Meredith, die von dem Mädchen am Eingang zur Londoner Underground angesprochen worden war, erkannte die professionelle Bettlerin und schüttelte den Kopf. Das Mädchen ging, ohne sich aufzuhalten, weiter, um den nächsten Passanten anzuschnorren. Meredith blieb mit einem durch und durch britischen Schuldgefühl zurück.

Zu wissen, dass man im Recht ist, hilft eben nicht immer. Wenn man um Hilfe gebeten wird und diese Hilfe verweigert, dann hinterlässt dies ein nagendes Gefühl des Unbehagens. Niemand, und ganz bestimmt kein junger Mensch, sollte um seinen Lebensunterhalt betteln müssen. Irgendwann auf ihrem Weg hatte das junge Mädchen etwas verloren, das auf lange Sicht viel wichtiger war als Unschuld. Sie hatte ihren Respekt vor sich selbst verloren, und es war ihr nicht einmal bewusst.

Oder dramatisiere ich einfach zu sehr?, dachte Meredith, während sie sich ihren Weg in einen bereits überfüllten Zug bahnte. Es war Montagmorgen, und es regnete, und in dem feuchten Pendlerzug war das Leben für niemanden ein Zuckerschlecken.

Die Türen glitten zu, doch dann öffneten sie sich wieder, blockiert durch einen Fremdkörper. Ein allgemeines ärgerliches Stöhnen ging durch den Waggon, weil die Verzögerung das Unbehagen um einige zusätzliche Sekunden in die Länge zog.

»Geh weg von der verdammten Tür!«, rief jemand aus der Menge. Alle rückten zusammen, und jeder funkelte seinen Nachbarn an, als wäre er der Schuldige. Beim zweiten Versuch schlossen sich die Türen, der Zug setzte sich in Bewegung, und sie schaukelten und ratterten in dem stickigen Waggon in Richtung London. Der Beginn einer neuen Woche.

Was Meredith wirklich störte, abgesehen davon, dass sie gegen eine der Metallstangen am Ende der Sitzreihen gedrückt wurde, war die Tatsache, dass das bettelnde Mädchen sie an Katie Conway erinnerte. Nicht weil es irgendwelche Ähnlichkeiten gegeben hätte, Gott behüte oder weil Katie in finanziellen Schwierigkeiten steckte, sondern weil Katie sie ebenfalls um Hilfe gebeten und Meredith sie ihr verweigert hatte. Sicher, sie wusste, dass sie jedes Recht dazu gehabt hatte, aber wie jetzt eben in diesem Fall beruhigte das ihr Gewissen nicht wirklich. Helen Turners Worte hatten die Dinge nicht gerade leichter gemacht. Irgendjemand musste den Jungen zuhören.

»Aber warum ausgerechnet ich?«, fragte sie sich rebellisch. Was dem berühmten:

»Bin ich der Hüter meines Bruders?« verdammt ähnlich klang. Heute war offensichtlich der Tag der Selbstgeißelung – und wenn schon!

Als der Zug an die Oberfläche kam, prasselte Regen auf das Dach herab, und auf dem Pflaster am Ausgang der Underground wartete ein weiterer Bettler. Diesmal ein Junge, hohläugig und unterernährt, mit langem, ungekämmtem Haar, das an dem dünnen Gesicht klebte, einem weiten alten Übermantel, der um seinen dürren Leib schlackerte, und Füßen in ausgetretenen alten Turnschuhen. Meredith hatte sich unterdessen in ein Verantwortungsgefühl für alles Übel der Welt gesteigert und gab ihm ein paar Münzen.

»Danke!«, sagte der Junge mit einem überraschend fröhlichen Grinsen. Doch es half nicht, Merediths Schuldgefühle zu lindern. Nun nagte das Gefühl an ihr, jemanden mit ihrer Großzügigkeit unterstützt zu haben, der zweifellos Drogenmissbrauch betrieb. An manchen Tagen kann man eben einfach nicht gewinnen.

Am selben Morgen, während Meredith in einem Aufzug in die Eingeweide der Londoner Underground sank, saßen Markby und Sergeant Helen Turner über zwei langsam erkaltenden Bechern Kaffee im Büro und verglichen ihre Notizen.

»Mein Besuch in Park House hat eine Menge neuer Fragen aufgeworfen, aber nur wenige Antworten gebracht. Wenigstens habe ich die Schlüssel gefunden.« Markby seufzte.

»Bridges hat sie sogleich untersucht, aber er war nicht imstande, einen vernünftigen Fingerabdruck oder auch nur ein Fragment eines Fingerabdrucks zu finden.« Er blickte auf seine Notizen.

»Entweder wegen der Verzierungen auf dem fraglichen Objekt oder weil derjenige, der sie benutzt hat, Handschuhe gegen die Kälte anhatte. Ich wage zu behaupten, dass die Spurensuche uns außerdem darüber informieren wird, dass es sich bei dem Fleck um ein ganz gewöhnliches Haushaltsöl handelt, wie man es allenthalben benutzt, um Türangeln oder Schlösser zu schmieren. Wir müssen den endgültigen Bericht abwarten sowie die Analyse des Blutes und der Haare. Mrs. Wills hat außerdem bestätigt, dass das Halskettchen ihrer Tochter gehörte.«

»Ich habe Lynnes Freundin Nikki ausfindig machen können«, berichtete Helen.

»Sie sollten sich diese Wohnung ansehen, das reinste Chaos! Ich habe mit Mrs. Arnold und mit Nikki gesprochen, aber ich muss zuerst die Mutter aus dem Weg schaffen, bevor von Nikki mehr zu erfahren ist. Ich bin sicher, dass Nikki eine ganze Menge weiß, aber ich fürchte, bis ich dazu komme, sie allein zu befragen, hat ihre Mutter sie längst geimpft, auf alle Fälle den Mund zu halten. Ich will damit nicht andeuten, dass Mrs. Arnold alles weiß, was ihre Tochter treibt, aber sie gehört nicht zu der Sorte Frauen, die sich freiwillig mit Polizisten unterhält oder zulässt, dass ihre Tochter so etwas tut. Sie scheint von Sozialhilfe und einer Reihe von Männerbekanntschaften zu leben.«

Markby trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch.

»Was die Befragung Nikkis ohne ihre Mutter angeht: Sie ist noch minderjährig, und wir müssen genau genommen einen erwachsenen Freund oder Verwandten hinzuziehen. Sie könnten es vielleicht so einrichten, dass Sie Nikki ›rein zufällig‹ auf der Straße begegnen. Sie ist unsere einzige wirkliche Spur, und die Zeit ist leider gegen uns.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst, Sir. Ich werde mir irgendetwas überlegen. Irgendwie wird es mir schon gelingen, Mrs. Arnolds Vertrauen zu gewinnen, wahrscheinlich schon alleine deswegen, weil ich eine Frau bin. Sie ist von Männern nie gut behandelt worden. Ihr Ehemann hat sie verlassen, genau wie Nikkis Vater. Sie hat ihren Ehenamen nur behalten, weil er schöner klingt als ihr Mädchenname.« Helen grinste.

»Sie hat ihn mir genannt, und er kam mir sehr ungewöhnlich vor. Mutchings. Ist das hier in der Gegend ein verbreiteter Name?«

»Mutchings!« Markby starrte sie verblüfft an und pfiff leise durch die Zähne.

»Nun. Sergeant Turner, wie es aussieht, haben Sie mehr herausgefunden, als Sie dachten! Soweit ich weiß, ist der Name Mutchings auch in dieser Gegend selten, aber auch ich bin in allerjüngster Vergangenheit über ihn gestolpert. Es ist der Name des Schweinehirten von Park House! Mrs. Arnold kann nicht wissen, dass wir uns für das Mausoleum interessieren, oder sie hätte uns niemals den Hinweis geliefert, dass sie möglicherweise auf die eine oder andere Weise mit dem Schloss und den Devaux in Verbindung steht.«

»Ich glaube nicht, dass am Sonntag schon jemand etwas über unser Interesse am Mausoleum wusste. Mrs. Arnold wusste, dass die Wills ihre Tochter identifiziert hatten. Aber sie war den ganzen Samstag nicht in Bamford und hat wahrscheinlich nicht allen Tratsch gehört, der durch die Gemeinde gegangen ist. Das hat sich inzwischen sicher geändert. Falls ja, wird sie freiwillig keine weiteren Informationen mehr herausrücken. Verdammt!«, schloss Helen wütend.

»Ich wünschte, ich hätte gestern schon etwas über den Schweinehirten gewusst!«

»Aber Sie wussten nichts, und daran lässt sich nichts ändern. Die Mutchings stehen seit vielen Generationen in den Diensten der Devaux. Ich bezweifle stark, dass irgendetwas auf dem Anwesen vor sich gehen konnte, über das nicht jedes Mitglied der Mutchings-Familie genauestens Bescheid wusste. Mrs. Arnold ist die Existenz dieses Mausoleums sicherlich bekannt, und vielleicht hat sie ihrer Tochter davon erzählt. Und Nikki hat es Lynne erzählt. Natürlich ist alles nur Spekulation, aber ja, bleiben Sie an den Arnolds dran, unbedingt! Sie können uns vielleicht eine Menge erzählen.« Er lächelte sie an.

»Und gut gemacht, Sergeant.«

Es war nicht Helen Turners Art zu warten, bis Gras unter ihren Füßen gewachsen war, wenn es um polizeiliche Ermittlungen ging. Um halb vier an diesem Montagnachmittag, als die Schule für den Tag zu Ende war, stand sie am Haupteingang des Bamford Community College. Es war trocken, aber kalt, und Helen rieb sich fröstelnd die Hände, während sie hoffte, dass Nikki an diesem Tag nicht schon wieder schwänzte, sondern bald durch das Tor kommen würde.

Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Jungen und Mädchen näherte sich lärmend. Nikki trottete, wie Helen erleichtert feststellte, ein wenig abseits hinterher. In ihrer Schuluniform sah sie jünger und viel verletzlicher aus als noch am Sonntag. Das rote Haar war streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Zopf geflochten. Der Rock der Uniform war ohne Zweifel kürzer, als es die Vorschriften verlangten.

Helen trat einen Schritt vor.

»Nikki? Du erinnerst dich noch an mich?« Nikki zuckte zusammen.

»Verfolgen Sie mich oder was?«, sagte sie aggressiv.

»Ich hab Ihnen doch schon gestern gesagt, ich weiß nicht, was Lynne am Donnerstagabend gemacht hat!« Sie wollte vorbeimarschieren, doch Helen blieb neben ihr.

»Deine Mutter ist nicht zufällig mit den Mutchings verwandt, die in dem Cottage auf dem Gelände von Park House wohnen?«, erkundigte sie sich im Plauderton. Nikki musterte sie misstrauisch.

»Es gibt keine MutchingsFamilie mehr dort!« Verachtung klang aus ihrer Stimme.

»Nur meinen Großonkel Winston, und der ist verrückt.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe und bewegte ihn kreisförmig.

»Von der Rolle. Wir haben keinen Kontakt mit ihm! Er ist der Schweinehirt von Park House.«

»Ich denke mir, deine Mutter war häufiger dort draußen, als junges Mädchen?«

»Vermutlich. Was geht Sie das an?«

»Hat deine Mutter dir je von dem Mausoleum im Park erzählt?«

»Nein. Was ist ein Mausoleum?«

»Eine Art Kapelle, wo die Mitglieder der Familie Devaux begraben liegen.«

»Darüber weiß ich nichts«, sagte Nikki ein wenig zu schnell.

»Ganz sicher?« Nikki blieb stehen und stampfte mit dem Fuß auf. Ihre Wangen waren hektisch gerötet, und die grünen Augen funkelten giftig wie die ihrer Mutter.

»Lassen Sie mich und meine Mum in Ruhe! Sie hatten kein Recht, einfach so zu uns nach Hause zu kommen! All das hat doch überhaupt nichts mit uns zu tun, oder?« Sie rannte los, drängte sich zwischen ihren Schulfreunden hindurch und verschwand in der Menge.

»Was für eine kleine Kratzbürste«, entfuhr es Helen.

»Und lügt, wenn sie den Mund aufmacht.« Sie ging der verschwundenen Nikki langsam hinterher. Unvermittelt ertönte vor ihr eine Kakophonie aus Kreischen und Johlen. Helen hastete auf den Ursprung des Lärms zu und sah, dass er von einer Gruppe dicht gedrängt zusammenstehender Jugendlicher kam. Ganz offensichtlich war ein Kampf ausgebrochen. Ein gemischter Kreis aus Jungen und Mädchen hatte sich gebildet, und sie brüllten Schimpfworte oder feuerten die Streithähne an. Über allem war das Ächzen, Keuchen, Schreien und Schlagen zu hören, das aus der Mitte des Kreises herrührte. Helen bahnte sich einen Weg nach vorn, packte Arme und Schultern und schubste Jungen und Mädchen zur Seite. Es schien Helen, als wären die Zuschauer von der nackten Blutgier gepackt, der gleichen Blutgier, die der Mob gezeigt hatte, der die Karren der Guillotine begleitete. Dass sie es hier mit Jugendlichen zu tun hatte, machte es nur noch schlimmer. Als Helen schließlich den inneren Kreis erreicht hatte, bot sich ihr ein außergewöhnlicher Anblick. Es war kein Kampf zwischen zwei Jungen oder zwei Mädchen, was heutzutage gar nicht so ungewöhnlich war. Es handelte sich um einen Jungen und ein Mädchen, und der Junge war der Unterlegene. Er lag auf dem Boden, trat mit den Füßen aus, fluchte heftig und bemühte sich vergeblich, Nikki Arnold abzuschütteln, die auf seiner Brust kniete, ihn mit beiden Fäusten bearbeitete und kreischte:

»Wag es nie wieder, mich eine schmutzige Schlampe zu nennen, Paul Harris!« Sie fügte ihren Worten eine breite Auswahl an Schimpfworten hinzu, die bei den Zuschauern brüllendes Gelächter hervorrief.

»Nikki!«, rief Helen und stürzte vor. Sie schlang beide Arme um das Mädchen und zerrte es von seinem niedergestreckten Opfer.

»Lass mich los, verdammter Bulle!«, kreischte Nikki, trat nach hinten aus und erwischte Helen schmerzhaft am Schienbein.

»Im Leben nicht!«, versprach Helen mit zusammengebissenen Zähnen. Die Menge, die fürchtete, ihrer Unterhaltung beraubt zu werden, begann zu johlen und drohte, handgreiflich zu werden. Nikkis Opfer nutzte die Gelegenheit, um sich aufzurappeln und mit zerkratztem Gesicht und blutigem Mund Fersengeld zu geben, trotz der Hohnrufe seiner Alterskameraden.

An der Straßenecke blieb der Junge kurz stehen, wandte sich um und rief:

»Du wirst genauso enden wie deine Freundin, Nikki Arnold!«

»Oooh-aaah!«, brüllte die Menge und drängte sich dichter um Helen und die sich immer noch wehrende Nikki.

»Ich bin Polizeibeamtin!«, bellte Helen über den Lärm hinweg. Das reichte. Sie zerstreuten sich wie Blätter im Wind.

»Was hatte das zu bedeuten, Nikki?« Helen ließ ihre Gefangene los, die mit rotem Gesicht, nach Luft ächzend und zornerfüllt herumwirbelte und sie anstarrte.

»Warum zur Hölle mussten Sie sich einmischen? Er hat mir Schimpfworte hinterhergerufen, und ich hatte ihn da, wo ich ihn wollte! Ich war noch nicht fertig mit ihm.«

»Warum hat er dir Schimpfworte hinterhergerufen?«, fragte Helen energisch.

»Weil er ein Scheißkerl ist, darum! Ich hab nicht damit angefangen! Er hat mich Schlampe genannt!«

»Warum?«, wiederholte Helen erbarmungslos ihre Frage. Nikkis Augen funkelten, und sie gab eine unflätige Antwort.

»Sprich nicht in diesem Ton mit mir! Wenn die Jungen eine so schlechte Meinung von dir haben, dann liegt es vielleicht an etwas, das du angestellt hast?«

»Das geht Sie überhaupt nichts an!«, entgegnete Nikki schmollend.

»Ich kann selbst auf mich aufpassen! Das ist doch wohl ein freies Land hier, oder nicht? Ich kann tun und lassen, was ich will!«

»Äh, was ist denn hier los?«, mischte sich eine schüchterne Stimme ein. Helen wandte sich um und sah einen nervösen jungen Mann mit einem Bart und einer Tweedjacke.

»Ich bin Lehrer«, fügte er unnötigerweise hinzu. Helen öffnete den Mund zu einer Erklärung. Nikki nutzte die unerwartete Chance aus und rannte die Straße hinunter davon.

»Oh …« Fast hätte Helen eines von Nikkis ausdrucksvollen Schimpfworten benutzt, doch sie hielt sich gerade noch im Zaum. Sie drehte sich zu dem Bärtigen um.

»Dieser Paul Harris«, sagte sie.

»Wo wohnt der Junge?«

Die Harris-Familie wohnte in einer Mietswohnung über einem Wohltätigkeitsladen. Der ebenerdige Eingang wurde von einem hageren jungen Mann mit fettigen Haaren geöffnet. Er starrte auf Helens Dienstausweis.

»Was wollen Sie von ihm? Ich bin sein Bruder.«

 

»Ich möchte mich mit ihm über eine Prügelei nach der

Schule unterhalten.«

»Du meine Güte!« Er blickte entrüstet drein.

»Seit wann kümmern sich die Cops um Schulkinder, die eine Meinungsverschiedenheit austragen, eh? Haben Sie nichts anderes zu tun? Hier, unser Paul hat das meiste abgekriegt. Sie hat ihn ins Gesicht getreten, und einer seiner Vorderzähne ist abgebrochen! Sie sollten zu ihr gehen, nicht zu Paul! Kommen Sie ruhig rein und sehen Sie sich an, was das kleine Miststück ange richtet hat.« Die Wohnung war mit billigen Möbeln, billigen Vorhängen und billigem Teppichboden ausgestattet. Vieles davon sah aus, als stammte es aus dem Laden unten im Erdgeschoss. Im Kontrast dazu standen allerdings die modernsten und kostspieligsten elektronischen Apparate herum. Helen sah einen Fernseher, einen Videorekorder, eine HiFi-Anlage und einen CDPlayer.

»Mum ist arbeiten«, sagte Pauls Bruder.

»Ich heiße Dom. Paul wäscht sich im Badezimmer das Blut aus dem Gesicht. Ich geh ihn holen.« Während er weg war, öffnete Helen eine Tür und spähte in den dahinterliegenden Raum. Es war die Küche. Auf einem Tisch lag neben einer Dose gebackener Bohnen eine Packung Hamburger irgendeiner Billigmarke und taute auf. Doch es gab nicht nur einen einfachen, fettbespritzten Gasofen, sondern auch einen hochmodernen Mikrowellenherd. Sie wandte sich um, als Dom zurückkehrte.

»Ich wollte uns gerade etwas zu essen machen«, sagte er und nickte in Richtung Küche.

»Aber ich weiß nicht, ob er überhaupt kauen kann. Er ist ziemlich schlimm zugerichtet. Zeig es ihr, Paul.« Hinter Dom tauchte eine kleinere, schmalere Gestalt auf. Paul schob seine geschwollene Oberlippe mit dem Zeigefinger hoch und murmelte irgendetwas. Der Vorderzahn war tatsächlich abgebrochen. Paul nahm den Finger von der Lippe und sagte ein wenig deutlicher:

»Sie hat angefangen.«

»Sich von einem Mädchen verprügeln zu lassen!«, sagte Dom entrüstet.

»Sie hat mich angesprungen! Sie ist völlig durchgedreht!«

»Schon gut«, unterbrach Helen die beiden Brüder.

»Ich bin nicht wegen eurer Prügelei gekommen. Es geht eigentlich mehr um die Tatsache, dass du Nikki mit Schimpfnamen bedacht hast. Sie sagt, du hättest sie eine Schlampe genannt.«

»Warum auch nicht?«, fragte Dom streitlustig.

»Sie ist doch eine!«

»Tatsächlich?« Helen wandte sich dem größeren der beiden Brüder zu.

»Natürlich! Jeder weiß das! Ich hab selbst gesehen, wie diese Nikki in den Pubs auf Männerfang gegangen ist – zusammen mit dieser anderen, die sich hat umbringen lassen. Meistens konnte man sie am Wochenende sehen, aber manchmal waren sie auch mitten in der Woche unterwegs. Sie waren überall bekannt.«

»Das wissen Sie ganz sicher, ja?«

»Ich sage Ihnen doch, ich hab sie selbst gesehen!«, beharrte Dom. Unvermittelt schlich sich ein misstrauischer Ausdruck auf sein Gesicht.

»Hey, sehen Sie mich nicht so an! Ich hab sie nur gesehen! Ich hab nie für irgendwas bezahlt!« Er zögerte, dann grinste er selbstgefällig.

»Ich bezahle nie dafür.«

»Waren es immer nur die beiden Mädchen?« Er überlegte.

»Manchmal waren auch andere dabei, aber ich kenne ihre Namen nicht. Sie kamen und gingen, aber Nikki und diese andere, Lynne, sie waren immer da, wenn Sie verstehen, was ich meine. Früher war noch ein drittes Mädchen bei ihnen, aber das ist schon ziemlich lange her. Ich fand sie ziemlich nett. Lynne fand ich nicht gut, und diese Nikki – ich hätte schon ziemlich verzweifelt sein müssen, was ich nicht bin … noch nicht.« Ein weiteres selbstgefälliges Grinsen.

»In welchen Pubs?«, fragte Helen scharf.

»Wo haben Sie sie gesehen?«

»Überall in der Stadt. Im Royal George, im Silver Bells. Sie haben es sogar im Club versucht, bis der Manager – der alte, nicht der neue Typ – ihnen gesagt hat, sie sollen verschwinden.« Helen seufzte. Das Muster trat nur allzu deutlich zutage. Sie ließ den Blick einmal mehr durch die Wohnung mit all dem teuren elektronischen Firlefanz schweifen. Ein paar Fragen waren noch offen.

»Haben Sie eine Arbeit?«, fragte sie Dom. Er blickte sie entrüstet an.

»Selbstverständlich! Ich habe sogar eine feste Anstellung. Warum wollen Sie das nun wieder wissen?«

»Irgendjemand hier scheint ziemlich gutes Geld zu verdienen.« Sie deutete auf die elektronischen Spielereien. Dom beugte sich vor.

»Das gehört alles mir. Ich hab dafür geschuftet, verstehen Sie? Es ist meine Sache, wofür ich mein Geld ausgebe. Unsere Mum arbeitet auch. Sie bezahlt das Essen und so weiter.« Wahrscheinlich trug er so gut wie nichts zum Lebensunterhalt der Familie bei. Scharf fragte Helen:

»Wo arbeiten Sie?«

»Ich bin bei einer Reinigungsfirma. Büros. Die Firma, für die ich arbeite, hat jede Menge Auftraggeber in der Stadt. Es ist ein guter Job.« Helen runzelte die Stirn.

»Diese Firma reinigt nicht zufällig auch die Büroräume von Park House?«

»Sicher«, sagte Dom gedankenlos. Dann hellte sich seine Miene auf.

»Ein echter Feger mit irren Beinen arbeitet dort, in diesen Büros!«

»Waren Sie je im Haus selbst? In dem Teil, in dem die Fami lie lebt?« Er zuckte die schmalen Schultern.

»Nein … hätte nichts dagegen, mich mal umzusehen. Aber keine Chance. Diese Sekretärin, die mit den Beinen, sie beobachtet die Reinigungstrupps die ganze Zeit. Und wir beobachten sie!« Dom kicherte.

»Möglicherweise werden wir uns noch einmal mit Ihnen unterhalten müssen«, unterbrach Helen seinen Heiterkeitsausbruch. Sie wandte sich zu seinem jüngeren Bruder um, der mit einem schmutzigen Taschentuch vor dem Mund schweigend zugehört hatte.

»Paul, ich würde vorschlagen, dass du dir einen Termin beim Schulzahnarzt geben lässt, wegen diesem abgebrochenen Zahn, in Ordnung?«

»Wir haben es also mit zwei Schulmädchen zu tun, die auf den Strich gegangen sind«, sagte Helen später niedergeschlagen zu Markby.

»Amateurnutten, die sich ihr Taschengeld aufbessern. Das werden wir nie beweisen können. Dom hat es mir nur erzählt, weil er seinen Bruder Paul verteidigen wollte, der von Nikki verprügelt wurde. Ansonsten wird niemand zugeben, dass er etwas darüber weiß. Was diesen Dom betrifft – er hat eine Menge teurer Unterhaltungselektronik und anderen Firlefanz in der Wohnung stehen, obwohl alles andere auf einen eher niedrigen Lebensstandard hindeutet. Dom arbeitet übrigens für eine Reinigungsfirma, die auch die Büros von Park House säubert. Er schwört, dass er noch nie einen Fuß in den privaten Teil des Anwesens gesetzt hat. Er sagt, eine Sekretärin – seiner Beschreibung zufolge handelt es sich um Maria Lewis – würde die Reinigungstrupps ununterbrochen beaufsichtigen.«

»Also ist dieser Dom irgendwie in krumme Geschäfte verwickelt, wie es aussieht. Es könnte eine Spur sein, aber sie könnte uns auch in die falsche Richtung führen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Maria Lewis mit Argusaugen darüber wacht, dass die Reinigungsfirma genau das tut, wofür sie bezahlt wird, und sich keiner in den Wohntrakt schleicht. Aber das müssen wir genauer überprüfen. Was dieses Mädchen angeht, Nikki Arnold – sie ist offensichtlich moralisch stark gefährdet. Wir könnten das Jugendamt informieren. Vielleicht lässt sich eine Vormundschaft erwirken.«

»Nein!«

Markby sah überrascht auf. Helens Wangen waren gerötet, und ihre Augen blitzten leidenschaftlich.

»Verzeihung, Sir«, sagte sie verlegen.

»Aber ich bin ehrlich davon überzeugt, dass wir damit alles nur noch schlimmer machen würden. Mrs. Arnold mag keine gute Mutter sein, aber sie liebt ihre Tochter. Die Zuneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Sie sind eine richtige kleine Familie, ganz gleich, wie unvollkommen. Würden wir versuchen, Nikki ihrer Mutter wegzunehmen, käme es zum Desaster. Sie würde uns niemals verzeihen, und sie würde ganz bestimmt nicht mehr kooperieren. Und Nikki ist fünfzehn, ein paar Monate älter als Lynne. Wenn das Jugendamt sie in ein Heim stecken würde, würde sie davonlaufen. Bestenfalls würde sie in einem Wohnheim enden, und wir wissen zu gut, wie es dort ist. Wahrscheinlicher noch würde sie unter den Brücken enden – und so gut wie sicher auf dem Straßenstrich, um Geld zu verdienen.« Markby schlug ärgerlich mit der Hand auf einen Aktenstapel.

»Ich gestehe, dass ich meine Zweifel hatte, als Barney Crouch erzählte, Lynne ginge seiner Meinung nach für Geld mit Männern aus. Ich hatte Zweifel, weil sie noch so jung war. Aber nach dem, was Sie mir jetzt berichtet haben, müssen wir tatsächlich vom Schlimmsten ausgehen, darin stimme ich Ihnen zu. Der Gedanke entsetzt mich. Wem würde es anders ergehen? Immerhin sprechen wir hier von Schulmädchen! Die Vorstellung, dass es hier in Bamford passiert, unter unseren Augen, und wir haben nichts von alledem bemerkt …!«

»Keinem von uns gefällt diese Vorstellung, Sir! Aber ich möchte Nikki helfen. Ich möchte verhindern, dass sie – falls es überhaupt stimmt, was wir gehört haben! – am Ende zu einer Professionellen wird. Es ist nur ein kleiner Schritt dorthin, aber das ist ihr wahrscheinlich überhaupt nicht bewusst.«

»Sie scheinen echtes Interesse für dieses Mädchen zu entwickeln, wie?« Markby schüttelte den Kopf.

»Ein persönliches Interesse kann manchmal zu Konflikten und falschen Entscheidungen führen. Ganz gleich, was wir empfinden, wir müssen nüchtern bleiben und versuchen, unparteiisch zu urteilen.« Helen verschränkte die Hände.

»Das erste Revier, auf dem ich gearbeitet habe, besaß einen berüchtigten Rotlichtdistrikt, bei den Docks. Fast all unsere Arbeit hatte irgendwie mit Sittenverstößen zu tun, direkt oder indirekt. Ich war wirklich erschüttert, als ich sah, wie jung die Mädchen waren. Fast alle erzählten uns, dass sie sich nur vorübergehend prostituierten. Einige hatten sogar ihre Familien angelogen und erzählt, dass sie in Krankenhäusern oder Fabriken regelmäßige Nachtschichten leisteten. Es gab junge, verheiratete Frauen, die ihre Ehemänner belogen, womit sie ihr Geld verdienten. Einige redeten sich ein, dass ihre Arbeit im öffentlichen Interesse sei, fast gemeinnützig! Die meisten glaubten, dass sie einfach aufhören könnten, wenn sie die Nase voll oder genug Geld verdient oder eine richtige Arbeit gefunden hätten. Ein paar hatten bereits auf die harte Tour erfahren, dass es nicht so einfach ist, und die anderen kamen auch bald dahinter.« Die Muskeln in ihrem bleichen Gesicht wurden hart.

»Sie wurden von ihren Zuhältern und ihren Freiern verprügelt, sie wurden drogenabhängig gemacht, zu Pornofilmen und zu unglaublich erniedrigenden Dingen gezwungen, zu denen sie sich wahrscheinlich niemals hergegeben hätten, wären sie nicht bis zum Hals mit Drogen vollgepumpt gewesen. Und vom Gesundheitsrisiko gar nicht erst zu reden! Immer wieder zogen wir ihre Leichen aus dem Wasser.

Wir alle wissen, dass es Edelnutten gibt und teure Bordelle, die den kapitalkräftigen Markt bedienen. Aber die wenigsten Mädchen schaffen es bis dorthin. Ja, sie haben Recht, Sir. Ich will verhindern, dass Nikki dieses Schicksal erleidet. Sie ist ein hübsches Mädchen. Noch. Ich hasse die Vorstellung, wie sie in zwanzig Jahren aussehen wird – wenn die Dinge so weiterlaufen, wie sie angefangen haben.«

Markby schwieg eine Weile. Dann sagte er:

»Also schön, ich gebe Ihnen freie Hand. Fürs Erste. Nicht zuletzt deswegen, wie ich gestehen muss, weil wir jede Information benötigen, die das Mädchen uns geben kann, und ich will nicht, dass irgendwelche Sozialarbeiter sie uns abspenstig machen. Und während Sie sich auf die Arnolds konzentrieren, werde ich Mr. und Mrs. Reeves einen weiteren Besuch abstatten.«

KAPITEL 11 Viel früher als erwartet, erhielt Markby eine Gelegenheit, Helen Turners Informationen bezüglich des jungen Dom Harris nachzuprüfen.

Es war am nächsten Morgen, kurz nach dem Frühstück, und Markby war auf dem Weg zum Silver Bells. Er hatte sich entschlossen, zu Fuß zu gehen. Als er über die vom nächtlichen Frost noch immer rutschigen Gehwege marschierte, kam er an einem Zeitungsgeschäft vorbei, und aus der Tür trat Maria Lewis, ein ganzes Bündel Zeitungen und Magazine auf dem Arm. Sie trug kniehohe weiße Stiefel und einen sehr schicken Mantel aus künstlichem hellblauen Fell. Mit dem langen blonden Haar und dem bleichen Teint sah sie aus wie ein wandelnder Eiszapfen. Doch an diesem Morgen schien der Eiszapfen zu tauen.

»Na«, sagte sie und schlug die langen getuschten Wimpern nieder,

»wenn das nicht der Chief Inspector ist! Sie sind wohl Frühaufsteher, wie?«

»Genau wie Sie«, antwortete Markby und kam sich dabei ziemlich dümmlich vor.

»Ich war auf dem Schulweg.« Sie schnitt eine Grimasse, und als sie sah, dass er nicht begriff, erklärte sie:

»Die Eltern, die für die Privatschulen zahlen, haben außerdem einen Minibus gechartert, der die Kinder morgens aufsammelt und bei den verschiedenen Schulen abliefert. Er fährt in der Innenstadt ab, und die lieben Kleinen werden jeden Morgen von ihren fürsorglichen Eltern dort abgeliefert. In Katies Fall von dem, der gerade nichts anderes zu tun hat. Ich habe heute den Kürzeren gezogen. Wenigstens habe ich so eine Gelegenheit, die Zeitungen einzukaufen.«

»Sie mögen Katie wirklich nicht, wie?« Markby hatte seine Fassung wiedergewonnen und ging nun in die Offensive.

»Nein. Aber sie mag mich ebenfalls nicht. Ich mag vieles sein, Chief Inspector, aber ich bin gewiss nicht scheinheilig! Ich sage, was ich denke. Deswegen sage ich auch, Adeline ist verrückt, wenn alle anderen erzählen, sie hätte ein nervöses Leiden. Und ihr Kind ist ein verzogenes Balg!«

»Andere Menschen scheinen Katie recht charmant zu finden.« Sie klimperte erneut mit den Wimpern.

»Ich bin nicht andere Menschen, Chief Inspector. Haben Sie das Geheimnis des Mausoleums-Schlüssels schon lösen können?«

»Nein. Aber vielleicht können Sie mir bei einer anderen Frage helfen. Wenn ich recht verstanden habe, beschäftigt Mr. Devaux eine Reinigungsfirma für die Büroräume in Park House.«

»Selbstverständlich. Sie kommt jeden Montag früh.« Sie beobachtete Markby misstrauisch aus hellen Augen. Sie wusste offensichtlich nicht, worauf er hinauswollte.

»Sie beaufsichtigen das Personal?«

»Selbstverständlich. Mit Adleraugen, Chief Inspector! Matthew zahlt gutes Geld für das, was diese Leute tun, und ich möchte nicht, dass sie mit den Akten oder Papieren Unfug anstellen.«

»Also könnte keiner beispielsweise in die Küche des Schlosses entwischen? Und irgendetwas nehmen? Eine Tasse Wasser oder Kaffee?« Sie verzog die knallroten Lippen.

»Das fehlte gerade noch, dass sie Kaffee trinken! Wenn sie eine Pause machen wollen, dann meinetwegen in ihrer Freizeit und nicht in unserem Büro. Außerdem, wenn sie einen Kaffee wollten, müssten sie dazu nicht in Prues Küche gehen. Der Bürotrakt besitzt eine eigene kleine Küche. Wissen Sie, dort habe ich den Tee für Sie und Matthew zubereitet, als Sie vor ein paar Tagen zu Besuch waren. Glauben Sie, dass einer von ihnen in die Küche geschlüpft sein und den Schlüssel genommen haben könnte?«

»Dachte ich, ja«, gestand Markby.

»Vergessen Sie’s. Ich persönlich sorge dafür, dass sie verschwinden, sobald sie ihre Arbeit erledigt haben.«

»Warum so streng?«, erkundigte sich Markby neugierig. Sie beugte sich vor, und in ihren hellen Augen leuchtete Spott.

»Geschäftsinformationen, Chief Inspector, sind bares Geld wert! Unsere Mitbewerber könnten auf diese Weise versuchen, einen Blick auf Verträge zu werfen und so weiter. Ich gebe ihnen erst gar keine Chance zu schnüffeln.«

»Da sollten Sie aber besser auch ein Auge auf mich werfen«, sagte Markby.

»Hey, soll das eine Einladung sein?« Sie rasselte mit ihrem Schlüsselbund, und dann stöckelte sie in ihrem blauen Mantel und den weißen Stiefeln auf einen am Straßenrand geparkten Wagen zu. Zu seiner Verärgerung spürte Markby, dass ihm trotz des kühlen Morgens ziemlich warm geworden war.

Die Kühle des Morgens hatte nicht verhindert, dass die Türen des Silver Bells weit offen standen, um die schale Luft der Nacht nach draußen zu lassen. Das Geräusch eines laufenden Staubsaugers drang nach draußen sowie das Klappern von Flaschen. Die Reeves bereiteten alles vor, um das Pub später am Vormittag wieder zu öffnen. Daphne besorgte die Reinigungsarbeiten, und ihr Mann füllte die Bar auf.

»Oh, hallo, Chief Inspector!«, sagte der Wirt mit Armesündermiene, als Markby das Lokal betrat. Er kam hinter dem Tresen hervor und ging, um die Tür hinter seinem Besucher zu schließen.

Markby fragte sich, ob der Wirt sich möglicherweise sorgte, jemand könne bemerken, dass schon wieder Polizei in seinem Laden war. Daphne hatte unterdessen den Staubsauger abgeschaltet und musterte den Besucher aus ängstlichen, leicht vortretenden blauen Augen.

»Überrascht, mich wiederzusehen, Mr. Reeves? Doch wohl eher nicht, nehme ich an.«

»Dann war der alte Barney also keine Hilfe?«, erkundigte sich Reeves düster.

»Als Ablenkungsmanöver Ihrerseits – nein. Als Informant für mich – doch. Er hatte ein paar ziemlich interessante Dinge zu erzählen. Was wohl nicht in Ihrer Absicht lag, wenn ich mich nicht irre? Sie wollten mich auf eine falsche Fährte locken, um Ihre Ruhe vor mir zu haben, aber gleichzeitig kooperativ zu erscheinen. Machen Sie sich nicht die Mühe zu protestieren; diese Masche ist so alt wie Gasthäuser selbst. Aber Sie haben sich getäuscht; Crouch ist kein alter Trunkenbold, der nichts mehr von dem mitbekommt, was um ihn herum vorgeht. Er hat mir im Gegenteil eine ganze Menge erzählt.« Reeves schob den oberen Riegel an der Tür vor.

»Sie können mir keinen Vorwurf machen! Wer will schon gerne die Polizei bei sich im Laden? Das vertreibt die Kundschaft!«

»Vielleicht sollten wir uns ein wenig über Ihre Kundschaft unterhalten, Mr. Reeves.« Daphne ging zum Tresen, nahm ein Tuch zur Hand und drehte es zwischen den Händen.

»Warum setzen wir uns nicht einfach irgendwo hin?« Markby ging zu einem Tisch, und nach kurzem Zögern und verstohlen gewechselten Blicken folgten ihm die beiden Reeves. Wie sie ihm gegenüber Seite an Seite saßen, erinnerten sie ihn unwillkürlich an Mr. und Mrs. Wills. Der Gedanke an Lynnes Eltern festigte Markbys Entschluss nur noch, mit aller nötigen Härte vorzugehen.

»Das hier ist zwar nur eine Kleinstadt auf dem Land, aber es geschehen hier die gleichen Dinge wie sonst überall auch«, begann Markby.

»Die menschliche Natur ändert sich eben nicht, was, Mr. Reeves? Niemand ist vollkommen, und jeder trägt seine kleinen verschämten Geheimnisse mit sich herum. Erzählen Sie mir von den Mädchen, die in Ihrem Pub verkehrt haben, der toten Lynne und ihren Freundinnen.«

»Zu uns kommen viele Jugendliche«, gestand Reeves widerwillig.

»Sie sind Kundschaft, genau wie alle anderen auch.«

»Vielleicht haben einige von ihnen selbst nach Kundschaft gesucht?«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden, mein Herr.« Reeves starrte Markby aus kleinen, tief liegenden Augen an.

»Tatsächlich nicht? Ich denke aber doch.« Daphne quiekte erschrocken auf. Ihr Mann warf ihr einen bösen Seitenblick zu. Markby richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau.

»Ja, Mrs. Reeves?«

»Ich habe es nie gewollt!«, flüsterte sie.

»Wir wissen nicht, ob irgendwas gelaufen ist!«, unterbrach sie Reeves.

»Aber es war nicht richtig, Terry! Ich hab’s dir immer wieder gesagt!« Sie wandte sich erneut an Markby:

»An jenem Abend – das Mädchen, nach dem Sie gefragt haben, ist mit diesem Kerl gegangen. Sie ist schon früher mit Männern mitgegangen. Immer mit anderen Männern. Und es gab noch ein paar andere, die mit ihr in unser Lokal kamen. Es war immer das Gleiche. Ich hab Terry häufig darauf angesprochen, aber er meinte, es würde niemandem schaden und uns außerdem nichts angehen!«

»Hören Sie!«, Reeves beugte sich über den Tisch und streckte die Hand aus, mit der Handfläche nach oben.

»Es war nicht so, dass sie jeden Tag in unser Pub gekommen wären! Ich erkenne eine professionelle Nutte, wenn ich sie sehe, und so etwas hätte ich nicht geduldet, nicht eine Minute! Diese Mädchen, das waren nur Amateure, die sich ihr Taschengeld aufgebessert haben. Ich kann schließlich nicht die Moral meiner Kundschaft kontrollieren! Die Menschen gehen in Pubs, um andere zu treffen. Um Freunde zu finden, und ja, auch um andere Männer oder Frauen aufzureißen oder was auch immer! Ich hätte nicht geduldet, dass mein Pub von Professionellen benutzt wird, aber diese Mädchen – sie kommen aus Bamford, und was hätte ich tun können? Ich kann schließlich nicht jeden vor die Tür setzen, von dem ich glaube, dass er nicht ganz sauber ist.«

»Selbstverständlich können Sie das«, entgegnete Markby scharf.

»Das Gesetz gibt Ihnen jedes Recht dazu. Sie allein bestimmen, wen sie in Ihrem Pub dulden und wen nicht. Wenn Sie glauben, jemand macht Scherereien, dann können Sie ihn jederzeit auffordern, Ihr Lokal zu verlassen.«

»Aber sie haben keine Scherereien gemacht!«, heulte Reeves wütend.

»Das ist ein neuer Laden! In Bamford gibt es jede Menge anderer Pubs! Ich kann mir nicht leisten, die Kundschaft wegzuschicken. Ich will ja, dass sie zu mir kommt! Außerdem will ich mir keine Feinde machen! Angenommen, ich hätte zu diesem Mädchen gesagt: ›Verschwinde, ich will niemanden hier drin, der auf der Suche nach Freiern ist!‹, dann wäre wahrscheinlich am nächsten Tag ihr Vater hier gewesen und hätte mir Prügel angedroht oder mich vor Gericht gezerrt! Selbst wenn ich Recht gehabt hätte, wie soll ich es denn beweisen? Und wenn ich mich geirrt hätte, was dann? Es hätte sich rasch herumgesprochen, und all ihre Freundinnen hätten sich angegriffen gefühlt! Ich könnte mich genauso gut auf eine schwarze Liste bei der Hälfte aller jungen Leute in der Stadt setzen!« Er zögerte, runzelte die Stirn und zeigte dann mit einem kurzen Stummelfinger auf Markby.

»Hören Sie, Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass ich Provision von den Mädchen kassiert habe, oder? Weil ich das nicht getan habe, und das Gegenteil können Sie nicht beweisen!«

»O nein!«, flüsterte Daphne.

»Nein, so etwas hätte Terry niemals getan! Es ist wirklich so, wie er gesagt hat, Mr. Markby. Es gefiel uns nicht, aber wir konnten nichts dagegen tun. Wir sind neu im Geschäft, und wir können es uns nicht leisten, Kundschaft zu vergraulen. Und wir wussten nicht mit Sicherheit, was diese jungen Mädchen gemacht haben! Es hat nur so ausgesehen, aber wir konnten sie wohl kaum ohne einen stichhaltigen Beweis beschuldigen! Sie sind Polizist, Sie wissen doch, wie das ist!«

»Hören Sie, Mr. Markby.« Reeves’ Tonfall wurde beschwörend.

»Sobald wir eine Chance gehabt hätten, das Geschäft ein wenig aufzubauen und Stammgäste zu gewinnen, hätte ich etwas dagegen unternommen! Dann wäre ich auch in der Lage gewesen, sie aus meinem Lokal zu werfen. Daph und ich, wir haben noch einiges vor mit diesem Pub. Aber dazu mussten wir kurzfristig erst einmal Geld verdienen, verstehen sie? Um den Umbau zu finanzieren und leben zu können. Und Geld stinkt bekanntermaßen nicht! Wenn jemand zu uns kommt, sich ein paar Drinks kauft, vielleicht sogar ein paar Mahlzeiten an der Theke, und sich nicht danebenbenimmt oder vielleicht eine Schlägerei vom Zaun bricht, dann können wir nicht mehr verlangen. Was die Leute sonst noch tun, ist ihre private Angelegenheit und hat nicht das Geringste mit uns zu tun!« Markby seufzte. Die Reeves hatten also beide Augen zugekniffen, um des lieben Geschäfts willen. Das Traurige war, dass Reeves ohne jeden Zweifel die Wahrheit sagte. Er und seine Frau hatten Pläne mit dem Silver Bells. Sobald das Lokal einigermaßen etabliert war, hätten sie die Kundschaft kritischer unter die Lupe genommen. Doch die Ereignisse waren ihnen zuvorgekommen.

»Das hätten Sie mir gleich erzählen können«, brummte Markby.

»Ich werde jemanden vorbeischicken, der Ihre Aussagen zu Protokoll nimmt. Und wenn es noch etwas gibt – und sei es nur das geringste Detail! –, dann sagen Sie es lieber gleich! Es ist von größter Bedeutung, dass wir die betreffenden Mädchen identifizieren. Vergessen Sie nicht …«, bei diesen Worten erhob er sich,

»als Ergebnis der Aktivitäten, die Sie in Ihrem Lokal geduldet haben, ist eines der Mädchen gewaltsam zu Tode gekommen! Sie war erst vierzehn Jahre alt, Mr. Reeves. Ich schlage vor, Sie achten in Zukunft sehr viel gründlicher auf das Alter der Gäste, die bei Ihnen verkehren. Ich gestehe zu, dass Sie möglicherweise nicht erkannt haben, wie jung sie war, nach ihrem Aussehen und der Kleidung zu urteilen. Aber sollte ich herausfinden, dass Sie in Zukunft auch nur einem minderjährigen Gast Alkohol ausschenken, dann, glauben Sie mir, sorge ich dafür, dass Sie Ihre Lizenz verlieren!«

»Jawohl, Sir«, antwortete Reeves überraschend kooperativ. Daphne begann leise zu weinen. Sie tat Markby leid, doch war er auch wütend, weil ihr Ehemann sich durch ihre Feigheit nur noch bestärkt gefühlt hatte. Sie trug ohne Zweifel einen Teil der Schuld. Als er das Pub verließ, hörte er hinter sich die ersten schrillen und grollenden Worte eines sich anbahnenden Streits. Keiner von beiden war wohl bereit, die Schuld zu teilen, und versuchte nun, sie protestierend auf die Schultern des anderen zu schieben.

Am gleichen Dienstag, um vier Uhr nachmittags, kam der Minibus mit den Schülern aus den Privatschulen der Umgebung auf dem Market Square an und entließ seine Fracht.

Die Kinder und Jugendlichen verteilten sich lärmend und gingen allein oder in Zweier- und Dreiergruppen in verschiedene Richtungen davon. Katie Conway blieb alleine. Es gab keine allgemeine Regelung, wer sie nach dem Ende der Schule im Stadtzentrum abholte und nach Park House brachte, im Gegensatz zu dem morgendlichen

»Schulweg«, den Maria Lewis gegenüber Markby erwähnt hatte. Im Allgemeinen verbrachte Katie einige Zeit in Bamford, nachdem sie aus dem Bus gestiegen war, und wenn sie genug davon hatte, rief sie entweder zu Hause an, um zu fragen, ob jemand Zeit hatte, sie abzuholen, oder sie stieg in ein Taxi. Auf der Cherton Road verkehrte kein Bus.

Es war kalt, und es wurde zunehmend neblig. Die Luft war feucht und reizte ihren Hals, und sie war erleichtert, als sie endlich die Tür zu einem kleinen Café aufstieß und von der Wärme und dem hell erleuchteten Innern umfangen wurde. Das Café war an eine Bäckerei angegliedert, und es roch nach frischem Brot und süßem Gebäck.

Sie blickte sich suchend um. In einer Ecke hob Josh Sanderson den Arm und winkte.

»Hier drüben, Kate!« Sie ging zu ihm, stellte ihre Schultasche auf das karierte Tischtuch und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Ich kann nicht lange bleiben. Passt du bitte auf meine Sachen auf, ich gehe mir nur eben einen Milchshake holen?« Wenige Minuten später kehrte sie mit einem großen Glas erdbeerfarbener Milch von der Theke zurück.

»Die Polizei war am Samstag bei uns zu Hause«, berichtete sie und schwieg, um die Bombe wirken zu lassen, während sie an ihrem Strohhalm sog und das Haar nach hinten strich, das in den Milchshake zu fallen drohte.

»Ich wünschte, sie hätten uns in Ruhe gelassen. Sie haben jeden aufgeschreckt! Zuerst war nur ein Mann da, ein Chief Inspector. Er ging zum Büro und hat mit Daddy und der schrecklichen Maria geredet und hinterher mit Prue. Er wollte auch mit Mum reden, aber Daddy hat ihn nicht gelassen. Ich war nicht zu Hause. Als ich heimgekommen bin, waren alle sehr ernst, und Prue sagte immer nur, es gäbe nichts, weswegen ich mir Sorgen machen müsste. Sie hat mich ganz verrückt gemacht! Und beide waren sehr besorgt wegen Mum. Jedenfalls, hinterher hat Daddy bei Dr. Barnes angerufen, und dann hat er sich den ganzen Tag mit Maria der Menschenfresserin in seinem Büro eingesperrt. Einfach unglaublich, dass er auch noch am Wochenende arbeitet. Es ist, als wollte er uns aus dem Weg gehen! Ich hoffe nur, es ist nicht, weil er mit Maria zusammen sein möchte! Wenn doch nur die Polizei käme und sie verhaften würde! Ich bin sicher, diese Frau ist zu allem fähig!«, schloss Katie rachsüchtig.

»Und hat die Polizei mit dir geredet?«, erkundigte sich Josh ungeduldig.

»Später, ja. Eine schrecklich eifrige, humorlose Beamtin. Sie kam abends vorbei. Sie wollte ebenfalls mit Mum reden, aber Dr. Barnes hatte bereits ein Attest geschickt, in dem stand, dass Mum ›nicht vernehmungsfähig‹ ist. Die Beamtin war sauer und hat versucht zu diskutieren, aber schließlich musste sie sich mit mir begnügen. Sie war ziemlich verärgert, das habe ich ihr angemerkt. Sie hat mich gefragt, ob ich den Schlüssel zum Mausoleum benutzt oder ob ich des Nachts dort Lichter gesehen hätte.«

»Hast du?« Sie beugte sich vor, stieß gegen das Glas und brachte den milchig roten Inhalt zum Schwappen. Ihr kleines bleiches Gesicht war hart, und sie schob die volle Unterlippe kampflustig vor.

»Nein! Ich weiß überhaupt nicht, warum die Polizei uns belästigen muss! Und warum sie andauernd mit Mum reden will! Ich hoffe, Dr. Barnes schreibt ein Attest nach dem anderen, um sie daran zu hindern! Außerdem weiß ich immer noch nicht, was eigentlich passiert ist oder warum die Polizei überhaupt bei uns war! Niemand will mir irgendwas erklären! Als wäre ich ein kleines Kind!«

»Rein zufällig weiß ich, warum die Polizei bei euch war«, erklärte Josh selbstgefällig.

»Irgendjemand hat es Tante Celia erzählt. Dieses Mädchen, das sie tot gefunden haben …« Katie erblasste.

»Was hat das denn mit uns zu tun?«

»Warte ab. Die Polizei glaubt, dass sie vielleicht in dieser Grabkammer deiner Familie umgebracht wurde, eurer Kapelle.«

»Im Mausoleum? Nein. Sie irrt sich!«

»Schon gut, schon gut. Vielleicht irrt sich die Polizei tatsächlich.« Katie wirkte so aufgebracht, dass Josh sich beeilte, sie zu beruhigen.

»Ich denke, die Beamten gehen allen möglichen Hinweisen nach, auch wenn sie sich als falsche Fährte herausstellen.« Sie starrte ihn noch immer kampflustig an, und er deutete auf ihre pralle Schultasche.

»Hast du viele Hausaufgaben?« Sie entspannte sich und seufzte.

»Ja. Jede Menge. Alles für den Englisch-Unterricht. Ehrlich, ich weine dieser Schule keine Träne nach, wenn ich im Sommer weggehe.«

»Hast du noch einmal mit deiner Mutter über dieses Jahr in Frankreich gesprochen? Du hast gesagt, du würdest es tun.« Er sah sie vorwurfsvoll an. Sie schnitt eine zaghafte Grimasse.

»Ich weiß, was ich gesagt habe, aber ich muss den richtigen Augenblick abwarten! Daddy ist auf meiner Seite, aber Mum geht es nicht gut. Ich hab es dir erzählt. Sie regt sich so leicht auf.« Joshs hageres Gesicht lief rot an. Er beugte sich über den Tisch.

»Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, sie macht das mit Absicht, damit du tust, was sie von dir verlangt und sie ihren Willen bekommt! Jedes Mal, wenn du anderer Meinung bist als sie, fängt sie mit ihrer hysterischen Tour an, und du gibst klein bei! Dein Vater ist keine Hilfe, weil er auch keine Lust hat, mit ihr zu streiten!«

»Mum ist krank!«, beharrte Katie starrköpfig.

»Der Doktor kommt regelmäßig vorbei! Es hat alles etwas mit meiner Geburt zu tun und den Depressionen, die sie hinterher bekommen und von denen sie sich nicht mehr erholt hat! Du weißt nicht das Geringste darüber, Josh.«

»Manchmal sehen andere Menschen mehr als Familienmitglieder, Kate. Du siehst es nicht, weil du ihr zu nahe stehst. Du bist sechzehn Jahre alt, und sie hat genügend Zeit gehabt, wieder zu sich zu finden! Sie will überhaupt nicht! Und ich glaube, du benutzt es auch als eine Entschuldigung für dich! Du bist genauso schlimm wie deine Mutter! In Wirklichkeit willst du nämlich nach Frankreich, aber du gestehst es dir nicht ein. Ständig verschiebst du deinen Plan, mit ihr zu reden, und am Ende gehst du doch!«

»Das ist Unsinn!«, begehrte Katie temperamentvoll auf.

»Ich werde nicht hier sitzen bleiben und mir anhören, wie du an mir und meiner Mutter herumnörgelst! Niemand sagt mir, was ich zu tun und zu lassen habe, und das schließt dich mit ein, Josh Sanderson!« Sie packte ihre Schultasche und stürmte nach draußen, ohne ihren Milchshake auszutrinken und ohne sich umzudrehen, obwohl Josh ihr hinterherrief. Wenigstens schien der Nebel draußen dünner geworden zu sein. Die Straßenlaternen brannten. Katie ging zum Taxistand. Er war leer. Sie seufzte und sah zu der öffentlichen Telefonzelle auf der anderen Straßenseite. Sie konnte Prue anrufen, aber Prue hatte wahrscheinlich zu tun. Adeline musste gerade aus ihrem Mittagsschlaf erwacht sein. Ihr blieb also nichts anderes übrig, als auf ein Taxi zu warten. Es konnte ja nicht lange dauern. Es war kalt und zugig auf dem leeren Platz, und sie war noch immer verärgert wegen ihres Streits mit Josh – und wegen der Erkenntnis, dass er irgendwie Recht hatte. Sie schob die endgültige Konfrontation mit ihrer Mutter tatsächlich vor sich her. Und ihr Vater, auch wenn er immer wieder beteuerte, dass sie nicht nach Paris gehen müsste, wenn sie nicht wollte, würde letztendlich wirklich keine Unterstützung sein, wenn es hart auf hart käme. Er hatte Angst, seine Frau aufzuregen, und am Ende gab er immer ihren Wünschen nach. Heiße Wut stieg in ihr auf und entflammte ihren Widerspruchsgeist. Es war einfach nicht fair! Und sie würde nicht hier herumstehen und auf ein verdammtes Taxi warten! Sie würde zu Fuß nach Hause laufen! Sie war im Sommer häufig zu Fuß gegangen, und es war überhaupt nicht so weit! Entschlossen machte Katie sich auf den Weg. Das Stück durch die Stadt war kein Problem. Doch als sie beim Silver Bells angekommen war, war es bereits sehr dunkel. Und nachdem sie das Neubaugebiet hinter sich gelassen hatte, wanderte sie ganz allein über eine nächtliche, von finsteren alten Bäumen gesäumte Landstraße, die keinen Bürgersteig besaß. Sie summte leise vor sich hin, um sich selbst Mut zu machen, doch ihre Stimme klang so dünn und hoch in der umgebenden Stille, dass sie bald wieder damit aufhörte. Sie drückte ihre Schultasche an sich und schöpfte ein wenig Trost aus dem Gefühl, das der vertraute Gegenstand vermittelte. Der Boden unter ihren Füßen knirschte laut bei jedem Schritt, und sie war überzeugt, dass jeder, der irgendwo dort draußen lauerte, sie schon meilenweit entfernt hören konnte. Im Unterholz raschelte und knackte es ununterbrochen. Die Lichter der Stadt lagen weit hinter ihr, und vor ihr erstreckte sich ein leerer, finsterer und scheinbar endloser, von Bäumen gesäumter Tunnel. Bis nach Hause war es bestimmt noch eine weitere Meile! Wirklich dumm von ihr, die Strecke um diese Jahreszeit zu Fuß zu laufen! Unfairerweise gab sie Josh die Schuld an ihrer falschen Entscheidung. Er hatte sie böse gemacht, und das zu einem Zeitpunkt, da sich alle gegen sie verschworen zu haben schienen. Bestimmt war es nur Tratsch, diese Geschichte, dass die Polizei glaubte, der Mord hätte im Mausoleum stattgefunden? Wenn sie erst zu Hause war, würde sie Prue schon dazu bringen, ihr zu erzählen, was vorgefallen war und was die Polizisten wirklich gewollt hatten. Und diese Frechheit von Josh, sie zu beschuldigen, nur so zu tun, als wollte sie nicht nach Frankreich! Es war ja so gemein! Und das von jemandem, von dem sie geglaubt hatte, er wäre ihr Freund! Es war gemein, und er gab ihr auch noch die Schuld! Das Leben war so unfair! Und es war so kalt und elend hier draußen auf dieser einsamen Straße. Warum nur lief alles so schief? Katie marschierte weiter, wütend und ängstlich – und vor allen Dingen allein. KAPITEL 12

»Gar nicht schlecht, einen solch fantastischen Koch als Schwager zu haben«, sagte Meredith später an jenem Abend. Sie lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück.

»Aber wenn ich regelmäßig bei Paul essen würde, wäre ich fett wie eine Mamsell! Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass wir so früh nach Hause fahren? Der Bamforder Bahnhof so früh am Morgen im Winter ist nämlich nur dann halbwegs erträglich, wenn ich meinen Schlaf hatte.«

»Ich muss ebenfalls arbeiten!«, erinnerte Alan sie.

»Und meine Schwester ist Partnerin in einer Anwaltskanzlei.« Er warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war kurz nach elf.

»Der Mord an diesem Mädchen Lynne? Machst du denn Fortschritte?«

»Einige, ja. Ich fürchte, es wird eine ziemlich unangenehme Geschichte. Aber wir werden der Sache auf den Grund gehen.« So sicher wie das Amen in der Kirche, dachte er entschlossen. Wenn wir die Jugendlichen in unserer Stadt nicht schützen können, dann versagen wir auf breiter Front in unserer Arbeit! Er bog vom Market Square in die High Street. Bamford war um diese Abendstunde recht belebt. Die Pubs und Clubs hatten sich geleert, und überall gingen die Menschen, größtenteils Jugendliche, nach Hause oder standen in kleinen Gruppen herum und unterhielten sich. Der Imbisswagen machte gute Geschäfte. Der scharfe Geruch war sogar im Wagen bemerkbar. Nirgendwo schien es Probleme oder Streit zu geben. Doch als Markby den professionellen Blick über die Szene schweifen ließ, bemerkte er etwas, das ihn veranlasste, langsamer zu fahren und etwas vor sich hin zu murmeln.

»Was ist denn?«, fragte Meredith.

»Dort vorn. Siehst du diesen Wagen? Er hat am Straßenrand angehalten, direkt neben dieser Gruppe Jugendlicher.« Meredith sah eine große dunkle Limousine, die neben einer kleinen Schar junger Leute gehalten hatte. Der Fahrer schien sich zur leeren Beifahrerseite zu beugen und etwas durch das offene Fenster zu rufen. Während Meredith hinsah, lösten sich ein Junge und ein Mädchen aus der Gruppe und traten zum Wagen. Die anderen beobachteten den ganzen Vorgang misstrauisch. Der Junge schüttelte den Kopf. Das Mädchen rief etwas zu den anderen, die ebenfalls verneinend reagierten. Der Wagen fuhr langsam davon.

»Ich fahre ihm ein wenig hinterher, um zu sehen, was er vorhat«, sagte Markby.

»Falls du nichts dagegen hast, heißt das.«

»Selbstverständlich nicht. Was meinst du denn, was er plant?«

»Hmmm. Vielleicht erfahren wir es diesmal. Er hält wieder an.« Die Bremslichter der Limousine leuchteten auf. Diesmal hielt der Fahrer neben zwei Mädchen.

»Ich schätze, es wird Zeit, ihm auf den Zahn zu fühlen!«, sagte Markby in plötzlicher Entschlossenheit. Er überholte die haltende Limousine, steuerte davor zum Straßenrand und war aus der Tür und beim Fahrer des anderen Wagens, bevor Meredith Zeit hatte zu blinzeln. Weder der Fahrer noch die beiden Mädchen bemerkten Markby, bevor er bei ihnen war. Die Mädchen sahen ihn zuerst. Sie wandten sich augenblicklich ab und gingen davon. Bevor der Fahrer sich ebenfalls aus dem Staub machen konnte, beugte sich Markby zu seinem Fenster hinunter.

»Guten Abend, Sir! Ich bin Polizeibeamter, und ich frage mich … Herr im Himmel, Mr. Conway!«

»Chief Inspector!« Conway blickte verblüfft zu ihm auf. Er fummelte am Verschluss seines Sicherheitsgurtes und stieg aus.

»Hören Sie, ich weiß genau, dass mein Verhalten seltsam erscheinen muss! Ich gehöre nicht zu dieser Sorte Leute! Ich suche nach meiner Tochter! Sie ist nicht von der Schule nach Hause gekommen! Meine Frau und ich machen uns Sorgen. Ich dachte, ich fahre nach Bamford und frage die jungen Leute, ob jemand sie vielleicht gesehen hat. Ich meine, sie sollte sich eigentlich nicht mit ihnen herumtreiben, wahrscheinlich kennt sie noch nicht einmal jemand. Aber wo steckt sie? Ich bin verrückt geworden, zu Hause neben dem Telefon. Ich musste etwas unternehmen!« Seine Stimme wurde schriller.

»Das sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, Mr. Markby! Sie sagt immer Bescheid, wenn es später wird, und sie ist immer spätestens um halb sieben aus der Schule zurück. Wir essen um sieben zu Abend, und das weiß sie!«

»Wie alt ist Ihre Tochter?«, fragte Markby und musterte Conway nachdenklich.

»Sechzehn.« Conway riss sich zusammen.

»Aber sie ist ein sehr vernünftiges Kind.« Nicht gerade mehr ein Kind, dachte Markby. Laut sagte er:

»Teenager können manchmal ein wenig gedankenlos sein.«

»Ich sagte doch, nicht Katie! Außerdem wissen Sie sehr genau, dass erst vor ein paar Tagen ein junges Mädchen ermordet wurde, nach Ihrer Meinung auf meinem Grund und Boden! Selbstverständlich bin ich besorgt, wenn Katie nicht nach Hause kommt.«

»Die Pubs haben geschlossen, die Clubs ebenfalls«, murmelte Markby halb zu sich selbst.

»Meine Tochter geht nicht in Pubs!«, schnappte Conway.

»Und im Jugendclub war ich bereits. Heute Abend gab es kein Konzert und nichts, das junge Leute angelockt hätte. Es war auch niemand dort.«

»Was ist mit ihren Schulfreundinnen?«

»Ich habe bereits bei Katies Freundin angerufen, bei der sie hin und wieder schläft und mit der sie gemeinsam an Schulprojekten arbeitet. Sie war nicht dort, und soweit ich in Erfahrung bringen konnte, ist sie wie jeden Tag in den Schulbus nach Bamford eingestiegen. Manchmal bleibt sie noch für eine Stunde oder so in der Stadt, geht einkaufen oder in die Bücherei. Aber alles macht um sechs Uhr zu.« Markby sah die Straße entlang. Nach dem, was Conway über seine Tochter sagte, klang es nicht, als wäre Katie die Sorte Mädchen, die sich in die Art von Schwierigkeiten brachte, die Lynne Wills das Leben gekostet hatte. Doch Markbys Erfahrung zufolge waren selbst die vernünftigsten Teenager hin und wieder gedankenlos und vergesslich. Matthew Conway war allerdings ein Mann, den Markby nicht gegen sich aufbringen wollte, also war es sicher nicht klug, ihm das zu sagen.

»Warum fahren Sie nicht nach Hause«, schlug er stattdessen taktvoll vor,

»und ich informiere das Revier und bitte die Streifenwagen, ein Auge nach ihr offen zu halten? Wie würden Sie Ihre Tochter beschreiben?«

»Sie ist etwa einssiebzig groß, hat langes, rotbraunes Haar – kastanienfarben, sagt man wohl. Sie wird ihre Schuluniform tragen, ein graues Kostüm und einen Pullover. Ansonsten hat sie scheußliche schwarze Schnürstiefel an und einen weiten schwarzen Mantel, den sie bei einem Kirchenflohmarkt erstanden hat. Fragen Sie mich nicht, warum! Sie muss nur fragen und bekommt alles zum Anziehen, was sie sich wünscht!«, schloss Conway verdrießlich.

»Mode«, erkannte Markby weise.

»Meine älteste Nichte steht total auf – wie nennt man es noch – Grunge? Ich bin sicher, Ihrer Tochter wird nichts passiert sein, und wenn sie bei Ihnen auftaucht, rufen Sie bitte die Wache an und sagen Sie den Beamten, dass sie wieder da ist, damit die Streifenwagen sie von der Liste streichen können. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie ist wahrscheinlich längst auf dem Weg nach Hause, ohne zu ahnen, welche Aufregung sie allen beschert hat.« Er blickte Conways Limousine hinterher und kehrte zur wartenden Meredith zurück.

»Er sucht nach seiner Tochter. Du kennst die junge Katie Conway. Glaubst du, sie würde länger von zu Hause wegbleiben, ohne ihren Eltern Bescheid zu sagen? Sie ist heute nicht von der Schule heimgekommen.«

»Kann ich nicht sagen«, antwortete Meredith und runzelte die Stirn.

»Vielleicht will sie nur ihre Unabhängigkeit demonstrieren. Sie hat mir gegenüber angedeutet, dass sie in jüngerer Vergangenheit das eine oder andere angestellt hat, worüber ihre Eltern sehr aufgebracht gewesen wären – wenn sie etwas davon gewusst hätten. Vielleicht macht sie es wieder, nur stellt sie diesmal sicher, dass sie es erfahren. Es steht alles mit einer Reise nach Paris in Verbindung, gegen die sie sich sträubt. Sie könnte versuchen, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu erregen. Es wäre zwar sehr schäbig von ihr, aber ich kann ihr trotzdem nachempfinden.«

»Ihr Vater sagt, sie wäre sehr vernünftig.«

»Ich würde sagen, sie ist zwar vernünftig, aber unerfahren. Sie ist ziemlich behütet aufgewachsen, stelle ich mir vor. Und für ihr Alter in mancherlei Hinsicht noch recht jung. Sie geht abends aus und unternimmt die üblichen Dinge, die Teenager unternehmen. Das weiß ich, weil ich sie zusammen mit Josh Sanderson getroffen habe, als sie zu einem Rockkonzert gegangen sind. Vielleicht ist sie bei ihm?«

»Sanderson«, murmelte Markby und kritzelte den Namen in ein Notizbuch.

»Wenn sie bis morgen früh noch nicht wieder aufgetaucht ist, werde ich Conway vorschlagen, Josh anzurufen. Ich glaube nicht, dass es eine Polizeiangelegenheit ist. Teenagerrebellion, wie du schon gesagt hast. Oder schlimmer noch, Teenagerliebe.« Und das, dachte Markby mitleidsvoll, würde Conway überhaupt nicht gefallen.

Markby hatte die Angelegenheit entschlossen aus seinen Gedanken verdrängt. Nur verständlich, dass sich Conway um seine Tochter sorgte, aber Katie gehörte nicht zu der Sorte Mädchen, die sich einem Fremden aufdrängte oder von einem Fremden mitnehmen ließ. Wenn es einen Familienstreit wegen einer Reise nach Frankreich gab, dann konnte es durchaus sein, dass Katie auf diese Weise die Aufmerksamkeit ihrer Eltern erregen wollte. Junge Leute konnten manchmal ziemlich rücksichtslos zu Werke gehen. Doch am folgenden Morgen kehrte das Problem zu ihm zurück. Als er auf dem Bamforder Revier eintraf, wurde er im Eingang von Matthew Conway abgefangen.

»Da sind Sie ja!« Conway sprang auf, und Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und war unrasiert. Markby schätzte – zu Recht, wie sich herausstellte – dass er die ganze Nacht auf gewesen war und auf seine Tochter gewartet hatte.

»Hören Sie, nicht eine Spur von ihr! Ich sage Ihren Beamten immer wieder, dass Katie so etwas nicht macht! Selbstverständlich geht sie mit Freundinnen aus und in den Jugendclub oder auf Partys. Aber niemals, niemals vergisst sie, uns vorher Bescheid zu geben! Wenn sie die ganze Nacht von zu Hause weg bleibt, dann sagt sie uns den Namen der Freundin, bei der sie schläft! Wenn sie nach der Schule noch eine Weile in Bamford bleibt, dann ist sie trotzdem rechtzeitig zum Abendessen zu Hause, spätestens um sieben Uhr!«

»Wie kommt sie nach Hause?«, fragte Markby, der sich lebhaft an die einsame Lage von Park House erinnerte und versuchte, seine eigene aufsteigende Unruhe zu unterdrücken, seinen Instinkt, der sich bisher nur selten geirrt hatte und der ihm beharrlich sagte, dass dies hier alles andere als ein vorübergehender Sturm im Wasserglas war.

»Ich habe bei allen Taxifahrern nachgefragt«, erklärte Conway ungeduldig.

»Gestern Abend und heute Morgen! Sie erinnern sich nicht an Katie, und die meisten kennen sie persönlich. Bamford ist eine kleine Stadt, und Katie fährt oft mit dem Taxi nach Hause. Es gibt keinen Bus auf der Cherton Road, und die Taxifahrt kostet weniger als zwei Pfund. Hören Sie, Chief Inspector!« Matthew streckte die Hand aus.

»Ich weiß ja, dass die Suche nach vermissten Teenagern für die Polizei Routine sein mag. Ich weiß, wie beschäftigt Sie mit diesem Mordfall sind. Aber bitte, könnten Sie Ihre Leute nicht wenigstens bitten, nach Katie Ausschau zu halten? Ich kann nicht oft genug betonen, wie untypisch dieses Verhalten für meine Tochter ist.«

»Bitte kommen Sie mit in mein Büro«, sagte Markby unvermittelt. Sergeant Turner wartete bereits auf ihn und blickte neugierig den Besucher an.

»Das ist Mr. Conway aus Park House, Sergeant. Seine Tochter Katie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Sie ist erst sechzehn. Es ist untypisch für sie, und unter den gegebenen Umständen …« Markby blickte Turner vielsagend an. Sie begriff. Die Indizien deuteten darauf hin, dass ein vierzehnjähriges Mädchen auf dem Gelände von Park House den Tod gefunden hatte, und nun war eine Sechzehnjährige nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Es war zwar unwahrscheinlich, dass es eine Verbindung zwischen Katie Conway und Lynne Wills gab, doch die Möglichkeit durfte nicht außer Acht gelassen werden. Markby erinnerte sich an den Namen Josh Sanderson, den er in sein Notizbuch geschrieben hatte.

»Haben Sie bei Katies Freundinnen und Freunden angerufen?«, fragte er.

»Beispielsweise bei dem jungen Sanderson? Vielleicht hat er sie gestern gesehen?«

»Oh, Josh … den hatte ich ganz vergessen«, gestand Conway.

»Soweit ich weiß, trifft sie sich manchmal nach der Schule mit ihm, aber sie würde nicht …« Er lief rot an.

»Sie hätte bestimmt nicht die Nacht mit ihm verbracht.«

»Sechzehn ist ein sehr emotionales Alter«, murmelte Markby.

»Nicht Katie!«, brüllte Conway und gewann nur mühsam seine Beherrschung zurück.

»Außerdem lebt Josh bei einer Tante. Sie würde so etwas ganz bestimmt nicht dulden. Sie ist eine sehr strenge, altmodische Dame.« Markby sah auf seine Armbanduhr.

»Ich schlage vor, Sie setzen sich mit diesem Jungen Josh in Verbindung, und, äh, vielleicht sollten Sie auch Ihr Gelände gründlich absuchen. Wenn Sie immer noch keine Spur von Katie finden, geben Sie uns Bescheid. Aber da Sie jetzt schon einmal hier sind, Mr. Conway, dürfte ich erfahren, ob Sie zwischenzeitlich in der Lage waren, Ihre Frau zu fragen …«

»Selbstverständlich nicht!«, brüllte Conway.

»Verdammt noch mal, ich bin außer mir vor Sorge wegen meiner Tochter, und meiner Frau geht es nicht anders! Sie ist hysterisch! Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, was bei mir zu Hause los ist! Prue hält es fast nicht mehr aus! Wir mussten gleich heute Morgen den Arzt zu Adeline rufen! Wie soll ich sie unter diesen Umständen nach dem verdammten Mausoleum fragen? Sie weiß bisher noch überhaupt nichts von Ihren Ermittlungen!«

Doch darin irrte Conway. Als er nach seiner Rückkehr die Tür seines Hauses öffnete, flog ihm Adeline aus dem Salon entgegen und packte ihn an den Revers seines Mantels. Mit weißem, verzerrtem Gesicht schrie sie ihn an:

»Was hatte die Polizei in unserem Familiengrab zu suchen? Wo ist Katie? Warum hast du sie noch nicht gefunden? Warum war die Polizei überhaupt hier? Was ist passiert? Sie hatte einen Unfall, und du willst es mir nicht sagen, Matthew …«

Prue erschien und versuchte, sie von ihm wegzuziehen, doch sie klammerte sich an ihn wie eine Klette und schrie ihn an. Er spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Diese kreischende Furie hatte ihn zu ihrem Gefangenen gemacht. Er schlug um sich, versuchte sich zu befreien, und hörte, wie sie aufheulte. Im gleichen Augenblick schossen Schmerzen wie von tausend Nadeln durch seine Schulter und ließen auch ihn aufschreien. Er wurde von allen Seiten zugleich angegriffen! Der neue Angreifer, wer auch immer es war, befand sich hinter ihm. Er konnte ihn nicht sehen und hatte nicht die geringste Ahnung, was den Schmerz verursachte. In blinder Panik griff Matthew nach hinten, und seine Fingerspitzen berührten Fell. Sam hatte ihn von hinten angesprungen. Seine langen spitzen Krallen hatten sogar den dicken Stoff des Wintermantels durchdrungen. Die instinktive Panik, die Matthew ergriffen hatte, schwand, und er fluchte wütend.

»Schaff diese Kreatur von mir weg! Das verdammte Biest ist verrückt geworden!« Prue kam ihm zu Hilfe. Der Kater sprang zu Boden und rannte flüchtend in eine Ecke, wo er sich duckte und Matthew mit smaragdgrünen Augen anfunkelte, während er erregt mit dem Schwanz hin und her peitschte. Mit seinem aufgerichteten schwarzen Fell erinnerte er Matthew mehr als je zuvor an einen bösen Kobold. Adeline war zusammengebrochen und schluchzte. Sie hatte sich völlig verausgabt und klammerte sich an Matthews Beine, bis es Prue endlich gelang, sie von ihm zu lösen. Matthew war wieder frei, erhitzt, wütend, beschämt und erschrocken zugleich. Sein Rücken brannte. Er musste die Wunden behandeln, Jod hineinträufeln oder sonst irgendetwas, aber in diesem Haus würde ihm niemand Mitgefühl entgegenbringen. Prue tröstete Adeline, tätschelte ihr den Rücken und murmelte:

»Ruhig, ganz ruhig«, wie zu einem Baby.

»Hat der Arzt ihr denn kein Beruhigungsmittel verabreicht?«, fragte Matthew ärgerlich.

»Sie wollte nichts nehmen! Außerdem«, fügte Prue über Adelines Schulter hinzu,

»außerdem ist sie so aufgewühlt, dass sie eine massive Dosis benötigen würde, um sich zu beruhigen. Dr. Barnes war nicht bereit, diese Dosis zu verschreiben, angesichts der vielen Medikamente, die sie so schon jeden Tag nehmen muss.« Matthew verbarg das Gesicht in den Händen und atmete tief durch, während er sich bemühte, die Beherrschung wiederzugewinnen. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Sobald das hier vorüber und Katie wieder zu Hause war … Sein Herz pochte, und er sagte sich entschlossen, dass man Katie selbstverständlich finden würde, und das schon bald. Dass sie wahrscheinlich jeden Augenblick zur Tür hereinspaziert käme und alles wieder in Ordnung wäre. Also, wenn diese Geschichte vorbei und Katie wieder sicher zu Hause war, würde Adeline … weggehen müssen. In ein Sanatorium, nur für eine Weile. Sie würde niemals zustimmen, doch falls es nicht anders ging, würde er eine Einweisung erwirken. Barnes würde ihm dabei helfen. Barnes musste wissen, dass es so einfach nicht mehr weitergehen konnte!

»Hör zu, Addy«, sagte er beruhigend, an den zuckenden Rücken seiner Frau gewandt.

»Diese Polizisten haben nichts mit Katie zu tun. Ehrlich nicht.« Sie riss sich aus Prues Umarmung los und wirbelte zu ihm herum.

»Was machen sie dann hier? Du lügst doch, genau wie du immer lügst! Glaubst du denn, du kannst mich täuschen? Glaubst du, dass ich dich nicht durchschaue? Glaubst du, ich wüsste nicht, was mit dieser Frau ist? Du belügst und betrügst mich, warum sollte ich dir noch irgendetwas glauben?«

»Es gibt keine andere Frau!«, brüllte er und verlor erneut die Beherrschung. Er bemerkte Prues strengen Blick und versuchte in ruhigem Ton weiterzureden.

»Addy! Du bildest dir das nur ein! Du hast Wahnvorstellungen! Diese Polizeifahrzeuge drüben beim Mausoleum sind nur deswegen da, weil jemand eingebrochen ist. Vandalen. Ich wollte dir nichts davon sagen, um dich nicht unnötig aufzuregen. Es wurde nichts beschädigt oder so. Die Polizei sieht sich nur um. Es hat nicht das Geringste mit Katie zu tun.«

»Die Polizei ist schon seit Samstag hier! Ihr behandelt mich alle, als wäre ich ein Einfaltspinsel! Ich bin weder blind noch dumm! Du gehst niemals auf dem Grundstück herum und überprüfst irgendwas. Ein Besitz von dieser Größe bedeutet eine Verantwortung, und du hast nie das geringste Interesse gezeigt. Ich kann mich nicht darum kümmern!«

»Du wolltest doch nicht, dass ich irgendetwas mache!« Nach und nach verlor er den letzten Rest von Selbstbeherrschung.

»Du bist doch gegen alles gewesen, was ich wegen dieses Besitzes vorgeschlagen habe!«

»Ich weiß, dass irgendetwas vorgeht!«, beharrte sie bitter.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen!«

»Was?«, fragte er scharf. Prue legte den Arm um Adeline.

»Nun beruhigen Sie sich, Liebes. Am besten, Sie kommen mit nach oben und legen sich für eine Weile hin.«

»Halt, einen Augenblick!«, unterbrach sie Matthew.

»Was hast du gesehen, Addy?« Sie starrte ihn düster und, wie er erschrocken feststellte, mit einem Ausdruck von Hinterlist an. Es war ein sehr unangenehmer Blick, und er erinnerte sich nicht, ihn je bei ihr gesehen zu haben. Plötzlich spürte er große Angst, das Chaos in ihrem Kopf könne vielleicht sehr viel größer sein, als selbst er es sich vorgestellt hatte. Was ging hinter dieser Stirn vor? Seit Freitagabend, als er sie in ihrem Nachthemd umherwandern gesehen hatte, verspürte er eine innere Unruhe, plagten ihn dunkle Vorahnungen. Er wusste nicht genau, was er davon halten sollte, doch er hatte Katies Verschwinden fast schon erwartet – wie ein Unglück, das schon lange über ihnen geschwebt hatte. Als wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis …

»Lichter!«, sagte sie unvermittelt mit lauter, klarer Stimme, die durch die Eingangshalle echote.

»Autoscheinwerfer, die dort drüben angehalten haben, beim Gewölbe. Sie kommen nachts! Ich hab dir nichts gesagt. Du hättest nur behauptet, ich bilde mir alles ein. Aber ich bilde mir nichts ein!« Die letzten Worte stieß sie fast bösartig hervor. Matthew seufzte und erging sich innerlich in einer Serie von Flüchen. Er würde diesem Burschen, diesem Markby, davon erzählen müssen, und dieser würde zweifellos darauf bestehen, Adeline zu vernehmen.

»Ich denke«, sagte Prue laut,

»sie sollte jetzt nach oben gehen.« Er nickte. Prue würde mit ihr fertig werden. Er nicht. Der Kater fauchte ihn an, zeigte seine glänzenden weißen Reißzähne und die zurückgezogene pinkfarbene Zunge. Matthew schlug einen vorsichtigen Bogen um das Tier und ging in den Salon. Ohne seinen Wintermantel auszuziehen, warf er sich in einen hohen Sessel.

»Du brauchst Schlaf.« Er blickte auf. Maria stand in der Tür und beobachtete ihn.

»Ich habe den Lärm bis ins Büro gehört«, fuhr sie fort.

»Was ist los mit dem Kater? Er schoss an mir vorbei wie eine Kreatur aus der Hölle!«

»Maria«, sagte er heiser,

»ich möchte, dass du etwas für mich tust. Dieser Junge, mit dem sich Katie hin und wieder trifft, Josh Sanderson, könntest du ihn bitte ausfindig machen und ihn fragen, ob er weiß, wo sie die ganze Nacht gewesen ist? Ich weiß, ich sollte es eigentlich selbst tun, aber ich … ich verliere vielleicht die Beherrschung, falls … falls …«

»Sicher«, sagte sie.

»Mach dir keine Gedanken. Ich werde mit ihm reden.«

»Sie wird doch wohl nicht bei … sie wird doch wohl nicht bei ihm geblieben sein? Sie ist doch noch ein Kind!« Er blickte sie, um Bestätigung flehend, an.

»Wir werden alle erwachsen, Matthew«, sagte sie leise.

»Früher oder später. Selbst dein kleines Mädchen. Aber ich werde diskret sein. Niemand wird etwas erfahren.«

»Danke, Maria. Oh, und sag doch bitte Mutchings, er soll sich im Park umsehen. Sie könnte … gefallen sein, sich ein Bein gebrochen haben oder irgendwas.« Es klang absurd, doch diese Dinge geschahen. Auch wenn ihm kein Grund einfiel, warum sie im Dunkeln im Park umherwandern sollte. Genau das war das Dumme an der Sache: Im Augenblick fiel ihm überhaupt nichts ein. Sein Gehirn schien nicht arbeiten zu wollen. Maria kam durch den Raum zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sie verzog den geschminkten Mund zu einem ironischen Grinsen, doch die Geste war mitfühlend.

»Ich weiß, wo Katies Freund wohnt. Wenn ich ihn dort nicht finde, suche ich ihn in seiner Schule. Und Mutchings wird den Park absuchen. Er wandert den ganzen Tag mit seinen Schweinen umher. Er würde nichts übersehen. Es kommt alles wieder in Ordnung, Matthew, überlass die Dinge nur mir.« Er lehnte sich zurück, bis er den Kopf am Polster abstützen konnte, und seufzte laut. Hinter Maria tönte Adelines protestierende Stimme aus dem oberen Stockwerk herab, gefolgt von Prue Wilcox’ bestimmten, beruhigenden Worten. Matthew schloss die Augen und wünschte, er könnte die Ohren genauso verschließen.

»Du musst endlich etwas unternehmen, Matthew«, sagte Maria.

»Irgendjemand muss irgendetwas wegen Adeline unternehmen. Sie ist eine Gefahr für sich selbst.«

»Ich weiß«, sagte er.

»Sobald diese Geschichte erledigt ist, Maria. Sobald Katie wieder da ist.«

Barney Crouch sperrte seine Haustür ab und wanderte die Straße hinauf, die nach Bamford führte. Er ging nicht gerne Lebensmittel einkaufen, aber früher oder später blieb ihm nichts anderes übrig. Er hatte jetzt schon zweimal bei Doris Pride gegessen, und er würde gewiss keine Gewohnheit daraus machen! Auch wenn Doris eine erstklassige Köchin war, ein begabtes Händchen beim Backen besaß und einen Yorkshire Pudding zubereitete, der vom Teller zu schweben schien. Doris war eine gute Frau, und genau darin lag das Problem. Barney verspürte nicht den Wunsch, sich bekehren zu lassen.

Mit der Einkaufstasche in der Hand stapfte er den steilen Anstieg hinauf und fand sich unvermittelt gegenüber dem Devaux-Mausoleum wieder. Die Polizeifahrzeuge, die am Morgen noch dort gestanden hatten, waren jetzt, um drei Uhr nachmittags, wieder weggefahren. Das Mausoleum und die nähere Umgebung waren mit Plastikband abgesperrt, und man hatte polizeiliche Hinweisschilder aufgestellt, die das Betreten des Tatortes untersagten. Es war wirklich eine schlimme Geschichte, und Barney mochte nicht gerne daran erinnert werden. Einem Impuls folgend, kletterte er über den Zauntritt und marschierte querfeldein in Richtung Stadt.

Es war der gleiche Weg, den er im Sommer regelmäßig einschlug, doch im Winter hielt er sich normalerweise an die Straße. Der Boden war hart gefroren und uneben, und das Gehen fiel Barney schwer. In der Ferne weideten ein paar Schafe, doch ansonsten war mit Ausnahme der Krähen nirgendwo ein Lebenszeichen zu sehen. Vorboten schlimmer Dinge, Krähen. Barney hasste Krähen. In jenen weit zurückliegenden Tagen, als an Straßenkreuzungen noch Galgen standen und Übeltäter in Ketten an ihnen baumelten, hatten Aaskrähen die Leichen abgepickt. Vorbeikommende Reisende oder Landvolk hatten die Augen von dem grässlichen Anblick abgewendet, doch das Krächzen der großen schwarzen Vögel und ihr Flügelschlagen waren nicht zu überhören gewesen. Das Leben heutzutage sollte zivilisierter sein, aber das ist es natürlich nicht, dachte Barney. Natürlich nicht. Es besteht lediglich eine allgemeine Tendenz, die unangenehmen Dinge unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu erledigen.

»Sieh sich einer diese verdammten Biester an!«, murmelte Barney. Ein Stück voraus kreisten die Krähen über einer Hecke.

»Hätte ich ein Gewehr, ich würde jeden Tag herkommen und Zielschießen üben! Richtig unheimlich.«

Zwei weitere Vögel kreisten hoch über Barney und krächzten rau. Eine Krähe hockte auf einem nackten Zweig wie ein Wächter. Trotz seiner Abneigung gegen die Tiere fragte sich Barney neugierig, was sie angezogen haben mochte. Vielleicht ein totes Schaf. Er würde sich die Sache ansehen, und wenn es sich so verhielt, würde er den Farmer anrufen, sobald er wieder zu Hause angekommen war.

»Los, verschwindet, ihr Mistviecher!«, brüllte er die Krähen an und marschierte in Richtung der Hecke. Er klatschte in die Hände und wedelte mit seiner Tasche, und als beides die Vögel nicht im Geringsten beeindruckte, hob er einen Klumpen gefrorener Erde auf und schleuderte ihn auf sie. Sie erhoben sich in einem Gewirr schwarzer Flügel und heiserem protestierenden Krächzen in die Luft. Doch sie flogen nicht weit, nur bis hinauf in die Bäume, wo sie abwartend hocken blieben.

Die Sache gefiel Barney immer weniger. Wahrscheinlich lag nur ein totes Tier herum. Selbst ein kleines Tier, beispielsweise ein Kaninchen, zog Krähen an. Doch die unheilvolle Art und Weise, wie sie ihn von den Zweigen herab beobachteten und die alten schlimmen Assoziationen, die sie weckten, ließen Barney vorsichtig werden, als er sich der Stelle näherte.

Er konnte nichts riechen. Wenn es ein totes Schaf war, dann konnte es noch nicht lange tot sein. Auf dem Boden war nichts zu sehen. Offensichtlich lag der Kadaver irgendwo im Graben. Barney hob einen Stock auf und stocherte damit im abgestorbenen langen Gras und den Nesseln herum. Der Stock verfing sich in etwas. Er hob es an, so weit es ging. Das Ende des Stocks kam in Sicht – und ein Büschel langes, glänzendes, rötlichbraunes Haar.

»O nein!«, flüsterte Barney.

»O nein, nein, nein …!«

KAPITEL 13 Mit schwerem Herzen bog Markby in die Auffahrt ein, die zu Park House führte. Es war spät am Nachmittag, und es wurde rasch dunkler. Ein feuchter Nebel war aufgestiegen und hüllte die Umrisse des Anwesens ein. Es war ein so wunderschönes altes Gebäude, trotz seines heruntergekommenen Zustands, und zugleich ein derart beredtes Symbol der traurigen, zerbrechlichen Familie, die darin lebte, dass Markby sich fragte, ob Haus und Bewohner den schrecklichen Schlag überleben würden, den zu versetzen er gekommen war.

In seinem Kopf echoten Barney Crouchs Worte, zitternd vor Emotion:

»Ich hab ihr Gesicht erkannt, Markby, ich hab’s direkt erkannt! Ich hab sie so oft gesehen im Sommer, wenn sie durch das Tor gegangen ist. Die junge Katie Conway. So ein hübsches kleines Ding!« Und dann hatte Barney fast unhörbar leise hinzugefügt:

»Widerlich, Markby. Eine widerliche, gemeine Tat in einer grausamen Welt.«

Der Chief Inspector stieg die Stufen zu der großen, geschnitzten Tür hinauf und zog an der Glockenschnur. Im Innern hörte er das leise Bimmeln. Diesmal wurde ihm direkt geöffnet. Prue Wilcox machte ihm auf, und als sie sein Gesicht sah, wich jede Farbe aus ihren eigenen rundlichen, glatten Zügen.

»Sie bringen also schlechte Nachrichten, habe ich Recht?«

»Ja, Mrs. Wilcox. Ich fürchte, ja.« Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen, das Haus und alles, was sich darin befand, Prue Wilcox’ erstarrtes Gesicht.

»Ist Mr. Conway zu Hause?«, fragte Markby.

Sie öffnete den Mund zu einer Antwort, doch bevor sie etwas sagen konnte, antwortete eine Männerstimme rau:

»Ich bin hier …«, und Conway kam aus dem Salon. Auch er war ungesund grau im Gesicht.

»Reden Sie!«, befahl er.

»Ich fürchte, wir haben einen Leichnam gefunden, Mr. Conway.« Markby wusste keinen Weg, die schreckliche Wahrheit abzumildern oder ihr etwas von ihrer Grausamkeit zu nehmen. Conway zuckte zusammen, und Prue Wilcox sank stöhnend in die Knie. Markby fing sie auf und führte sie am Arm zu einem Stuhl in der Halle.

»Mir … mir geht es gut«, flüsterte sie.

»Wo … wo haben Sie sie gefunden?«

»Auf den Feldern zwischen Park House und der Stadt«, antwortete Markby.

»Jemand hat sie durch Zufall gefunden und erkannt. Trotzdem benötigen wir die formelle Identifikation. Es tut mir leid.«

»Sie irren sich!«, widersprach Matthew Conway laut, doch seine Stimme verriet seine Unsicherheit.

»Sie und diese Person, die … die den Leichnam gefunden hat. Sie müssen sich irren. Wer sollte meiner kleinen Katie etwas tun?«

»Das wissen wir nicht, Mr. Conway. Noch nicht.« Markby empfand seine eigene Stimme als steif und formell. Er wollte sein Mitgefühl zeigen, doch er wusste, dass er vor ihnen keine Schwäche zeigen durfte. Er musste stark sein, und er musste ihnen ein Vorbild sein. Prue und Matthew starrten sich schweigend an und kommunizierten auf irgendeinem telepathischen Weg.

»Es wird sie umbringen«, sagte Prue schließlich. Sie blickte Markby an.

»Mrs. Conway. Die arme Frau. Ich bin ins Haus gekommen, als Katie geboren wurde. Ich war die Amme für das Baby und die Mutter, während sie im Kindbett gelegen hat. Ursprünglich wollte ich nicht länger als drei Monate bleiben. Doch dann erlitt Adeline schwere postnatale Depressionen, und sie erholte sich nicht mehr davon. Also blieb ich, um nach ihr zu sehen. Ich habe mich all die Jahre um sie gekümmert. Verstehen Sie – Adeline wird diesen Schicksalsschlag nicht verkraften, ganz bestimmt nicht, Mr. Markby.« Matthew Conway holte einmal tief Luft.

»Ich werde mit Ihnen kommen, Chief Inspector. Ich werde diese Identifikation vornehmen. Prue, Sie sagen Adeline noch nichts. Vielleicht ist es ja ein Irrtum.« Die Hoffnungslosigkeit, mit der er diese Worte aussprach, verriet Markby, dass er nicht daran glaubte.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir noch ein paar Minuten warten könnten, Chief Inspector. Ich muss mich innerlich darauf vorbereiten, mich an den Gedanken gewöhnen, meine Katie … ist … wurde sie verstümmelt?« Markby schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich werde draußen warten. Nehmen Sie sich Zeit.« Er kehrte zu seinem Wagen zurück, wo im Zwielicht eine hässliche, vertraute Gestalt wartete. Winston Mutchings. Seine Arme hingen schlaff an den Seiten herab und zuckten von Zeit zu Zeit voll eigenwilliger, unkontrollierbarer Energie. Als Markby die Treppenstufen herunterkam, sprang der Schweinehirt auf ihn zu.

»Was machen Sie schon wieder hier? Mr. Conway, er kann seine Tochter nicht finden. Ich hab den ganzen Park abgesucht, wie sie mir gesagt haben, aber ich hab sie nirgends gesehen. Sie sind doch Polizist. Haben Sie Katie gefunden?«

»Ja«, antwortete Markby.

»Ich fürchte, Katie ist tot, Mr. Mulchings.«

»Seien Sie nicht blöd, Mann! Natürlich ist sie das nicht!«, erwiderte Mutchings einfach. Die Zuversicht, mit der er die grausame Nachricht abtat, erschütterte Markbys eigene Gewissheit. Er ließ den Blick über die fernen Bäume am Rand des Grundstücks schweifen, die das Mausoleum abschirmten. Sie waren in der zunehmenden Dämmerung nicht mehr voneinander zu unterscheiden, eine dunkle, undurchdringliche Barriere.

»Haben Sie die Stimmen aus dem Mausoleum eigentlich in der Zwischenzeit wieder gehört, Mutchings? Seit wir uns das letzte Mal unterhalten haben?« Mutchings’ Gesicht wirkte im Zwielicht verzerrt vor Entsetzen. Er klang zu Tode erschrocken.

»Nein! Ich geh da nicht hin! Da sind Dinge passiert! Die Polizei war da! Das müssen Sie doch wissen! Nicht, dass sie ein Recht dazu gehabt hätten – das hier ist alles Privatbesitz!«

»Wir hatten Mr. Conways Genehmigung. Haben Sie vielleicht eine Vorstellung, was für Dinge dort geschehen sind, Mutchings? Angenommen, Sie müssten raten – was würden Sie sagen?« Mutchings kam näher.

»Ich schätze, ich weiß es«, flüsterte er rau.

»Miss Wilcox hat mir erzählt, jemand hätte die Tür zur Kapelle aufgeschlossen. Das hätt er nicht tun sollen. Einer von den alten Devaux ist rausgekommen und wandert jetzt rum. Sie sind nicht wie andere Menschen, die Devaux! Andere Menschen, wenn sie begraben werden, verfaulen sie. Staub zu Staub, sagt der Vikar. Aber nicht die Devaux. Die bleiben ganz.«

»Haben Sie diese … diese Gestalt umherwandern sehen? Diesen Devaux?« Mutchings schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich hab nur sie gesehen, obwohl sie noch nicht tot ist.«

»Wen haben Sie gesehen?« Markby hielt den Atem an.

»Miss Adeline. Manchmal, in der Nacht, steh ich auf und geh zum Haus. Ich geh außen rum und sehe nach, ob alle Fenster geschlossen sind und niemand eingestiegen ist. Ein paar Mal hab ich in ein Fenster gesehen, wenn der Mond hell geschienen hat, und da war Miss Adeline in ihrem Nachthemd. Sie ist in den unteren Räumen herumgewandert. Aber sie hat mich nicht gesehen.« Das Schlafwandeln, von dem Maria ihm erzählt hatte. Vor Markbys geistigem Auge entstand ein Bild von Adeline Conway, die durch die Räume zu schweben schien, und dem gaffenden Mutchings, der mit weit aufgerissenem Mund am Fenster stand und sie anstarrte. Mutchings schien zu bedauern, dass er Markby seine Geschichte anvertraut hatte. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und sprang zurück.

»Aber ich glaub nicht, was Sie da über die junge Miss Conway gesagt haben! Sie kann nicht tot sein! Das macht doch überhaupt keinen Sinn! Warum sollte sie denn tot sein?« Mit diesen Worten machte er kehrt und stapfte in die Dämmerung davon. Markby blieb allein zurück und überlegte, ob die letzten Worte des Schweinehirten die dümmliche Bemerkung eines Schwachsinnigen waren oder das genaue Gegenteil: eine verschlagene, direkte Frage. Es war möglich, ein Motiv für die Ermordung der junge Lynne Wills zu sehen. Aber Katie Conway? Hinter ihm wurde die Haustür geöffnet, und Matthew Conway kam in seinem Wintermantel die Treppe herab.

»Ich bin bereit. Gehen wir. Ich möchte die Sache schnell hinter mich bringen.« Während sie über den Kiesweg in Richtung Tor fuhren, spürte Markby deutlich, wie aufgewühlt der Mann neben ihm auf dem Beifahrersitz war. Er wusste nicht, wie Conway reagieren würde, wenn er Katie sah. Er wusste nur, dass in ihm selbst, der außerdem bereits Lynne Wills’ Leichnam gesehen hatte, nichts als Wut aufsteigen würde. Ein Vater oder eine Mutter mögen sich in Tränen auflösen, doch in einem Polizisten regt sich dumpfe Wut, der er keinen freien Lauf lassen darf. Unvermittelt ergriff Conway das Wort und gab das wieder, was Markby dachte:

»Wer hat das getan? Zwei junge Mädchen! Was für ein Monster ist das?«

»Wer ist dieser Kerl?«, wollte Superintendent Norris wissen.

»Und wieso haben wir noch nicht die geringste Spur von ihm?«

»Wir haben eine Spur, wenn auch nur eine vage. Lynne Wills wurde gesehen, wie sie das Silver Bells in Begleitung eines Mannes verlassen hat. Wir suchen selbstverständlich nach diesem Mann, doch die Beschreibungen der Zeugen sind so ungenau, dass wir fast nichts damit anfangen können. Es könnte so gut wie jeder sein, insbesondere, wenn er inzwischen seinen Schnurrbart abrasiert hat. Ich habe die wenigen Details, die wir besitzen, an die Presse gegeben. Selbstverständlich hoffe ich, dass wir ihn irgendwann finden und dann eine DNS-Probe nehmen können, wodurch wir eine Verbindung zu der toten Lynne erhalten. Doch sie wird, falls sie positiv ausfällt, lediglich beweisen, dass er Geschlechtsverkehr mit ihr hatte. Wir brauchen mehr, wenn wir eine hieb- und stichfeste Mordanklage erwirken wollen. Beweise, dass er den Leichnam durch die Gegend gefahren hat, beispielsweise.

Was Katie Conway angeht, so tappen wir bisher im Dunkeln, wie ich gestehen muss, und wir wissen nicht einmal …«, Markbys Stimme wurde lauter, und er hielt Norris’ hartem Blick stand,

»… wir wissen nicht einmal, ob wir nach dem gleichen Mann Ausschau halten. Die beiden Todesfälle stehen möglicherweise nicht miteinander in Verbindung.«

»Hören Sie auf!«, fauchte Norris.

»Es ist doch wohl höchst unwahrscheinlich, dass wir es hier mit mehr als einem Mörder zu tun haben? In einer ländlichen Gegend wie dieser hier? Wie viel mörderische Irre sollen sich denn in den Büschen rings um Bamford herumtreiben?«

»Wir wissen auch nicht, ob es ein Psychopath ist«, verbesserte Markby seinen Vorgesetzten.

»Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass es tatsächlich zwei verschiedene Mörder gibt. Lynne Wills’ Tod war, wie es aussieht, Folge einer … geschäftlichen Auseinandersetzung, wenn man es so nennen will. Das kann man von Katie Conway nicht sagen. Sie ging auf eine andere Schule als Lynne und hatte andere Freundinnen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Katie Conway sich in Pubs herumgetrieben hat.«

»Der Autopsiebericht!«, sagte Norris mit boshaftem Glitzern in den Augen.

»Ja, ich weiß. Aber es war nicht unmittelbar vor ihrem Tod. Es gibt keinerlei Hinweise auf sexuelle Aktivitäten vor dem tödlichen Angriff.« Nichtsdestotrotz hatte Fullers Untersuchung von Katie Conways Leichnam eine Überraschung zutage gefördert:

»Sie war übrigens keine Jungfrau mehr«, hatte Fuller beiläufig erwähnt.

»Ich konnte keine Hinweise auf kürzliche sexuelle Aktivitäten finden. Ganz sicher nichts, das mit dem tödlichen Angriff in Verbindung steht. Vermutlich ist es heutzutage nichts Besonderes mehr, wenn sie schon in jungem Alter anfangen, mit Sex zu experimentieren. Ich bin selbst Vater, und es bereitet mir Sorgen. Unsere Kinder unterliegen so starkem Gruppenzwang und so vielen schädlichen Einflüssen. Aber dieses Mädchen, haben Sie gesagt, ging auf eine Privatschule und stammt aus einer sehr guten Familie. Ich muss sagen, ich bin überrascht.« Auch Markby war überrascht gewesen. Doch er wusste nicht zu sagen, ob die Tatsache, dass Katie keine Jungfrau mehr gewesen war, irgendeine Bedeutung für seine Untersuchung hatte.

»Für die Presse stehen die beiden Morde in einem Zusammenhang«, sagte Norris. Markby antwortete mit einer wenig schmeichelhaften Bemerkung über die Presse. Norris stimmte ihm ungewöhnlich mitfühlend zu.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung. Aber wir können nicht verhindern, dass Spekulationen angestellt werden. Die Menschen hören heutzutage so viel über Serienmörder, dass sie glauben, hinter jeder Ecke könnte einer lauern. Wir müssen die Panik in der Gemeinde eindämmen. Ich werde eine Erklärung abgeben, und wenn ich vor den Kameras stehe, sehen Sie besser zu, dass Sie mit dabei sind! Wir müssen uns auf ein paar sehr unangenehme Fragen gefasst machen.« Ohne jede Vorwarnung wechselte Norris das Thema.

»Wie kommen Sie mit Sergeant Turner zurecht?«

»Gut, danke. Eine sehr gute Beamtin.« Norris senkte die Stimme.

»Das freut mich zu hören. Sie ist für eine schnelle Karriere vorgesehen, wissen Sie?« Er grinste halb selbstgefällig, halb durchtrieben.

»Wir müssen den Frauen eine Chance geben.« Markby fiel keine Antwort darauf ein, und so schwieg er einfach.

Dank Meredith hatte er wenigstens einen Namen, mit dem er weitermachen konnte: den des jungen Josh Sanderson. Am nächsten Morgen fuhr Markby los, um mit ihm zu reden. Er versuchte es zunächst im Bamford Community College, in der Annahme, dass Josh dort zur Schule ging. Das tat er tatsächlich, doch er war an diesem Tag nicht zum Unterricht erschienen. Sowohl der Schulleiter als auch der Klassenlehrer bestätigten Markby, dass Josh ein außerordentlich guter Schüler war. Sie waren überrascht, dass die Polizei nach ihm fragte und fürchteten offensichtlich für den Ruf der Schule. Trotz Markbys Versicherung, dass es lediglich um eine Routineangelegenheit ging, konnte er nicht verhindern, dass die beiden Lehrer misstrauisch wurden. Zu seinem Ärger und seinem Bedauern verwandelte sich Josh offensichtlich in ihren Augen von einem Musterschüler in ein Sorgenkind, dessen man sich schämen musste.

Markby verabschiedete sich, bewaffnet mit Joshs Adresse und der Information, dass der Junge bei einer verwitweten Tante wohnte, deren Name Mrs. Parry lautete.

Eben diese öffnete ihm nun die Tür. Sie war Ende vierzig und ausgesprochen schlank, mit einem ängstlichen Gesichtsausdruck, der möglicherweise Folge der dicken Brillengläser war, durch die sie unsicher auf den unbekannten Besucher blickte.

»Oh, ein Chief Inspector …«, sagte sie, nachdem Markby sich vorgestellt hatte.

»Du meine Güte …«

»Keine Sorge, Mrs. Parry. Ich möchte mich nur kurz mit Josh unterhalten. Wir versuchen zu rekonstruieren, was Katie Conway als Letztes getan hat. Wenn ich recht verstanden habe, war sie mit Josh befreundet.« Mrs. Parry schlug entsetzt die Hände zusammen.

»Ist das nicht eine ganz furchtbare Geschichte! Josh ist außer sich, und er konnte heute nicht zur Schule gehen! Er ist ein so sensibler Junge. Katie war so ein entzückendes junges Mädchen.«

»War sie häufig bei Ihnen zu Hause?« Markby ließ den Blick durch die Diele schweifen, in der sie standen. Sie war schon beinahe unanständig sauber, eine Zurschaustellung polierter Genügsamkeit. Fast, als wollte Mrs. Parry ihren Besuchern zu verstehen geben:

»In meinem Haus mag es keinen modernen Schnickschnack geben und keine teuren Möbel, aber es ist reinlich!«

»Ein paar Mal. Sie hat Josh besucht, aber in letzter Zeit nicht mehr.« Mrs. Parry zögerte.

»Bevor Sie mit Josh reden – hätten Sie da einen Augenblick für mich übrig? Hier drin …« Sie ging auf eine Tür zu. Er folgte ihr in ein einfaches, aufgeräumtes Wohnzimmer, das Markby an den altmodischen Begriff

»Besucherzimmer« denken ließ. Er vermutete, dass es tatsächlich die meiste Zeit über eingemottet war und nur für ganz besondere Gelegenheiten benutzt wurde. Das Zimmer war nicht beheizt, und die Luft fühlte sich feucht an. Auf dem Kaminsims standen zwei billige grüne Vasen zusammen mit zwei oder drei gerahmten Fotografien. Ansonsten gab es keinerlei Dekoration, keine Blumen, keine Schnitzereien und ganz gewiss nichts so Dekadentes wie einen Aschenbecher. Markby spürte, wie Depressionen in ihm aufstiegen, während er überlegte, wie der Rest des Hauses aussehen mochte. Der Junge tat ihm jetzt schon Leid, obwohl er ihn noch gar nicht kannte. Mrs. Parry bot ihm einen Platz an und setzte sich ihm gegenüber, kerzengerade und die Knie zusammengepresst. Sie hatte offensichtlich beschlossen, dass es an der Zeit war für ein Geständnis.

»Ich möchte mir etwas von der Seele reden, Chief Inspector, weil ich denke, dass ich es tun sollte. Es schnürt mir regelrecht die Brust zu.« Die arme Frau hatte nur sehr wenig Brust, soweit man es unter dem unförmigen selbstgestrickten Pullover erkennen konnte. Eine eigenartig geschlechtslose Kreatur, dachte Markby. Er musterte die Fotos über dem feuerlosen Kamin. Auf einer davon war eine junge Frau neben einem gleichmütig wirkenden jungen Mann in einem schlecht sitzenden Anzug zu sehen. Beide trugen Nelken, er im Knopfloch seiner Jacke und sie in einem Ansteckbukett an einem wenig eleganten zweiteiligen Kostüm. Sie hielt außerdem einen kleinen Blumenstrauß, und Markby vermutete, dass es ein Hochzeitsfoto der Parrys war. Es sah nicht danach aus, als sei der Tag besonders festlich begangen worden.

»Josh ist der Junge meiner Schwester«, begann Mrs. Parry, und er richtete höflich seine Aufmerksamkeit wieder auf sie.

»Meine Schwester war nicht verheiratet, als er geboren wurde!« Die Worte kamen wie aus der Flinte geschossen. Die Welt draußen mochte toleranter in diesen Dingen geworden sein, doch Mrs. Parry hing eindeutig einer eher traditionellen Ansicht nach.

»Zuerst hat sie versucht, sich um das Baby zu kümmern, doch sie konnte nicht gleichzeitig einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Mein Mann und ich hatten keine Kinder, und so brachte sie Josh zu uns, damit wir ihn großziehen. Er ist nicht mein eigener Junge, aber glauben Sie mir, ich habe ihn stets behandelt, als wäre er mein Fleisch und Blut! Er war noch kein Jahr alt, als er zu uns kam.«

»Wo ist seine Mutter heute?«, fragte Markby. Sie schüttelte den Kopf.

»Wir wissen es nicht. Wir haben zum letzten Mal vor etwa drei Jahren von ihr gehört. Sie hatte jemanden kennen gelernt, einen neuen Mann, und ist zu ihm ins Ausland gezogen. Ich glaube, nach Italien. Wir haben den Leuten immer erzählt, dass Joshs Eltern im Ausland wären und er deshalb bei uns leben würde. Es schien uns als die beste Erklärung, und sie ist beinahe wahr.« Ihre trotzigen Worte klangen wie eine Rechtfertigung. Wie die abnorm saubere Umgebung waren sie Ausdruck eines verzweifelten Strebens nach Respektabilität. Und nun saß ein Polizeibeamter in ihrer guten Stube! Die arme Mrs. Parry kämpfte offensichtlich gerade die schwerste Schlacht ihres Lebens, um eben diese Respektabilität zu verteidigen.

»Sie werden verstehen, Chief Inspector, dass ich sehr gemischte Gefühle hatte, als Josh seine Katie zum ersten Mal mit nach Hause gebracht und vorgestellt hat. Ich war gegen diese Freundschaft!« Sie sah seine erhobenen Augenbrauen und fuhr hastig fort:

»Oh, es war nicht der Fehler des Mädchens! Sie war sehr gut erzogen und freundlich. Aber ihre Familie, sie ist so anders als wir, in jeder Beziehung. Wohlsituiert, erfolgreich, mit diesem riesigen Haus, und Mrs. Conway eine geborene Devaux!« Markby dachte an Park House, den abbröckelnden Putz, den verwahrlosten Park und an das Marionettentheater, das im Innern des Hauses gespielt wurde, an all die aufgestauten Emotionen.

»Sie befürchteten also, die Conways würden Josh nicht gutheißen?« Es gefiel ihr nicht, wie Markby es ausgedrückt hatte. Sie errötete und warf den Kopf zurück.

»Josh ist ein sehr höflicher, gewissenhafter, kluger Junge! Es ist nur, dass … er ist ein uneheliches Kind, verstehen Sie? Und selbstverständlich besitzen wir nicht viel Geld. Ich hoffte, Joshs Freundschaft mit Katie wäre nur eine vorübergehende Romanze zwischen Heranwachsenden, die erste Liebe, Sie wissen schon …« Die Worte wirkten merkwürdig unpassend aus ihrem Munde, und sie errötete tief, als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte.

»Ich dachte, mit der Zeit würde die Sache im Sande verlaufen. Ich hoffte und betete, dass es so kommen würde! Ich glaube, es wäre tatsächlich eines Tages vorbei gewesen, aber manchmal machte ich mir doch Sorgen. Was, wenn es nicht so käme, fragte ich mich. Sie war erst sechzehn, und Josh ist noch nicht ganz siebzehn. Die Zeit verfliegt, und in kaum zwei Jahren …«

»Ich verstehe«, sagte Markby. Sie war noch immer rot im Gesicht, beugte sich vor und erklärte vehement:

»Und dann kam diese Frau hierher! Ein unverschämtes, angemaltes Flittchen, wenn ich je eines gesehen habe! Conway hatte sie geschickt. Er besaß nicht einmal den Anstand, selbst vorbeizukommen! Er hat diese Schlampe geschickt!«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass wir von Mrs. Lewis reden, Mr. Conways persönlicher Assistentin?«, wagte Markby zu fragen. Sie rümpfte die Nase.

»So nennt sie sich selbst, ja. Sie kam gestern hierher und fragte nach Katie, ob Josh sie am Abend vor ihrem Verschwinden gesehen hätte, ob …« Mrs. Parry geriet unübersehbar in Fahrt. Ihre flache Brust wogte nach Kräften, und ihre Augen hinter den dicken Froschgläsern leuchteten vor unterdrückter Wut.

»Sie … sie … sie besaß doch tatsächlich die Unverschämtheit zu fragen … oh, ich bringe die Worte nicht über die Lippen, Chief Inspector! Aber Sie verstehen sicher, was ich meine. Sie besaß die Frechheit anzudeuten, dass sich unter meinem Dach etwas Unmoralisches zugetragen haben könnte! Unter meinem Dach, in meinem eigenen Heim!« Markby fragte sich, was ihr am meisten gegen den Strich ging – der Verdacht, es könne zu unerlaubten Frivolitäten gekommen sein, oder die Tatsache, dass sich diese Frivolitäten vielleicht in der keimfreien Umgebung ereignet haben könnten, die sie ihr Heim nannte.

»Ich habe sie jedenfalls achtkantig aus dem Haus geworfen!«, fuhr Mrs. Parry entschieden fort.

»Ich habe ihr gesagt, dass mein Josh ein wohlerzogener Junge ist. Er hat Katie an jenem Nachmittag gesehen, aber es war noch hell, und sie haben nur eine Tasse Tee in einem Café getrunken. Das ist alles!«

»Genau darüber möchte ich mit Josh reden«, sagte Markby. Es war nicht die einzige Frage, doch angesichts Mrs. Parrys moralischen Ansichten würde es schwierig werden, Josh über delikatere Angelegenheiten auszuhorchen. Er riskierte jedenfalls, dass er, genau wie zuvor Maria Lewis, achtkantig aus dem Haus geworfen wurde!

»Sie müssen entschuldigen, dass ich mich so aufrege«, sagte sie ein wenig ruhiger.

»Aber es ist genau das eingetreten, was ich immer befürchtet hatte!«

»Was denn, haben die beiden sich doch miteinander eingelassen?«

»Nein! Josh ist nicht so ein Junge! Nein, ich habe immer befürchtet, dass es zu Schwierigkeiten mit den Conways kommen könnte! Weil sie sind, wer sie sind, und weil wir sind, wer wir sind! Nicht, dass dieser Haushalt nicht respektabel wäre! Im Gegenteil«, fügte sie mit triumphierendem Unterton hinzu,

»nachdem ich diese persönliche Assistentin von Mr. Conway mit ihrem wasserstoffblondierten Haar und dem viel zu kurzen Rock gesehen habe, wäre ich nicht mehr verwundert, wenn unser Haushalt sehr viel respektabler wäre als ihrer, trotz all des Geldes!«

»Ich denke«, sagte Markby, dem plötzlich bewusst wurde, dass er Mrs. Parry nicht mochte,

»ich denke, ich würde jetzt gerne mit Josh reden, falls es genehm ist?« Sie stand auf.

»Ich schicke den Jungen zu Ihnen. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee?«

»Das wäre sehr freundlich, Mrs. Parry.« Wenigstens würde er so ein paar Minuten mit dem Jungen alleine haben, bevor dieser Drache zurückkam und jedes Wort belauschte. Josh schlich herein, mit bleichem Gesicht und verängstigt, und er sah aus, als hätte er geweint.

»Es tut mir sehr Leid, Josh«, sagte Markby mitfühlend.

»Ich will, dass Sie ihn finden!«, antwortete Josh mit leiser, emotionsgeladener Stimme, die klang, als könne sie jeden Augenblick brechen.

»Ich will, dass Sie diesen Kerl finden, der Katie das angetan hat!«

»Das will ich auch, Josh. Und das werde ich. Aber ich brauche Hilfe, jede Hilfe, die ich kriegen kann.« Josh nahm in dem Sessel Platz, auf dem zuvor seine Tante gesessen hatte.

»Wie ist sie gestorben? In den Zeitungen stand nicht, wie es passiert ist, nur, wo sie gefunden wurde.«

»Man hat ihr das Genick gebrochen.« Fullers Meinung zufolge ein gekonnter Schlag. Ein ziemlich professioneller Schlag sogar, vielleicht ausgeführt von jemandem, der sich in Kampfkunst auskannte. Was heutzutage für ziemlich viele Menschen galt. Es war ein beliebtes Hobby. Die meisten jedoch würden ihre Kenntnisse niemals ausnutzen, um andere Menschen zu töten. Markby erzählte Josh nichts von alledem. Der Junge war hager, beinahe dürr, was nicht auf irgendeine Form des athletischen Zeitvertreibs schließen ließ. Markby wartete.

»Ich verstehe einfach nicht, warum«, sagte Josh schließlich.

»Es scheint so schrecklich sinnlos!« Die Worte gaben genau das wieder, was auch Mutchings gesagt hatte:

»Es macht keinen Sinn!«

»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie Katie noch am Nachmittag getroffen?«

»Ja. Wir haben uns im Black Cat Café gesehen, nachdem sie aus dem Schulbus gestiegen war. Wir haben uns oft dort getroffen. Wir haben uns nur unterhalten.«

»Wie lange ist sie geblieben?« Josh blickte unglücklich drein.

»Nicht lange. Wir … wir hatten einen Streit. Nichts Besonderes. Es war wegen ihres Frankreich-Aufenthalts. Sie ist wütend abgerauscht. Aber sie hatte sowieso viele Hausaufgaben auf, deswegen konnte sie nicht lange bleiben.« Markby runzelte die Stirn.

»Hatte sie ihre Hausaufgaben bei sich?« Der Junge nickte.

»Sie hat ihre Schultasche auf den Tisch gestellt. Es war eine grüne Collegemappe aus Leder. Sie war randvoll, und der Reißverschluss stand teilweise offen, weil sie so viel hineingepackt hatte.«

»Verdammt …«, murmelte Markby. Sie hatten nichts dergleichen bei Katies Leichnam gefunden, keinerlei Schulsachen und keine Mappe. Sie würden die Umgebung erneut absuchen müssen. Auch Conway hatte nichts davon erwähnt. Vielleicht hatte seine Trauer über die verlorene Tochter jeden Gedanken an eine vermisste Schultasche aus seinem Verstand gedrängt. Aber sie musste irgendwo sein!

»Hältst du es für möglich, dass sie versucht hat, zu Fuß nach Hause zu gehen, Josh? Über die Felder?«

»Nicht im Winter. Im Sommer ist sie manchmal zu Fuß gegangen. Im Dunkeln hätte ich sie nicht gehen lassen! Nicht alleine jedenfalls. Ich wäre mit ihr gegangen. Als sie aus dem Café gestürmt ist, dachte ich, sie würde zum Taxistand laufen, wie gewöhnlich. Manchmal hat sie auch zu Hause angerufen. Warum hat sie bloß nichts gesagt, wenn sie unbedingt zu Fuß gehen wollte?« Der Junge verlor von Minute zu Minute mehr die Fassung. Draußen klapperte Porzellan. Der Tee, und Markby hatte die persönlichste von allen Fragen noch nicht gestellt. Die Tür wurde geöffnet, und Mrs. Parry schob sich mit einem Tablett in das Zimmer. Josh stand auf, um ihr zu helfen. Markby suchte nach einem Grund, die Frau noch einmal wegzuschicken. Ihm fiel das Teetablett wieder ein, das Maria Lewis gebracht hatte, und er fragte:

»Sie haben nicht zufällig eine Zitronenscheibe? Ich bin auf Diät, wissen Sie? Keine Milch. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich so viele Umstände mache.«

»Oh, kein Problem. Ich habe eine im Kühlschrank liegen. Ich gehe sie gleich holen.« Seine Taktik war aufgegangen. Er beugte sich vor.

»Josh, ich muss dir diese Frage stellen, und ich tue es schnell, bevor deine Tante wieder ins Zimmer kommt. Du weißt, dass eine Autopsie an Katies Leichnam durchgeführt wurde, nicht wahr? Dabei hat sich herausgestellt, dass sie keine Jungfrau mehr war. Was nicht bedeutet, dass sie vergewaltigt wurde. Es heißt lediglich …« Joshs Gesicht war weiß.

»Ich weiß sehr wohl, was das heißt! Es stimmt nicht! Katie war nicht so ein Mädchen!«

»Es tut mir Leid, Josh, aber es ist eine Tatsache. Du sagst also, wenn ich dich richtig verstehe, dass du es nicht warst.«

»Nein! Ich nicht, und sonst auch niemand! Sie lügen!« Josh sprang mit geballten Fäusten auf.

»Sie sind genauso schlimm wie diese grässliche Frau, die Katies Vater hergeschickt hat! Sie sind alle gleich! Ich werde keine Ihrer schmutzigen Fragen mehr beantworten! Sie versuchen, etwas aus Katie zu machen, das sie nicht war! Und Sie lügen. Sie lügen allesamt!«

»Josh!« Mrs. Parry stand schockiert in der Tür. Der Junge schob sich ungestüm an ihr vorbei und rannte die Treppe hinauf. Über ihren Köpfen wurde eine Tür geknallt.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …« Mrs. Parry sah Markby verwirrt an.

»So hat er sich noch nie benommen, Sir!«

»Er ist aufgebracht«, sagte Markby.

»Es tut mir Leid, es war meine Schuld. Eine Untersuchung wie diese dringt tief in das Privatleben vieler Menschen ein. Ich hoffe, er fängt sich wieder.« Sie richtete ihre dicken Froschaugengläser auf ihn und hielt ihm etwas hin. Es war eine kleine gelbe Plastikgranate mit einem grünen Schraubstopfen an einem Ende.

»Ich hab Ihnen Ihren Zitronensaft gebracht«, sagte sie. KAPITEL 14

»Damit ist Bamford also tatsächlich im Fernsehen«, sagte Mrs. Pride.

»Ich kann nur sagen, ich wünschte, es wäre aus einem anderen Grund. Als Miss Rissington den Leichnam der jungen Wills gefunden hat, dachte ich, mich könnte nichts mehr schockieren. Und jetzt die arme Katie! Ich kann es kaum fassen! Diese Gottlosigkeit! Dieser Mann, der das tut, er ist ein Teufel! Man sollte wirklich das Hängen wieder einführen! Wenn sie ihn fangen, dann sperren sie ihn für ein paar Jahre ein und lassen ihn anschließend laufen, damit er es wieder tun kann! Oh, ist das nicht Ihr Freund Mr. Markby, Meredith? Wer ist der andere bei ihm? Der so steif aussieht? Er scheint eine ziemlich hohe Meinung von sich zu haben, würde ich sagen!«

»Das ist Superintendent Norris«, sagte Meredith unter Mrs. Prides breitem Grinsen, während sie sich bückte und den Fernseher abschaltete. Es war Freitagnachmittag, und Meredith hatte einen früheren Zug nach Hause genommen, nur um vor der Haustür von Mrs. Pride abgefangen zu werden.

»Es ist wegen Barney«, hatte Mrs. Pride ihr verschwörerisch anvertraut.

»Er ist bei mir zu Besuch, und er ist in einem schrecklichen Zustand. Meine Polizistin kommt heute Abend nicht zum Essen nach Hause. Hätten Sie nicht Lust, stattdessen bei mir zu essen? Verstehen Sie, ich glaube, Barney braucht dringend Gesellschaft. Es geht ihm besser, wenn andere Menschen um ihn sind.« Doch diesmal schien Barney die Gesellschaft nicht zu helfen. Er hatte still am Tisch gesessen und Mrs. Prides Kochkünste kaum gewürdigt. Und nach dem Essen hatte er sich auf eine Ecke des Sofas verzogen und sein düsteres Schweigen fortgesetzt. Schließlich, als der Fernseher dunkel wurde, ergriff er doch noch das Wort:

»Ich bin ebenfalls zutiefst schockiert, Doris! Ich weiß nicht, wie es dieser Miss Rissington geht, aber ich habe Katies Leichnam gefunden, und das werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen!«

»Auch Alan ist aufgebracht«, sagte Meredith.

»Man kann es daran erkennen, wie er sich vor den Kameras verhalten hat. Er beantwortet nicht gerne Fragen seitens der Presse.«

»Noch eine Tasse Tee?« Mrs. Pride hob einen Teekessel an, der aussah wie Anne Hathaways Cottage, und machte sich daran, das Wunderheilmittel auszuschenken.

»Meine Polizistin«, fuhr sie fort, als sei Helen Turner ihr Eigentum,

»sie arbeitet heute bis spät in die Nacht, wie ich Ihnen bereits erzählt habe. Sie sagte, sie würde in der Kantine essen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das Essen dort so gut ist wie mein Hackfleisch-Kartoffel-Auflauf!«

»Ein ganz wunderbarer Auflauf, Doris«, sagte Barney als Antwort auf diesen Wink.

»Aber mir scheint heute überhaupt nichts zu schmecken. Bitte sei deswegen nicht beleidigt.«

»Ich bin nicht beleidigt, Barney Crouch, aber wenn du nichts isst, ist damit niemandem geholfen! Und dein Gehirn hat keinen Saft zum Denken!« Sie seufzte.

»Ich glaube, drüben in Park House sieht es noch viel schlimmer aus! Ich will mir gar nicht vorstellen, wie schrecklich es sein muss! Ich habe gehört, der armen Mrs. Conway ginge es überhaupt nicht gut, seit die Nachricht überbracht wurde. Dr. Barnes ist fast ununterbrochen dort! Die Leute erzählen sich …«, sie senkte die Stimme und fuhr vertraulich fort:

»Die Leute erzählen sich, dass sie für eine Weile weg muss, Sie wissen schon, in ein Sanatorium oder so. Aber sie wäre nicht die erste Devaux, der das passiert.« Diese rätselhafte Feststellung weckte die Neugier in Doris Prides Besuchern.

»Durchgedreht, nicht wahr?«, sagte Barney.

»Das war auch mein Eindruck, als ich vor ein paar Jahren Recherchen über sie angestellt habe. Ich wollte mal ein Stück über sie schreiben«, erklärte er, an Meredith gewandt.

»Nein, nein, sie waren nicht übergeschnappt«, widersprach Mrs. Pride indigniert.

»Sie sind natürlich alle längst tot, mit Ausnahme der armen Miss Adeline. Na, was sage ich! Ich nenne sie immer noch Miss Adeline, obwohl sie schon seit Jahren Mrs. Conway heißt! Ich erinnere mich noch sehr genau an ihre Eltern, Sir Reginald und seine Gattin. Ich erinnere mich sogar noch an ihren Großvater, den alten Sir Rupert, aus der Zeit, als ich ein kleines Mädchen war. Er war eine richtige Persönlichkeit, ohne Zweifel. Er hatte eine Menge Tiere im Park, nicht nur die Schweine. Diese wolligen Dinger aus Südamerika, diese Lamas – er hatte sogar zwei Stück davon. Oh, und ein paar hässliche wilde Ponys mit großen Köpfen und Hinterteilen, die eher wie Esel aussahen! Sie hatten einen schrecklichen Namen, den ich mir nie merken konnte.«

»›Przewalski Wildpferde‹?«, erkundigte sich Meredith interessiert.

»Kann ich nicht sagen, Schätzchen. Die Ponys und die Lamas, die sind schon lange nicht mehr. Die Schweine sind noch da und versorgen Winston Mutchings mit Arbeit. Ich weiß überhaupt nicht, was er ohne sie tun würde! Er ist nicht wirklich zurückgeblieben, der gute Winston, aber er hat seine Grenzen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie schob den beiden einen Teller mit Teekuchen hin, doch als niemand Zugriff, seufzte sie und trank ihren Tee ziemlich lautstark aus.

»Sie haben immer in der Familie geheiratet, Vettern und Basen!«, sagte Barney unerwartet.

»Generationen von ihnen! Das ist es, was schief gelaufen ist bei den Devaux! Sie haben es getan, um das Land und das Geld in der Familie zu halten, aber bei ihren Erfahrungen mit Zuchttieren sollte man wirklich meinen, sie hätten es besser gewusst!«

»Was für eine Ausdrucksweise!«, tadelte Mrs. Pride schockiert.

»Miss Adeline war schon als Mädchen sehr nervös, zugegeben. Sie hatte eine Gouvernante, weil sie nicht zur Schule gehen konnte. Und ihr Vater, Sir Reginald, fuhr immer wieder wegen seiner Gesundheit in die Schweiz, also schätze ich mal, dass sie es von ihm geerbt haben muss.« Barney und Meredith wechselten bedeutungsvolle Blicke. Barney hob die Hand, um sich an die Stirn zu tippen, doch dann, aus Furcht vor neuerlichem Tadel, besann er sich eines Besseren.

»Der alte Sir Rupert«, erinnerte sich Mrs. Pride,

»hatte ein sehr unberechenbares Temperament. Er konnte jederzeit wegen der kleinsten Kleinigkeit aufbrausen. Das hätte ihm sicherlich zahlreiche Schwierigkeiten beschert, wäre er nicht selbst der Friedensrichter gewesen!«

»Was du damit zum Ausdruck bringst, Doris«, sagte Barney,

»ist doch nur, dass es ein Gesetz für die Reichen und eines für die Armen gibt! Die Armen sind verrückt, und die Reichen haben ein Nervenleiden. Ich frage mich, ob Conway wusste, worauf er sich einließ, als er Adeline heiratete? Ich wage es zu bezweifeln. Über so etwas bewahrt man Stillschweigen. Erbschaden, nennt man es, nicht wahr?«

»Nervenleiden«, sagte Mrs. Pride majestätisch,

»ziehen sich nun einmal durch ganze Familien. Aber glücklicherweise nicht durch meine. Und ich werde nicht länger hier sitzen und darüber reden.« Damit war dieses Thema beendet. Doch es hatte seinen Zweck erfüllt und Crouch aus seiner Lethargie geweckt. Er hämmerte mit der Faust auf den Kaffeetisch, dass der Deckel von Mrs. Prides Anne-Hathaway-Kanne klapperte.

»Nein, zum Teufel! Das werde ich auch nicht! Ich werde etwas dagegen unternehmen! Dieses erste Mädchen, Lynne Wieauchimmer, ich habe gesehen, wie sie das Pub mit einem Mann verlassen hat! Ich würde diesen Burschen wiedererkennen! Er kehrt bestimmt nicht mehr ins Silver Bells zurück, aber ich wette meinen letzten Penny, dass er in irgendeinem anderen Pub in der Umgebung auftaucht!«

»Es gibt Dutzende davon!«, sagte Mrs. Pride missbilligend.

»Selbst du kannst nicht alle abklappern, Barney!«

»Und ob ich kann!«, entgegnete er.

»Ich gehe jeden Abend in ein anderes. Ich setze mich den ganzen Abend in eine Ecke mit meinem Pint und beobachte die Gäste. Früher oder später werde ich ihn finden!« Er mühte sich aus seinem Sitz.

»Ich fange gleich heute damit an! Wird sowieso Zeit für ein oder zwei Pints.«

»Das ist doch nur eine Entschuldigung dafür, dass du wieder durch die Kneipen ziehst!«, erklärte Mrs. Pride.

»Du könntest monatelang herumziehen, ohne ihn zu finden, Barney Crouch! Und bis dahin wirst du zu einem Alkoholikerwrack, schlimmer noch als jetzt!«

»Ich bin kein Alkoholiker, Doris Pride! Ich bin ein Mann, der hin und wieder einen Drink genießt. Ich kann einen ganzen Abend lang bei einem, nein, bei zwei Pint verbringen!«

»Nicht, wenn niemand auf dich aufpasst! Und du brauchst gar nicht erst zu denken, dass ich mit dir durch die Pubs ziehen werde!«, gab Mrs. Pride zurück.

»Dann mache ich es«, sagte Meredith.

»Vielleicht nicht jeden Abend, aber es würde mir nichts ausmachen, hin und wieder mit Ihnen in die Pubs zu gehen, Barney. Es wäre vielleicht gar nicht schlecht, wenn wir zu zweit sind. Wenn Sie ihn sehen, könnten Sie ihm folgen, während ich die Polizei rufe. Aber heute Abend komme ich noch nicht mit. Es ist ein wenig zu spät, um jetzt noch auszugehen.«

»So etwas habe ich ja noch nie gehört!«, rief Mrs. Pride und drückte Anne Hathaways Cottage an ihre Brust.

»Was würde der Chief Inspector nur dazu sagen, Meredith?«

»Oh, Alan muss es nicht erfahren«, sagte Meredith unbekümmert.

»Er ist viel zu sehr mit seinen Ermittlungen beschäftigt, um sich Gedanken darüber zu machen, was ich tue.«

Doch auch Meredith hatte andere Dinge zu tun. Die Küche war neu gestrichen, nur der walisische Schrank fehlte noch. Damit war ihre Renovierungsarbeit aber noch nicht erledigt. Am Samstagmorgen, nach dem Frühstück, schob sie Leiter, Eimer und Pinsel in den kleinen Flur und musterte die Wände düster, während sie sich wünschte, irgendetwas würde geschehen und verhindern, dass sie mit der neuen Arbeit anfing.

Ihre Apathie rührte aus der Tatsache, dass noch am vorangegangenen Wochenende Katie Conway da gewesen war und begeistert mitgeholfen hatte, die Küche zu streichen. Jetzt brachten ihr der Geruch der frischen Farbe und der Anblick der Leiter, Lappen, Eimer und Pinsel Katie so lebendig in Erinnerung, dass Meredith fast meinte, die kleine tapfere Gestalt in dem zu weiten Pullover vor sich zu sehen, mit der gelben Farbe auf der Nase und der Stirn.

Die Klingel ging. Meredith wandte den Kopf und sah durch das Milchglas hindurch eine große dunkle Gestalt.

»Hallo, Meredith«, sagte Vater Holland, als sie geöffnet hatte.

»Komme ich ungelegen?«

»Nein, nur herein mit Ihnen!« Sie bemerkte die Erleichterung in ihrer eigenen Stimme und spürte das Bedürfnis, sich Holland zu erklären.

»Ja, Katie …« Holland seufzte.

»Ehrlich gesagt, ich bin nicht gekommen, um Sie von Katie abzulenken, Meredith. Im Gegenteil, ich wollte mit Ihnen über sie reden. Ich wollte Sie um Hilfe bitten.« Sie gingen in Merediths winziges Wohnzimmer, wo Vater Holland auf das Sofa sank und es dabei mehr oder weniger ausfüllte. Er schlug die Hände auf die Knie und sagte:

»Diese Geschichte war ein schrecklicher Schock. Der Jugendclub leidet sehr darunter. Alle Eltern sind verängstigt und lassen ihre Kinder abends nicht mehr auf die Straße. Es sieht ganz danach aus, als würde ein Psychopath Bamford unsicher machen! Das heißt natürlich, falls es nur ein Mann ist …«

»Ich schätze, dem jungen Josh geht es überhaupt nicht gut.« Meredith erinnerte sich an Katies ernsten Freund.

»Überhaupt nicht, ja. Was die Sache noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass die Obduktion eine sehr unangenehme Erkenntnis zutage gefördert hat, wie mir zu Ohren gekommen ist. Eine Erkenntnis, die für die Familie schwer zu verdauen ist und mich doch sehr überrascht hat, wie ich gestehe. Es scheint, dass sie, äh … keine virgo intacta mehr war. Natürlich möchte die Familie nun wissen, wer …«

»Und sie glauben, Josh sei Katies Liebhaber gewesen? Nun, beide waren sehr jung. Sie mögen vielleicht etwas Dummes angestellt haben, aber das ist doch nicht das Ende der Welt!«, sagte Meredith entrüstet.

»Matthew Conway«, sagte Vater Holland,

»sieht das ein wenig anders! Aber ich bin eigentlich wegen Mrs. Conway gekommen. Verstehen Sie, die Kirche hat eine Selbsthilfegruppe, um Trauernden beizustehen. Wir haben eine kleine Zahl von Laien-Seelsorgern, die die Hinterbliebenen zu Hause besuchen. Es hilft den Menschen, haben wir festgestellt, wenn sie wissen, dass jemand da ist und sich um sie sorgt. Ein Trauerfall führt sehr häufig dazu, dass man sich sehr einsam fühlt, selbst inmitten der Freunde und Familie. Unser Problem ist, dass zwei Mitglieder der Gruppe mit Grippe im Bett liegen, zwei weitere in Urlaub sind und nur eine ältere Dame übrig ist …« Vater Holland blickte Meredith flehentlich an und sagte – vielleicht ein wenig missverständlich:

»Sehen Sie, ich brauche eine Frau.«

»Und Sie fragen mich?«, ächzte Meredith.

»Ich soll die Conways besuchen?«

»Besonders Mrs. Conway. Ich weiß selbst, dass Sie keine Laien-Seelsorgerin sind! Aber Sie waren doch früher mal Konsulin, im Ausland? Sie müssen sich doch auskennen mit Menschen in Not, Unfallopfern und dergleichen?«

»Ja«, stimmte sie widerwillig zu.

»Auch mit den Verwandten von Menschen, die während der Ferien gestorben sind. Aber ich denke nicht, dass mich das zur geeigneten Person macht, um Park House zu besuchen.«

»Ich denke, es macht Sie zu einer sehr geeigneten Person, Meredith. Sie besitzen berufliche Erfahrung, sie kannten Katie, und ich weiß, dass Sie ein mitfühlender Mensch sind.«

»Die meisten Leute halten mich für zu offenherzig. Ich kann manchmal ziemlich hart sein.«

»Das sind empfindsame Menschen häufig. Es ist ein Verteidigungsmechanismus«, entgegnete er glatt.

»Hören Sie, ich weiß ja selbst, dass es anmaßend von mir ist, Sie darum zu bitten. Es ist eine schwierige Aufgabe, und der mentale Zustand von Mrs. Conway macht die Sache nicht gerade einfacher.« Er öffnete die gefalteten Hände, als würde er etwas darin Gefangenes in die Freiheit entlassen.

»Sie hat den Verstand verloren!«, sagte er.

»Ich weiß von Katie, dass ihre Mutter krank ist … und andere Leute haben mir erzählt, dass es in ihrer Familie eine lange Reihe von … von Nervenleiden gegeben hat.«

»Sie ist eine arme, unglückliche Seele.« Vater Holland beugte sich vor und sah Meredith ernst an.

»Aber ich glaube, Sie würde Ihnen vertrauen. Sie braucht dringend Unterstützung. Sie braucht jemanden, mit dem sie reden kann – jemanden, der nicht zu ihrem Haushalt gehört!« Meredith biss sich auf die Lippe.

»Sie ist – sie war nicht die Einzige. Auch Katie hat jemanden zum Reden gebraucht. Sie kam zu mir, letzten Samstag. Sie hat mich gefragt, ob ich nicht mit ihren Eltern sprechen könnte. Ich habe mich geweigert. Und jetzt kommen Sie mit einer ähnlichen Bitte. Es ist, als … als wäre es mein Schicksal. Vielleicht hätte ich gehen sollen, als Katie mich darum gebeten hat. Ich denke heute, dass sie wahrscheinlich eine sehr hilflose und einsame junge Frau gewesen ist.«

»Ein Teil der Schwierigkeiten rührt sicher daher«, sagte Vater Holland,

»dass ihre Eltern in Katie keine junge Frau, sondern immer noch ein kleines Mädchen gesehen haben. Sie wäre immer ihr kleines Mädchen geblieben. Ich glaube, weder Matthew noch Adeline hätten jemals die Tatsache akzeptiert, dass ihre Tochter allmählich erwachsen wurde.«

Ein kalter Wind wehte um den Säulenvorbau von Park House, als Meredith dort eintraf. Er wirbelte Blätter und Zweige auf und wehte sie gegen die Pfeiler. Die Vorhänge der unteren Fenster waren ausnahmslos zugezogen, ein traditionelles Zeichen, dass in diesem Haus Trauer herrschte. Meredith war sehr angespannt, als sie schließlich an der Glockenschnur zog.

Eine stämmige, energisch dreinblickende Frau öffnete ihr. Meredith erklärte den Grund ihres Kommens. Die Frau musterte sie von oben bis unten.

»Kommen Sie doch herein. Ich bin Prue Wilcox, die Haushälterin. Vater Holland hat angerufen und Sie angekündigt. Es ist sehr nett von Ihnen, vorbeizuschauen.«

»Ich weiß nicht, ob ich eine Hilfe sein kann«, antwortete Meredith zweifelnd.

 

»Sie kennen … Sie kannten Katherine, nicht wahr?«

Der vollständige Name Katies ließ Meredith zögern.

»Oh, Katie. Ja, ich kannte sie, wenn auch nur flüchtig. Ich habe sie kennen gelernt, als ich im Jugendclub einen Vortrag hielt, und hinterher hat sie mich einmal zu Hause besucht.«

»Sie war ein wundervolles Kind.« Mrs. Wilcox warf einen Blick zur Treppe.

»Mrs. Conway ist oben; sie hat sich hingelegt. Sie müssen wissen, dass sie nervlich sehr angegriffen ist. Und wegen dieser Obduktion – eine Sache darf sie niemals erfahren!«

»Ja, ich verstehe. Vater Holland hat es mir bereits erklärt.«

Mrs. Wilcox zuckte müde die Schultern.

»Ich denke, es war dieser Junge, Josh Sanderson. Obwohl er alles abstreitet. Aber Katie war kein Flittchen! Es kann niemand außer Josh gewesen sein!«

»Auch ich habe in meiner Jugend Dinge getan, über die meine Eltern außer sich gewesen wären, hätten sie etwas davon geahnt …« Katies Stimme echote in Merediths Kopf. Das arme, verwirrte Ding! Es hatte verzweifelt versucht, sich Gehör zu verschaffen und erwachsen zu werden, obwohl seine Eltern entschlossen waren, weiterhin nur ein Kind in ihr zu sehen. Hatte Katie Sex als Lösung gesehen und sich hinterher geschämt zu beichten?

Meredith folgte Prue die breite Treppe hinauf. Prue klopfte an die Tür und öffnete sie.

»Sie haben Besuch, Adeline, Liebes. Er kommt von Vater Holland. Eine Mrs. Meredith Mitchell.« Sie wandte sich zu Meredith um und flüsterte:

»Gehen Sie nur rein. Es ist schon in Ordnung.«

Nach dem, was Prue erzählt hatte, nahm Meredith an, dass Adeline Conway im Bett lag. Doch sie stand vollständig bekleidet auf der anderen Seite des großen Zimmers und starrte aus dem Fenster. Auf dem Sims saß ein wahres Monster von Katze. Geistesabwesend streichelte Adeline mit langen, weißen Fingern über das schwarze, glänzende Fell. Die Katze beobachtete Meredith aus starren, smaragdgrünen Augen, ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln.

Mrs. Conway wandte den Kopf in Richtung Tür. Meredith war wie gebannt, als sie sah, wie ausgezehrt die Frau war und welch eine tragische Schönheit von ihrem gramzerfurchten Gesicht ausging. Es wurde von Augen dominiert, in denen noch immer das Entsetzen über die schlimme Nachricht stand.

»Meine Tochter hat von Ihnen gesprochen«, begrüßte sie Meredith. Ihre Stimme war klar und besaß ein hohes, kindliches Timbre.

»Sie haben in diesem Jugendclub einen Vortrag gehalten. Ich wollte nie, dass Katie dort hingeht!«

Es war kein ermutigender Anfang.

»Es tut mir so Leid für Sie. Der Verlust muss schrecklich sein«, sagte Meredith.

»Sie war so eine charmante, intelligente junge Frau.«

»Sie war eine Devaux!«, rief Adeline mit nervenzermürbender Schärfe, und die fette Katze legte die Ohren an.

»Sie war keine Conway. In ihr war überhaupt nichts von den Conways! Sie war meine Tochter, eine Devaux!«

Dieser Besuch stellte sich als zunehmend schwierigere Aufgabe heraus. Meredith blickte sich in Adelines Zimmer um, auf der Suche nach etwas, das die entstandene Stille überbrücken und ein wenig Spannung aus der Atmosphäre nehmen konnte. Auf einem Stuhl lag eine halbfertige Stickerei in einem Spannrahmen.

»Das ist sehr hübsch«, sagte sie.

»Ich wünschte, ich hätte ein wenig Geschick dafür. Aber ich habe zwei linke Hände, was die Arbeit mit Nadel und Faden betrifft.«