhof kam vorbei. Wie von einem Magneten angezogen, radelte sie langsam hinterher. Der Regen hatte mehr oder weniger aufgehört. Auf dem kleinen Parkplatz standen dicht an dicht gedrängt Polizeifahrzeuge. Meredith saß im Sattel an die Friedhofsmauer gelehnt. Sie fühlte sich noch immer unsicher auf dem Rad. Die grauen, roh behauenen Steine der Mauer waren nach außen gewölbt, und die Jahrhunderte hatten zu einem Höhenunterschied von vier oder fünf Fuß zwischen dem Friedhof selbst und dem niedriger liegenden Weg vor der Mauer geführt. Auf der anderen Seite der Mauer, direkt vor ihr, ruhten die Toten. Vielleicht würde die alte Mauer eines Tages vom schieren Druck der Erde auseinander bersten, und der Morast des Verfalls würde sich auf den Weg ergießen. Meredith verbesserte sich – das war ein Szenario, wie es nur in Horrorfilmen vorkam. Selbst wenn die Mauer nachgab, gab es auf der anderen Seite wenig mehr als Erdreich. Die Gräber dort gehörten mit zu den ältesten auf dem Friedhof. Was auch immer sie einst enthalten hatten – es war längst verrottet und zerfallen. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Oder in diesem Fall: Matsch zu Matsch. Zwischen den roh behauenen Blöcken, aus denen die gesamte Mauer errichtet war, wuchs eine Kletterpflanze mit blassgrünen, fleischigen Blättern an langen verschlungenen Stängeln. Sie sah aus wie ein grüner Tausendfüßler, der sich über den zerbröckelnden Mörtel bewegte. Hier und dort war sie mit winzigen sternförmigen Blüten gesprenkelt. Sie kannte den Namen der Pflanze. Steinkraut. Alan hatte ihr einmal erzählt, dass es giftig war – wie so viele andere einheimische Pflanzen auch. Dass es hier wuchs und gedieh, war irgendwie unheimlich, als ob es direkt in dem wurzelte, was auf der anderen Seite lag. Ein nach außen hin sichtbares Zeichen der inneren und unsichtbaren Fäulnis. Wasser tropfte von einem Baum, dessen Äste über die Mauer ragten, und traf Meredith auf dem Kopf. Sie ließ sich ein wenig zurückrollen. Die Polizeibeamten waren ausnahmslos beschäftigt, und bisher hatte niemand von ihr Notiz genommen. Zwischen den Bäumen erhaschte sie einen Blick auf Pater Holland. Er redete mit einem Arbeiter, der eine Wollmütze trug. Wahrscheinlich einer der beiden Totengräber, die die grässliche Entdeckung gemacht hatten. Polizisten in wasserdichten Jacken luden Pfähle und Planen aus einem Lieferwagen. Sie wollten offensichtlich Sichtblenden aufstellen, und möglicherweise auch ein Dach zum Schutz vor dem Regen. Meredith fühlte sich als Eindringling und wusste, dass sie eigentlich nicht dastehen und gaffen sollte.

»Du weißt, was du bist, nicht wahr?«, schalt sie sich.

»Nichts weiter als ein sensationshungriger Gaffer auf der Suche nach Nervenkitzel!« Nein, das war sie nicht! Und warum stand sie dann hier? Hatte es etwas mit dem Tod an sich zu tun, das sie so faszinierte? Die Menschen der viktorianischen und edwardianischen Zeiten, die hinter jener ausgewölbten Mauer begraben lagen, hatten ihre eigene Sterblichkeit jeden Tag aufs Neue vor Augen gehabt. Menschen, dachte Meredith, die von Krankheiten niedergestreckt und aus dem Leben gerissen worden waren wie reifes Obst, das von Bäumen regnet. All die armen kleinen Kinder, die von Scharlach und Diphtherie und Gott weiß was dahingerafft worden waren. Heutzutage werden wir glücklicherweise davon verschont. Aber wie sehr wir doch, sann sie, einen grausigen Mord lieben! Wie wir die Zeitungen verschlingen, die all die widerlichen Einzelheiten beschreiben! Und worauf warte ich eigentlich hier? Ein weiteres Fahrzeug kam heran, und ein Mann in einem zerknitterten Anzug stieg aus. Er war mittleren Alters und wurde bereits kahl, und er trug einen Arztkoffer bei sich. Er schien verstimmt, dass man ihn herbeigerufen hatte – schließlich gab es kein Leben zu retten. Trotzdem, ein Toter war ein Toter, und diese Tatsache musste von einem Arzt amtlich festgestellt werden, ganz gleich unter welchen sonstigen äußeren Umständen. Vielleicht hatte er gerade beim Essen gesessen, als der Anruf gekommen war. Schließlich entdeckte ein junger Constable Meredith und näherte sich unbemerkt. Sie zuckte zusammen, als er sie ansprach.

»Ich fürchte, Sie können hier nicht bleiben, Miss. Wie Sie sehen, kommen zahlreiche Fahrzeuge hier durch. Ich muss Sie bitten weiterzufahren.« Er klang entschuldigend. Sie begegnete seinem Blick, und er lächelte. Es war ein konspiratives Lächeln – er wusste, warum sie dort gestanden hatte. Sie errötete verlegen und zugleich ärgerlich über sich selbst.

»Ich war im Pfarrhaus«, fühlte sie sich zu einer Erklärung genötigt, um ihm zu beweisen, dass sie nicht zu den üblichen Gaffern gehörte.

»Ich war bei Pater Holland zu Besuch, als er weggerufen wurde.«

»Oh. Pater Holland wird noch eine Weile beschäftigt sein, fürchte ich«, entgegnete der junge Beamte. Er besaß ein unverbrauchtes, rundes Gesicht und sah kaum älter als zwanzig aus.

»Sie fahren besser nach Hause und probieren es später noch einmal.« Seine Stimme klang entschieden und verhalten vorwurfsvoll. Wenn Polizisten in deinen Augen anfangen jung auszusehen, dachte sie, dann weißt du, dass du in Schwierigkeiten steckst. Das sagen alle. Das Alter schleicht heran.

»Verdammt!«, dachte sie ärgerlich.

»Ich bin erst sechsunddreißig!«

»So, du bist also sechsunddreißig«, erwiderte eine gemeine leise Stimme in ihrem Kopf.

»In Tudor-Zeiten betrug die durchschnittliche Lebenserwartung gerade mal einundzwanzig. Und es gibt Orte auf der Welt, wo sie immer noch nicht viel höher ist.«

»In diesen Statistiken ist auch die Kindersterblichkeit enthalten!«, widersprach sie lautlos.

»Miss?« Der Beamte blickte sie besorgt an.

»Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? Sie sind doch Engländerin, oder?«

»Sicher. Tut mir Leid, dass ich im Weg gestanden habe. Ich bin schon weg.« Sie radelte langsam davon. Wahrscheinlich hielt er sie für übergeschnappt. Sie drehte sich nicht um, um zu sehen, ob er sie beobachtete, doch als sie in die Hauptstraße einbog, tauchte plötzlich die Frage in ihr auf, ob Alan in diese Geschichte dort hinten verwickelt werden würde. Vor ihrem geistigen Auge versank das Kanalboot rasch und lautlos, mit einem großen Leck unterhalb der Wasseroberfläche, und hinterließ nur noch eine Spur aus Blasen.

KAPITEL 3

SUPERINTENDENT ALAN Markby saß in seinem hellen neuen Büro in dem geräumigen Gebäude der Bezirkskriminalpolizei und wusste, dass es griesgrämig gewesen wäre, sich über die Art und Weise zu beschweren, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Schließlich hatte Markby eine ganze Menge Glück gehabt. Er hatte Bamford zwar anlässlich seiner Beförderung verlassen müssen, doch er hatte lediglich sechs Monate in der fremden Umgebung des Nordostens verbracht, bevor man ihm die Möglichkeit geboten hatte, dieses Gebiet zu übernehmen. Rein zufällig schloss es sein ehemaliges Revier mit ein. Besser noch, dadurch hatte sich eine Gelegenheit ergeben, in sein altes Haus zurückzuziehen, das sich wegen des gegenwärtig daniederliegenden Immobilienmarktes nur schleppend verkaufen ließ. Also hatte Markby lediglich das

»Zu Verkaufen«-Schild heruntergenommen und war wieder eingezogen, auch wenn das eine hübsche tägliche Fahrtstrecke zur Arbeit und zurück bedeutete. Das Beste daran war – es hatte ihn zurück in die Nähe von Meredith Mitchell gebracht. Markby hatte allen Grund zu der Annahme, dass sie genauso erfreut darüber war wie er. Unruhe stieg in ihm auf. Meredith war ganz begeistert über ihren geplanten Urlaub auf dem Kanal. Zuerst hatte Markby die Idee selbst ausgezeichnet gefunden. Der grässliche Fund auf dem Friedhof von All Saints hatte alles geändert. Obwohl der Fall bisher noch als

»unautorisierte Bestattung« und

»verdächtig« klassifiziert war, bestand für die Bamforder Polizei kein Zweifel, dass sie es mit dem Opfer eines Kapitalverbrechens zu tun hatten. Als Konsequenz hatte man von Anfang an entsprechend gehandelt und die Bezirkspolizei um Hilfe gebeten. Bamford war einfach nicht ausgerüstet, um kostspielige forensische Untersuchungen zur Identifikation eines unbekannten Skeletts in Auftrag zu geben und eine Ermittlung durchzuführen, die möglicherweise über die Bezirksgrenzen hinausreichte. Bamfords Ressourcen waren beschränkt, und man verfügte weder über die personelle Besetzung noch die Zeit für eine derart langwierige Aufgabe. Also hatte man den Fall an die Bezirkspolizei übergeben, und er war auf Markbys Schreibtisch gelandet. Es erschwerte ihm die Entscheidung ungemein, ausgerechnet jetzt in Urlaub zu gehen. Markby war nicht so arrogant zu glauben, dass er unentbehrlich war, doch er hatte seinen neuen Posten noch nicht so lange, und das hier war möglicherweise der bedeutsamste Fall, der seit seinem Dienstantritt auf seinem Schreibtisch gelandet war. Es war eine Gelegenheit, den Dingen einen Stempel aufzudrücken und festzuschreiben, wie in Zukunft zu verfahren war. Vielleicht bot sich auch eine Gelegenheit, die Büroarbeit zeitweilig hinter sich zu lassen und vor Ort zu sein, wo sich alles abspielte. Früher einmal, vor langer, langer Zeit – jedenfalls kam es ihm in seiner Erinnerung so vor –, war er stets draußen gewesen, wo sich alles ereignete. Doch wahrscheinlich spielte ihm seine Erinnerung einen Streich. Das Gedächtnis ist berüchtigt für seine Unzuverlässigkeit. Es ist der gleiche Trick, der einen glauben macht, die Sonne hätte während der gesamten Kindheit und der Jugend ununterbrochen geschienen. Im Gegensatz zu diesem Tag! Markby blickte verdrossen zum Fenster hinaus. Oder diesem ganzen Sommer. Was für ein Wetter! Was für ein dummer Zeitpunkt, um mit einem Flussboot über den Kanal zu schippern! Außerdem – wenn er ehrlich war, verspürte er ein rein persönliches Verlangen, diese Untersuchung zu leiten und diesen Fall aufzuklären, der sich in einem Revier ereignet hatte, das er noch immer als

»sein eigenes« betrachtete. Wie um das Gefühl zu verstärken, war ein alter Bekannter zu ihm gekommen, Pater James Holland – der Pfarrer der Gemeinde, auf deren Friedhof der grausige Fund gemacht worden war –, um seine Aussage zu Protokoll zu geben. Selbstverständlich hatte Markby bereits mit dem Pfarrer über die Ereignisse gesprochen, als er den Friedhof inspiziert hatte. Zahlreiche Beamte waren zugegen gewesen und mit Spurensicherung beschäftigt, sodass Markby keine Gelegenheit gefunden hatte, mehr als ein paar kurze Worte mit Holland zu wechseln. Das Bild, das in Markbys Verstand haften geblieben war, zeigte den Pfarrer, flankiert von den beiden Totengräbern, im Nieselregen und mit einem völlig konsternierten Gesichtsausdruck. Heute sah sein Besucher keineswegs fröhlicher aus. Er saß zusammengesunken vor Markbys Schreibtisch und hielt einen Becher heißen Tees in den mächtigen Händen.

»Es ist eine Schande, James«, sagte Markby heftig.

»Ich meine, dass unsere Unterhaltung rein geschäftsmäßig sein muss.« Pater Hollands kraftvolle Gestalt rutschte unruhig auf dem viel zu kleinen Stuhl hin und her, den man ihm hingestellt hatte.

»Es ist eine faule Geschichte!«, grollte er, wobei er mit den massigen Schultern zuckte und sich in Markbys Büro umsah.

»Ein schickes neues Büro haben Sie, das muss man Ihnen lassen.«

»Ich gewöhne mich daran«, antwortete Markby.

»Und einen hübschen Ausblick.« Darauf angesprochen blickte Markby einmal mehr zum Fenster hinaus, durch das die regennassen, schweren Kronen der Bäume zu sehen waren. Es hatte eben wieder von neuem angefangen zu regnen. Falls sie tatsächlich zu ihrer Bootstour auf dem Kanal aufbrachen, dann schien es zumindest unwahrscheinlich, dass er oder Meredith auf dem Dach liegen und sonnenbaden konnten. Geistesabwesend sagte Pater Holland:

»Ich bin mit meiner Maschine hier.« Er meinte das schwere Motorrad, mit dem er die guten Bürger seiner neuen Gemeinde vor einigen Jahren erschreckt hatte, als er nach Bamford gekommen war. Er hätte es nicht eigens erwähnen müssen. Der glänzende schwarze Helm lag auf einem zweiten Stuhl, und Holland trug seine Lederkombination mit den schweren Stiefeln. All das zusammen und sein buschiger Bart hatten bei den Beamten gelinde Besorgnis ausgelöst, als Holland das Bezirkspräsidium betreten hatte. Sergeant Prescott hatte befürchtet, dass es zu heftigen verbalen Attacken kommen könnte, ähnlich denen, die rivalisierende Biker-Gangs untereinander ausfochten. Der Anblick des Pastorenkragens, als die zottige Gestalt ihre Lederjacke geöffnet hatte, war für Prescott ein herber Schock gewesen. Prescott war noch jung und neigte zu vorgefassten Meinungen über andere Menschen. Jetzt in diesem Augenblick redete er wahrscheinlich mit seinen Kollegen unten in der Kantine über den Zwischenfall.

»Sie haben bereits mit Inspector Bryce gesprochen, nehme ich an?« Markby griff nach dem Schnellhefter auf seinem Schreibtisch.

»Bryce hat mit mir geredet«, murmelte Holland kleinlich.

»Sie glaubt, dass die Chancen nicht schlecht stehen, den … die Überreste zu identifizieren.«

»Nun, immerhin ist es ein vollständiges Skelett«, sagte Markby.

»Und das ist gar kein schlechter Anfang. Fehlende Knochen sind immer eine komplizierte Geschichte, und wenn gar der Kopf verschwunden ist …« Markby bemerkte den gequälten Blick des Geistlichen und fuhr munter fort:

»Die Lowes haben den Leichnam gefunden? Ich erinnere mich an die beiden. Einmal gesehen, nie wieder vergessen. Denzil und Gordon. Warum haben sie das Grab überhaupt geöffnet?«

»Das ist leicht zu erklären«, antwortete Holland, indem er sich vorbeugte und die Hände faltete.

»Vor zehn Tagen ist Mrs. Eunice Gresham gestorben.« Markby sah überrascht aus.

»Doch nicht die Mrs. Gresham, die in Warren House gelebt hat? Sie muss beinahe neunzig gewesen sein! Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen, selbst als ich noch in Bamford war.«

»Achtundachtzig. Sie haben Mrs. Gresham nicht mehr gesehen, Alan, weil sie die letzten sechs Jahre in einem Pflegeheim verbracht hat und die letzten vier Monate im St. Winifred’s Hospice. Ich habe Mrs. Gresham dort besucht, im Krankenhaus. Das letzte Mal, als ich sie lebendig sah, hat sie darum gebeten, im Grab ihrer Eltern beigesetzt zu werden. Sie war absolut sicher, dass ihr verstorbener Vater in den 1930er Jahren ein Dreifachgrab gekauft hatte. Er wollte es für sich, seine Frau und später einmal seinen Sohn. Ich weiß nicht, warum er seine Tochter Eunice ausgeklammert hat. Jedenfalls, der Sohn starb im letzten Krieg. Also folgerte Eunice, dass es im Grab ihrer Eltern noch einen freien Platz geben müsse, und den wollte sie für sich. Ich glaube nicht, dass es etwas mit kindlicher Hingabe an die Eltern zu tun hatte – wohl eher damit, dass der alte Gresham bereits für das Grab gezahlt hatte, wenn Sie verstehen?« Pater Holland grinste schwach.

»Eunice war sehr entschieden. Sie war in vielerlei Hinsicht eine gebrechliche alte Dame, doch ihr Verstand war bis zum Schluss messerscharf. Sie hat mir eine flammende Strafpredigt wegen dieses Grabes gehalten.« Holland schnitt eine Grimasse.

»Jedenfalls habe ich die Sache nachgeprüft. Es gab tatsächlich ein Grab. Es liegt auf dem alten Friedhof, wo bereits seit einigen Jahren niemand mehr beigesetzt wird. Unter den gegebenen Umständen jedoch – es war ein altes Grab mit einem freien Platz – konnte ich eine Genehmigung zur Beisetzung erwirken.« Pater Holland hielt inne und atmete durch. Markby überlegte, dass die älteren Generationen viel Wert darauf gelegt hatten, auf passende und anständige Weise begraben zu werden, mit einer angemessenen Trauergemeinde und notwendigerweise auch mit entsprechenden Kosten für die Hinterbliebenen.

»Nach Mrs. Greshams Tod hat ihr Rechtsanwalt Kontakt mit mir aufgenommen. Er heißt Truelove – kennen Sie ihn? Der Nachfolger vom alten Macpherson. Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke, Eunice hätte nicht gewollt, dass Truelove ihren Nachlass regelt. Sie war auf ihre Weise altmodisch und präzise. Truelove ist einer von diesen jungen, hellen Köpfen. Redet andauernd von sich selbst und ist ungefähr so einfühlsam wie ein Ziegelstein. Ich wünschte wirklich, Mrs. Danby hätte das alles geregelt.« Markby nahm die Achtungsbekundung für seine Schwester dankbar entgegen. Laura war eines der attraktiveren und zugleich kompetenteren juristischen Gehirne der Stadt.

»Laura hat eine Auszeit genommen«, sagte er.

»Was denn, noch ein Baby?«, fragte Pater Holland.

»Nein, eine notwendige Ruhepause. Sie haben bereits vier Kinder«, sagte Markby und dachte an die Brut seiner Schwester.

»Dann bekommt sie wahrscheinlich mehr Ruhe in ihrem Büro«, sagte Pater Holland.

»Also, um wieder auf Eunice Gresham zurückzukommen: Sie hat in ihrem Testament Instruktionen für ihr Begräbnis hinterlassen. Das Datum der Beisetzung wurde für morgen festgesetzt. Also habe ich Denny und seinem Bruder gesagt, dass sie das alte Familiengrab der Greshams öffnen sollen. Sie hatten kaum angefangen, da stießen sie auf die Knochen. Sie bemerkten sofort, dass es keiner der alten Greshams sein konnte. Die Lowe-Brüder sind nämlich Experten, was Knochen angeht. Sie haben gleich gesehen, dass so dicht unter der Grasnarbe keine Knochen sein durften, und haben mich gerufen. Denny hat mich auch auf ein paar Stofffetzen hingewiesen, die aus irgendeiner Kunstfaser zu bestehen scheinen, weil sie nicht verrottet sind. Woran ich wiederum erkannt habe, dass es sich unmöglich um eine planmäßige Beisetzung aus jüngerer Zeit handeln kann.« Holland blickte auf und bemerkte Markbys fragenden Blick.

»Neue Vorschriften«, erklärte er.

»Es ist nicht mehr so wie damals, als man sich noch in seinem besten Anzug bestatten lassen durfte. Heutzutage sind keinerlei Kunstfasern mehr erlaubt und auch sonst nichts, das nicht verrottet oder das umliegende Erdreich vergiften könnte. Das Gleiche gilt für Feuerbestattungen. Man kann schließlich nicht einfach alles verbrennen, ohne über die giftigen Gase nachzudenken, die durch die Schornsteine der Krematorien in die Atmosphäre entweichen. Heutzutage müssen wir uns alle in amtlich zugelassenen Leichenkitteln begraben lassen.« Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Eunice Gresham nichts davon gewusst – sie hätte es sicherlich nicht gutgeheißen! Markby strich über den Schnellhefter auf seinem Schreibtisch.

»Ja. Wie es aussieht, war der Körper in ein einzelnes Stück großen, billigen Stoffs gewickelt. Die Spurensicherung hat die verbliebenen Fetzen untersucht. Es war ein ziemlich schwerer Stoff, möglicherweise für Vorhänge oder für Sitzbezüge, jedenfalls nicht für Kleidung. Die Spurensicherung glaubt, dass er im Ausland hergestellt wurde, die Art von Stoff, die auf Jahrmärkten feilgeboten wird, wo man schnelles Geld damit machen kann. Bestimmt wurde er nicht kommerziell eingesetzt, jedenfalls nicht mehr in den letzten Jahren, denn er ist hoch entzündlich. Damals waren die Bestimmungen nicht so streng wie heute und die Menschen im Allgemeinen weniger über die Gefahren informiert.«

»Diese junge rothaarige Beamtin, Inspector Bryce, hat gesagt, die Knochen hätten zu einer jungen Frau gehört?« Pater Holland beugte sich vor und stellte seinen leeren Becher auf Markbys Schreibtisch.

»Sie scheint von der kühlen Sorte zu sein, die sich nicht von ihrer Aufgabe nach unten ziehen lässt. Bewundernswert. Wirklich bewundernswert.« Markby verkniff sich ein Lächeln.

»Ja«, sagte er.

»Die Tote war vermutlich zwischen sechzehn und zwanzig Jahren alt. Wir wissen noch nicht genau, woran sie gestorben ist.« Markby wurde ernst, zögerte und blickte dem Priester direkt in die Augen.

»Sie war zum Zeitpunkt ihres Todes schwanger. Im Bereich der Gebärmutter fanden sich Knochenreste eines vier oder fünf Monate alten Fetus.« Pater Holland vergrub das Gesicht in den offenen Handflächen, während Markby wartete. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf.

»Ich habe das Skelett nicht völlig freigelegt gesehen. Ich gestehe, ich bin froh darüber. Der Kopf hat mir gereicht. Inspector Bryce hat nichts davon gesagt. Sie hat kein Baby erwähnt. Wann wurde die Tote begraben?« Seine Stimme bekam einen aufgeregten Unterton.

»Und wie hat man es gemacht? Ich meine, ohne dass es irgendjemand bemerkt hat? Ich weiß nur eins – ich habe die Bestattungszeremonie nicht durchgeführt.«

»Wir haben mit Denny und Gordon gesprochen. Wir wissen, dass das Grab 1962 zum letzten Mal offiziell geöffnet wurde, also muss die unautorisierte Bestattung später stattgefunden haben. Die Lowes beharren darauf, dass das Grab während ihrer Zeit als Totengräber nicht angerührt wurde. Sie hätten es bemerkt. Sie arbeiten seit zehn Jahren dort. Also wurde die Tote wahrscheinlich vor elf oder zwölf Jahren begraben, allerhöchstens vor dreizehn. Die Gerichtsmedizin geht eher von einem der früheren Jahre aus, unter Vorbehalt.« Durch Pater Hollands massigen Leib ging ein Ruck, und der dünne Stuhl knarrte protestierend.

»Natürlich! Als ich die Gemeinde übernommen habe, wurde der alte Friedhof noch genutzt. Er befand sich auf Kirchenland. Ein alter Trunkenbold namens Bullen war damals Totengräber. Er war längst über das Rentenalter hinaus und seit Jahren ein Ärgernis, aber es war fast unmöglich, sich seiner zu entledigen. Bullen hatte seine Freunde, trotz seines schlechten Benehmens, und er war entschlossen zu bleiben. Bullen war eins meiner ersten Probleme in der Gemeinde. Gott sei Dank änderten sich die Umstände, und damit kam die Lösung. Der Kirchhof war voll und musste geschlossen werden. Die Bezirksverwaltung eröffnete den neuen Friedhof auf eigenem Land und stellte eigene Totengräber ein, die beiden Lowes. Und Bullen blieb nichts anderes übrig, als schimpfend in die längst überfällige Rente zu gehen.« Markby lächelte.

»Ich erinnere mich an Nat Bullen, aus meiner ersten Zeit in Bamford. Niemand wurde so häufig wie er wegen ungebührlichen Benehmens in der Öffentlichkeit mit aufs Revier genommen. Am Ende gab es kaum noch ein Pub in ganz Bamford, das er betreten durfte. Vielleicht hat er aufgrund seiner Arbeit mit dem Trinken angefangen.«

»Er fiel immer wieder kopfüber in die Gräber, die er ausheben sollte«, sagte Pater Holland böse, dann runzelte er die Stirn.

»Ich bin vor etwas mehr als elf Jahren nach Bamford gekommen. Das heißt, die Tote könnte kurze Zeit vor Appletons Ruhestand bestattet worden sein.« Er seufzte erleichtert, dann blickte er Markby entschuldigend an.

»Ich muss ehrlich sein, Alan – wenn sich jemand auf meinen Friedhof schleichen und unbemerkt eine Tote bestatten kann, wirft das wohl kaum ein gutes Licht auf mich oder meine Fähigkeiten, meinen Sie nicht? Der arme alte Maurice Appleton hingegen war die letzten beiden Jahre vor seiner Pensionierung sehr krank. Er ließ alles einfach laufen. Die Kirchengemeinde war in einem schrecklichen Chaos. Es wäre vieles noch schlimmer gekommen, wäre der damalige Kirchenvorstand nicht einigermaßen kompetent gewesen.« Der Priester zögerte, bevor er fortfuhr:

»Wie bereits gesagt – ich hatte eine Reihe von Auseinandersetzungen mit dem Kirchenvorstand, als ich herkam. Die Mitglieder hatten sich daran gewöhnt, die Dinge auf ihre Weise zu regeln, und sie wollten keine Veränderungen. Eine Frau namens Etheridge beschuldigte mich des Pfaffentums und trat sogar aus der Kirche aus!« Der Pfarrer schüttelte den bärtigen Kopf und vertrieb die Erinnerung an alte Querelen.

»Wie wollen Sie herausfinden, wer die Tote ist? Im Register für vermisste Personen nachsehen?« Jetzt war Markby an der Reihe, bedauernd dreinzublicken.

»Damals wurde das Vermisstenverzeichnis noch nicht so effizient geführt wie heutzutage. Der verstorbene Pater Appleton war nicht der Einzige, der die Dinge schleifen ließ. Wir können im Grunde genommen nur hoffen, dass sich jemand meldet und einen Namen nennt. Sicher, wir besitzen Aufzeichnungen über einige Vermisstenfälle, doch wir müssen dreißig Jahre zurückgehen, vergessen Sie das nicht, für den Fall, dass die Tote schon so lange begraben ist. Selbstverständlich werden wir sämtliche Akten aus jener Zeit sichten, doch das dauert eine Weile. Wenn wir damit fertig sind, werden wir in den Nachbargemeinden weitermachen. Die Tote kann theoretisch von überall her kommen, auch wenn es mehr als wahrscheinlich ist, dass sie aus dieser Gegend hier stammt.« Pater Holland nickte traurig.

»Es klingt wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.«

»Nun ja – ganz so schlimm ist es vielleicht nicht.« Markby wollte nicht, dass die anstehenden Untersuchungen von vornherein mit einer negativen Note behaftet waren, nicht zu diesem frühen Zeitpunkt jedenfalls.

»Versetzen Sie sich in die Lage der Person oder der Personen, die sie begraben haben. Ein Leichnam lässt sich nicht ohne weiteres durch die Gegend transportieren. Vergessen Sie nicht, dass viele der heutigen Straßen vor zehn oder zwölf Jahren noch nicht existiert haben. Heutzutage ist es kein Problem mehr, eine Tote über große Entfernungen zu transportieren und sie irgendwo im Land abzuladen. Damals war es sicher umständlicher. Wir haben es eindeutig mit dem Versuch zu tun, einen Todesfall zu verschleiern, aus welchem Grund auch immer. Wer dafür verantwortlich war, wollte es auf die schnellste und bequemste nur denkbare Weise erledigen.« Markby grinste schwach.

»Und er besaß offensichtlich keinen Garten.« Pater Holland schnitt eine Grimasse.

»Vermutlich entbehrt es nicht einer gewissen Logik, die Tote auf einem Friedhof zu begraben. Ein Friedhof ist naturgemäß der beste Platz dafür.«

»Absolut. Und was die Identität der Toten angeht – falls sich niemand meldet oder wir nicht auf irgendeine andere Weise herausfinden, wer sie war, dann gibt es Techniken, ein Gesicht aus dem Schädel zu rekonstruieren. Wir stecken noch lange nicht in einer Sackgasse, James. Im Gegenteil, ich bin recht zuversichtlich, dass wir bald einen Namen finden werden.« In Wirklichkeit war Markby nicht annähernd so zuversichtlich wie seine Worte, doch James Holland brauchte ein wenig Trost. Der Pfarrer hatte aufmerksam zugehört. Ein Aspekt von Markbys Worten schien ihn besonders zu faszinieren.

»Eigenartig«, sagte er.

»Die Vorstellung, dass ein Gesicht aus nichts weiter als einem Schädel rekonstruiert werden kann! Fast, als würde man die Tote wieder auferstehen lassen, finden Sie nicht? Tote Knochen mit Fleisch überziehen. Es ist so intim, man spricht sie mit einem Namen an, als wäre sie noch lebendig. Wir beschwören sie aus dem Grab herauf, und sie weilt wieder unter uns. Die arme Frau.«

»Falls es uns gelingt, sie zu identifizieren«, sagte Markby leise, »dann erhöhen sich jedenfalls unsere Chancen herauszufinden … herauszufinden, wer sie begraben hat.« Fast hätte er gesagt: wer sie ermordet hat. Doch bisher war die Todesursache nicht geklärt, zumindest offiziell. Inoffiziell neigte Markby dazu, der Meinung der Bamforder Kollegen zuzustimmen. Die Tote war das Opfer einer Gewalttat. Sie würden abwarten müssen, bis sie das gesamte Puzzle zusammengesetzt hatten – falls es je gelang. Wie auch immer, die Identität der Toten war ein Anfang, auch wenn der Weg von dort aus bis zur gesamten Geschichte lang und schmerzhaft war. Zu Holland gewandt sagte er:

»Wenn wir fertig sind, können Sie ihr ein anständiges Begräbnis geben, Pater.«

»Begräbnis? Oh. Begraben, ja …« Der Pfarrer war schon wieder geistesabwesend.

»Ich bin an den Tod gewöhnt, genau wie Sie sicherlich auch.« Sein Blick streifte Markby.

»Allerdings nicht an einen so grausamen Tod. Dinge wie Autopsien und verstümmelte Leichen in Plastiksäcken und all das Grässliche, von dem man in den Zeitungen lesen kann, bleiben mir erspart. Aber dieser Schädel … wie er mich aus dem Grab heraus angestarrt hat, als schien er ein eigenes Leben zu besitzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er blickte sein Gegenüber ein wenig verlegen an. Markby nickte.

»Ich verstehe ganz genau, was Sie meinen.«

»Hinterher habe ich Shakespeare vor mich hingemurmelt. ›Alas! Der arme Yorick. Ich kannte ihn, Horatio.‹ Seltsam, finden Sie nicht auch? Es muss eines der berühmtesten Zitate aus der gesamten englischen Literatur sein, und die meisten Menschen geben es falsch wieder. Sie sagen meistens: ›Ich kannte ihn gut.‹ Jedenfalls, worauf ich hinauswill – für Hamlet blieb der Schädel immer noch Yorick, die Person, die er gekannt hatte. Genau wie der Schädel, den Denny und Gordon entdeckt haben, für mich eine Person war. Es kam mir fast vor, als wollte sie mir etwas sagen. Später, als Inspector Bryce mir berichtete, dass es sich um eine junge Frau handelt, habe ich mich gefragt, ob sie wohl hübsch gewesen sei. Und als der Verdacht aufkam, es könnte sich um ein Mordopfer handeln, dachte ich zuerst an ein Verbrechen aus Leidenschaft, und es schien nicht mehr so grausig, dass es unmöglich war. Das war natürlich viel zu romantisch. Und jetzt, nachdem Sie mir von dem ungeborenen Kind erzählt haben, erscheint es mir nur noch schäbig und grausam und selbstsüchtig.« Der Vikar breitete die mächtigen Hände aus.

»Was für ein Mensch ist zu so einer Tat im Stande? Der Mörder ist immer noch unter uns, oder nicht? Zwölf Jahre sind nicht über die Maßen lang. Wenn er damals ein junger Mann war, dann ist er heute nicht viel älter als dreißig. Verzeihen Sie, ich schweife ab. Das ist der Schock.«

»Ich verstehe das. Sie schweifen nicht ab; Sie durchleuchten das Problem von allen Seiten, genau wie wir das machen. Wir dürfen nie vergessen, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben. Irgendwo gibt es ganz gewiss Verwandte der jungen Frau, die heute noch leben.« Und ein wenig munterer fuhr er fort:

»Ich nehme an, das Begräbnis von Mrs. Gresham ist fürs Erste auf unbestimmte Zeit verschoben?«

»O ja, selbstverständlich. Der Friedhof ist ganz in den Händen der Polizei. Nun ja, das wissen Sie sicherlich selbst. Es ist einer der Gründe, aus denen ich hergekommen bin – ich wollte fragen, wie lange noch …« Pater Holland blickte verlegen drein.

»Ich möchte Sie wirklich nicht drängen, Alan, aber die Aktivitäten der Polizei und das ganze Drum und Dran, die Abschirmungen und so weiter – das zieht Neugierige an. Die Beamten steigen über andere Gräber und zerstören Hecken und Büsche. Sie richten eine Menge Schäden an und verhindern, dass Verwandte ihre Toten besuchen können. Es hat bereits Beschwerden gegeben.«

»Ich kann mir gut vorstellen, dass die polizeiliche Suche Chaos und Unordnung bringt«, sagte Markby reumütig.

»Es tut mir wirklich Leid, doch wir müssen diesen Friedhof durchkämmen. Wir beeilen uns, sosehr wir können, aber wir dürfen nicht nachlässig sein.«

»Das verstehe ich, Alan.« Der Vikar hob die Hand.

»Ich möchte mich auch gewiss nicht in Ihre Arbeit einmischen. Ich mache mir nur Gedanken über meine eigene. Ich muss Eunice Gresham beerdigen. Außerdem steht die Frage im Raum, ob ihrem letzten Wunsch überhaupt Folge geleistet werden kann. Vielleicht ist es besser, sie irgendwo anders beizusetzen, möglicherweise auf dem neuen Friedhof. Vielleicht hätten wir von Anfang an darüber nachdenken sollen. Andererseits – hätten wir uns nicht bemüht, Eunices Wunsch zu entsprechen, hätten wir den Leichnam gar nicht erst gefunden …« Er brach ab und blickte sich suchend nach seinem Sturzhelm um.

»Ich muss jetzt los. Ich nehme an, es wird eine Verhandlung zur Feststellung der Todesursache geben; muss ich dort erscheinen?«

»Ihr Erscheinen wird erforderlich sein. Ich denke allerdings, der Coroner wird die Verhandlung so lange vertagen, bis wir die Tote identifiziert und die genauen Umstände ihres Todes festgestellt haben. Die erste Verhandlung wird wahrscheinlich für Mittwoch anberaumt werden.« Der Vikar nickte.

»Ich bin froh, dass Sie die Untersuchungen leiten, Alan. Es ist ein großer Trost für mich, auch wenn …« Er unterbrach sich und legte die Stirn in Falten.

»Wollten Sie und Meredith nicht irgendwann in nächster Zeit Urlaub machen? Auf dem Kanal? Ich hoffe, dass Ihre Pläne nicht durchkreuzt wurden. Meredith freut sich doch so sehr darauf.« Markby seufzte.

»Nicht mehr, nach allem, was geschehen ist. Ich werde ihr schonend beibringen, dass wir unsere Bootstour verschieben müssen, auf irgendwann später im Jahr. Ich weiß nicht, wie sie darauf reagieren wird. Ich weiß nur, dass sie sich sehr darauf gefreut hat.«

»Sie wollte ein Buch von mir ausleihen, über die inländischen Wasserstraßen. Sie hat mich deswegen besucht, aber genau an diesem Tag haben die Lowes den Leichnam entdeckt … mein Gott. Nun ja, wir sehen uns ja am Samstagabend, nicht wahr? Wenn ich recht verstanden habe, sind wir alle bei unserem Abgeordneten zum Abendessen eingeladen.«

»Auch das noch …«, murmelte Markby düster. Zum ersten Mal während des Gesprächs lächelte Pater Holland.

»Ein Ärger kommt niemals allein.« Er streckte Markby die Hand entgegen, um sich zu verabschieden. Dann stieß er unvermittelt hervor:

»Wer auch immer der Mörder ist – sobald er erfährt, dass wir das Opfer gefunden haben, wird er einen gewaltigen Schreck bekommen. Ich frage mich, was er tun wird?«

»Mit ein wenig Glück begeht er einen entscheidenden Fehler«, antwortete Markby grimmig.

KAPITEL 4

DER SEHR Ehrenwerte Lars Holden, MP, saß am Schreibtisch in seinem beengten Büro, das er mit einem weiteren Abgeordneten teilte. Für einen Außenstehenden, der an der extravaganten viktorianisch-gotischen Fassade der Houses of Parliament vorbeigeht, scheinen die Gebäude in jeder nur denkbaren Hinsicht wie geschaffen für die Erledigung der Staatsgeschäfte, die im Innern getätigt werden. Wer allerdings einen großen Teil seines Arbeitslebens hinter den berühmten Portalen verbringt, weiß nur zur gut, dass insbesondere das Unterhaus für die Bedürfnisse der heutigen Zeit längst viel zu klein geworden ist. Es gibt nicht genügend Sitze in der Kammer, sollte irgendwann einmal jeder Abgeordnete beschließen, zur Sitzung zu erscheinen. Büroraum ist denkbar knapp, und wer keinen zur Verfügung gestellt bekommt, findet sich an einem Tisch in der Bibliothek wieder. Andere teilen sich ihr Büro mit anderen Abgeordneten. Im Augenblick jedoch hatte Lars das Büro für sich allein. Sein parlamentarischer Kollege war als

»Beobachter« in irgendeinem afrikanischen Krisengebiet unterwegs. Lars genoss die ungewohnte Privatsphäre. Tatsächlich hatte er sogar ausgesprochen gute Laune. Nur noch ein paar Tage, und das Unterhaus würde in die Sommerferien gehen. Er rieb sich munter die Hände. Es waren schmale Hände mit langen, schlanken Fingern. Seine Mutter hatte stets gehofft, dass er eine Laufbahn als Musiker einschlagen würde (sie selbst war eine gewesen), doch Lars hatte seit seiner frühesten Kindheit gewusst, was er wollte. Die Dinge unter Kontrolle haben, am Puls des Geschehens sein. Er hatte hier sein wollen, ein Mitglied des

»besten Clubs von London«. Und er war hier. Zugegeben, er hatte noch keine Größe erreicht. Doch die politischen Beobachter waren sich einig, dass Lars jemand war, den man im Auge behalten musste. Er hatte bereits den ein oder anderen kleineren Posten innegehabt, und die nächste Umbesetzung des Kabinetts würde so gut wie sicher zu einer Beförderung führen. (Wohl unterrichtete Kreise wussten zu berichten, dass der Premierminister das Kabinett im Herbst umbilden würde, gleich nachdem das Parlament aus den Ferien zurück war. Verzeihlich, dass Lars das Gefühl bevorstehender Größe genoss.) Ja, er war auf dem richtigen Weg. Glücklich lächelnd angesichts dieser Aussichten murmelte er vor sich hin:

»Sehen wir mal, was wir heute zu erledigen haben.« Ruth, seine Sekretärin, hatte ihm soeben einen Stapel Post aus seinem Wahlkreis auf den Tisch gelegt. Wie üblich hatte sie die Briefe geöffnet und nach Dringlichkeit und Interesse sortiert. An diesem Tag jedoch war sie vor seinem Schreibtisch stehen geblieben und hatte ihm zu verstehen gegeben, dass der oberste Brief in irgendeiner Weise ihr Missfallen erregte.

»Wahrscheinlich ein Spinner«, sagte sie.

»Aber der Absender kommt ganz aus der Nähe Ihrer Straße. Ich dachte, dass Sie den Namen vielleicht kennen und wissen, wer es ist?« Lars’ gute Laune erhielt einen Dämpfer, als er den Blick auf das zerknitterte billige Schreibpapier richtete. Es schien von der Sorte zu sein, von der man ihm als kleiner Junge gesagt hatte, dass er es nicht anfassen dürfe:

»Man kann nie wissen, wo es herkommt.« Der Brief sah aus, als hätte er in einer völlig verdreckten Hosentasche gesteckt. Doch Lars war ein gewissenhafter Abgeordneter, und ein Bürger seines Wahlkreises hatte ihn angeschrieben. Er würde das Schreiben genauso beachten wie jedes andere. Manch eine Karriere war daran gescheitert, dass der Betreffende die Wurzeln nicht beachtet hatte, auf denen alles gedieh. Die Loyalität der Wähler durfte zu keiner Zeit als selbstverständlich betrachtet werden. Außerdem hatte Ruth irgendetwas wegen der Anschrift gesagt. Lars strich sich das dichte flachsfarbene Haar aus der Stirn, das er von seiner nordischen Mutter geerbt hatte. Unbewusst und obwohl er allein war, warf er sich in Pose. Er war ein attraktiver Mann, unverheiratet, und ein begehrenswerter Junggeselle. Er hatte Pläne, diesen Zustand zu ändern, und diese Pläne waren einer der wenigen Pfade in seinem Leben, auf denen sich ein unerwartetes Hindernis aufgetürmt hatte. Entschlossen verdrängte er den Gedanken an sein persönliches Problem und nahm den Brief zur Hand.

»Gütiger Gott!«, rief er aus, als er den Absender erkannte.

»Er kommt von diesem scheußlichen alten Mann! Was um alles in der Welt will er von mir?« Schlagartig war seine gute Stimmung verflogen. Er hatte die Adresse gleich erkannt, genau wie Ruth es sich gedacht hatte, und er sah vor seinem geistigen Auge die Behausung ebenso wie ihren Bewohner, den Verfasser des Briefs. Das doppelte mentale Bild erzeugte eine Hitzewallung, und der Hemdkragen schien mit einem Mal zu eng. Er schob seinen Sessel zurück, sprang auf und ging zum Fenster, um Luft zu schnappen und sein seelisches Gleichgewicht zurückzugewinnen. Hinter ihm öffnete sich die Bürotür erneut, und Ruth kam mit seinem Kaffee.

»Alles in Ordnung, Mr. Holden? Sie sehen erregt aus.« Sie musterte ihn auf die herrische, Besitz ergreifende Art und Weise, die er bereits kannte. Ruth war Ende vierzig und seine Sekretärin, seit er in das Abgeordnetenhaus gewählt worden war. Er verließ sich blind auf sie. Sie war eine Quelle geheimer Informationen und eine lebende Enzyklopädie in Bezug auf alles, was mit parlamentarischen Geschäften und parlamentarischer Etikette zu tun hatte. Selbst Margaret Holden redete respektvoll von ihr.

»Danke, es geht mir gut.« Er wusste, dass er nicht überzeugend klang, und sah den Zweifel in ihrem Gesicht, als sie sich abwandte.

»Ruth?« Er war gewöhnt, sie als Podium für schwierige Passagen in seinen Reden zu benutzen, und sie blieb in der Tür stehen in der Erwartung, einmal mehr die Frage

»Wie klingt das?« zu hören. Doch stattdessen sagte er nachdenklich:

»Es muss eine sehr unangenehme Erfahrung für einen Elternteil sein, wenn er herausfindet, dass er sein Kind nicht mag, was glauben Sie?« Es gab nur wenige Dinge, die Ruth schockierten oder überraschten. Sie hob die Augenbrauen unter dem kurzen braunen Haar und antwortete:

»Ja, das denke ich. Ein unnatürliches Gefühl, würde ich sagen.«

»Was denn? Sein Kind nicht zu mögen? Ich rede nicht von Betrunkenen oder Perversen, die ihre Kinder missbrauchen. Ich spreche von ganz gewöhnlichen, anständigen, verantwortungsbewussten und wohlmeinenden Eltern, die … also schön, ich spreche von meinem Vater. Er ist lange tot, schon elf oder zwölf Jahre. Es tut mir Leid, das sagen zu müssen, aber ich vermisse ihn nicht. Wir haben uns nie von Angesicht zu Angesicht gesehen. Er hat niemals mit mir Fußball gespielt oder mir beigebracht, wie man Fahrrad fährt oder irgendetwas anderes.«

»Vielleicht war er zu sehr beschäftigt?«, fragte Ruth einfühlsam.

»Und diese Dinge, tun das alle Väter? Mir kommt es immer so vor, als wären es nur die Mütter, die Zeit finden dafür.« Lars dachte darüber nach.

»Vielleicht. Meine Mutter hat mir das Klavierspielen beigebracht, aber nicht das Radfahren. Wahrscheinlich hat sie angenommen, dass ich es ohne ihre Hilfe lernen kann, und das habe ich auch. Aber wenigstens hat sie mit mir geredet. Mein Vater und ich haben nie geredet, weder als ich ein Kind war, noch später, als ich älter wurde. Nicht ein unnötiges Wort. Er hat nicht einmal mit mir geschimpft oder mich kritisiert. Und gegen Ende seines Lebens, als er krank war, schien er sich noch mehr von mir zurückzuziehen. Vielleicht lag es an seiner Krankheit. Er hat jedenfalls keinerlei Anstrengung unternommen, die wenige Zeit, die ihm noch blieb, mit uns zu verbringen.« Lars sah, wie Ruth missbilligend den Mund schürzte. Hastig bemühte er sich, die Sache in ein anderes Licht zu rücken.

»Um ehrlich zu sein, er war stets großzügig, wenn es um Geld ging, und ich denke nicht, dass er je Einwände gegen irgendetwas hatte, das ich tun wollte. Wenn ich Erfolg hatte, beispielsweise eine Prüfung bestand, pflegte er zu sagen:

»Ausgezeichnet. Gut gemacht, wirklich ganz ausgezeichnet!« Dann schenkte er mir einen Zehner und ging davon. Hin und wieder bemühte er sich, andere Worte zu finden, und dann stellte er Fragen wie:

»War es schwer?« Ich antwortete stets, dass es leicht gewesen sei, selbst wenn jede einzelne Frage die reinste Hölle gewesen war, weil mein Vater einfach nicht wusste, was er sagen sollte. Er benahm sich in jeder Hinsicht anständig und war immer bemüht, das Richtige zu tun und seinem Gefühl zu folgen. Ich meine, er mochte mich nicht, Ruth, aber er war zu sehr Gentleman, um das zuzugeben.« Sie bedachte ihn mit einem strengen Blick.

»Ich bin sicher, dass Sie sich irren, Mr. Holden. Ihr Vater muss sehr stolz auf Sie gewesen sein. Ich weiß, wie stolz Ihre Mutter ist.«

»Oh, das ist sie!«, antwortete Lars.

»Aber er war es nicht. Es mag dumm oder eitel klingen, aber ich denke, er hat mich insgeheim abgelehnt.« Lars zuckte die Schultern.

»Wahrscheinlich habe ich Mutters Zeit zu sehr in Anspruch genommen. Wir waren keine glückliche Familie. Sicher, wir stritten nicht. Aber wir waren auch nur selten fröhlich. Es gab keine Neckereien. Wir waren immer schrecklich höflich im Umgang miteinander. Das kann doch nicht normal sein, oder?«

»Was bringt Sie überhaupt auf diese Gedanken, Sir?«, fragte Ruth mit ernster Stimme.

»Sie werden doch wohl nicht krank werden? Die Grippe geht um; Sie fühlen sich nicht fiebrig, oder?« Er ignorierte ihre Frage.

»Als mein Vater starb, setzte er meine Mutter als Alleinerbin und Treuhänderin bis zu ihrem Tode ein. Erst danach werde ich erben. Man kann das interpretieren, wie man will. Ich nehme an, er hat wohl geglaubt, ich würde mich nicht um Mutter kümmern. Was hat er sich wohl dabei gedacht? Dass ich Mutter auf die Straße setzen könnte?« Lars’ Stimme klang niedergeschlagen.

»Vielleicht dachte er, Ihre Mutter könnte sich wieder verheiraten«, sagte Ruth ernst.

»Er wollte sicherstellen, dass der Familienbesitz erhalten blieb, bis Sie eines Tages Ihr Erbe antreten. Ich fand die Old Farm eigentlich immer sehr hübsch, wenn ich dort gewesen bin. Ich mag historische Häuser, ganz besonders, wenn sie im Fachwerkstil erbaut sind wie das Ihre.«

»Es steht unter Denkmalschutz. Es stammt aus der TudorZeit«, sagte Lars geistesabwesend.

»Haben Sie eigentlich schon einmal die geheime römische Kapelle in dem kleinen Zimmer unter der hinteren Treppe gesehen?«

»So wundervoll romantisch, ja!« Ruth erschauerte wohlig. Sie las gerne dicke historische Seifenopern über königliche Ränke und Intrigen.

»Genau das habe ich gemeint! Das Haus ist etwas ganz Besonderes. Ich bin sicher, Ihr verstorbener Vater wollte lediglich sicherstellen, dass es im Besitz der Familie bleibt.« Ruth deutete auf seinen Schreibtisch.

»Trinken Sie Ihren Kaffee, bevor er kalt wird.«

»Aber das Haus ist nicht alles!« Lars ignorierte ihre letzte Zwischenbemerkung.

»Verstehen Sie, zusätzlich zur Old Farm gab es zwei weitere Cottages auf Grundstücken, die an das des Hauptgebäudes angrenzen. Wahrscheinlich haben Sie die Häuser nie bemerkt. Als Vater starb, mussten wir ein paar Wälder und Weiden verkaufen, doch die Cottages haben wir behalten. Eins ist an einen pensionierten Angehörigen der Army vermietet. Er ist ein zuverlässiger Hilfsarbeiter, immer bereit, Wahlpropaganda zu verteilen und Flugblätter in Briefkästen zu werfen oder einen ganzen Wahltag lang dazusitzen und Wähler zu zählen. Das andere Cottage …«, Lars’ Stimme und Gesichtsausdruck verrieten zunehmende Erregung.

»In dem anderen wohnt ein schrecklicher alter Mann namens Bullen. Er ist es, der mir diesen Brief geschrieben hat. Gott allein weiß, warum.« Lars deutete auf den Schreibtisch.

»Dieser Bullen macht nichts als Scherereien. Er zahlt keine Miete, wissen Sie? Er sitzt einfach nur in unserem Cottage, Jahr um Jahr, und verlässt niemals das Haus, außer um das Pub weiter oben an der Straße zu besuchen. Dafür geht sein gesamtes Geld drauf. Für das Trinken.«

»Ein glücklicher Bursche«, sagte Ruth.

»Klingt nach einem idealen Ruhestand.«

»Es ist lächerlich! Ich weiß nicht einmal, ob er mir seine Stimme gibt! Ich habe Mutter immer und immer wieder gesagt, dass es nicht den geringsten Grund gibt, warum wir, das heißt ich, diesen Bullen unterstützen sollten. Und wissen Sie, was sie mir jedes Mal antwortet? Dass Bullen doch nur ein armer alter Mann sei, der nichts außer seiner Rente hätte und ›bestimmt nicht mehr lange lebt‹.« Lars’ Gesichtsausdruck wurde immer zorniger.

»Er schwimmt in Alkohol und macht wahrscheinlich so lange damit weiter, bis er hundert ist! Und dabei ist er schon so alt wie Methusalem und einfach nur widerlich! Gott allein weiß, warum Mutter mit diesem Taugenichts so nachsichtig ist! Normalerweise ist sie eine durch und durch vernünftige Frau. Sie kennen Mutter – meinen Sie nicht auch?« Er starrte Ruth wütend an. Auf Ruth wartete Arbeit.

»Ihre Mutter ist eine sehr vernünftige Person, und ich bin sicher, dass sie in Ihrem besten Interesse handelt. Was diesen alten Mann betrifft, so denke ich, dass Ihre Mutter einfach nur freundlich sein möchte. Wenn Sie Ihren Kaffee kalt trinken wollen, Sir, meinetwegen – ich habe zu viel zu tun, um neuen aufzusetzen.« Sie marschierte nach draußen. Lars seufzte. Zweifellos hatte Ruth Recht. Mutter war eine vernünftige und freundliche Person. Doch sie konnte auch eigensinnig sein … und im Fall von Bullen hegte er seit neuestem den Verdacht, dass mehr hinter der Sache steckte. Seine Mutter legte eine Verschlagenheit an den Tag, die ihrer nicht würdig war. Lars packte die Fensterbank so fest, dass die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten. So ging das einfach nicht. Besser, wenn er es hinter sich brachte. Lars blickte zu seinem Schreibtisch zurück. Er war überrascht, dass der alte Trunkenbold seine Sinne noch weit genug beisammen hatte, um etwas mit einem Stift zu Papier zu bringen. Lars kehrte zu seinem Sessel zurück und setzte sich. Er nahm Bullens Brief zur Hand. Was wollte der Kerl?

»Sehr geehrter Mr. Holden, Sir«, stand dort in ungelenker Schrift.

Ich dachte, Sie solten wisen, was die getan haben. Da gibts ein Geschwätz hier im Dorf, und ich habs für Sie ausgeschnitten. Keine Sorge, alles komt in Ordnung, aber das hätten die wirklich nich tun solln. Das ist alles die Schuld von diesem Denny Lowe. Die hätten ihm nie meinen Job geben dürfen.

Hochachtungsfoll Nat Bullen

Lars las den Brief zweimal, doch er ergab beim zweiten Mal genauso wenig Sinn wie beim ersten Mal. Stattdessen ließ er den Schreiber als ein verschrampeltes altes Gespenst in der Ecke des Zimmers materialisieren. Lars bildete sich ein, sogar die Whiskeyfahne zu riechen. Entweder das oder Schwefel. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass an Bullen etwas Teuflisches war.

»Jetzt ist er vollkommen übergeschnappt«, sagte er zu sich selbst. Wirre Briefe. Was kam als Nächstes? Die Forderung, dass man ihm seinen Job als Totengräber zurückgab? Oder – wahrscheinlicher – dass Lars ein neues Badezimmer oder eine Zentralheizung oder sonst was in seinem Cottage einbauen ließ. Damit Bullen es gemütlicher hatte und er noch länger dort wohnen würde? Ha!

»Ich hab’s für Sie ausgeschnitten.« Es musste einen beiliegenden Zeitungsausschnitt geben. Hatte Ruth ihn im Umschlag übersehen? Normalerweise schlitzte sie die Umschläge mit einem Brieföffner auf. Er suchte auf seinem Schreibtisch und stand im Begriff, nach draußen zu gehen’ und sie zu fragen, als er das Stückchen Zeitungspapier auf dem Teppich unter dem Schreibtisch erspähte. Der Luftzug des offenen Fensters musste es vom Briefstapel geweht haben. Lars bückte sich und griff danach.

GEHEIMNISVOLLER LEICHENFUND AUF DEM FRIEDHOF!, lautete die Schlagzeile.

Arbeiter der Bezirksverwaltung haben auf dem Friedhof von All Saints in Bamford einen schaurigen Fund gemacht. Beim Öffnen des Grabes von Walter Gresham (Bürgermeister von Bamford in den Jahren 1936–37 und 1940–41), um die Beisetzung seiner Tochter vorzubereiten, wurde dicht unter der Oberfläche das Skelett einer unidentifizierten jungen Frau entdeckt. Die Behörden glauben, dass das ungenehmigte Begräbnis während der Amtszeit des verstorbenen Reverends Maurice Appleton stattgefunden hat. Eine Sprecherin der Polizei sagte:

»Wir behandeln diese Untersuchung als Mordfall.« Pater James Holland, der Vikar von All Saints, sagte unserem Reporter:

»Diese Angelegenheit ist sehr schlimm. Viele Menschen in Bamford werden sich an Mrs. Eunice Gresham erinnern, die vor kurzem achtundachtzigjährig verstarb. Sie war viele Jahre lang eine unermüdliche Helferin bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und Mitglied im Stadtrat. Ältere Mitbürger werden sich außerdem an Reverend Appleton erinnern, einen beliebten Gemeindepriester, begabten Hobbygärtner und Preisrichter bei einheimischen Blumenschauen.«

Der Bericht setzte die richtigen Schwerpunkte. Es waren die lokalen Querverweise, die die Leserschaft interessierten, nicht die schockierende Entdeckung als solche.

Lars trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. Ihm war heiß und kalt zugleich, und Schweiß rann ihm über den Leib. Er unterdrückte einen Schauer. Vielleicht hatte er sich den Infekt eingefangen, von dem Ruth gesprochen hatte. Er fühlte sich jedenfalls, als wäre eine Grippe im Anmarsch. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

Der alte Mann führte etwas im Schilde. Der kurze Satz

»Alles kommt in Ordnung« enthielt eine unüberhörbare Drohung. Was wollte er andeuten? Wollte Bullen Schwierigkeiten machen? Erpressung? War es das, was der alte Mistkerl vorhatte? Es konnte wohl kaum in seinem Interesse liegen. Bullen lebte behaglich unter den Fittichen des Holden-Besitzes. So dumm konnte er gar nicht sein, dieses Boot zum Kentern zu bringen.

Nichtsdestotrotz spürte Lars eine gewisse Unruhe, und seine inneren Alarmglocken schrillten. Ein Mann im Rampenlicht der Öffentlichkeit, wie jeder Politiker – besonders ehrgeizige junge Nachwuchshoffnungen wie Lars selbst –, war stets anfällig für Skandale. Allzu oft gründete der Ruhm auf Trivialitäten, lange vergessenen Zwischenfällen, jugendlichen Vergehen oder den Fehlern von Untergebenen. Die Presse peitschte die Dinge auf. Man konnte gar nicht vorsichtig genug sein. Es war eine goldene Regel. Allein der Anblick des Briefs, des Zeitungsausschnitts, beides profane Objekte, beschworen die Ahnung von Gefahr herauf. Bullens Gespenst in der Zimmerecke wich einem dunklen, gesichtslosen Etwas, das Lars mit einem Mal große Angst einjagte. Er wandte sich wieder dem Fenster zu.

Eine frische Brise vom Fluss her kühlte seine nasse Stirn. Ein letztes heftiges Erschauern, das seinen ganzen Körper zum Beben brachte, und das Frösteln verging. Sein Körper funktionierte wieder normal. Er lachte leise auf. Es war verrückt, sich durch den Brief einer Person, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig war, aus der Fassung bringen zu lassen. Er hatte zu hart gearbeitet, er war müde, und er hatte die bevorstehenden Parlamentsferien bitter nötig. Er durfte unter keinen Umständen zulassen, dass ihm die Dinge aus der Hand glitten, wie er es bei anderen gesehen hatte. So weit durfte es bei ihm nicht kommen. Niemals.

Auf der Themse, an deren Ufer die beiden Parlamentsgebäude standen, herrschte an diesem Tag reger Verkehr. Ein Ausflugsschiff glitt vorüber. Ein Mann mit einem Megafon deutete auf die Fassade und lenkte die Aufmerksamkeit der Passagiere auf Big Ben. Dem Touristenboot folgte ein Schnellboot der Polizei. Es schoss mit Höchstgeschwindigkeit vorbei und schob eine hohe Bugwelle vor sich her. Beim Anblick des Schnellboots runzelte Lars die Stirn.

Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und las Brief wie Zeitungsausschnitt ein weiteres Mal. Eine Woge des Zorns spülte über ihn hinweg, und er zerknüllte das Papier in der Hand. Er wollte es bereits in den Papierkorb werfen, als irgendein Instinkt ihn zögern ließ. Er strich das Papier glatt, faltete es und steckte es in seine Brusttasche. Er würde das Wochenende zu Hause verbringen, in seinem Wahlkreis. Er würde sich mit Bullen treffen und ihm deutlich vor Augen führen, dass seine kleine Verschwörung, wie auch immer sie aussehen mochte, von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

»Er hat sich den Falschen ausgesucht!«, sagte Lars grimmig.

»Er soll bloß nicht denken, dass seine schmutzigen Tricks bei mir funktionieren.«

Das Telefon schrillte, und er zuckte zusammen. Er griff nach dem Hörer.

»Mrs. Pritchard ist in der Leitung, Mr. Holden«, sagte Ruth.

»Soll ich sie zu Ihnen durchstellen?«

»Selbstverständlich.« Instinktiv fuhr er sich mit der freien Hand durch das Haar. Eine andere weibliche Stimme drang an sein Ohr.

»Liebling!«, sagte Lars.

»Ja, natürlich«, fügte er einen Augenblick später hinzu.

»Bist du sicher?«, eine Spur weniger zuversichtlich. Schließlich sagte er:

»Dieses Wochenende? Nun ja, wenn du meinst, Angie. Ja, du hast Recht, natürlich, mein Liebling … Ich bin ganz deiner Meinung, das weißt du.« Inzwischen hatte seine Stimme einen gereizten Unterton angenommen.

»Unglücklicherweise hat sie zu einer Dinnerparty eingeladen …« Die Stimme am anderen Ende der Leitung schnatterte erregt. Er hielt den Hörer ein wenig weiter vom Ohr weg und kapitulierte.

»Was immer du für richtig hältst.« Er beendete das Gespräch und legte den Hörer auf die Gabel zurück, dann sah er zum Fenster hinaus. Die Sonne, so schwach sie an diesem Tag gewesen sein mochte, war inzwischen ganz verschwunden. Einfach so, genau wie seine gute Laune. Doch dann redete er sich zu, dass er das gegenwärtige kleine Problem schon lösen würde, genau wie er in der Vergangenheit andere Probleme gelöst hatte. Er war ein Mann, dessen Stern im Aufgehen begriffen war. Nichts durfte daran etwas ändern. Überhaupt nichts.

»Zahlreiche nicht von einem Unfall herrührende Verletzungen, hervorgerufen durch ein großes Messer oder eine Machete.« Markby blickte vom Bericht auf.

»Dr. Fuller scheint sich ganz sicher zu sein.«

»Die Knochen sind an mehreren Stellen gesplittert oder zeigen Einschnitte«, sagte Louise Bryce.

»Starke Hiebe, die dem Opfer mit beträchtlicher Gewalt zugefügt wurden.«

»Könnte der Mörder versucht haben, den Leichnam zu zerlegen, und schließlich von seinem Vorhaben abgelassen haben, als es sich als zu schwierig erwies? Um sie so zu begraben, wie sie war?«

»Dr. Fuller meint, es habe sich um eine mehr zufällige Serie von Hieben gehandelt. Wie Raserei.« Er blickte mürrisch drein.

»Keine Chance, die Waffe nach so langer Zeit noch zu finden.«

»Wir suchen den gesamten Friedhof ab. Ringsum wurde seit Jahren nichts mehr angerührt. Das Gras wächst zwei Fuß hoch, und Brombeersträucher haben viel überwuchert. Wir schneiden sie herunter, und wenn irgendetwas hineingeworfen wurde, selbst wenn es vor zwölf Jahren war, dann is es immer noch dort.« Er deutete auf einen zweiten Stapel Blätter.

»Was ist das?«

»Der Bericht der Gerichtsmedizin.« Bryce blätterte ihn durch.

»Sie hatten den Stoff unter dem Mikroskop, zusammen mit Plastikknöpfen, wahrscheinlich von einem Sommerkleid, sowie Überreste von Sandalen. Die handgemachten Sohlen haben die Zeit besser überdauert als das Obermaterial aus Leder. Kleine Schuhgröße. Massenherstellung, wahrscheinlich aus einem Supermarkt. Zusammen mit den Resten von menschlichem Gewebe und den Bodenproben fanden sie eine ungewöhnlich große Zahl von Insekten, oder besser Teilen von Insekten. Sie haben das Material an die Biologen weitergegeben. Ich habe eine Liste, die bestimmt eine Meile lang ist.« Bryce überflog die Liste.

»… Wollläuse, Teile von Ohrwürmern, Wespen sowie Eier von Calliphora vomitoria.« Sie hielt inne.

»Das sind gewöhnliche Schmeißfliegen. Die Biologen waren ebenfalls überrascht wegen der großen Zahl von Schmeißfliegeneiern. Der Leichnam muss übersät gewesen sein von Schmeißfliegen. Die Schlussfolgerung lautet, dass die Tote viele Stunden lang ungeschützt und unbegraben dagelegen haben muss, vielleicht von einem dünnen Tuch bedeckt. Mehr als genug Zeit für jedes Insekt in der Umgebung, um die Leiche zu inspizieren,« Frische Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheibe. Markby sah hinaus. Selbst Meredith würde zugeben müssen, dass das kein Wetter für einen Urlaub auf einem Kanalboot war. Es sei denn, man war Angler. Markby war kein Angler, doch er hatte gehört, dass Angler – oder besser gesagt Fische – dieses Wetter liebten. Fische mochten Fliegen. Und auf dem Leichnam hatte es ungewöhnlich viele Fliegen gegeben.

»Wollläuse, Wespen und Ohrwürmer. Sind Sie Gärtnerin, Louise?« Sie schüttelte den Kopf und schnitt eine Grimasse.

»Ich wohne in einer Mietwohnung. Ich habe ein paar Geranien auf dem Balkon. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich denke«, murmelte Markby.

»Ich denke an ein Gewächshaus.«

Vielleicht hatte sich der Gedanke an Fische in seinem Unterbewusstsein eingenistet, denn auf dem Nachhauseweg betrat er ein Geschäft und kaufte Backfisch und Pommes frites für das Abendessen. Er mochte den Geruch und das Geräusch der Schnellrestaurants, das Zischen des Frittierfetts, das Geklapper der Utensilien und das säuerliche Aroma von Essig weit mehr als das eigentliche Produkt. Doch an jenem Abend war Markby hungrig.

In der Küche packte er das Essen aus. Es war noch warm, aber nicht mehr richtig heiß. Er schob alles auf einen Teller und ignorierte entschlossen die gewaltige Menge Fett, die im Papier der Verpackung zurückblieb. Dann stellte er den Teller in den Ofen, um sein Essen wieder aufzuwärmen. In der Zwischenzeit schnitt er ein paar Scheiben Brot und bestrich sie mit Butter. Markby liebte Butterbrote zu Backfisch und Pommes frites.

Sein Unterbewusstsein arbeitete noch immer auf vollen Touren. Beim Brotschneiden hielt er einmal inne und fuchtelte mit dem Messer in der Luft herum. Ein großes Messer. Der Täter hatte wie rasend auf sein Opfer eingestochen. Ein Irrer? Im Allgemeinen hielt Markby nicht viel von Wahnsinn als Motiv für Mord. Wenn es einmal zutraf, war der Mörder in der Regel schnell gefasst. Häufig fanden die Taten an öffentlichen Plätzen statt, oder der oder die Täter wurden aufgeschreckt.

Oft zogen sich geistige Verwirrung und ein Hang zu Gewalttaten wie ein roter Faden durch das Leben der Täter. Doch einen Leichnam heimlich auf einem Friedhof zu verscharren, sodass er erst ein knappes Dutzend Jahre später durch reinen Zufall entdeckt wurde? Das war kein Wahnsinn. Ganz sicher nicht. Das war Gerissenheit. Kaltblütigkeit. Wenn das Motiv also nicht Wahnsinn lautete – was war es dann? Hass? Wut?

»Leidenschaft!«, sagte Markby laut. Womit seine Gedanken wieder zu Meredith wanderten. Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Er hatte noch immer nicht mit ihr über ihren Urlaub gesprochen. Es war unentschuldbar, noch länger damit zu warten. Andererseits – wenn er sich nur telefonisch meldete und die schlechten Nachrichten per Telefon verkündete, dass er keine Zeit hatte und etwas dazwischen gekommen war, wäre er nicht nur unhöflich, sondern auch unfair. Wenigstens vorbeifahren sollte er und es persönlich sagen. Doch er würde bis nach der Gerichtsverhandlung warten; wer weiß, vielleicht bestand eine kleine Chance, dass der Fall quasi über Nacht aufgeklärt wurde. Manchmal geschahen tatsächlich Wunder. Falls es ihm gelang, den Coroner zufrieden zu stellen, konnte er reinen Gewissens in Urlaub fahren. Gleichmütig arbeitete sich eine Suchkette von Beamten im Nieselregen durch das dichte Unterholz rings um den alten Friedhof. Denny und Gordon Lowe, gleichgültig gegenüber dem Wetter, wie auch immer es war, saßen draußen vor ihrer Hütte und beobachteten das Treiben. Sie lümmelten in zwei Schubkarren, ließen die Füße über den Rand baumeln und erinnerten merkwürdig an ausgestopfte Puppen, wie sie von um Pennies bettelnden Kindern am Guy-Fawkes-Day durch die Straßen gekarrt wurden. Sie rauchten verknitterte selbst gedrehte Zigaretten, und von Zeit zu Zeiten brummte der eine oder andere einen Kommentar über das Geschehen.

»Was machen se’n jetzt da drüben in der Ecke?«, fragte Gordon.

»Das Gresham-Grab liegt doch hier vorne. Wonach suchen die?«

»Keine Ahnung«, entgegnete sein Bruder.

»Sie haben die verdammte Erde in Säcken weggekarrt!«, stellte Gordon fest.

»Sollen ’n paar Knöpfe gefunden haben, hab ich gehört. Ich hab ihnen gesagt, die können schon Jahre in der Erde gelegen haben. Müssen überhaupt nichts mit diesen Knochen zu tun haben.«

»Schätze, das können sie selbst feststellen?«, fragte Gordon in einem Ton, der eine Mischung aus Neugier und Unglauben war.

»Schätze, sie können auch feststellen, wo die Knöpfe herkommen und wie alt sie sind.« Denny spuckte über den Rand seiner Schubkarre.

»Sollten mal sehen, was ich schon so alles ausgegraben hab in meiner Zeit, sollten sie.« Gordon nickte zustimmend. Einer der gebückten Sucher blickte zu den beiden Brüdern und murmelte seinem Nachbarn zu:

»Sieh dir die beiden an! Wie zwei Vogelscheuchen. Die Burschen sind richtig unheimlich!«

»Dieser Job ist ein einziger Albtraum«, sagte sein Kollege verdrießlich.

»Ich weiß nicht, was ich als Nächstes finde! Arrrgh!« Er riss die Hand weg und sprang zurück.

»Was ist denn?« Der andere unterbrach seine Arbeit und schielte zu ihm. Der Erste, der geschrien hatte, untersuchte angeekelt seine Hand.

»Hundescheiße!«, fluchte er.

»Ich hab in Hundescheiße gegriffen.«

Am Mittwochmorgen wurde die gerichtliche Untersuchung zur Feststellung der Todesursache der unbekannten Frau und des Babys eröffnet, die man auf dem Friedhof von All Saints, Bamford, gefunden hatte. Der Coroner stellte fest, dass die Beerdigung nicht genehmigt war, und räumte der Polizei Zeit ein, um den Fall zu untersuchen. Das Verfahren war in Minutenschnelle vorbei.

Es regnete erneut. Der winzige Raum, in dem die Verhandlungen stattfanden, roch muffig und nach feuchten Regenmänteln und Reinigungsmittel von der Toilette ein paar Türen weiter. Zwei Frauen mittleren Alters sowie ein jüngerer Mann, die im hinteren Teil des Raums gesessen hatten, hasteten unverzüglich nach draußen. Nur wenige Menschen hatten der Verhandlung beigewohnt, und wer gekommen war, gehörte größtenteils zur Presse.

Markby wehrte die Reporterin der Bamford Gazette ab, eine sympathische junge Frau mit kurzem dunklen Haar. Deutlich schwieriger war ein junger Mann einer landesweiten Boulevardzeitung abzuweisen.

»Unsere Leser mögen diese Art von Story«, sagte der Gentleman.

»Hätten Sie vielleicht ein paar grässliche Details, Super?«

Markby mochte es nicht, wenn man ihn

»Super« nannte, und als er bedrängt wurde, um spektakuläre Details preiszugeben, fauchte er nur:

»Nein!«

Doch einen Herrn von der nationalen Presse schüttelte man nicht so leicht ab.

»Nun machen Sie schon! Irgendwas! Was ist mit vermissten Personen? Sie müssen doch Vermutungen bezüglich der Identität der Toten haben? Irgendwelche einheimischen Schönheiten, die unter merkwürdigen Umständen verschwunden sind? Irgendwelche unaufgeklärten Verbrechen?«

»Nicht in Bamford«, sagte Markby kühl.

»Soweit Inspector Dawes von der Bamforder Polizei mitgeteilt hat, wurde letzte Nacht unten an der Straße in den Spirituosenladen eingebrochen. Fragen Sie dort nach, wenn Sie eine Story wollen. Oh, und auf der Hauptstraße wurde eine Blitzanlage installiert, mit bemerkenswerten Resultaten.«

»Danke«, sagte der Reporter sarkastisch. Pater Holland hatte sich misstrauisch im Hintergrund gehalten. Er kam heran, als der Reporter auf der Suche nach erfolgversprechenderer Beute davonstapfte.

»Widerlicher Kerl. Stellen Sie sich vor, er hat tatsächlich an der Tür der Pfarrei geklingelt! Ich hab ihm gesagt, dass er sich um seinen eigenen Dreck scheren soll.«

»Ihr Geschäft ist auch sein Geschäft«, entgegnete Markby.

»Jedenfalls ist das die übliche Antwort dieser Burschen. Trotzdem kann es sein, dass wir die Presse noch brauchen. Macht also keinen Sinn, sich aufzuregen.«

»Ich bin jedenfalls froh, dass es vorbei ist.« Sie hatten den Verhandlungsraum verlassen und gingen den Korridor hinunter. Pater Holland sah erleichtert aus und machte daraus auch keinen Hehl.

»Für Sie fängt es jetzt wahrscheinlich erst richtig an, wie?« Sie überholten den Reporter, der Denzil Lowe aufgespürt hatte und sich nun bemühte, ihm und seinem Bruder löffelweise Beschreibungen der Exhumierung zu entlocken.

»Ja, ja, wir haben eine Menge Knochen ausgegraben«, berichtete Denzil gerade.

»Nicht viele neue, natürlich nicht. Aber jede Menge alter Knochen. Manchmal hat sich ein Fuchs einen Weg hineingegraben und sie angefressen. Natürlich findet man auch noch Handgriffe von Särgen und Stücke von verrottetem Holz.«

»Aber wenn ich recht verstanden habe, gab es diesmal keinen Sarg?« Im Vorbeigehen sagte Markby laut:

»Das Verfahren ist noch vor Gericht anhängig, Denny. Es könnte zu einem Prozess kommen. Achten Sie auf das, was Sie ihm erzählen.«

»Sie haben gehört, was der Superintendent gesagt hat«, sagte Denny mürrisch zu dem Reporter.

»Ich kann Ihnen wirklich nichts mehr erzählen.«

»Dann will ich meinen Fünfer wiederhaben!«, fauchte der Schreiberling.

»Den kriegt er bestimmt nicht wieder«, murmelte Markby zu Pater Holland gewandt. Der Geistliche kicherte leise vor sich hin.

KAPITEL 5

MEREDITH HATTE der Gerichtsverhandlung ebenfalls beigewohnt, auch wenn sie selbst keinen Grund dafür hätte nennen können. Sie war keine Zeugin, doch sie fühlte sich wie eine. Außerdem gab es einen rein praktischen Grund – sie wollte mit Alan reden. An diesem Tag mussten sie eine Entscheidung wegen ihres Urlaubs fällen. Es schien eine triviale, ja selbstsüchtige Sache im Vergleich zum eigentlichen Grund der Verhandlung, doch auch triviale Angelegenheiten müssen irgendwann geregelt werden. Sie hatte bereits den Bootseigner angerufen und ihn informiert, dass es möglicherweise ein Problem geben könnte. Spätestens heute musste sie sich melden und die Buchung entweder bestätigen oder stornieren. Sie sah, wie Alan von einem Journalisten bedrängt wurde. Der Vikar drückte sich auch in seiner Nähe herum. Der Geruch nach Toilettenreiniger wurde stärker. Meredith beschloss, draußen an der frischen Luft zu warten. Sie war nicht die Einzige, die auf den Stufen wartete. Im Schutz des Vorbaus stand ein junger Mann und beschäftigte sich mit seiner auffälligen goldenen Armbanduhr. Meredith drückte sich wegen des kalten Windes in eine Nische und beobachtete ihn, weil sie nichts Besseres zu tun hatte. Der Mann sah aus wie Anfang dreißig und war offensichtlich bemüht, selbstbewusst zu erscheinen, doch es gelang ihm nicht, seine Nervosität zu verbergen. Er trug einen modischen Anzug und hatte die Haare kurz geschnitten, und er war leicht übergewichtig und sah erfolgreich aus. Ganz und gar nicht wie ein Journalist. Er wirkte so fehl am Platz und schien sich so unwohl zu fühlen, dass sie sich ernsthaft fragte, was er hier zu suchen hatte. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sah er auf und begegnete ihrem Blick. Nach einer Sekunde des Zögerns näherte er sich ihr.

»Sind Sie zufällig eine Gerichtsbeamtin?« Er sprudelte die Worte hervor und wartete hoffnungsvoll auf eine positive Antwort. Meredith dachte verdrossen, dass Jahre einer Beamtenlaufbahn einen Menschen in ein solches Wesen verwandeln, selbst wenn er nicht im Dienst ist. Sie schien auszusehen wie jemand, der wusste, was hinter den grauen Mauern des Verwaltungsgebäudes vor sich ging, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte.

»Nein, tut mir Leid«, sagte sie entschuldigend.

»Oh.« Er schien ihr nicht glauben zu wollen.

»Sie haben nichts mit der Polizei zu tun?«

»Nein.« Allmählich erwachte ihre Neugier.

»Aber ich warte auf Superintendent Alan Markby.«

»Ist er der verantwortliche Beamte?« Als Meredith nickte, fuhr er fort:

»Dann ist er vielleicht derjenige, mit dem ich reden muss.«

»Worüber?« Es ging sie nichts an – andererseits hatte er mit der Unterhaltung angefangen, nicht sie. Außerdem hatte sie das Gefühl, als wollte er mit jemandem reden.

»Diese Knochen.« Er grinste zaghaft.

»Ich, äh … ich … vielleicht kann ich die … die Frau identifizieren.«

»Dann sollten Sie wirklich dringend mit Superintendent Markby reden, Mr. …?«

»French«, sagte er.

»Simon French.«

»Meredith Mitchell.« Sie gaben sich die Hand.

»Alan … ich meine Superintendent Markby wird bestimmt bald kommen.« Wie zur Bestätigung tauchte Markby in diesem Augenblick im Eingang auf. Er verabschiedete sich von James Holland und kam zu ihr. Der Vikar ging zu seinem Motorrad und winkte der Gruppe zum Abschied zu.

»Alan, das hier ist Simon French.« Meredith stellte ihren Schützling vor. Markby hob die Augenbrauen.

»Habe ich Sie nicht schon drinnen gesehen, im hinteren Teil des Verhandlungszimmers?« Ein wenig schärfer fügte er hinzu:

»Sind Sie von der Presse?« Der junge Mann wirkte verblüfft.

»Ich? Nein, Gott bewahre! Ich arbeite im Gaststättengewerbe.« Markby bemerkte Merediths Blick. Was will er von mir?, drückte seine Mimik aus.

»Er will über das Skelett reden«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage.

»Ich gehe jetzt nach Hause. Rufst du mich später an, Alan?« French sah aus, als wollte er nicht, dass sie ging. Er blickte sie an, als könnte sie seine nächsten Worte bestätigen, und sprudelte hervor:

»Wenn ich recht verstanden habe, dann leiten Sie die … diese Untersuchung, Superintendent Markby. Wie soll ich es erklären … ich habe die Nachrichten im Fernsehen gesehen, im Regionalprogramm, wegen des Skeletts, das auf dem Friedhof gefunden wurde. Ich habe gehört, dass es eine gerichtliche Untersuchung geben würde, und ich bin hergekommen, weil ich gehofft hatte, mehr zu erfahren. Aber der Coroner hat die Verhandlung vertagt. Es war reine Zeitverschwendung herzukommen, wirklich.« Unzufriedenheit klang aus seinen Worten.

»Ich habe nur wenig Zeit.« Markbys Tonfall ließ erkennen, dass er French für einen jener Freaks hielt, die makabre Mordfälle sammelten. French verstand den Hinweis.

»Möglicherweise besitze ich Informationen für Sie. Ich wollte erst die Verhandlung abwarten für den Fall, dass Sie schon alles herausgefunden haben und die Tote … identifiziert wurde. Aber so ist es nicht, und deshalb schätze ich, ich sage Ihnen besser, was ich mir gedacht habe. Ich könnte mich natürlich auch irren.« Mit leiserer Stimme fuhr er fort:

»Sehen Sie, die Sache bedrückt mich, und ich will mir alles von der Seele reden, damit ich wieder ruhig schlafen kann.«

»Mr. French«, sagte Markby und deutete auf das Gebäude, das er gerade verlassen hatte.

»Vielleicht gehen wir wieder nach drinnen, und Sie erzählen mir alles in Ruhe.«

»Ich sehe dich dann später«, rief Meredith den beiden Männern hinterher.

Markby führte Simon French in den inzwischen leeren Verhandlungsraum und bot ihm einen Platz an. Der Bursche konnte trotz allem ein Spinner sein. Diese MöchtegernInformanten kamen in allen Gestalten und Größen daher. Sie waren Lügner, Menschen, die nach einem Augenblick des Ruhms suchten und in Wirklichkeit nicht den leisesten Schimmer hatten. Manchmal waren es Verrückte. Manchmal waren es aber auch Verzweifelte, unglückselige Eltern, die sich nach einer Spur eines verschwundenen geliebten Kindes sehnten, selbst nach so vielen Jahren noch. French sah nicht aus wie ein Verrückter. Er war auch nicht alt genug, um der Vater der Toten zu sein. Vielleicht – Markby wagte es kaum zu hoffen – besaß French ja tatsächlich wertvolle Informationen?

French wand sich unbehaglich auf dem Holzstuhl.

»Ich weiß, dass es merkwürdig klingt. Vielleicht bin ich ja auch gründlich auf dem Holzweg und bilde mir alles nur ein. Aber ich frage mich, ob diese Knochen … ob dieses Skelett Kimberley Oates sein könnte?«

Es wurde ernst. Vorsichtig unterbrach ihn Markby und fragte:

»Warum erzählen Sie mir nicht zuerst, wer Sie eigentlich sind, Mr. French?«

French blickte ihn verwirrt an.

»Ich? Oh, sicher. Vermutlich wollen Sie wissen … hier, ich kann mich ausweisen.« Er suchte in seiner Brieftasche und brachte eine Auswahl an Kreditkarten, einen Führerschein, ein Scheckbuch und sogar einen Bibliotheksausweis zum Vorschein.

Markby unterbrach ihn hastig.

»Nein, ich meine … wer sind Sie, und was machen Sie? Kommen Sie aus Bamford?« Er ließ seine Zweifel durchblicken.

Zu Markbys Überraschung antwortete French:

»Ja, ich bin hier zur Schule gegangen. Ich bin weggezogen, als ich Anfang zwanzig war, und erst im letzten Jahr wieder zurückgekommen, um eine neue Stelle anzutreten.« Seine Stimme klang stolzer.

»Ich bin Geschäftsführer des Old Coaching Inn. Es liegt ein kurzes Stück außerhalb der Stadt an der Westerfield Road. Vielleicht kennen Sie es?«

Markby nickte.

»Ich gestehe, dass ich nicht mehr dort gewesen bin, seit es neu eröffnet wurde. Damals war es ein verfallener alter Kasten.«

»Wir haben das Restaurant vollständig renoviert!« French nutzte die Gelegenheit, die Werbetrommel für sein Lokal zu rühren.

»Ich hoffe, Sie erweisen uns bald einmal die Ehre Ihres Besuchs, Sir. Wir haben ein sehr gutes warmes Büfett, und unser Sonntagstisch …« Er bemerkte Markbys Blick und errötete.

»Verzeihung, das ist nicht der richtige Zeitpunkt … aber es gibt eine Verbindung, wissen Sie? Ich arbeite schon immer im Gaststättengewerbe. Ich habe nach der Schule eine Hotelfachschule besucht. Aber meine erste Arbeitsstelle war bei Partytime Caterers, einer Bamforder Firma. Ich war neunzehn und Barmann-Trainee. Ich … damals habe ich Kimberley kennen gelernt.«

Markbys Stimmung besserte sich. Der Mann war echt. Er konnte sich immer noch irren, aber French war wenigstens kein Spinner.

French redete hastig weiter.

»Sie war Kellnerin bei Partytime. Sie war jünger als ich, sechzehn, höchstens siebzehn, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Wir haben ungefähr ein Jahr lang zusammen gearbeitet.« Er verstummte wieder.

»Was bringt Sie auf den Gedanken, die Tote könnte Kimberley sein?«

»Weil sie vor ungefähr zwölf Jahren verschwand, und weil sie damals schwanger war. Und weil die Umstände so merkwürdig waren, sogar damals. Ich erinnere mich, wie ich gedacht habe …« French brach erneut ab.

»Es ist schwer, das zu erklären. Glauben Sie mir, ich will Ihnen keinen blöden Mist erzählen. Andererseits kam mir die Geschichte von Anfang an spanisch vor.« Markby hatte die Tür offen stehen lassen. Jetzt erhob er sich und ging, um sie zu schließen und den Geruch nach Toilettenreiniger und das Stimmengewirr vom Gang auszusperren.

»In Ordnung, Mr. French. Erzählen Sie es mit Ihren eigenen Worten. Machen Sie sich keine Gedanken, ob es wirr oder schräg klingen könnte. Wir werden es schon richtig einordnen.«

»Gut.« French räusperte sich.

»Wir fuhren immer wieder zu den verschiedensten Veranstaltungen, um für die Verpflegung der Gäste zu sorgen. Manchmal waren es Clubs oder Betriebsfeiern, manchmal private Gesellschaften, Hochzeiten, alles Mögliche. Vieles davon fand in den Abendstunden statt. Eines Tages erschien Kim nicht zur Arbeit, obwohl sie eingeteilt war, und Mr. Shaw, unser damaliger Chef, war stinksauer, weil wir deswegen zu wenig Leute waren. Er rief bei ihr zu Hause an, und wer auch immer antwortete, wusste nichts über Kimberleys Verbleib. Shaw meinte, wenn sie keine verdammt gute Erklärung parat hätte, würde er sie auf die Straße setzen. Aber sie tauchte nie wieder auf. Niemand hat je wieder etwas von ihr gesehen oder gehört. Die Polizei soll eine Untersuchung eingeleitet haben, weil die Verwandte, bei der Kimberley gelebt hat, ihr Verschwinden meldete.«

»Sind Sie sicher? Die Polizei hat die Angelegenheit untersucht?«, fragte Markby scharf. In Gedanken drückte er die Daumen. Gütiger Gott, hoffentlich haben die Akten überlebt!

»Ja. Die Beamten kamen ins Geschäft und redeten mit Mr. Shaw. Am Ende kam die Polizei zu dem Schluss, dass Kimberley von zu Hause weggelaufen sei, und damit war der Fall erledigt.«

»Für jeden außer Ihnen, wie mir scheint«, stellte Markby leise fest. French errötete.

»Ja. Ich meine, ich war nicht sicher. Es kam mir eigenartig vor.«

»Woher wussten Sie, dass sie schwanger war?«, fragte Markby unvermittelt. Das plumpe Gesicht seines Besuchers drückte Erschrecken aus.

»Hey, hören Sie, es war nicht von mir! Ich weiß nicht, von wem sie schwanger war! Sie hat es nicht gesagt! Der einzige Grund, weshalb ich es weiß, ist … Eines Abends auf der Arbeit, wir waren im Golfclub … ich erinnere mich noch, sie nannten es Captain’s Dinner. Partytime war für die Verpflegung zuständig. Kim war auch dabei, aber irgendwann am Abend verschwand sie, und ich ging sie suchen. Ich fand sie auf der Toilette. Sie kam heraus, und sie sah schrecklich aus. Ich fragte, ob alles in Ordnung sei und ob sie weitermachen könne. Sie sagte, ihr fehle nichts, und bat mich, niemandem etwas zu sagen, weil es sonst Shaw zu Ohren kommen würde.« French entspannte sich. Die Worte sprudelten nun aus ihm hervor.

»Ich fragte, ob sie krank sei. Wissen Sie, wenn man mit Essen umgeht, kann man nicht vorsichtig genug sein. Wenn Kim krank gewesen wäre, hätte sie gar nicht erst zur Arbeit kommen dürfen. Aber sie lachte nur und sagte: ›Sei nicht albern! Ich bin schwanger, das ist alles.‹« French grinste schief.

»Ich war nicht überrascht. Sie gehörte normalerweise zu den eher Dünnen, aber in den Wochen davor war sie ziemlich dick geworden und ihr Gesicht aufgedunsen, wissen Sie?«

»Haben Sie Kimberley nach dem Vater des Kindes gefragt?«

»Ich nahm an, dass es wohl ein Freund gewesen sein muss. Ich fragte sie, was sie zu tun gedenke und ob ihr Freund zu dem Kind stehen würde. Sie sagte – ich erinnere mich noch ganz genau: ›Oh, keine Angst, mir wird es gut gehen. Ich werde bestens versorgt sein, ganz bestimmt sogar.‹« Markby hob die Augenbrauen.

»Hat sie das tatsächlich gesagt? Wie war ihre allgemeine Stimmung? Und wie lange vor ihrem Verschwinden war das?« French dachte über die beiden Fragen nach.

»Vielleicht zwei Wochen. Sie war nicht beunruhigt oder besorgt. Im Gegenteil – sie klang sogar irgendwie triumphierend. Ich habe nicht mehr mit ihr darüber geredet. Ich wusste, dass sie es früher oder später Shaw sagen musste, aber das war ihr Problem, nicht meins. An dem Tag, an dem sie verschwand, traf ich sie mittags in der Stadt. Wir waren nicht verabredet oder so; es war reiner Zufall. Eine Woche vorher hatte sie sich von mir einen Fünfer geliehen. Sie sagte: ›Oh, Simon! Ich gebe dir das Geld heute Abend auf der Arbeit zurück.‹ Wir unterhielten uns ein paar Minuten. Ich weiß nicht mehr, worüber – belanglose Dinge. Dann sagte sie, dass wir uns ja am Abend sehen würden – irgendeine Tanzveranstaltung – und dass sie den Fünfer ganz bestimmt nicht vergessen würde. Aber wie gesagt, sie ist nicht zur Arbeit erschienen.« French machte eine abfällige Geste.

»Sehen Sie, Kimberley wäre doch bestimmt nicht weggelaufen, nur weil sie mir fünf Pfund schuldete, oder? Sie hatte definitiv vor, mir das Geld am Abend auf der Arbeit zurückzugeben. Sie wollte zur Arbeit kommen. Und dann war da ihr Zustand. Bestimmt kein geeigneter Zeitpunkt, um von zu Hause wegzulaufen, was? Sie war auch nicht aufgeregt oder verärgert, nichts!«

»Wäre es möglich, dass sie zum Vater des Kindes gezogen ist?«, fragte Markby. Sein Gegenüber grinste boshaft.

»Möglich wäre es. Obwohl ich es bezweifle.«

»Ich verstehe.« Markby musterte French.

»Offensichtlich wissen Sie noch mehr. Oder Sie haben zumindest einen Verdacht.« French beugte sich vor und sah Markby in die Augen.

»Lassen Sie mich erklären, was für eine Frau Kimberley war. Wir haben auf der Arbeit miteinander geredet, wie man das unter Kollegen so tut. Aber wir hatten keinen privaten Kontakt. Wir hatten keine Gemeinsamkeiten. Für sie war es nur ein Job, weiter nichts. Ich wollte Karriere machen. Ich hatte nicht vor, mein ganzes Leben für Partytime zu arbeiten! Ich wollte nicht dort bleiben, sondern Erfahrungen sammeln. Ich wollte weg und nach London, so schnell wie möglich. Kimberley hingegen … nun ja, sie war in Ordnung, als Kellnerin. Aber sie hatte keinen Stil. Sie hätte es niemals zu etwas gebracht. Ihr fehlte jeglicher berufliche Ehrgeiz.« Die letzten Worte hätten herablassend geklungen, wenn French sie nicht mit solch nachdrücklichem Ernst gesprochen hätte. Also hat der gute Mr. French bereits im zarten Alter von neunzehn Jahren auf seine große Karriere hingearbeitet, dachte Markby ironisch. Und die beste Gelegenheit fand sich nicht in seiner verschlafenen kleinen Heimatstadt. French hat sich nicht mit einem Mädchen aus der Gegend einlassen wollen. Seine Ziele lagen in der großen Stadt. Andererseits – falls er etwas mit einem Mädchen aus Bamford gehabt hatte und falls dieses Mädchen für ihn zu einem Handicap geworden war, dann war er möglicherweise verzweifelt genug, um sich dieses Handicaps zu entledigen …

»Und sind Sie nach London gegangen?«

»Ja, wie ich es vorhatte. Ich habe in zwei oder drei Restaurants im West End gearbeitet und anschließend eine Zeit lang auf einem Kreuzfahrtschiff. Ich wollte so viele Erfahrungen sammeln, wie es nur ging – für meinen Lebenslauf, wenn Sie verstehen. Wenn man einen vernünftigen Job will, muss man zeigen, dass man alles schon einmal gemacht hat.« Markbys Besucher blickte selbstzufrieden drein, ein Gesichtsausdruck, der gut zu seinen plumpen Zügen passte. Unter Mr. Frenchs Obhut wird das Old Coaching Inn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf der Liste der schicken Speiserestaurants nach oben schießen, dachte Markby. Er erinnerte sich an das heruntergekommene, staubige Lokal, in dem es Ploughman’s Lunches gegeben hatte, trockene Sandwiches und warmes, schales Bier. Damit war es vorbei, so schien es. French würde nicht eher ruhen, bis sein Restaurant eine positive Kritik auf der Seite Essen & Trinken des Sunday Telegraph bekam.

»Aber es gibt noch etwas, das Sie über Kimberley wissen?«, erkundigte sich Markby in freundlichem Ton.

»Sie war attraktiv«, sagte Simon French widerwillig und runzelte die Stirn.

»Sie war nicht wirklich dumm, aber ihre Interessen waren beschränkt. Sie hat Liebesromane gelesen, im Bus, wenn wir zu Veranstaltungen gefahren sind. Ich glaube, sie hat sich vorgestellt, eines Tages einen Reichen kennen zu lernen, der ihr Herz im Sturm erobern würde …« French verzog das Gesicht.

»Sie hat wohl gehofft, jemanden durch ihre Arbeit bei Partytime kennen zu lernen. Sie wurde einige Male zurechtgewiesen, weil sie auf privaten Veranstaltungen mit Gästen geflirtet hat. So etwas darf nicht sein, nicht, wenn man hochklassig bleiben will. Und man muss sicherstellen, dass das Personal es begreift. Ich meine, manchmal werden männliche Gäste zudringlich, besonders, wenn eine Kellnerin hübsch ist. Man muss den Mitarbeitern beibringen, wie sie nein sagen, ohne den Kunden zu verärgern. Das Gleiche gilt für weibliche Gäste. Manche von ihnen, ganz besonders diejenigen jenseits der vierzig, stecken einem jungen Barmann ein paar Fünfer zu und lassen ihn wissen, dass ein Stockwerk höher ein leeres Schlafzimmer wartet.«

»Tatsächlich?« Markby war fasziniert. Er fragte sich, ob jemals eine Frau den Versuch unternommen hatte, French als Gespielen für die Nacht einzuladen. Falls ja, so war sie sicherlich erfolglos geblieben. Der gute Mr. French war viel zu spröde und vernünftig.

»Und Kimberley? Hat sie gewusst, dass man sich mit zahlender Kundschaft nicht auf ein Techtelmechtel einlassen darf?«

»Aber selbstverständlich!« French klang schockiert.

»Und trotzdem hat sie … nun ja, ich sagte Ihnen ja bereits, Kimberley war verträumt. Einmal – ich erinnere mich noch – habe ich ihr sogar gesagt, dass sie doof wäre. Ich meine, Kunden, die sich einen professionellen Partyservice für ihre Feiern leisten können – und Partytime war nicht gerade billig …« French zuckte die Schultern.

»Ich meine, sie hätten sich bestimmt nicht ernsthaft mit jemandem wie ihr abgegeben.« Oh, er war bestimmt ein harter und scheinheiliger kleiner Mistkerl, unser Simon, dachte Markby. Kimberley zu belehren, sich an ihresgleichen zu halten … also wirklich.

»Und was hat Kimberley darauf geantwortet, Mr. French?«, fragte er. Es interessierte ihn wirklich.

»Ich erinnere mich nicht«, gestand Simon French steif. Markby unterdrückte ein Kichern, und French fuhr fort:

»Allerdings – nach ihrem Verschwinden habe ich mich gefragt, ob vielleicht der Vater des Babys jemand war, den sie während der Arbeit kennen gelernt hatte. Ganz besonders, weil sie gesagt hat, sie würde bestens versorgt sein. Es klang so merkwürdig, wissen Sie? Als wüsste sie, dass sie von irgendwoher Geld bekommen würde.«

»Was meinen Sie, könnte Kimberley über Erpressung nachgedacht haben?« French blickte Markby zuerst entsetzt und dann verlegen an. Die Mischung aus Emotionen wirkte irgendwie komisch, doch dann antwortete er:

»Kann ich nicht sagen. So etwas kommt vor, nicht wahr? Hören Sie, ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß.« Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch Markby war noch nicht mit ihm fertig.

»Als damals die Untersuchungen wegen Kimberleys Verschwinden angestellt wurden, haben Sie gegenüber der Polizei von Ihren Zweifeln gesprochen?«, fragte er.

»Niemand hat mich gefragt. Die Polizei hat mit Shaw gesprochen, nicht mit mir«, antwortete French.

»Außerdem dachte ich, falls Kim in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt, wäre es besser, den Mund zu halten. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen. Verstehen Sie – ich dachte nicht einen Augenblick daran, dass sie tot sein könnte!«

»Bis Sie in den Nachrichten von dem Skelett auf dem Friedhof gehört haben?«

»Bis zu diesem Augenblick, ja«, gestand French kleinlaut.

»Ich wünschte verdammt noch mal, ich hätte nicht so lange gewartet, bis ich etwas sage.«

»Ich bin jedenfalls sehr froh, dass Sie sich überhaupt gemeldet haben, Mr. French. Ich danke Ihnen recht herzlich.« Markby klang begeistert, und das war er tatsächlich. Frenchs Stimmung besserte sich, und auf seinem Gesicht erschien wieder der selbstgefällige Ausdruck, von dem Markby vermutete, dass er Gewohnheit war. Er würde Frenchs Geschichte selbstverständlich überprüfen lassen, doch er hatte das Gefühl, dass der Mann ihm genau das gesagt hatte, was sie wissen wollten. Ob es wirklich alles war, stand hingegen auf einem anderen Blatt. Markby unterdrückte den Wunsch, Frenchs selbstzufriedene Contenance ins Wanken zu bringen.

»Hätten Sie die Freundlichkeit, all das in einer schriftlichen Aussage für unsere Akten festzuhalten? Gehen Sie dorthin«, er kritzelte eine Zimmernummer auf ein Blatt Papier, »und fragen Sie nach Inspector Bryce oder Sergeant Prescott.« French blickte ihn erschrocken an.

»Hören Sie, ich wollte Ihnen nur sagen, was ich weiß. Ich möchte nicht in diese Angelegenheit verwickelt werden …« Markby hob beschwichtigend die Hand.

»Sie haben sich richtig verhalten. Aber wir müssen es niederschreiben. Anschließend sind Sie frei zu tun und zu lassen, was immer Sie wollen. Es sei denn, Ihnen fällt noch etwas Neues ein. Ich wünschte nur, andere Zeugen würden sich genauso schnell und bereitwillig melden, wie Sie das getan haben, Mr. French.« French blickte ihn erleichtert an.

»Das ist doch selbstverständlich, Sir!«, sagte er leichthin und verscherzte sich damit endgültig Markbys Sympathie.

Meredith hatte unterwegs ein paar Einkäufe erledigt. Als sie zu Hause ankam, wartete Alan bereits. Sie sah seinen Wagen draußen auf der Straße vor ihrem Reihenhaus stehen. Alan selbst saß auf der niedrigen Ziegelsteinmauer.

Sie war überrascht, doch ihr erster Gedanke galt dem Preis, den sie für die Mauer gezahlt hatte.

»Sie ist nur drei Yards lang und einen hoch!«, hatte sie dem Maurer gesagt.

»Und nicht die Chinesische Mauer. Das kann unmöglich so viel kosten!«

»Es ist die Arbeit«, hatte der Arbeiter vorwurfsvoll geantwortet.

»Und der Preis für Steine ist auch gestiegen, ganz zu schweigen von Sand und …«

»Schon gut!« Sie hatte nachgegeben, doch es wurmte sie immer noch. Sie verdrängte den Gedanken. Ein schwaches Lächeln schlich sich in ihre Gesichtszüge. Alan sah aus, als fühlte er sich unbehaglich. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, die langen Beine über das Pflaster ausgestreckt und den Kopf nach vorn geneigt, sodass die Haare sein Gesicht verdeckten. Er war unübersehbar in Gedanken versunken, und was für Gedanken dies auch immer waren – sie bedrückten ihn. Am anderen Ende der Häuserreihe trat eine ältere Frau aus der Tür. Sie bewegte sich steif und zog einen zweirädrigen Einkaufswagen hinter sich her, während sie näher kam. Selbst auf die Entfernung hin sah Meredith, dass die Frau den wartenden Alan mit abgrundtiefem Misstrauen betrachtete.

»Hallo«, begrüßte Meredith ihn.

»Warum hast du nicht im Wagen gewartet? Oder besser gesagt, wo ist eigentlich dein Schlüssel?«

»Hab ich zu Hause vergessen.« Die ältere Frau war nun auf ihrer Höhe.

»Verzeihung, junger Mann!«, sagte sie mit lauter Stimme.

»Sie versperren den Weg.«

»Tut mir Leid«, antwortete Markby und zog die Beine an, um aufzustehen.

»Guten Tag, Mrs. Etheridge«, sagte Meredith.

»Wie geht es Ihnen?«

»Ganz gut, danke sehr«, erwiderte die Frau brüsk. Sie bedachte Markby noch einmal mit einem missbilligenden Blick und zog den Einkaufswagen weiter.

»Etheridge?«, fragte Markby irritiert.

»Den Namen habe ich schon mal gehört.«

»Sie lebt in dem kleinen Haus am Ende der Reihe. Sie leidet unter Arthritis. Sie ist keine besonders freundliche Person und ziemlich affektiert, aber sie tut mir irgendwie Leid. Wahrscheinlich missbilligt sie meine Herrenbesuche. Ganz besonders, wenn sie draußen auf meiner Mauer herumsitzen. War es nicht zu feucht?«

»Ich hab nichts bemerkt …« Er folgte ihr ins Haus.

»Möchtest du eine Tasse Tee oder lieber ein Glas Wein?«

»Tee. Ich muss noch mal zurück ins Büro.«

»Bedeutet das, dass Simon French brauchbare Informationen hatte?« Es gelang ihr nicht, ihre Neugier zu verbergen. Markby zuckte die Schultern.

»Das wird sich zeigen. Wir müssen seine Aussage überprüfen. Ich habe gerade auf der Bamforder Wache angerufen. Frenchs Angaben zufolge könnte es sich bei der Toten um eine vermisste Person handeln, die vor zwölf Jahren verschwunden ist. Ein junges Mädchen namens Kimberley Oates.« Während Meredith den Tee zubereitete, erzählte er ihr Frenchs Geschichte. Als er fertig war, fügte er hinzu:

»Ein richtiger Klugscheißer, dieser French. So scharfsinnig, dass er sich selbst hinters Licht führt, wie meine Großmutter immer gesagt hat.«

»Du magst ihn offensichtlich nicht. Ist er ein Verdächtiger?«

»Mörder lassen sich häufig unter irgendeinem Vorwand aus der Reserve locken. Es ist, als hätten sie das Gefühl, alles drehe sich um sie, und sie wollen daran teilhaben. Möglicherweise glaubt French, dass er mit uns Katz und Maus spielen kann. Andererseits habe ich schon das Gefühl, dass er ehrlich ist, was seine Informationen betrifft. Ich bin bereit zu glauben, dass er keine Beziehung mit der Vermissten hatte. Ich glaube, er ist überhaupt nicht im Stande, irgendetwas anderes als sich oder seine Karriere zu lieben!« Alan wollte eindeutig das Thema wechseln.

»Aber das ist nicht der Grund, aus dem ich gekommen bin, Meredith …« Er bemerkte ihren forschenden Blick.

»Was diesen Fall angeht, oder besser gesagt, unseren gemeinsamen Urlaub …«

»Du möchtest jetzt nicht aus den Untersuchungen aussteigen«, stellte sie mit einem schiefen Grinsen fest.

»Du kannst es dir nicht leisten, in Urlaub zu fahren, das sehe ich selbst. Du steckst bis über beide Ohren in Arbeit. Außerdem geraten die Dinge in Bewegung, nicht wahr? Falls dieser French Recht hat und das Skelett der Leichnam von Kimberley Oates ist, heißt das. Du bist schon mittendrin, und du kannst jetzt nicht mehr aufhören. Es ist zu spät.« Er blickte sie unglücklich an.

»Ich will dich wirklich nicht hängen lassen. Ich weiß, wie sehr du dich auf die Bootstour gefreut hast. Ich habe mich selbst darauf gefreut, ehrlich! Wenn du den Urlaub nicht stornieren willst, dann versuche ich selbstverständlich, den Fall jemand anderem zu übergeben. Aber alle stecken bis zum Hals in Arbeit, und es könnte so aussehen, als würde ich versuchen, den schwarzen Peter weiterzugeben.« Sie erbarmte sich. Er erweckte Schuldgefühle in ihr.

»Ich will ehrlich sein, Alan. Ich hatte sowieso ein ungutes Gefühl wegen des Urlaubs. Das Wetter ist so verdammt schlecht. Und als ich von dem Leichenfund im Grab der Greshams gehört habe, dachte ich gleich, dass du vielleicht nicht wegkannst. Es ist nicht schlimm, wirklich nicht. Ich habe den Bootsverleiher gestern angerufen und ihn informiert, dass wir möglicherweise stornieren müssen. Ich werde ihm heute Abend endgültig absagen. Er hat gesagt, dass stornierte Boote in der Regel schnell von anderen übernommen werden. Es dürfte kein Problem werden.« Markby sah nicht überzeugt aus.

»Wir könnten später fahren.«

»Lass nur. Warten wir’s ab.« Das war’s wohl endgültig, dachte sie, noch während sie es sagte. Als Markby gegangen war, wurde ihr bewusst, dass sie für die nächsten zweieinhalb Wochen keine Pläne hatte. Sie hatte Urlaub. Es gab nichts zu tun, und wegfahren würde sie auch nicht. Womit um alles in der Welt sollte sie so viel freie Zeit verbringen? Verschwendete freie Zeit! Mit einem Mal tat es ihr Leid, dass sie sich so bereitwillig einverstanden erklärt hatte, die Bootstour zu stornieren. Sicher, sie war nicht gerade begeistert gewesen – schlimmer noch, sie hatte ihre Anzahlung verloren –, und sie hatte wertvollen Urlaub genommen. Drei ganze Wochen, unter der Voraussetzung, dass sie die Zeit gemeinsam mit Alan verbringen würde, und jetzt …

»Polizeiarbeit!«, brummte Meredith wütend. Niedergeschlagenheit breitete sich in ihr aus. So lief es doch immer. Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer des Bootsverleihers.

Am frühen Abend erwachte in ihr das Gefühl, als müsste sie mit jemandem reden. Alan schied eindeutig aus. Es gab nur einen anderen Menschen, der die Situation verstehen würde. Meredith nahm den Wagen aus der Garage und fuhr das kurze Stück zum Pfarrhaus. Sie hatte die Nase voll von dem verflixten Fahrrad, und jetzt, wo der Bootsurlaub auf dem Kanal gestorben war, würde sie es unverzüglich seiner Besitzerin zurückgeben.

Die dichte Bewölkung verdunkelte den Abend mehr als für die Jahreszeit normal war. Licht fiel aus der Küche des Pfarrhauses, wo James Holland sein Abendessen vorbereitete. Er trug nicht seine Soutane, sondern weite Kordhosen und einen handgestrickten Pullover, der offensichtlich von einem blutigen Anfänger hergestellt worden war. Das Zopfmuster war voller Fehler; der Zopf drehte sich in willkürliche Richtungen oder verlor sein Flechtmuster ganz und verlief schnurgerade nach oben.

»Hallo Meredith!« Er winkte zur Begrüßung mit einem scharf aussehenden Messer.

»Hätten Sie Lust, mir bei meiner bescheidenen Mahlzeit Gesellschaft zu leisten?«

»Ich bin nicht gekommen, um mir ein Essen zu schnorren, James. Ich wollte mit jemandem reden, das ist alles. Oder passt es Ihnen im Augenblick nicht?«

»Selbstverständlich passt es mir. Hat es etwas mit der Angelegenheit auf dem Friedhof zu tun? Diese Geschichte geht mir auch nicht aus dem Sinn.« Er deutete mit dem Messer auf einen Stuhl.

»Setzen Sie sich doch. Bleiben Sie und essen Sie mit mir. Ein wenig Gesellschaft wäre nicht schlecht.« Eifrig fügte er hinzu:

»Ich bin kein Koch, aber ich habe das hier.«

Er kramte in seinem Kühlschrank und brachte eine wundervolle selbst gemachte Pastete zum Vorschein.

»Hühnchen und Schinken. Die Spezialität einer dankbaren Frau aus der Kirchengemeinde. Sie hat diese Pastete für mich gemacht. Hin und wieder bekomme ich kleine Geschenke, wissen Sie? Auch diesen Pullover.« Er zupfte daran.

»Ich habe gesehen, wie Sie ihn gemustert haben. Er stammt von einer Frau mit einer starken Sehbehinderung, und daher war es für sie eine ganz besondere Leistung. Ich muss ihn einfach tragen.«

Er begann mit dem Putzen eines Kopfsalats. Meredith sah ihm ein paar Minuten zu.

»Kann ich irgendetwas tun, um Ihnen zu helfen?«

»Sie könnten die Weinflasche dort drüben öffnen. Und dann erzählen Sie mir, was Sie bedrückt.«

»Nichts Schwerwiegendes. Meine Probleme sind im Grunde genommen banal.« Sie grinste schief.

»Alan hat den Urlaub abgesagt. Ich habe schon damit gerechnet. Trotzdem, es bedeutet, dass ich nicht weiß, wie ich die Zeit totschlagen soll. Sie haben nicht zufällig eine Arbeit, die ich erledigen könnte? Irgendetwas Sinnvolles? Ich bin allerdings nicht besonders gut im Umgang mit Kindern.«

»Eine Freiwillige!«, säuselte der Vikar hocherfreut.

»Meine liebe Meredith! Selbstverständlich habe ich Arbeit für Sie, Arbeit ohne Ende sogar. Diese Grabgeschichte hat mich so in Anspruch genommen, dass meine kleinen Routinebesuche allesamt ausgefallen sind. Ich schaffe im Augenblick nur noch die dringenden, aber die regelmäßigen Besuche bei meinen Schafen leiden, beispielsweise Daisy Merrill.«

»Wer ist das?«, erkundigte sich Meredith, während sie noch überlegte, ob sie die Frage stellen sollte.

»Miss Merrill? Sie ist eine gute alte Seele. Sie lebt in einem Pflegeheim draußen in Westerfield. Es heißt ›Cedars‹. Ich versuche, sie wenigstens einmal pro Woche zu besuchen oder anzurufen, denn sie hat sonst niemanden mehr. Sie ist eine aufgeweckte alte Lady, und sie unterhält sich so gerne. Sie könnten nicht vielleicht …?« Er wurde leiser und brach schließlich ab.

»Würde sie mich denn empfangen?«

»Oh, Miss Merrill würde jeden empfangen!«, versicherte Pater Holland vielleicht nicht gerade ausgesprochen taktvoll. Er schnitt Tomaten in den Salat und nahm ein großes Glas Chutney vom Regal.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir hier essen? Ich benutze das Esszimmer so gut wie nie. Hinterher können wir uns über das Problem auf dem Friedhof unterhalten.«

»Alan glaubt, dass die Polizei vielleicht bereits den Namen der Toten kennt«, berichtete Meredith ein wenig später. James Holland füllte ihr Weinglas nach.

»Schnelle Arbeit!«

»Jemand kam vorbei, der glaubt, sie zu kennen. Es sieht aus, als stamme die Tote von hier. Falls das zutrifft, könnte sich der Mörder ebenfalls noch in der Gegend aufhalten, was meinen Sie?«

»Nicht, wenn er eine Spur Verstand besitzt«, erwiderte der Vikar.

»Wahrscheinlich ist er weggegangen, sobald er konnte.«

»Irgendjemand müsste sie gekannt haben. Ziemlich viele Leute genau genommen.«

»Sicher. Aber werden sie sich melden? Der Instinkt, den Kopf unten zu halten, ist ziemlich stark. Hoffen wir, dass Alan der Sache bald auf den Grund geht. Diese Geschichte macht mir Sorgen. Ich bin froh, wenn die Polizei und all die Gaffer endlich wieder von meinem Friedhof verschwunden sind.«

Es war bereits dunkel, als Meredith das Pfarrhaus mit dem Versprechen verließ, Miss Merrill zu besuchen. Sie hoffte, dass sie auf dem Weg nach Hause nicht angehalten wurde, denn sie hatte zusammen mit Pater Holland die ganze Flasche Wein geleert. Meredith trat durch das Tor auf die Straße und kramte in ihrer Tasche nach den Wagenschlüsseln.

Schritte auf dem Pflaster drangen an ihr Ohr. Sie blickte auf. Zwei Gestalten kamen aus der Dunkelheit und traten in das Licht der Laterne. Sie blieben stehen, Seite an Seite, und beobachteten Meredith. Beide sahen sich in ihrer Arbeitskleidung und den Wollmützen verblüffend ähnlich. Ihre Gesichter waren verschlossen, doch die Augen leuchteten hell wie die eines wilden Tieres. Sie musterten Meredith von oben bis unten, ohne ihre Gedanken preiszugeben. Der Anblick der beiden wirkte unglaublich bedrohlich. Mein Gott!, dachte Meredith. Sie werden mich überfallen!

Sie öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie kein Geld hatte, doch einer der beiden sprach, bevor sie es tun konnte.

»’n Abend, Miss.« Der ländliche Dialekt beruhigte Meredith ein wenig. Mit einem Mal ahnte sie, wer die beiden waren.

»Denny und Gordon!«, rief sie.

»Die beiden Totengräber, richtig?«

»Das sin’ wir, Ma’am.«

»Was machen Sie mitten in der Nacht hier draußen?« Meredith blickte von einem zum anderen, und diesmal antwortete der Zweite, unmerklich kleiner als der andere, als hätte sie ihn direkt angesprochen.

»Wir haben einen Blick auf den Friedhof geworfen und nachgesehen, ob alles sauber und aufgeräumt is’, Ma’am. Beim Gresham-Grab, wo so viel Aufregung herrscht.«

»Und? Ist alles in Ordnung?«

»Oh, sicher. Wir wollten es nur eben dem Vikar berichten.« Sie schoben sich an Meredith vorbei und traten durch das Tor, das zum Pfarrhaus führte.

»Dann gute Nacht, Miss.«

»Gute Nacht«, erwiderte Meredith. Sie beneidete den Vikar nicht um seine merkwürdigen nächtlichen Besucher.

Das Gebäude des Bezirkspräsidiums war hell erleuchtet, ein Leuchtturm inmitten der umgebenden Dunkelheit. Im Innern herrschte Stille – der Lärm und die Geschäftigkeit des Tages waren dem hallenden Geräusch einzelner Schritte und gelegentlicher Stimmen in leeren Korridoren und Büros gewichen.

Markbys Tür wurde geöffnet, und er blickte auf. Louise Bryce stand da, mit gerötetem Gesicht und einem triumphierenden Grinsen.