KAPITEL 1
»Heute musst du mit den Hunden gehen, Nevil!«, rief Mrs. James.
»Ich muss nach Chippy, Hundefutter und Katzenstreu kaufen!«Ihr Sohn blickte von dem mit Papieren übersäten Tisch auf. Er setzte die Brille ab und blinzelte seine Mutter aus blassen blauen Augen an, weil diese eine ganze Weile benötigten, um das, was sie sahen, scharf zu stellen.
Mrs. James wartete geduldig ab und dachte nicht zum ersten Mal, dass Nevil ohne seine Brille ein halbwegs gut aussehender Mann war. Wann immer diese Gedanken durch ihren Kopf gingen, empfand sie eine Mischung aus mütterlichem Stolz und wilder Befriedigung. Solange keine Frau Nevil am Haken ihrer Angel hatte, würde er bei ihr bleiben und ihr Hilfe und Unterstützung gewähren. Trotz einer tief sitzenden Geringschätzung des männlichen Geschlechts im Allgemeinen gestand Mrs. James bereitwillig ein, dass sie einen Mann zur Unterstützung in ihrem Alltag brauchte – selbst wenn es nur Nevil war.
»Ich habe mit den monatlichen Abrechnungen angefangen«, sagte Nevil.
»Kann denn nicht Gillian gehen?«
»Nein, auf gar keinen Fall! Sie muss sämtliche Katzenkäfige sauber machen! Du könntest ihr im Gegenteil ein wenig zur Hand gehen, sobald du mit den Hunden draußen warst. Schließlich haben wir im Augenblick nur vier. Du könntest die Bücher auch heute Abend machen.« Angesichts dieses Zeitplans, der seinen gesamten Tag umfasste, fühlte sich Nevil einmal mehr genötigt zu protestieren.
»Ich habe auch noch andere Dinge zu tun, wie du weißt!«
»Zum Beispiel?« Mrs. James zog sich eine ihrer ärmellosen, dick abgesteppten Westen an – oder genauer gesagt, die bessere ihrer beiden Westen –, weil sie in die Stadt fahren würde. Es war ihr einziger Versuch, sich ein wenig zurechtzumachen. Sie trug ein khakifarbenes Baumwollhemd über einer braunen Kordhose und schwere Schnürstiefel. Die Rundungen ihrer vollen, von keinem Büstenhalter gestützten Brüste unter dem Hemd waren der einzige Hinweis auf ihr Geschlecht. Ihr Haar, kurz geschnitten wie bei einem Mann, war stahlgrau und drahtig wie ein Pferdestriegel. Ihr Gesicht war wettergegerbt und von tiefen Linien durchzogen und bar jeden Make-ups. Sie war erst neunundvierzig Jahre alt, doch sie wirkte wie aus Teak geschnitzt, das eine Ewigkeit Regen und Wind ausgesetzt war, bevor es dauerhaft zu einem Bestandteil der Landschaft geworden war. Wie immer schürte Nevils Andeutung, dass er Interessen besitzen könnte, welche nicht unmittelbar den Zwinger und die Katzenpension betrafen, das nie verlöschende Feuer des Misstrauens und Unwillens in Mrs. James’ von Kämpfen zernarbtem Herzen.
»Ich habe Rachel versprochen, dass ich nach Malefis kommen würde. Sie möchte noch eine Stunde Schachunterricht, und es muss heute sein, weil sie und Alex morgen nach London zur Chelsea Flower Show fahren wollen.«
»Um Himmels willen!« Mrs. James’ gebräuntes Gesicht nahm einen dunklen, wenig attraktiven Rotton an.
»Kann sich diese nichtsnutzige Frau denn nicht einmal für einen einzigen Tag mit sich selbst beschäftigen?!«
»Sie ist nicht nichtsnutzig!«, widersprach Nevil und errötete ebenfalls, wenn auch nur leicht.
»Sie ist nur nicht so wie du, Ma.« Hastig fügte er hinzu:
»So tüchtig.« Seine Mutter blinzelte ihn an.
»Ich bin deswegen so tüchtig, weil ich es verdammt noch mal sein musste! Ich habe hart gearbeitet, Nevil, damit wir ein Dach über dem Kopf haben!«
»Ich weiß, Ma.« Er setzte seine Brille wieder auf und nahm den Stift zur Hand. Er klang gelangweilt. Aus keinem anderen Grund als dem, dass sie dieses Gespräch schon zu oft geführt hatten und er es nicht mehr hören konnte, wie sie wusste, doch sie konnte nicht anders. Sie spürte Zorn und eine dumpfe Wut in sich brennen, weil sie nicht verhindern konnte, dass Nevil eines Tages von ihr weggehen würde, genau wie es sein Vater getan hatte. Nevil war siebenundzwanzig Jahre alt und sah seinem Vater nicht nur äußerlich ähnlich.
»Verdammt!«, brach es heftig aus Mrs. James hervor. Nevil schrieb unbeeindruckt weiter. Er war an das häufig anlasslose Murren seiner Mutter gewöhnt.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Person genügend Verstand besitzt, um Schach zu spielen!« Offensichtlich wollte seine Mutter das leidige Thema nicht fallen lassen.
»Versuch es doch mal mit ›Mensch Ärgere Dich Nicht‹! Darin müsste sie eigentlich ganz gut sein.«
»Ehrlich gesagt ist sie auch im Schach ziemlich gut. Sie hat eine natürliche Begabung für das Spiel.« Mrs. James hatte ihre eigenen Vorstellungen davon, worin Rachel Constantines natürliche Begabungen lagen, doch sie verzichtete darauf, sie laut zu verkünden.
»Vergiss die Hunde nicht!« Sie brüllte fast.
»Sobald ich hiermit fertig bin, Ma.« Sie wandte sich schroff ab und stapfte nach draußen. Nevil wurde zunehmend starrköpfig – und rebellisch! Alles nur wegen dieses elenden Weibsstücks, dieses aufgedonnerten Stücks Meterware, das um Lynstone herumscharwenzelte, sich anzog wie ein Model und sich jeden Mann nahm, der ihren Weg kreuzte und nur die leisesten Annäherungsversuche machte.
»Wie eine läufige Hure!«, schimpfte Mrs. James und funkelte böse durch die Bäume hindurch zu einem fernen Schornstein. Möge Gott Malefis Abbey verrotten lassen, und ganz besonders Rachel Constantine! Nevil, der arme Tropf, besaß nicht genug Verstand, um zu erkennen, welches Spiel sie mit ihm spielte und dass er nur verlieren konnte, was im Übrigen das Schlimmste daran war! Eine Frau wie Rachel würde nicht ihre Ehe riskieren, indem sie ernsthaft eine Liebschaft einging, gewiss nicht mit jemandem wie Nevil, jemandem, der kein Geld hatte. Sobald ihr Mann die ersten Anzeichen von Nervosität zeigte, würde sie Nevil die Tür weisen. Und er würde die ganze Rechnung bezahlen. Vielleicht würde er Lynstone sogar verlassen und von hier weggehen, um zu vergessen oder sonst irgendeinen weinerlichen Unsinn anstellen.
»Verdammt!«, brüllte Mrs. James erneut die Bäume an.
»Was ist denn, Molly?«, antwortete eine Stimme. Ein großes, nicht besonders hübsches Mädchen in Jeans, Gummistiefeln und einem alten Pullover tauchte auf. In den Händen hielt sie einen Eimer und eine Bürste.
»Nichts!«, fauchte Mrs. James.
»Bist du bald fertig mit diesen Katzen?«
»Noch nicht ganz. Die rote hat mich wieder gekratzt. Wann kommt der Besitzer wieder?«
»Nächste Woche.« Mrs. James blickte Gillian mürrisch an, doch es war keine Antipathie. Das Mädchen arbeitete gut und bedeutete keine Gefahr, was Nevil anging. Männer würden sich niemals mit Gillian abgeben. In Mrs. James’ Augen war das in mehr als einer Hinsicht ein Vorteil. Gillian würde nicht ihre Sachen packen und verschwinden. Sie liebte Tiere und war Menschen gegenüber scheu. Und wenn das Mädchen es auch vielleicht nicht wusste, sie hatte eine Menge Glück, dass sie so ein unscheinbares Pflänzchen war. Weil Männer, wenn man einen von ihnen denn in sein Leben ließ, einen selbst und besagtes Leben völlig zugrunde richteten. Widerwillig sah sich Mrs. James – im Licht kürzlich gemachter Erfahrungen – gezwungen einzuräumen, dass Frauen bei Männern ebenfalls ziemlich gründliche Arbeit zu leisten vermochten. Tatsache war, dass jeder zwischenmenschliche Kontakt die Gefahr von Täuschung, Verrat und Herzschmerz mit sich brachte.
»Ich würde jeden halbwegs anständig ausgebildeten Jagdhund vorziehen«, murmelte Mrs. James vor sich hin, während sie in ihren japanischen Allrad-Wagen kletterte, der neben einem heruntergekommenen alten Escort parkte. Sie heizte den Fahrweg hinunter und bog mit quietschenden Reifen und in eine Staubwolke gehüllt in die Durchfahrtsstraße an dessen Ende ein. Ein Radfahrer radelte unvorsichtigerweise am Straßenrand entlang. Er begann unsicher zu schwanken, als Mrs. James heranraste, während er einen ängstlichen Blick über die Schulter warf.
»Los, aus dem Weg!«, brüllte Mrs. James und gestikulierte durch die Windschutzscheibe. Der Radfahrer entschied sich, auf Nummer sicher zu gehen, und sprang seitwärts von seinem Gefährt. Er rappelte sich eben wieder aus dem Straßengraben auf, als Mrs. James um die Ecke verschwand. Mrs. James raste weiter, die Hände um das Steuer geklammert, die Schultern nach vorn gezogen, das Gesicht wutverzerrt. Sie würde etwas wegen Nevil und Rachel Constantine unternehmen müssen. Falls nötig, würde sie Rachel auf drastische Weise aus dem Weg räumen. Sie war noch nicht sicher, wie sie es anstellen würde, doch ihr würde schon etwas einfallen. Die Gehilfin der Tierpension, Gillian Hardy, beendete ihre Arbeit und stellte Schaufel, Besen und Eimer mit einem Seufzer der Erleichterung weg. Anschließend ging sie zum Haus hinüber. Hinter ihr bellten die Hunde, denn es war die Zeit am Morgen, zu der üblicherweise irgendjemand sie ausführte. Auf der hinteren Veranda entledigte sich Gillian mit Hilfe eines hölzernen Stiefelknechts ihrer Arbeitsschuhe und betrat das Haus auf Socken. Die Küche war leer. Gillian tappte über den steingefliesten Boden in den Waschraum. Dort fanden sich die üblichen abgetrennten Toiletten und ein Waschbecken. Sie wusch ihre Hände gründlich und trocknete sie sorgfältig ab, während sie die Straßenkleidung betrachtete, die an einer Reihe von Haken hing. Ein Kleidungsstück, eine Damentweedjacke, die zwar alt, aber ein Markenartikel von ausgezeichneter Qualität war – die Sorte, die man auf dem Land auf Flohmärkten fand –, schien sie ganz besonders zu faszinieren. Sie schluckte laut, ihr Hals war trocken, nur zum Teil weil sie Tierstreu eingeatmet hatte, zum anderen Teil war es die Aufregung, die ihr Schauer über den Rücken jagte. Ihr Magen zog sich zu einer pulsierenden Masse irgendwo in ihrer Leibesmitte zusammen. Schließlich ging sie mit eckigen Bewegungen an der Jacke vorbei, als könnten die wollenen Arme plötzlich vorschnellen und nach ihr greifen. Zurück in der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine ein, legte zwei Biskuits auf einen Teller, nahm zwei Becher herunter und die Milch aus dem Kühlschrank. Die ganze Zeit über lauschte sie mit geneigtem Kopf – fast wie einer ihrer Hundeschützlinge – nach einem Geräusch aus dem angrenzenden Zimmer, wo sie Nevil über den Büchern wusste. Schließlich nahm sie den Teller mit den Biskuits sowie einen Becher Kaffee und ging damit ins andere Zimmer, wo er saß und konzentriert arbeitete.
»Danke«, murmelte er ohne aufzublicken, als sie ihm Teller und Becher hinstellte. Sie zögerte und wollte sich bereits abwenden, als er plötzlich fragte:
»Diese Frau, die sich nach einem Platz für ihren Corgi für die Dauer von zwei Wochen erkundigt hat – hat sie sich noch einmal gemeldet und die Reservierung bestätigt?«
»Ich glaube nicht. Molly hat jedenfalls nichts gesagt.«
»Die hat Nerven. Wahrscheinlich wird sie einfach hier auftauchen und erwarten, dass alles für ihren Hund vorbereitet ist. Besser, du machst einen Zwinger fertig, Gillian.«
»In Ordnung. Ich mache es gleich, bevor ich nach Hause fahre.«
»Nein, mach es morgen Früh. So eilig ist es auch wieder nicht.« Sein Tonfall sagte ihr, dass sie damit entlassen war. Sie kehrte in die Küche zurück und setzte sich mit ihrem eigenen Becher Kaffee an den Tisch, wo sie auch sich selbst ein Biskuit aus der Dose nahm. Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte nicht verhindern, dass ihr Blick immer wieder zur Tür des Waschraums glitt. Sie setzte sich der Tür gegenüber, tauchte ihren Biskuit ein und trank das inzwischen nur noch lauwarme Gebräu in großen Schlucken. Als sie in das andere Zimmer zurückkehrte, um nachzusehen, ob Nevil fertig war, arbeitete er noch immer. Er blickte nicht auf. Unbeholfen fragte sie:
»Du hast so viel zu tun, möchtest du, dass ich die Hunde ausführe, bevor ich gehe?« Er unterbrach seine Arbeit, und sie wurde mit einem Blick belohnt. Schon freundlicher sagte er:
»Schon gut, Gill. Ich gehe mit ihnen, sobald ich hier fertig bin.«
»Es macht mir nichts aus.« Eifer klang in ihren Worten.
»Ich weiß es zu schätzen, Gill. Aber du hast Feierabend. Das ist heute dein freier Nachmittag. Schade, dass du nicht schon mit Ma in die Stadt fahren konntest.« Sie wusch Tassen und Teller ab, und die Erregung, die sie bisher verspürt hatte, wich einem leichten Gefühl von Niedergeschlagenheit. Doch als sie in den Waschraum ging, um ihre Siebensachen zu holen, kehrte die Aufregung zurück. Jetzt würden sie und die Jacke wieder zusammenkommen, oder besser, das, was die Jacke enthielt … Sie schlüpfte eilig hinein, und das raue Gewebe kratzte an ihren Fingern. Dann bückte sie sich, um ihre normalen Schuhe anzuziehen, die ordentlich in einer Ecke standen.
»Ich gehe jetzt!«, rief sie. Nevil antwortete mit einem gerade noch vernehmbaren Grunzen. Trotz der wenig ermutigenden Reaktion fuhr sie fort:
»Auf Wiedersehen! Überarbeite dich nicht!« Sie ließ ihre Gummistiefel für den nächsten Tag hinten auf der Veranda stehen und fuhr in ihrem ältlichen Escort nach Hause. Wann immer sie den linken Arm bewegte, knisterte etwas in der Innentasche ihrer Jacke. Es war, als stünde die Tasche in Flammen, und ihre Nerven waren so überspannt, dass sche in Flammen, und ihre Nerven waren so überspannt, dass Bolide, wenn ihr Fuß das Gaspedal berührte.
Gillians Mutter erwartete die Tochter bereits im Mantel, die abgenutzte Lederhandtasche auf dem Tisch. In der Küche roch es nach Konserventomaten und Abwaschwasser.
»Oh, Gillian«, sagte Mrs. Hardy.
»Ich bin ja so froh, dass du heute nicht so spät bist. Du wirst doch den Nachmittag zu Hause bleiben, oder? Ich weiß, es ist dein freier Nachmittag, aber ich würde gerne Mrs. Freeman besuchen, und du weißt ja, dass ich Dad nicht gerne alleine lasse.«
Eigentlich hätte sie sagen müssen:
»Dad mag es nicht, allein gelassen zu werden«, doch obwohl die Haushaltsführung in jeder Hinsicht Mr. Hardys Bedürfnissen Rechnung trug, gab es eine Art Verschwörung zwischen Mutter und Tochter, um diese Tatsache zu verschleiern. Gillian und Mrs. Hardy trugen die Folgen jeder Entscheidung, wohingegen Mr. Hardy derjenige war, der die eigentlichen Entscheidungen traf.
»In Ordnung«, sagte Gillian.
»Vielleicht bringe ich den Garten in Ordnung.«
»Dad und ich haben uns eine Dose Suppe zum Mittagessen geteilt. Falls du etwas essen möchtest, im Kühlschrank ist Käse …«
»Ich hab in der Tierpension gegessen.« Was nicht der Wahrheit entsprach. Bis auf den Kaffee und das Biskuit hatte sie nichts zu sich genommen, doch das konnte Mrs. Hardy schließlich nicht ahnen.
»Ich hab Würstchen zum Tee«, sagte sie und nahm ihre Handtasche auf.
»Dad liest in seinem Buch aus der Leihbücherei. Das Bild trocknet wohl noch oder so, daher glaube ich nicht, dass er ins Atelier geht. Er sollte dir nicht zur … er sollte eigentlich alles haben, was er braucht.« Als Mrs. Hardy gegangen war, betrat Gillian das winzige Wohnzimmer mit der niedrigen Decke und den Eichenbalken. Ihr Vater saß in seinem Rollstuhl beim Fenster, von wo aus er die Straße übersehen und das Fox Pub gegenüber beobachten konnte. Er las in einem Thriller und starrte ungläubig auf die Seiten des Buches. Als seine Tochter eintrat, blickte er auf und kam ohne Begrüßung zur Sache.
»Die Bücherei in Chippy hat heute Abend lange auf. Nach dem Tee springst du ins Auto und fährst kurz vorbei, um meine Bücher umzutauschen. Das hier kenne ich schon. Sieh nur!« Er hielt es hoch.
»Dort ist meine Markierung, auf der Rückseite! Ich hab es deiner Mutter schon ein Dutzend Mal gesagt, achte auf meine Markierungen! Aber sie vergisst es immer wieder!«
»Gut. Ich gehe nur eben auf mein Zimmer und ziehe mich um.« Er war bereits wieder mit mürrischem Gesicht in sein Buch versunken und antwortete nicht. Gillian ging nach oben in ihr winziges Zimmer unterm Dach und zog ihre Arbeitskleidung aus. Sie schlüpfte in eine andere Jeans und einen sauberen Pullover, nahm die Tweedjacke und trat damit zu ihrem Bett. Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Tagesdecke, schob eine Hand in die Innentasche der Jacke und nahm einen zerknitterten Umschlag aus Manilapapier heraus. Es war kühl in dem kleinen Zimmer, das niemals geheizt wurde, doch Gillian schwitzte. Ihre Finger betasteten den Umschlag. Das flaue Gefühl in der Magengegend war zurückgekehrt und steigerte sich noch, als sie die beiden zerknitterten Fotografien herauszog, um sie anschließend vorsichtig flach auf der Patchwork-Tagesdecke glatt zu streichen. Es waren Schwarzweißfotos, relativ große Abzüge, dreizehn mal achtzehn. Das eine Foto zeigte Mrs. James mit einer Katze, das andere Mrs. James mit einem Hund. Der Hund hechelte munter, und die Katze, frisch gebürstet wie ein Fellball, sah mit einem Blick in die Kamera, der Bände sprach. Beide Fotografien waren im Vorjahr entstanden, für eine Broschüre über die Tierpension, um das Geschäft zu beleben. Die glänzenden Originale hatten seither offensichtlich eine raue Behandlung erfahren. Doch die eigentliche Beschädigung war nicht Folge gewöhnlichen Betrachtens. Auf beiden war das Gesicht von Mrs. James vorsätzlich und entschlossen mit einer Rasierklinge bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten. Das freche Grinsen des Hundes und der gebürstete Katzenkopf waren unberührt, was die Zerstörung des menschlichen Gesichts umso stärker hervorhob. Die Verstümmelung ließ ein System erkennen. Eine Linie war über die Augen gezogen, eine weitere entlang der Nase. Beide Ohren waren durch die Schnitte vom Kopf abgetrennt. Der Mund wurde von einem diagonalen Kreuz überzogen, das aussah wie ein Multiplikationszeichen, und die Kehle war durchschnitten. Gillian kaute auf ihrer Unterlippe, doch sonst blieb ihr Gesicht emotionslos. Das Magenflattern hatte aufgehört, nachdem die Fotos tatsächlich vor ihr lagen. Nach einer Weile schob sie die grässlichen Bilder zurück in den Umschlag, stand vom Bett auf und ging zu einem schmalen, eingebauten Schrank in der Ecke, der als Garderobe diente. Nichts an diesem alten Haus war gerade; es gab nicht einen einzigen rechten Winkel. Zwischen der Seite des Garderobenschranks und dem gewölbten Putz der Wand gab es einen Spalt, der breit genug war, um den Umschlag aufzunehmen. Gillian schob ihn gerade so weit hinein, dass nur noch eine winzige Ecke hervorsah, damit sie ihn später wieder würde herausziehen können. Doch Mrs. Hardy würde ihn, in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie Gillians Zimmer betrat, gewiss nicht bemerken. Mrs. Hardy war voll und ganz mit der Sorge um Mr. Hardy beschäftigt. Sie überließ es Gillian, Ordnung in ihrem Zimmer zu halten und es zu putzen sowie ihre Wäsche selbst zu waschen. Also waren die Fotografien einstweilen sicher, während Gillian in Ruhe darüber nachdenken konnte, was sie damit anfangen würde. Gillian war ein vorsichtiges Mädchen. Sie zog es vor, Dinge im Voraus zu planen.
KAPITEL 2
Wie es das Pech wollte, sah Meredith Mitchell sie zuerst. Hätte Alan Markby sie als Erster gesehen, hätte er alles unternommen, um ihr nicht zu begegnen, wie er später freimütig gestand. Sie wären nicht in die Geschichte hineingezogen worden. Sie hätten in den Zeitungen darüber gelesen und ihrem Entsetzen Ausdruck gegeben, und damit wäre alles erledigt gewesen. Das Schicksal hatte es jedoch anders gewollt. Es war schwierig genug, am vorletzten Tag im überfüllten Hauptzelt der Chelsea Flower Show irgendjemand Bestimmtes in der brodelnden Menge zu entdecken. Es war später Nachmittag, und die Müdigkeit forderte ihren Tribut. Es war sehr heiß, und obwohl alle weiterhin freundlich lächelten und die Begeisterung ungebrochen schien, begann die zuvor überall spürbare gute Laune merklich nachzulassen. Hobbygärtner sind im Allgemeinen friedfertige Naturen. Doch sie waren alle durch die zahlreichen Ausstellungszelte gestapft, hatten die Modellgärten besichtigt, die verschiedenen Stände besucht ebenso wie die Gartenmöbelausstellungen und die Verkaufsveranstaltungen, auf denen Gartenzubehör aller Art feilgeboten wurde. Sie hatten die Bücherstände inspiziert und die Buden, die getrocknete Kräuter aller Art anboten. Sie hatten unter den Bäumen im Gras gesessen und dem Spiel der Grenadier Guards gelauscht, während sie ihre Sandwichs gegessen hatten. Sie hatten sich an einem Getränkestand in eine lange Schlange eingereiht und warmes Pimms getrunken. So war es nicht verwunderlich, dass, als Meredith und Alan endlich bis zum großen Hauptzelt vorgedrungen waren, die Stimmung ringsum bereits spürbar Anspannung verriet. Hier drin, dachte Meredith düster, fühlt man sich ungefähr so, als sei man ein Teilnehmer der Schlacht von Waterloo. Viele der Besucher waren ältere Menschen, und von diesen waren nicht wenige behindert, was ihrer Entschlossenheit jedoch in keiner Weise Abbruch tat. Meredith war von allen Seiten angerempelt worden. Jeder Versuch, stehen zu bleiben und einen bestimmten Stand anzusehen, wurde von anderen erschwert, die das Gleiche vorhatten. Das galt natürlich nur für den Fall, dass sie überhaupt imstande war, sich einem Stand zu nähern. Die Zeltbesucher mit Gehstöcken waren die Schlimmsten. Sie benutzten diese als Bajonette. Trotz alledem musste sie zugeben, dass es eine wunderbare Ausstellung war, und obwohl eher Alan und nicht sie der Hobbygärtnerei zugetan war, bedauerte sie nicht, dass sie zugestimmt hatte, ihn zu dieser berühmtesten aller Blumenausstellungen zu begleiten. Nichtsdestotrotz würde sie heilfroh sein, wenn sie hier wieder draußen war.
»Ich möchte«, sagte Alan,
»ein Foto von diesen Rosen schießen.« Er kramte in seiner Kameratasche.
»Möchtest du, dass ich mit aufs Bild komme?« Was für eine dumme Frage.
»Nein. Nein, danke, ich möchte so viel von den Rosen im Bild wie möglich. Kannst du einen Schritt nach dort gehen, aus dem Weg?« Gehorsam trat Meredith zur Seite und wartete, während sie müßig die Menschenmassen beobachtete, die rings um sie herum wogten. Alan suchte nach dem richtigen Schusswinkel für sein Foto oder was auch immer. Sie schlenderte ein wenig weiter und betrachtete einen Stand, der sich auf Cottagegärten spezialisiert hatte. Der Stand war mit einer Silbermedaille ausgezeichnet worden. Die Ironie des Ganzen, sann Meredith, bestand darin, dass weder sie noch Alan einen richtigen Garten besaßen. Ihr eigenes kleines Reihenhäuschen in Bamford hatte einen winzigen gepflasterten Hinterhof, in dem eine Mülltonne und ein Kübel mit Fuchsien standen. Alans Patio und das Treibhaus hinter seiner viktorianischen Villa kamen einem Garten schon näher. Ihr selbst machte der Mangel nicht viel aus, doch Alan sehnte sich nach einem richtigen Garten. Obwohl er keine Zeit für dessen Pflege finden würde. Polizeiarbeit war eben zeitintensiv. Sie verschlang einen mit Haut und Haaren. Meredith seufzte. Dann fiel ihr Blick auf die Frau. Sie kam genau auf sie zu. Sie bewegte sich frei inmitten der Menge, und sie hielt ihren Begleiter an der Hand. Vielleicht war es das, was Merediths Aufmerksamkeit zuerst geweckt hatte. Ein Pärchen, keine Teenager oder jungen Leute mehr, das Händchen hielt. Sie und Alan hielten einander kaum jemals bei der Hand, niemals in der Öffentlichkeit und selten privat. Vielleicht war es tief empfundene Sehnsucht, diese erste Reaktion auf den Anblick, den das Pärchen ihr bot, aber das wies sie noch im selben Augenblick weit von sich. Denn dann war da noch die Mühelosigkeit, mit der sich das Paar durch die Menge bewegte. Die Menschen traten zur Seite und ließen sie vorbei, und obwohl es so viel anderes zu sehen gab, drehten sie die Köpfe nach den beiden. Die Frau wusste es. Sie erwartete es. Und doch ignorierte sie die Blicke der anderen und lächelte nur den Mann an ihrer Seite an, wenn sie nicht gerade wie ein überraschtes Kind auf irgendeine farbenprächtige Blume deutete. Irgendwie kam sie Meredith bekannt vor. Sie war mittelgroß und ungefähr in Merediths Alter, Anfang dreißig. Sie war jedoch um ein Beträchtliches besser gekleidet, frisiert und auch sonst mehr herausgeputzt als Meredith. Meredith hatte zum Besuch der Ausstellung praktische Kleidung gewählt, ein einfaches Kostüm und flache Schuhe. Ihr dichtes braunes Haar war zu einem Bubikopf geschnitten, und sie trug nur ein Minimum an Make-up. Sie war sehr groß, fast einen Meter achtzig, und verspürte von jeher eine Abneigung, sich wie einen Maibaum mit zu vielen bunten Bändern aufzudonnern, wie sie es nannte. Ihr natürlicher Impuls war, sich eher unauffällig zu geben. Nicht so die Frau, die sich nun näherte. Ihr Gesicht besaß jene alabasterne Schönheit, die nur durch sorgfältig aufgetragene Schichten teuren Make-ups auf einer regelmäßig von Kosmetikerinnen gepflegten Haut möglich wurde. Sie trug einen einfachen, doch teuren Rock mit einem Blumenmuster in blassem Pink und Grau und eine dazu passende ärmellose Jacke über einer nilgrünen Seidenbluse. Ihr Haar war lang, lockig und honigfarben und reichte bis zu den Schultern. Der Mann neben ihr war groß gewachsen, kräftig gebaut und besaß ein rötliches Gesicht; er wirkte ein wenig wie ein Levantiner. Sie sah aus wie eine kostspielige junge Frau, und er sah aus wie die Sorte Mann, die sich kostspielige junge Frauen leisten konnte. Das Paar passte tatsächlich sehr gut zusammen und wirkte glücklich. Und in diesem Augenblick erkannte Meredith sie. Irgendetwas in ihrem Gehirn machte Klick. Ein Bild stieg vor ihrem geistigen Auge auf, als würde es von einem Projektor auf eine Leinwand geworfen. Es war nicht das Bild einer eleganten, selbstsicheren Frau, sondern das eines sechzehnjährigen Schulmädchens in einem kurzen Korbball-Röckchen, dessen honigfarbenes Haar zu einem einzigen langen Zopf geflochten war. Das Gesicht rot vor Anstrengung, drückte das KorbballMädchen aus Merediths Erinnerung den Ball an seine Brust und suchte nach der nächsten, nach der größten Mitspielerin der eigenen Mannschaft.
»Merry!«, kreischte eine Stimme durch all die Jahre hindurch.
»Ray!«, rief Meredith jetzt.
»Ray Hunter!« Sie stürzte so impulsiv vor, dass sie fast mit einem anderen Ausstellungsbesucher zusammengestoßen wäre, einer Frau mit einem von jenen weichen Velours-Hüten, die in diesem Jahr so beliebt waren, mit rings um den Kopf herabhängender Krempe über dem langen, lockigen braunen Haar. Sie riss erschrocken das Ausstellungsprogramm hoch, als sie vor Meredith zur Seite wich. Meredith stieß ein hastiges Wort der Entschuldigung aus. Die schicke Blondine starrte nun ihrerseits Meredith an, und bemerkte in ihren Augen plötzliches Wiedererkennen.
»Das glaube ich nicht! Es ist Merry! Meredith Mitchell!« Sie strahlten sich an.
»Meine Güte, Ray!«, rief Meredith.
»Du siehst wirklich gut aus!« Es war die reine Untertreibung. Die Blondine deutete auf den Mann an ihrer Seite.
»Ich heiße jetzt nicht mehr Hunter. Ich heiße Constantine. Das ist mein Mann Alex.« Der Mann neben ihr trat vor und lächelte. Sein Mund und seine Nase waren wohl geformt, wenn auch fleischig, das Kinn jedoch begann füllig zu werden, verlor seine Linie. Sein Haar war wahrscheinlich früher einmal pechschwarz gewesen, und obwohl es inzwischen eisgrau schimmerte, war es noch immer dicht und lockig. Er musste ein sehr attraktiver Mann gewesen sein, war es immer noch. Meredith und er schüttelten sich die Hände.
»Ihre Frau und ich waren zusammen in der Schule. Vor langer Zeit!«
»So lange ist es nun auch wieder nicht her!«, beeilte sich Mrs. Constantine zu widersprechen.
»Das ist wirklich nett«, sagte Alex.
»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, äh – Meredith? Darf ich Meredith zu Ihnen sagen?«
»Ja, selbstverständlich!« Er gehörte offensichtlich zur höflichen Sorte. Zu einer, wie Meredith sinnierte, aussterbenden Gattung. Die Frau mit dem Velourshut schob sich mit einem Seitenblick an ihnen vorbei. Sie hielt den Ausstellungskatalog auf Armeslänge von sich, wie um jede weitere unerwartete Bewegung von Merediths Seite abzuwehren. Meredith lächelte ihr ein weiteres Mal entschuldigend zu und bemerkte in flüchtiger Belustigung, dass die Frau zwar gut gekleidet, ihre Hand dennoch rau war und die karminrot lackierten Nägel auf praktische Länge gekürzt hatte. Sich richtig herauszuputzen konnte für wirkliche Gartenliebhaber, die ihre Tage damit verbrachten, widerspenstige Unkräuter aus den sorgsam gepflegten Blumenbeeten zu rupfen, zu einem echten Problem werden.
»Bist du alleine hier?«, fragte Ray Constantine in diesem Augenblick. Ihr ganzes Erscheinungsbild und die glatte Haut ihrer Hände mit den polierten ovalen Nägeln bewiesen eindeutig, dass sie niemals eine Pflanzkelle in die Hand nahm. Ihr Gärtnerhobby, falls es überhaupt eines war, beschränkte sich gewiss darauf, Aufsicht über das Personal zu führen.
»Nein. Mein Freund macht gerade ein Bild von den Rosen. Wartet, ich gehe und hole ihn. Bleibt hier, ja?« Meredith ging Markby suchen, der gerade seine Kamera wieder in der Fototasche verstaute.
»Alan! Stell dir nur vor: Ich bin gerade in eine ehemalige Schulfreundin gelaufen, mit ihrem Ehemann! Nun ja«, sie runzelte die Stirn,
»sie war nicht gerade eine Busenfreundin, aber wir waren Klassenkameradinnen in Winstone House und haben in der gleichen Korbball-Mannschaft gespielt!« Sie packte ihn am Arm.
»Ich dachte, du wärst in eine Klosterschule gegangen?«, protestierte er verblüfft, während sie ihn mit sich zog.
»Hast du gesagt Winstone House? Ich wusste gar nicht, dass du dort Schülerin gewesen bist. Das ist die gleiche …« Sie unterbrach ihn ungeduldig.
»Ich war auf der Klosterschule, bis ich mit vierzehn sehr religiös wurde und mein Vater anfing, sich Sorgen zu machen, ich könnte dem Orden beitreten! Er hat mich für die beiden letzten Schuljahre nach Winstone House geschickt. Komm mit, Alan, du musst sie unbedingt kennen lernen. Sie nennt sich heute Ray Constantine, aber sie ist eine geborene Ray Hunter!«
»Was?«, fragte Markby, plötzlich drängend.
»Wie heißt sie? Hunter? Warte mal, Meredith, einen Augenblick …« Meredith ignorierte seine wirr hervorgestoßenen Proteste, sie kamen sowieso zu spät. Sie standen bereits vor dem anderen Paar.
»Das ist Alan Markby!«, verkündete Meredith.
»Erfreut, Markby.« Alex Constantine streckte Markby die Hand entgegen. Doch Markby und Mrs. Constantine starrten sich an, Alan mit hochrotem Gesicht und die Dame offensichtlich amüsiert.
»Hallo Alan«, sagte sie.
»Hallo Rachel«, sagte Markby.
»Darling«, wandte sich Mrs. Constantine an ihren Mann,
»was für ein Zufall! Darf ich dir Alan vorstellen, meinen Ex?«
»Das ist Rachel«, sagte Markby verärgert zu Meredith.
»Meine frühere Frau.«
»Ich bin dennoch sehr erfreut, Sie kennen zu lernen«, sagte Constantine glatt. Nichts an ihm deutete auf einen Mann hin, der leicht aus der Fassung zu bringen gewesen wäre, auch jetzt nicht. Das Auftauchen des ersten Mannes seiner Ehefrau war nichts weiter als eine jener zufälligen Begegnungen, wie man sie auf jeder Cocktailparty erleben konnte.
»Wie lustig!«, sagte Rachel, und ihre grünen Augen funkelten maliziös.
»Du bist jetzt mit Merry zusammen!« Sie hob eine sorgsam nachgezogene Augenbraue.
»In gewisser Weise«, erwiderte Markby.
»Und wie gefällt dir die Ausstellung? Ich wusste gar nicht, dass du unter die Hobbygärtner gegangen bist, Rachel.«
»Sei nicht albern, Alan. Ich bin nicht unter die Gärtner gegangen. Aber wir haben da einen großen Park in Malefis Abbey, und wir sind hergekommen, um nach neuen geeigneten Pflanzen Ausschau zu halten. Martin kümmert sich um die Gartenanlagen. Wir haben ihn heute mit hergebracht. Er ist gleichzeitig unser Chauffeur und Gärtner, er muss irgendwo hier in der Nähe sein. Wir haben ihm gesagt, er soll die richtigen Pflanzen aussuchen und uns Bescheid geben. Ich habe ihn gebeten, alle Namen aufzuschreiben, weil Alex und ich eine Blume nicht von der anderen unterscheiden können, und wir wissen nichts über den erforderlichen Boden und den Säuregehalt und all diese Dinge. Oder, Darling?« Sie drückte seinen Arm und fügte unbekümmert hinzu:
»Außerdem kommt doch einfach jeder zur Chelsea Flower Show, nicht wahr?«
Sie hatte das Wort
»jeder« leicht betont, und Markby grinste schief. Die unerträgliche Peinlichkeit der Situation blieb Meredith nicht verborgen. Doch wie Constantine wusste auch sie, dass sie nichts anderes tun konnte, als unbekümmert weiterzumachen, als wäre es die normalste Sache der Welt. Sie zügelte ihre Überraschung und fragte Rachel:
»Ihr seid mit dem Wagen gekommen? Wir sind mit dem Zug hier. Wo um alles in der Welt habt ihr geparkt?«
»Oh, eine Freundin von uns wohnt ganz in der Nähe, aber sie ist nicht da, und wir konnten ihren Parkplatz benutzen. Sehr praktisch. Bist du immer noch bei der Polizei, Alan?« Ihre Zungenspitze berührte die vollen Lippen.
»Noch immer, ja.« Constantine blickte Markby interessiert an.
»Tatsächlich? Und wo genau?«
»CID. Kriminalpolizei.« Markby klang so hölzern wie ein Constable auf einer Theaterbühne.
»Räuber und Gendarm«, sagte Rachel mit leisem kehligen Kichern.
»Das hast du schon immer geliebt, Alan. Wie steht es mit dir, Merry?«
»Ich bin beim Foreign Office, aber ich arbeite inzwischen in London. Ich pendle jeden Tag von Bamford zur Arbeit.« Ziemlich verspätet begann sich Meredith zu erinnern, wie sehr sie sich immer über Rachel geärgert hatte. Sie verfluchte die impulsive Art, mit der sie Alan herbeigeschleppt hatte, um ihn den Constantines vorzustellen. Es war schließlich nicht so, dass sie und Rachel sich jemals besonders nahe gestanden hätten. Die einzige Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, war beim Korbball-Training und bei den Spielen gewesen. Ansonsten hatten sie beide sehr verschiedene Freundeskreise und Interessen gehabt. Es hätte durchaus gereicht, einen kurzen, überraschten Gruß auszutauschen und weiterzugehen.
»Bamford? Gott im Himmel, bist du immer noch dort, Alan? Ich hätte gedacht, dass du längst aus Bamford weggekommen wärst! Dann waren wir ja wohl all die Jahre gar nicht so weit voneinander entfernt. Malefis Abbey liegt ganz in der Nähe von Chipping Norton, bei einer Ortschaft namens Lynstone. Höchstens eine Stunde Fahrt von Bamford entfernt, wenn überhaupt.«
»Das ruft jedenfalls nach einem Drink«, verkündete Constantine.
»Ich schlage die Champagner-Bar vor. Es wäre schön, denke ich, diesem Gedränge zu entkommen.« Das nennt man wohl Kaltblütigkeit bis an die Grenzen des Erträglichen!, dachte Meredith. Selbst Rachel wirkte überrascht und starrte ihren Ehemann an. Constantine antwortete mit einem leicht besorgten Lächeln und hob um Billigung heischend die Augenbrauen.
»Ja, sicher. Warum eigentlich nicht? Genau genommen eine ausgezeichnete Idee!«, rief Rachel strahlend.
»Aber zuerst musst du bitte ein Foto von Merry und mir machen, Alan. Wieder vereint nach so vielen Jahren! Keine Männer, nur wir beiden Mädchen vor den Blumen!« Sie bewegte sich mühelos zur angegebenen Stelle.
»Komm schon, Merry!«, befahl sie.
»Hierher, stell dich neben mich!« Das war die alte Mannschaftsführerin aus Korbballzeiten, die da sprach. Meredith erinnerte sich, dass Ray Hunter schon immer diejenige gewesen war, die das Kommando geführt hatte. Alle sprangen, um ihren Befehlen Folge zu leisten, ohne das leiseste Murren, auch wenn Alan, wie Meredith bemerkte, allmählich gequält dreinblickte. Meredith trat zu Rachel vor das Blumenbeet und wünschte, sie hätte sich etwas Schickeres angezogen. Constantine ging gehorsam beiseite und aus dem Bild.
»Seid ihr fertig?« Unwillig nahm Markby die Kamera von der Schulter und vor das Gesicht.
»Sagt Cheese oder was auch immer.« Meredith ließ sich nicht gerne fotografieren. Mit Rachel neben sich fühlte sie sich noch weniger wohl dabei. Denn Rachel war zweifelsohne ein Naturtalent vor der Kamera. Es gelang ihr, sich attraktiv in Pose zu setzen, während sie strahlend in die Kamera lächelte. Die Menge wogte rings um sie her, rempelte Markby an und machte es schwer für ihn, die Kamera ruhig zu halten. Meredith verzog den Mund zu einem angespannten Grinsen und murmelte leise:
»Beeil dich bitte, Alan. Mach schon!« Die Kamera klickte. Die Menge schob sich vor und nahm diejenigen mit, die wartend dagestanden hatten, um Markby ungestört fotografieren zu lassen. Leiber, dicht gedrängt, schlossen sie ein. Unvermittelt schnappte Constantine hörbar nach Luft und stieß einen überraschten und, wie es schien, schmerzerfüllten Laut aus. Meredith hörte es und sah zu Constantine hinüber. Er stand ganz allein in der Menge, die rechts und links an ihm vorbeiwogte, und runzelte die Stirn, als sei er verwirrt oder ärgerlich.
»Gut«, sagte Markby.
»Oder jedenfalls glaube ich, dass es ganz gut geworden ist. Vielleicht hab ich eure Füße abgeschnitten.« Seine Fotomotive bewegten sich bereits vom Blumenbeet weg.
»Rachel«, flüsterte Meredith,
»ist alles in Ordnung mit Alex?« Rachel starrte sie an, dann schwang sie auf dem Absatz herum.
»Alex?« Ihre Stimme klang plötzlich schrill. Constantine blickte sie an und machte eine entschuldigende Geste.
»Ich glaube, irgendetwas hat mich gestochen. Irgendein Insekt, das wahrscheinlich mit den Blumen hereingekommen ist. Es war wirklich sehr schmerzhaft …« Er verrenkte den Arm und betastete mühselig seinen Rücken.
»Vielleicht irgendetwas von den tropischen Pflanzen?«, fragte Meredith.
»Diese Pflanzen müssten eigentlich insektenfrei sein!«, sagte Rachel ärgerlich.
»Wir gehen nach draußen, Alex. Die Luft ist besser dort.« Zu Meredith und Alan gewandt sagte sie leise:
»Alex hatte im letzten Jahr eine Herzattacke, und wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn er einen plötzlichen Schmerzanfall erleidet. Es ist ziemlich heiß hier drin, und es war ein anstrengender Tag. Wir sind sehr früh in Lynstone losgefahren. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns auf den schnellsten Weg nach Hause machen.«
»Irgendwo muss es ein Erste-Hilfe-Zelt geben«, sagte Markby und musterte Constantine besorgt.
»Ich möchte wirklich niemanden unnötig beunruhigen, aber manche Insektenstiche können recht üble Folgen haben. Ich denke, wir lassen den Champagner aus.« Es war nicht zu übersehen, dass er erleichtert über die unverhoffte Ausrede war, nichtsdestotrotz war der Blick, mit dem er Alex Constantine bedachte, höchst besorgt.
»Das Zelt liegt drüben an der Western Avenue«, sagte Meredith.
»Ich habe es gesehen, als wir aus dem Zelt mit den Blumenarrangements gekommen sind.« Doch Constantine, der sich so lange verdreht hatte, bis er endlich die Mitte seines Rückens erreichte, richtete sich nun wieder auf und lachte leise. Er streckte die Hand aus. Auf der Handfläche lag ein kleiner, nadelspitzer Dorn.
»Es war dieses Ding hier! Irgendein Kaktusstachel, glaube ich. Ich muss am Stand entlanggestreift sein und ihn abgebrochen haben. Der Aussteller wird sicherlich ziemlich wütend auf mich sein. Ich muss ihn die ganze Zeit in der Jacke gehabt haben, und als das Gedränge eben so heftig geworden ist, bin ich von irgendjemandem angestoßen worden. Dabei ist der Stachel durch meine Kleidung gegangen.«
»Lassen Sie mich doch einen Blick darauf werfen.« Markby streckte die Hand nach dem Stachel aus.
»Ich erinnere mich überhaupt nicht, dass wir Pflanzen mit derartigen Stacheln gesehen haben …« Rachel betrachtete den Kaktusstachel misstrauisch.
»Ich glaube immer noch, es wäre besser, wenn wir sofort nach Hause führen. Dieses Erste-Hilfe-Zelt würde nur unnötig Zeit kosten, und ich glaube nicht, dass sie überhaupt helfen könnten! Es war ein schrecklich ermüdender Tag für den armen Alex. Komm, wir gehen zum Wagen, Liebling.« Sie nahm ungeduldig den Arm ihres Mannes.
»Das Auto steht von hier aus wirklich nur um die Ecke. Ich denke, du setzt dich hinein und wartest auf mich, während ich nach Martin suche. Er kann uns nach Malefis fahren. Gleich morgen Früh rufen wir Dr. Staunton an und bitten ihn, dich zu untersuchen. Du sagst sicher, ich mache unnötig Aufhebens von der Sache, aber ich bin sicher, es ist besser so.«
»Ah, jetzt habe ich ihn doch tatsächlich fallen lassen!«, entschuldigte sich Constantine bei Markby.
»Na ja, macht nichts. Er ist sicherlich nicht so wichtig.«
»Wir standen auch gerade im Begriff zu gehen«, sagte Markby.
»Nicht wahr, Meredith? Wir können Sie zu Ihrem Wagen begleiten.«
»Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir fahren, wie meine Frau gesagt hat.« Constantine warf seiner Gemahlin einen ironischen Blick zu.
»Ich möchte Sie von nichts abhalten.«
»Gütiger Gott, das tun Sie nicht! Wir alle haben genug von diesem Gedränge!« Markby zückte sein Taschentuch und wischte sich über das Gesicht.
»Es ist viel zu warm für meinen Geschmack.« Langsam arbeiteten sie sich aus dem Zelt ins Freie und von dort zum Ausgang an der Royal Hospital Road. Nach einer Weile erreichten sie eine Gasse, die von dunkelroten Ziegelsteinhäusern gesäumt war. Unterwegs zeigte Constantine die ersten Anzeichen von Unsicherheit. Sein Atem ging mühsam. Obwohl Rachel sich offensichtlich um ihren Mann sorgte, konnte Meredith bemerken, wie unangenehm, ja lästig Rachel Alex’ Unpässlichkeit gleichzeitig war. So hatte sie das Ende des Tages wohl kaum geplant, und was auch immer sie vorgehabt hatte, dies schien es ihr gründlich zu verderben. Der Wagen war ein langweiliger, goldfarbener Mercedes. Die Constantines mochten auf ihre Weise ein prächtiges Paar abgeben und perfekt in dieses Automobil passen, doch Meredith dachte, dass weder sie noch Alan in einem solchen Wagen aussehen würden, als seien sie am rechten Platz, nicht in tausend Jahren. Sie halfen Alex Constantine auf den Rücksitz.
»Wir werden mit Ihnen warten«, erbot sich Meredith besorgt. Er schwitzte nun, vielleicht wegen der Hitze oder der Anstrengung des kurzen Marsches vom Ausstellungsgelände zum Wagen. Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche und betupfte sich damit Stirn und Mund.
»Nein, bitte keine unnötigen Umstände …«
»Rachel!«, flüsterte Meredith drängend,
»kannst du nicht loslaufen und nach eurem Fahrer suchen? Wir warten hier auf euch.«
»Vielleicht sollte ich lieber bei ihm bleiben?«, widersprach Rachel und gestikulierte aufgeregt.
»Er mag mich in seiner Nähe, wenn es ihm nicht gut geht.« Constantine erhob die Stimme.
»Es ist bestimmt nichts Ernstes!« In seinen Worten schwang ein verwirrter Unterton mit. Ein oder zwei vorübereilende Passanten starrten die kleine Gruppe neugierig an. Meredith wandte sich an Rachel.
»Versuch diesen Fahrer zu finden! Wahrscheinlich wird es gar nicht so einfach, wieder auf das Gelände zu kommen!«
»Sie werden mich hineinlassen müssen!« Rachel biss sich auf die Unterlippe. Trotz ihrer selbstbewussten Entgegnung, dass die Drehkreuze für sie eine Ausnahme machen würden, hatten ihre Haltung und ihre Selbstsicherheit herben Schaden genommen. Sie drehte sich um und rannte fast über den Gehweg davon.
»Ich frage mich, ob wir ihm nicht ein Glas Wasser besorgen könnten?«, murmelte Markby und trat von der Wagentür zurück.
»Allein lassen können wir ihn unter gar keinen Umständen. Er gefällt mir überhaupt nicht! Verdammte Rachel, wir hätten gleich zum Erste-Hilfe-Zelt gehen sollen! Dort hätte man zumindest einen Krankenwagen rufen können. Aber, schau, Constantine hat ein Autotelefon in seinem Wagen. Vielleicht sollten wir es benutzen, um damit Hilfe herbeizurufen.«
»Er sieht sehr blass aus.« Meredith blickte zum nächsten Haus.
»Ich gehe klingeln und bitte um ein Glas Wasser.« Sie eilte die Stufen zur Tür hinauf. Eine junge Frau von exotischem und gelangweiltem Aussehen öffnete. Sie besaß einen schweren Akzent und war wahrscheinlich ein Aupairmädchen.
»Madame ist nischt zu ’ause«, säuselte sie nach einem abschätzigen Blick auf Merediths zweckmäßige Kleidung.
»Ich möchte gar nicht zu, äh, Madame. Wir haben hier draußen einen Gentleman, der, hmmm, krank ist. Er fühlt sich überhaupt nicht wohl …« Meredith deutete auf den Mercedes und die zusammengesunkene Gestalt Constantines darin.
»Verstehen Sie, was ich sage?« Das Aupairmädchen spähte an Meredith vorbei. Offensichtlich erweckte der goldene Mercedes den richtigen Eindruck. Ihr ursprünglich misstrauischer Ausdruck verschwand, und sie wurde entschieden munter.
»Sie wollen Telefon?« Sie vollführte Wählbewegungen mit dem Zeigefinger. Meredith zögerte.
»Eigentlich ein Glas Wasser.«
»Ah, isch bringen … Sie warten.« Die Tür wurde geschlossen. Meredith stieg die Stufen hinab und kehrte zu Markby zurück.
»Wie geht es ihm?«
»Er scheint einzunicken.« Constantine saß zusammengesunken in der einen Ecke des Rücksitzes und hatte die Augen geschlossen. Markby öffnete die Tür und beugte sich hinein, um Constantine zu untersuchen. Als er wieder auftauchte, murmelte er:
»Sein Atem geht regelmäßig. Ich werde einen Krankenwagen rufen. Ich glaube nicht, dass er es bis zu dieser Abbey schafft.« Die Tür des Hauses wurde erneut geöffnet, und das Aupairmädchen kam vorsichtig mit einem Glas Wasser auf einem silbernen Tablett die Treppe hinab.
»Bitte sehr, Madame.« Sie reichte Meredith das Glas und warf einen neugierigen Blick ins Wageninnere.
»Schläft Monsieur?«
»Ich weiß es nicht.« Markby beugte sich erneut über Constantine und zerrte an seinem Ärmel.
»Ein Glas Wasser! Constantine, können Sie mich hören?« Er griff nach dem Handgelenk des Mannes, schob den Ärmel hoch und tastete nach dem Puls. Unvermittelt öffnete Constantine die Augen. Er hatte offensichtlich Mühe, den Blick auf die drei besorgten Gesichter zu fokussieren, die zu ihm hereinstarrten.
»W-wo ist sie?« Er hatte Mühe, die Worte zu formulieren, und lallte schlimm.
»Rachel ist losgelaufen, um Ihren Chauffeur zu suchen!«, antwortete Markby laut und deutlich.
»Keine Sorge, sie ist sicher bald wieder da.« Constantine hob eine zitternde Hand und betastete damit sein Gesicht. Sein Unterkiefer hing schlaff herab, als hätte er eine Maulsperre. Er winkte Markby mühsam zu sich, und Alan beugte sich vor, um Constantine besser zu verstehen. Alex Constantine riss sich mühsam zusammen, um seiner fast unhörbaren Stimme Festigkeit zu verleihen und die steifen Lippen dazu zu bewegen, Worte zu formulieren.
»Sie haben gesagt, Markby – Sie haben gesagt, Sie wären bei der Polizei?«
»Ja. Aber versuchen Sie jetzt nicht zu sprechen, alter Freund. Entspannen Sie sich!«, drängte ihn Markby. Constantines Kopf rollte mühsam von einer Seite zur anderen, und er schwitzte heftig.
»Nein, nein!« Speichel rann aus seinem Mundwinkel.
»H-hören Sie! Mei-mein Name …« Als wäre ihm in diesem Augenblick bewusst geworden, dass er den Satz nicht würde beenden können, fuhr er fort:
»Fragen Sie sie!« Constantines Gesicht verwandelte sich in eine entsetzliche Fratze. Er riss den Mund weit auf, und sein Unterkiefer sank herab wie bei einer Bauchrednerpuppe. Aus den Tiefen seiner Kehle drang ein grässliches Gurgeln, und seine Augen quollen aus den Höhlen. Er hob beide Hände, die Finger weit gespreizt, und streckte sie auf die offene Tür zu. Das Aupairmädchen kreischte. Das silberne Tablett fiel scheppernd zu Boden, das Glas zersprang, Wasser und Scherben spritzten über den Gehweg, und das zerbeulte Tablett rollte davon, um im Rinnstein zu landen. Constantine klappte nach vorn, und sein Kopf fiel auf die Rücklehne des Fahrersitzes.
»Hat er einen Herzanfall?«, ächzte Meredith. Markby packte die zusammengesunkene Gestalt und schob Constantine sanft in eine aufrechte Position und gegen die Rückenlehne. Die hervorquellenden Augen waren noch immer weit aufgerissen, der Mund stand offen. Markby tastete nach Constantines Halsschlagader und fummelte dann hastig am Ärmel des Zusammengebrochenen, um den Puls am Handgelenk zu kontrollieren. Einen Augenblick später ließ er Constantines Arm fallen.
»Hilf mir, ihn aus dem Wagen zu schaffen! Wenn wir ihn auf das Pflaster legen, kann ich versuchen, sein Herz wieder in Gang zu bringen!« Constantine war ein großer Mann, und selbst mit der unwilligen Hilfe des Aupairmädchens benötigten sie ein paar Minuten, bis sie ihn aus dem Wagen hatten. Vergeblich. Alle Wiederbelebungsversuche halfen nichts. Als der von Meredith über das Autotelefon herbeigerufene Notarztwagen mit laut schrillendem Martinshorn am Ort des Geschehens eintraf, richtete sich Markby resigniert auf. Mit grimmigem Gesicht und tonloser Stimme sagte er:
»Er ist tot.«
KAPITEL 3
»Ich kann das alles immer noch gar nicht richtig fassen!«, sagte Meredith. Ruckelnd verließ der Zug langsam Paddington Station. Nur mit viel Glück hatten sie ihn überhaupt noch erwischt, den letzten Zug des Tages, und das nur durch einen eiligen Sprint zwischen den Gerüsten hindurch, die Paddington Station zurzeit in einen waschechten Hindernisparcours verwandelten. Mit ihnen im Abteil saßen nur wenige spät heimkehrende Theaterbesucher, die sich in einer Ecke am anderen Ende zusammendrängten und in gedämpftem Tonfall über die Vorstellung sprachen. Die Stadt lag dunkel, übersät mit gewundenen Avenuen aus Straßenlaternen. Fenster, die dem Betrachter unerwarteterweise nicht durch Gardinen den Einblick in häusliche Umgebungen verwehrten, lockerten die massiven Fassaden von Apartmentblocks auf. Die kurzen Ausblicke auf den banalen Alltag – ein fürs Dinner gedeckter Tisch, ein flackernder Fernsehschirm – erschienen Meredith als entnervende Metapher für das Leben selbst. Heute noch da, morgen bereits vergangen. Mitzuerleben, wie jemand ohne Vorwarnung auf offener Straße oder – wie in Alex’ Fall – auf dem Rücksitz seines eigenen leistungsstarken, kostspieligen Wagens starb, erweckte, so empfand sie es jetzt, einen ganz neuen Sinn für Demut. Es schien irgendwie nicht richtig, als hätte der Tod nicht fair gespielt. Wie konnte ein Mann wie Alex, in angesehener gesellschaftlicher Stellung und vermögend, fast in einem einzigen Augenblick aus dieser Welt verschwinden? Warum hatte er keine Chance gehabt? Welches Spiel spielte das Schicksal da? Oder war die Wirklichkeit noch viel Furcht einflößender als die Vorstellung von einem böswilligen Schicksal? Sind wir nichts weiter als bedauernswerte Figürchen aus Staub und Asche, die im Schicksalsrad herumgewirbelt werden wie die Kugel im Roulette, um dort zu enden, wo das Glück uns fallen lässt? Meredith lehnte sich zurück und schloss die Augen. Es war ein langer Tag gewesen.
Rachel war mit dem Chauffeur, Martin, im Schlepp zurückgekehrt, gerade als die Bahre mit dem Leichnam ihres Mannes in den Krankenwagen geladen wurde.
Verständlicherweise hatte sie die Selbstbeherrschung verloren und war völlig in Hysterie verfallen. Gestützt auf Merediths Arm, war sie schon bald von einer kleinen Menge besorgter Passanten umringt. Das Aupairmädchen, das die gesamte Tonleiter mediterraner Gestik hinauf- und hinuntergeschluchzt und -gejammert hatte, erkannte nun, dass sich niemand für sie interessierte. Schmollend sammelte sie das verbeulte Silbertablett und die Glasscherben auf und zog sich ins Haus zurück. Von Zeit zu Zeit bewegte sich hinter den Scheiben ein perlenverzierter Vorhang und verriet, dass die Observation auf diskrete Weise fortgesetzt wurde. Ohne jeden Zweifel würde
»Madame« bei ihrer Rückkehr einen wortreichen Bericht sämtlicher Einzelheiten erhalten.
»Alex!«, kreischte Rachel.
»Darling, sprich mit mir!«
»Er kann nicht!«, schrie Meredith. Sie kam sich grausam vor, doch Rachels Hysterie, die ganz ohne Zweifel aus tiefstem Herzen kam, nahm nach und nach einen theatralischen Unterton an. Vor kurzem noch, als Meredith Rachel im Hauptzelt durch die Menge hatte schreiten sehen wie bei einem königlichen Defilee, war ihr Eindruck von Rachel kein anderer gewesen als jetzt, wo sie sie in ihrem ganzen Kummer sah: Rachel schien sich immer noch der zahlreichen Zuschauer bewusst und der Notwendigkeit, eine Vorstellung zu geben.
Niemand machte ihr einen Vorwurf, doch genauso vermochte niemand sie zu trösten. Außerdem regte sich in Meredith der Verdacht, dass sich hinter Mrs. Constantines Verzweiflung eine gehörige Portion Ärger verbarg. So etwas hätte ihr nicht passieren dürfen, und schon gar nicht an einem so öffentlichen Ort. Man spürte fast, wie sie dem unglückseligen Constantine die Schuld gab, dass er nicht den Anstand besessen und gewartet hatte, bis London hinter ihnen lag, bevor er auf dem Rücksitz des teuren Automobils verstorben war.
Schließlich brach sie völlig zusammen. Nachdem sich ein Arzt um sie gekümmert hatte, war sie im Stande, wenigstens das Geburtsdatum und den vollen Namen ihres Mannes zu schluchzen, Alexis George Constantine, sowie die Telefonnummern von ein paar Londoner Freunden. Diese wurden benachrichtigt und eilten pflichtschuldig herbei, um ihr besorgtes Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Sie sammelten Rachel ein und nahmen sie mit, um sie zu trösten und sich um sie zu kümmern. Der Chauffeur, ein nervöser, dunkelhaariger junger Mann, wurde angewiesen, den Mercedes zurück nach Lynstone zu bringen. Mrs. Constantine würde bis auf weiteres in der Stadt bleiben. Jetzt endlich konnten sich Markby und Meredith auf den Nachhauseweg begeben und frei über die Ereignisse des Tages sprechen.
»Dass wir Rachel getroffen haben? Einer der zahlreichen üblen Scherze, die das Leben so spielt, weiter nichts.«
Markby antwortete auf die laut gedachte Äußerung und trug damit zu dem inneren Konflikt bei, den Meredith mit sich ausfocht. Sie öffnete die Augen. Er starrte finster auf die fröhlichen Theaterbesucher am anderen Ende des Waggons, als wären sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Ursache für die Aufregungen des gesamten Tages.
»Hätte ich sie als Erster gesehen«, fuhr er in aggressivem Tonfall fort,
»ich wäre so schnell aus diesem Zelt verschwunden, dass sie mich erst gar nicht hätte entdecken können!«
»Wie um alles in der Welt hätte ich denn ahnen sollen, dass sie deine Exfrau ist?«, entgegnete Meredith gekränkt.
»Du redest schließlich nie über sie! Oh, eine kurze Erwähnung ihres Namens vielleicht, aber keinerlei Einzelheiten! Ich habe dich nie nach ihr gefragt, weil ich immer dachte, deine Ehe wäre deine eigene Angelegenheit! Ich weiß, dass die Scheidung dich sehr verbittert hat …«
»Ist das so offensichtlich?« Er klang ehrlich überrascht, und in seinen blauen Augen standen Staunen und eine erste Spur von Kränkung.
»Ja. Ich meine nein – ich meine, natürlich hat sie das! Sieh mal, jede Erwähnung ihres Namens hat dich verstummen lassen. Ich habe das respektiert. Du hast mir jedenfalls ganz bestimmt niemals ihren Mädchennamen verraten. Und Rachel ist kein ungewöhnlicher Vorname. Außerdem verdrehen Schulkinder ihre Namen immer. Ich war immer ›Merry‹, und sie hieß nur ›Ray‹. Es war für mich auch sehr peinlich, glaub mir! Ich war nicht länger als zwei Jahre in Winstone House, und sie war nie eine enge Freundin, was ich dir schon gesagt habe. Ein Mannschaftsmitglied beim Korbball, weiter nichts! Hätte ich auch nur die leiseste Ahnung gehabt, dass sie in irgendeiner Weise mit dir in Verbindung stehen könnte, hätte ich sie selbstverständlich ebenfalls gemieden!«
Er sah sie an, dann nahm er ihre Hand und drückte sie.
»Ja. Natürlich. Es tut mir Leid. Es war wohl kaum deine Schuld. Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber es hat mich ziemlich aus der Fassung gebracht, noch bevor der arme Constantine … Allein der Gedanke, dass sie all die Jahre nur eine Stunde von Bamford entfernt gewohnt hat!« Aus seinen Worten sprach die Verwunderung darüber, dass er so lange jeder Begegnung hatte ausweichen können.
Er ließ ihre Hand wieder los. Selbst jetzt, dachte Meredith, selbst jetzt berühren wir uns noch nicht, nicht in der Öffentlichkeit, nicht in einem Eisenbahnabteil.
»Wusstest du, dass sie sich wieder verheiratet hat?«, fragte sie.
»Ich hatte davon gehört. Ich war ziemlich sicher, dass es ein wohlhabender Mann sein musste. Sie hätte den gleichen Fehler kein zweites Mal begangen. Ich wusste seinen Namen nicht, oder wenn jemand ihn mir gesagt hat, dann habe ich ihn wieder vergessen.« Er runzelte die Stirn
»Constantine wollte mir etwas über seinen Namen sagen. Er hat mich gedrängt, Rachel zu fragen, aber ich hatte keine Gelegenheit dazu.« Vorsichtig begann Meredith:
»Ehrlich gestanden, als wir uns vorgestellt wurden, kam mir der Gedanke, dass sein Name irgendwie erfunden klingt, selbst wenn er tatsächlich griechischer Herkunft gewesen ist … oder wo auch immer er hergekommen ist. War er Grieche? Irgendwie sah er gar nicht griechisch aus.«
»Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, woher er kommt, aber der Name klingt tatsächlich sehr künstlich. Jedenfalls kam es mir so vor. So ein hübscher, byzantinischer Klang. Fast, als hätte er irgendeinen dicken Geschichtswälzer über das östliche Imperium aufgeschlagen und wäre mit dem Finger über eine dieser Ahnentafeln gefahren. Ich frage mich, wie lange er den Namen schon getragen hat und wie er vorher geheißen haben mag.«
»Du bist also definitiv davon überzeugt, dass es sich um einen falschen Namen handelt, dass er seinen Namen irgendwann geändert hat?«
»Du vielleicht nicht? Ja, ich bin ziemlich sicher, und mehr noch, er wollte mir etwas darüber sagen! Warum sollte er so etwas tun?« Der Zug lief in einen Bahnhof ein und hielt an. Ein paar Fahrgäste stiegen aus. Der Bahnsteig lag verwaist; niemand stieg zu. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.
»Er wusste, dass du Polizist bist. Vielleicht stimmt etwas nicht mit seiner Aufenthaltsgenehmigung in unserem Land? Vielleicht war er ein illegaler Einwanderer? Ihm wurde bewusst, dass er sterben würde, und er wollte die Dinge für Rachel leichter machen. Und weil du Polizist bist, dachte er womöglich, er erzählt es dir, damit du ihr helfen kannst.« Markby schüttelte den Kopf.
»Ein Mann wie Constantine? Selbst wenn er irgendwann einmal illegal nach England gekommen sein sollte, hätte er inzwischen sicher längst alles geregelt! Er war immerhin mit einer Engländerin verheiratet. Er muss seit vielen Jahren hier gelebt haben. Sein Geschäft ist hier. Nein, er hat gewiss schon vor langer Zeit einen britischen Pass erhalten.« Markby seufzte.
»Zuerst meinte er wahrscheinlich, die Geschichte wäre relativ harmlos, doch dann wurde ihm bewusst, dass er sterben würde. Und plötzlich wurde es das Wichtigste für ihn, mir etwas zu sagen, das mit seinem Namen zu tun hat. Pah! Ich wünschte, Rachels Freunde hätten sie nicht so schnell mit Beschlag belegt und mitgenommen! Ich hätte sie dann fragen können!«
»Wahrscheinlich wäre sie gar nicht imstande gewesen, dir etwas zu sagen, nicht vorhin. Sie war viel zu aufgelöst, und es war gut, dass ihre Freunde da waren, um sie zu trösten. Sonst hätten wir sie auf der Pelle gehabt!« Es klang gefühllos, und Meredith fügte hastig hinzu:
»Ich wollte damit nicht …«
»Ich weiß, was du sagen wolltest. Wir hätten sie auf der Pelle gehabt, genau das ist es. Es mag nicht gerade galant klingen, aber ich hätte sie gewiss nicht in London sitzen lassen, nicht unter diesen Umständen. Ich bin genauso froh wie du, dass ihre Freunde aufgetaucht sind.« Meredith wandte den Kopf zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Sie hatten die Stadt hinter sich gelassen, mitsamt jenen beunruhigenden Ausblicken in das Privatleben fremder Menschen, und darüber war sie froh. Der Zug ratterte nun über das freie Land. Zur Rechten verlief eine Hauptverkehrsstraße direkt neben den Geleisen, und von Zeit zu Zeit durchschnitt das Licht von Scheinwerfern die Nacht. Die Theaterbesucher in der anderen Ecke des Abteils waren verstummt und dösten mit hängenden Köpfen vor sich hin. Umständlich begann Meredith:
»Du sagst, du wärst froh gewesen, aber was hast du gedacht, als du sie mit Constantine gesehen hast? Du musst etwas gefühlt haben, vielleicht sogar Eifersucht?« Sie hatte es nicht sagen wollen, doch die Worte waren heraus, und jetzt war es zu spät. Er drehte den Kopf und starrte sie an. Sie spürte, wie sie errötete, wie eine rote Woge ihren Hals hinaufstieg und ihr Gesicht überflutete, und murmelte:
»Entschuldige. Es geht mich schließlich nichts an.«
»Selbstverständlich geht es dich etwas an!«, sagte er leise.
»Und nein, ich war nicht eifersüchtig. Wenn überhaupt, dann habe ich so etwas wie Erleichterung gespürt. Ich dachte, endlich hat sie bekommen, was sie sich gewünscht hat. Es hat das letzte, winzige Aufflackern von Schuldgefühlen erstickt. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich sie enttäuscht hätte. Sie hat immer deutlich gemacht, dass es so war! Als ich sie zusammen mit Constantine sah, dachte ich gleich, das ist der Richtige für sie! Nicht ich, ich hätte sie niemals zufrieden stellen können, ganz gleich, was ich auch getan hätte!« Markby schüttelte den Kopf.
»Das ist wirklich in jeder Hinsicht eine verdammt schlimme Geschichte, nicht zuletzt deswegen, weil sie mit Constantine jemanden verloren hat, den selbst sie nicht so einfach wird ersetzen können! Es tut mir Leid für sie. Es tut mir wirklich Leid! Aber das ist auch schon alles.« Sie verfielen in Schweigen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Meredith hatte keine Ahnung davon, was in Alans Kopf vorging, doch nach einer Weile stand er auf und nahm seinen gefalteten Mantel aus dem Gepäckfach. Er setzte sich wieder, den Mantel auf den Knien, und holte vorsichtig ein zusammengerolltes Taschentuch aus einer Tasche hervor.
»Vielleicht entwickelst du eine Allergie gegen irgendwelche Pollen?«, schlug Meredith vor, als ihr einfiel, dass er das Taschentuch auch schon im Hauptzelt benutzt hatte.
»Was? Oh, nein … Ich, äh … ich hab das hier aufgehoben, vom Zeltboden …« Er wickelte das Taschentuch auseinander. Darin lag ein großer Dorn. Meredith beugte sich überrascht vor.
»Ist das der Dorn, den Alex aus dem Stoff seiner Jacke gezogen hat? Was für ein gefährlich aussehendes Ding! Warum hast du …?« Sie unterbrach sich und starrte ihn anklagend an.
»Alex hat ihn fallen lassen! Ich erinnere mich ganz deutlich daran! Wie um alles in der Welt bist du …? Du hast dein Taschentuch darüber fallen lassen und ihn damit aufgehoben, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre! Habe ich Recht?«
»Ja«, sagte er entschuldigend und fügte dann, als sie die Hand nach dem Dorn ausstreckte, rasch hinzu:
»Nein! Nicht anfassen!«
»Keine Sorge, ich lasse ihn nicht fallen.«
»Das ist es nicht. Es ist – es ist, dass ich mir diesen Dorn unter einem Mikroskop ansehen möchte!« Meredith begann unruhig zu werden.
»Warum? Was stimmt nicht damit?« Sie starrte auf das kleine spitze Ding. Es war eine gemeine, fast fünf Zentimeter lange Nadel, dick an einem Ende und am anderen dünn und spitz, obwohl die Spitze selbst beschädigt schien.
»Nichts, was ich jetzt schon sagen könnte. Ich bin einfach neugierig. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Dieses Ding ist sehr stabil und kein bisschen biegsam. Es sieht aus, als könnte es von irgendeinem Wüstenkaktus stammen oder irgendeiner anderen wilden Pflanze, jedenfalls keine kultivierte Sorte mit kleineren, schwächeren Dornen. Eine Kaktusfeige vielleicht. Ich wünschte, ich wüsste mehr über diese Pflanzen.« Er faltete das Taschentuch über dem Dorn zusammen und steckte es vorsichtig zurück in die Manteltasche. Meredith war müde und ausgelaugt, und die Tragödie wurde mehr und mehr zu einer Plage, die ihr gesamtes Privatleben durcheinander zu werfen drohte. Ohne ihre eigenen Befürchtungen recht zu verstehen, sagte Meredith düster:
»Die Dinge sind schlimm genug, Alan. Mach sie nicht noch schlimmer.«
Obwohl sie nach einem erschöpfenden Tag erst sehr spät zu Hause ankam und obwohl sie am nächsten Morgen früh aufstehen musste, fand Meredith einfach keinen Schlaf.
Das kam nicht überraschend. Vor ihrem geistigen Auge spielte sich eine Art mittelalterlicher Danse macabre ab, doch statt Ritter, Bettler, Dame und Mönch waren es Constantine, Rachel und Markby, die um sie herumtanzten, Rachel und Markby Hand in Hand. Wenn Meredith sich selbst sah, dann am Schluss des Reigens, wie der verkrüppelte Bettler.
Um drei Uhr morgens stand sie auf und ging im Schlafanzug ins hintere Schlafzimmer, wo sie eine große Umzugskiste öffnete. Merediths hinteres Schlafzimmer war eine einzige große Rumpelkammer, ohne jegliches vernünftiges Mobiliar bis auf einen alten schmuddeligen Lehnsessel, der auf eine neue Polsterung und einen neuen Bezug wartete. Meredith hatte alles hier abgestellt, das auszupacken oder aufzustellen oder zu reparieren sie noch keine Zeit gefunden hatte, wie beispielsweise den Sessel. Die Umzugskiste enthielt die gesammelten Souvenirs ihres Lebens, von Erinnerungsstücken aus der Teenagerzeit bis zu geschnitzten Kunstgegenständen und Bildern aus Osteuropa, Töpferwaren aus dem Mittelmeerraum, Musikkassetten und allen möglichen Büchern. Irgendwo hier musste doch … wahrscheinlich ganz unten, wie immer.
Meredith kramte eifrig mit dem Kopf tief in der Kiste wie ein Terrier vor einem Fuchsbau. Da war es! Triumphierend kam sie hoch, ein Fotoalbum in den Händen, und setzte sich damit auf den schäbigen alten Lehnsessel, um ihren Fund im wenig adäquaten Licht der einzigen und schwachen Glühbirne zu betrachten, die nackt von der Decke baumelte.
Es war kalt im hinteren Schlafzimmer, und die Tasse Tee, die sie sich unten gemacht und mit hierher gebracht hatte, war auf dem Fußboden neben dem Sessel ungetrunken kalt geworden. Ohne auf die ungemütliche Umgebung zu achten, hatte Meredith den abgestoßenen schwarzen Ledereinband geöffnet und mit einem Gefühl der Verwunderung die Seiten durchgeblättert.
Da waren sie alle, geschützt durch transparente Zwischenblätter, ihre Schulfreundinnen und Klassenkameradinnen, die Lehrer, die Schulfeiern, die Präsentationen, die Sportfeste mit den Eltern, die zu Besuch gekommen waren, selbstbewusste und stolze Eltern, selbst das Maskottchen der Schule, eine gescheckte, fette Katze. Die Bilder waren ordentlich und in regelmäßigen Abständen eingeklebt und ausnahmslos mit rundlicher, kindlicher Handschrift untertitelt. Es waren Schnipsel aus einem behüteten Leben, wie Fossilien, detailliert und doch tot und vergangen.
Manche Namen sprangen ihr förmlich ins Gedächtnis. Andere Gesichter hatte sie völlig vergessen, oder sie erinnerte sich nur undeutlich, die Namen verloren im Nebel der Zeit. Dies waren die Dinosaurier der eigenen Entwicklungsgeschichte.
Und dort war sie, die Korbballmannschaft, triumphierend nach einem Wettbewerb zwischen verschiedenen Schulen, um die Ehrentafel herum gruppiert. Dort, in der hinteren Reihe (sie hatte immer hinten gestanden, weil sie so groß gewesen war), sah Meredith sich selbst. Und in der vorderen Reihe stand Rachel und starrte in das Kameraobjektiv, während sie die Tafel hielt. Mit sechzehn waren sie junge Frauen gewesen, keine Kinder mehr, und auf dem Bild wurde deutlich, dass sie sich dieser Tatsache sehr wohl bewusst waren. Die meisten strahlten Selbstbewusstsein aus und sahen an der Kamera vorbei. Rachel gehörte zu den wenigen, die genau in das alles sehende Auge blickten. Fast schon herausfordernd, dachte Meredith. Der Fotograf, erinnerte sich Meredith, war ein junger Mann gewesen. Und mit schiefem Grinsen bemerkte sie, dass sie schon damals größer gewesen war als alle anderen und Rachel hübscher.
Meredith lehnte sich zurück und fragte sich, ob Alan Fotos von ihr aufgehoben hatte. Sie fragte sich, ob er zu Hause lag und tief und fest schlief, oder ob er, wie sie, aufgestanden war und nun irgendein Hochzeitsfoto betrachtete oder einen sommerlichen Schnappschuss. Sie wollte nicht an Alan und Rachel als Paar denken, doch es gelang ihr nicht, dieses Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben. Eine Ehe, selbst eine geschiedene, die in Bitterkeit geendet hatte, konnte niemals völlig aus dem Bewusstsein gelöscht werden. Sie hatte stattgefunden. Sie blieb für immer im Lebenslauf der beteiligten Individuen, ob es ihnen nun passte oder nicht.
Meredith warf einen letzten Blick auf das Album, bevor sie es zuklappte und sich steif aus dem Lehnsessel erhob. Eigenartig, wie alte Fotos Erinnerungen wach werden lassen konnten, Erinnerungen an kleine, bedeutungslose Dinge, die sie längst vergessen geglaubt hatte.
Beispielsweise die Art und Weise, wie es Rachel schon immer gelungen war, sich ins Rampenlicht zu schieben. Und dass sie immer für alles irgendeine Entschuldigung gefunden hatte.
KAPITEL 4
Sie sah Alan das ganze
Wochenende nicht. Sie rief ihn nicht an, und er sie nicht. Meredith fragte sich ironisch, wer von ihnen wem aus dem Weg ging.
Es war unausweichlich, dass sie über Rachel und Alex hätten reden müssen, falls sie sich getroffen hätten, ebenso, dass sie darüber in Streit geraten wären wie zwei Hunde um einen Knochen. Es sei denn, sie wären zum anderen Extrem übergegangen und hätten die ganze Geschichte totgeschwiegen, während sie dagesessen hätten und verstohlen den Blicken des anderen ausgewichen wären. Sie wusste nicht, was schlimmer gewesen wäre. Wahrscheinlich genauso wenig wie Alan, was der Grund dafür war, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte.
Was nicht ganz den Tatsachen entsprach – wie Meredith jedoch erst in der folgenden Woche herausfand, als sie nach London bestellt wurde, zu Scotland Yard und einem Superintendent namens Hawkins.
Da erst rief Meredith bei Alan an und fragte ihn, wer dieser Hawkins sei.
»Ah, ich wollte dich auch schon anrufen«, antwortete er, was die Leute immer dann sagten, wenn sie nichts dergleichen im Sinn gehabt hatten.
»Ich werde mit dir zusammen in den Yard gehen. Sie – sie wollen mich ebenfalls noch einmal sprechen.«
»Noch einmal?«, fragte Meredith in scharfem Tonfall, doch ihr Mut sank.
»Ja. Ich war … ich war bereits einmal dort, seit wir … seit wir aus Chelsea zurück sind.«
»Es geht um diesen Dorn, dieses Ding von einem Feigenkaktus oder was auch immer, stimmt’s?«
Sie war wie üblich am Morgen nach London zur Arbeit gefahren und hatte sich mit Alan zum Mittagessen getroffen. Sie wurden um halb drei bei Scotland Yard erwartet. Das Essen war nicht besonders schmackhaft und das Restaurant nicht gemütlich. Das kleine Lokal war überfüllt, das Personal gestresst, der Service mangelhaft, das Essen Fertignahrung, die auf Bestellung in einer Mikrowelle erhitzt wurde.
»Hawkins wird dir alles darüber erzählen«, sagte Markby unbehaglich.
»Warum sagst du es mir nicht?«, forderte Meredith ihn auf.
»Und fertige mich jetzt bloß nicht mit irgendeinem offiziellen Beamtengeschwafel ab! Ich will vorgewarnt sein, wenn ich diesen Hawkins treffe!«
»Als ob ich das jemals wagen würde!« Zum ersten Mal, seit sie im Restaurant Platz genommen hatten, lächelte er sie an. Doch er wurde rasch wieder ernst.
»Ja, in Ordnung. Ich kann dir allerdings nicht mehr sagen, als ich selbst weiß. Ich dachte … ich dachte, die Spurensicherung sollte einen Blick auf diesen Dorn werfen. Ich war neugierig, das ist alles. Sie haben herausgefunden, dass der Dorn sehr geschickt ausgehöhlt wurde und das stumpfe Ende an irgendetwas befestigt gewesen sein muss. Der obere Teil der Spitze ist abgebrochen. Der Rest enthielt Rückstände von … von einer Substanz.« Sie starrte ihn über die halb aufgegessenen Reste des Essens und die zerknitterten Servietten hinweg an.
»Eine Nadel? Der Dorn wurde zu einer subkutanen Nadel umfunktioniert?« Er zuckte die Schultern, und sie fuhr fort:
»Was ist mit dem Kolben der Spritze?«
»Soweit ich weiß, wurde keine Spur davon gefunden«, antwortete er.
»Und die Substanz? Was war das für eine Substanz?«
»Hör mal, lass es dir von Scotland Yard erzählen.« Er blickte auf seine Uhr.
»Hawkins ist übrigens … Nun ja, du wirst es selbst sehen.« Alan konnte einen manchmal richtig zur Weißglut bringen, und das sagte sie ihm auch.
Markbys Zögern, ihr den Superintendent zu beschreiben, erklärte sich schon nach kurzer Zeit von selbst. Hawkins hätte Werbung machen können für Schlankheitskuren. Er war sehr groß, und alles an ihm war schmal und dünn: Schultern, Gesicht, die lange Nase, die eng zusammenstehenden Augen, die schmale Stirn, die knochigen Hände, und Meredith vermutete, dass Ähnliches auch für seinen Verstand galt.
»Nun, er wurde vergiftet, nicht wahr?«, grollte er Markby und Meredith zur Begrüßung an, als hätten sie es getan.
»Irgendjemand ist von hinten an ihn herangetreten und hat ihm eine letale Dosis Aconitin injiziert. Dieser Dorn wurde zu einer Injektionsnadel umfunktioniert, genau wie Sie vermutet haben, Chief Inspector!« Hawkins funkelte Markby düster an.
»Wir haben den Kolben der Spritze nicht finden können!«
Alan Markby erwiderte verblüfft den Blick des Superintendents.
»Aber das ist ein pflanzliches Gift, wenn ich mich nicht irre? Ein Eisenhutextrakt, glaube ich.«
Meredith hatte sich auf eine schockierende Enthüllung vorbereitet, dennoch durchfuhr sie ein Schaudern, als sie Hawkins’ steife Worte hörte.
»Der arme Mann!«, sagte sie und erinnerte sich deutlich, wie angenehm ihr Alex vorgekommen war, als sie ihn kennen gelernt hatte.
»Armer Mann?« Hawkins blinzelte sie überrascht an.
»Warten Sie ab, bis die Boulevardpresse Wind von der Geschichte bekommt.«
Er hatte Recht. Ein Mord während der Chelsea Flower Show, ein offensichtlich sehr wohlhabendes Opfer, eine bildschöne Witwe, alles zusammen bedeutete ein gefundenes Fressen für jeden Journalisten. Und natürlich die Tatsache, dass der Anschlag vor den Augen eines Polizeibeamten aus der Provinz im Rang eines Chief Inspectors stattgefunden hatte.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas sagen, das Ihnen weiterhilft«, sagte Meredith zaghaft.
»Ich habe gesehen, wie er den Dorn aus der Jacke gezogen hat und ihn hat fallen lassen. Aber ich hätte nicht gedacht … na ja, wer denkt schon an so etwas?«
Markby regte sich unglücklich.
»Sie haben etwas in dieser Richtung vermutet, nicht wahr, Chief Inspector?«, fragte Hawkins unfreundlich.
»Sie haben vermutet, dass irgendetwas nicht stimmt, wenngleich Sie offensichtlich nicht schnell genug waren, um den Anschlag zu verhindern oder das Opfer unverzüglich in den Genuss medizinischer Hilfe kommen zu lassen.«
»Ich habe nicht vermutet, dass es sich um ein Verbrechen handelt!«, entgegnete Markby verärgert. Er hatte diese Anschuldigung wohl schon mehrmals zurückgewiesen.
»Ich hatte diese Art von Dorn lediglich noch nie gesehen. Das war der eigentliche Grund, weshalb ich ihn aufgehoben habe. Ich wollte ihn genauer betrachten. Es war botanisches Interesse, ganz einfach. Keinerlei Hintergedanken.« Hawkins hatte Mühe sich vorzustellen, dass jemand echtes Interesse an etwas wie dem abgebrochenen Teil einer Pflanze haben könnte, und die Begriffe
»ganz einfach« und
»keinerlei Hintergedanken« kamen in seinem Vokabular tatsächlich nicht vor. Er betrachtete seine beiden Besucher, als wäre er nicht ganz sicher, wen von ihnen er zuerst nach draußen bringen und erschießen lassen sollte. Als er sich zu einem Entschluss durchgerungen zu haben schien, deutete er mit langem, knotigem Zeigefinger auf Markby.
»Gehen wir die Sache noch einmal durch, um wirklich sicherzustellen, dass ich Sie richtig verstanden habe. Sie, Chief Inspector, waren früher mit der Ehefrau des Mordopfers, Alexis George Constantine, verheiratet. Und Sie, Miss Mitchell …«, der knotige Zeigefinger richtete sich anklagend auf Meredith,
»Sie gingen mit der Lady zusammen zur Schule. Sie und der Chief Inspector sind am fraglichen Tag nach London gefahren, und Sie alle haben sich auf der Chelsea Flower Show getroffen. Genau das, was man ein Familientreffen nennen würde, finden Sie nicht?«
»Es war reiner Zufall!« Meredith spürte den Ärger über sein Verhalten in sich aufsteigen.
»Außerdem war ich nur zwei Jahre lang mit ihr in der Schule! Sie war nicht gerade eine enge Freundin!« Hawkins glaubte eindeutig so wenig an Zufall, wie er irgendetwas anderes von dem glaubte, was sie gesagt hatten. Was er vor sich sah, war eine gewisse Variante des Partnertausches, ein trauriges Beispiel für den Mangel an Respekt vor traditionellen Werten und der mangelhaften Wahrung äußerer Formen: genau das, was seine tägliche Arbeit immer schwieriger machte.
»Außerdem arbeiten Sie drüben im Foreign and Commonwealth Office«, fuhr er an Meredith gewandt fort und ergänzte damit die immer länger werdende Liste nicht ganz fehlerfreier Fakten, die er über sie zusammengetragen hatte. Er hob den Blick und sah sie aus glitzernden Augen an.
»Dieser Constantine. Er hat erst vor einigen Jahren die britische Staatsbürgerschaft angenommen. Seine Frau sagt, er sei aus Zypern gekommen. Was wissen Sie über ihn?«
»Nichts!«, schnappte Meredith wahrheitsgemäß. Hawkins glaubte ihr nicht. Er schien mit dem Gedanken zu spielen, dass während einer landesweit bekannten Veranstaltung wichtige Staatsgeheimnisse ausgetauscht worden sein könnten.
»Sie werden doch wohl nicht unerwartet das Land verlassen? Nach Moskau oder Washington oder Peking gehen, wo ich Sie nicht mehr erreichen kann?«
»Nein«, sagte Meredith.
»Obwohl ich nach so einer Chance lechze. Ich sitze hier in London hinter einem Schreibtisch. Und Peking heißt neuerdings Beijing.«
»Oh, tatsächlich?«, erwiderte Hawkins gehässig.
»Haben Sie nachgeprüft, ob der Name Constantine ein Deckname war?«, mischte sich Markby in das Gespräch.
»Ich habe Ihnen ja berichtet, dass er begierig schien, mir etwas über sich mitzuteilen!« Hawkins richtete die eng zusammenstehenden Augen misstrauisch auf den Sprecher.
»Das haben wir, rein zufällig. Danke sehr, dass Sie mich daran erinnert haben, Chief Inspector!« Verärgerung huschte über Markbys Gesicht, weil der Sarkasmus des Superintendents sich gegen ihn richtete, doch er schwieg.
»Mr. Constantine«, fuhr Hawkins fort,
»nannte sich früher Wahid. Georges Wahid.« Er sprach den Vornamen in zwei Silben aus.
»Georgges.«
»Dann hat er seinen Namen also tatsächlich geändert!«, platzte Meredith heraus.
»Das hat er, vor langen Jahren. Bevor er nach Großbritannien kam. Auf Zypern. Ich weiß nicht, was er Ihnen zu sagen versucht hat, Markby, aber es ist mir rätselhaft, warum dieser Namenswechsel heute noch von Bedeutung sein soll, fünfundzwanzig Jahre später. Er nannte sich schon lange Constantine, bevor er in unser Land kam. Er ist in England, soweit wir in der Lage waren zu ermitteln, niemals unter anderem Namen aufgetreten. Sind Sie ganz sicher, dass Sie ihn richtig verstanden haben?«
»Er lag im Sterben!« Markbys Verärgerung brach durch.
»Er hatte große Mühe, überhaupt zu sprechen! Er hat definitiv über seinen Namen reden wollen, und als er nicht mehr die Kraft dazu fand, sagte er, ich solle seine Frau fragen.«
»Wir haben die Dame«, erwiderte Hawkins,
»über den Namen und eine Reihe anderer Dinge befragt, beispielsweise, ob er Feinde gehabt hat und so weiter. Doch ihr Arzt hatte sie mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt, und keine ihrer Antworten war bisher in irgendeiner Weise für uns nützlich. Natürlich, es ist eine sehr schlimme Erfahrung für sie. Aber Sie, Markby, Sie mit all Ihrer Erfahrung und Ihrer Ausbildung, Sie wollen tatsächlich nicht erkannt haben, was sich da ereignet hat? Sie haben zu Protokoll gegeben, Constantine habe laut aufgeschrien vor Schmerz!«
»Ich habe es ebenfalls gehört«, sagte Meredith.
»Ich sah, dass er Schmerzen hatte und dass seine Frau sich Sorgen gemacht hat.«
»Zuerst hielt er es für einen Insektenstich«, wiederholte Markby zum sechsten Mal,
»und Rachel … seine Frau hat davon gesprochen, dass es etwas mit seinem Herzen zu tun haben könnte. Er hatte im letzten Jahr einen leichten Herzanfall.«
»Das ist richtig!«, bekräftigte Meredith. Alle schwiegen. Hawkins legte die Fingerspitzen aneinander, lehnte sich in seinem Sessel zurück und funkelte Markby und Meredith düster an. Meredith dämmerte, dass es nicht unbedingt etwas Persönliches war. Hawkins sah wahrscheinlich alle Menschen so an.
»Wirklich? Hatte er einen Herzanfall? Nun ja, sein Herz hat ihn am Ende wohl auch im Stich gelassen, wie? Was um Himmels willen haben Sie getan, Chief Inspector, als dieser Mörder kam und Constantine eine Spritze voller Gift in den Rücken gejagt hat?«
»Ich habe ein Foto gemacht«, berichtete Markby ihm.
»Von meiner Exfrau, meiner Freundin Miss Mitchell hier und … und ein paar Blumen.«
»Nun ja, das alles wird in der Presse jedenfalls verdammt eigenartig aussehen!«, sagte Hawkins.
»Ich fühle mich wie durch die Mangel gedreht!«, sagte Meredith, als sie endlich wieder aus dem Gebäude waren.
»Du fühlst dich wie durch die Mangel gedreht! Was glaubst du, wie ich mich fühle?! Er hat mich wie einen kompletten Idioten hingestellt! Alex wurde vor meinen Augen ermordet!«
Sie saßen in einem nahe gelegenen Weinlokal in einem der wenigen mit engen Sträßchen noch viktorianisches Flair verbreitenden Viertel Londons, das eingekeilt zwischen hohen, modernen Wohnblocks überlebt hatte. Die Wände des Lokals waren mit gelblichen Anaglyphen dekoriert, über denen ein staubiges Gipsfries aus Weinreben, Trauben und muskulösen Putten verlief. Sie saßen über einer Flasche Rotwein mit unleserlichem Etikett, während sie über die Situation diskutierten, ohne zu einem hilfreichen Ergebnis zu kommen.
»Du hast die Nadel gefunden und sie zu ihnen geschickt!« Meredith unternahm einen entschiedenen Versuch, der Sache etwas Positives abzugewinnen.
»Das war vielleicht nicht die klügste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe«, murmelte er.
»Es war das Einzige, was du tun konntest!« Sie beugte sich vor und berührte seine Hand.
»Kopf hoch, Alan! Ich weiß, dass du die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen kannst, aber überlass von jetzt an alles Hawkins! Du bist schließlich nicht mit der Untersuchung dieses Falles betraut.«
»Nein, Gott sei Dank nicht! Dafür sitze ich diesmal auf der anderen Seite des Schreibtischs! Es ist eine neue und eigenartige Erfahrung!« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
»Ich glaube nicht, dass es Hawkins sonderlich gefällt. Er denkt, dass niemand ermordet werden sollte, wenn ein höherer Beamter der Polizei in der Nähe ist, selbst wenn dieser dienstfrei hat, und ich neige dazu, mich seiner Meinung anzuschließen. Ich bekomme allmählich das ungute Gefühl, dass er mich dafür verantwortlich macht.«
»Das macht er sicher nicht! Du warst es schließlich nicht, der Alex eine tödliche Dosis Pflanzengift injiziert hat!«
»Wissen wir, ob Hawkins mit seinen Schlussfolgerungen auch zu diesem Punkt kommt? Hast du nicht auch geglaubt, ich wäre eifersüchtig auf Alex? Eifersucht ist ein sehr starkes Motiv für einen Mord.«
»Du hast ein Foto gemacht, als es geschah!«
»Als es vermutlich geschah«, korrigierte er sie.
»Obwohl der Augenschein für diesen Zeitpunkt spricht. Das Gedränge um uns herum war besonders groß. Constantine wurde angerempelt. Er hat einen Schmerzenslaut ausgestoßen. Er hat die Nadel aus seiner Jacke gepflückt und …« Markby verstummte und starrte missmutig in sein Weinglas.
»Und dann hat er sie fallen lassen, weil er glaubte, es wäre nichts Wichtiges.«
»Ja, er hat sie fallen lassen.« Alan nippte an seinem Wein. Die eintretende Stille wurde von lautem Lachen am anderen Ende des Lokals durchbrochen.
»Und die Nadel war wichtig. Ich hätte sofort erkennen müssen, dass es sich um einen Angriff auf seine Person gehandelt hat! Einen sehr sorgfältig geplanten Angriff noch dazu. Der Mörder hat eine Eintrittskarte zur Ausstellung besessen, und die waren seit Monaten restlos ausverkauft!«
»Also kein Irrer, der willkürlich zugeschlagen hat«, seufzte Meredith.
»Nein. Genauso wenig, wie wir davon ausgehen können, dass es jemand aus London gewesen ist.« Sie sah ihn an, und in ihren haselnussbraunen Augen stand Besorgnis.
»Du meinst, der Mörder könnte ihm von diesem Lynstone aus, wo die Constantines wohnen, nach Chelsea gefolgt sein?«
»Das halte ich für sehr wahrscheinlich, ja. Dieser Anschlag hat Zeit zur Vorbereitung erfordert und eine genaue Kenntnis der Pläne der Constantines. Der Täter wusste, dass sie an jenem Nachmittag in Chelsea sein und die Blumenausstellung besuchen würden, und vielleicht wusste er auch, dass Alex im letzten Jahr einen leichten Herzanfall hatte. Falls Alex einen stechenden Schmerz verspüren oder sich unwohl fühlen würde, würden beide es seiner Herzgeschichte zuschreiben. Die Constantines würden aller Wahrscheinlichkeit nach versuchen, nach Hause zu fahren und ihren eigenen Arzt zu rufen, der Alex’ Krankengeschichte kannte, anstatt auf der Ausstellung Hilfe in Anspruch zu nehmen. Oh, sicher, so weit wird Hawkins mit seinen Untersuchungen auch gekommen sein! Ich denke, die lokale Polizei von Lynstone sieht sich gerade einem wahren Ansturm von Beamten aus der Hauptstadt gegenüber!« Meredith nahm die Weinflasche und schenkte in beide Gläser nach.
»Wie auch immer, du und ich haben nichts damit zu tun. Du hast ihnen den Dorn übergeben, und wir haben beide unsere Aussagen gemacht. Hawkins hat uns darum gebeten, noch einmal genau über alles nachzudenken und ihm zu sagen, falls uns etwas Neues einfällt. Mehr haben wir mit dem Fall nicht zu schaffen. Wir müssen Rachel nicht wiedersehen. Jedenfalls nicht, bis die Ermittlungen abgeschlossen sind und eine Verhandlung stattgefunden hat. Falls es dazu kommt.«
»Glaub das bloß nicht!«, erwiderte Markby düster.
»Wenn Rachel ein Problem hat, zieht sie jeden in ihrer Umgebung mit hinein. Sie wird sich bei uns melden, daran besteht nicht der geringste Zweifel.«
KAPITEL 5
Es war nicht Rachel, die sich zuerst bei ihnen meldete, sondern jemand ganz anderes. Meredith traf in ihrem Büro ein und fand einen Zettel auf ihrem Schreibtisch mit einem unbekannten Namen, einer Telefonnummer und der Nachricht:
»Bitte zurückrufen.« Ihr Zug hatte Verspätung gehabt, und so hinkte sie ihrem Tagespensum bereits eine halbe Stunde hinterher. Sie warf die Aktentasche hin, nahm den Zettel in die Hand und fragte:
»Was ist das?« Gerald, der das Büro mit ihr teilte, blickte von einer besonders grellen Boulevardzeitung auf. Gerald kam nur mit der Times ins Büro, wenn er ein liegen gelassenes Exemplar im Zug gefunden hatte.
»Sein Name ist Foster, und er will dringend mit dir reden. Bei dir läuft alles wie geschmiert momentan, was?« Gerald grinste und riss eine Tüte Gummibärchen auf. Er hatte das Rauchen aufgegeben.
»Verschon mich bloß mit deinem eigenartigen Sinn für Humor! Ich hatte eine lausige Zugfahrt und könnte einen ruhigen Tag gebrauchen, wirklich!« Meredith starrte auf den Zettel. Er verhieß nichts Gutes.
»Wer mag das sein? Hat er gesagt, worum es geht?« Gerald blickte sie vielsagend an, während er kaute und schwieg.
»Herr im Himmel!«, seufzte Meredith.
»Was um alles in der Welt wollen die bloß von mir?«
»Was erwartest du denn?«, erwiderte er fröhlich.
»Wenn du dich mit zweifelhaften ausländischen Geschäftsleuten einlässt?«
»Alex war nicht zweifelhaft, und er war kein Ausländer mehr! Er war schon seit Jahren Brite, und ich habe mich auch nicht mit ihm eingelassen! Ich habe ihn ein einziges Mal getroffen, hörst du? Ein einziges Mal!«
»Komm schon, der hatte doch bestimmt Dreck am Stecken, meinst du nicht?«
»Warum?«, fragte sie verärgert.
»Ich bitte dich, wer lässt sich sonst so umbringen? Ehrenmänner sterben in ihren Betten. Ein wirklich abscheulicher Mord! Ich habe in der Zeitung darüber gelesen.«
»Wenn das deine einzige Informationsquelle ist, dann wundert es mich nicht, dass du auf dem Holzweg bist. Und wenn dieses Schmierblättchen Behauptungen über Alex aufstellt, die sich nicht beweisen lassen, dann muss es damit rechnen, auf Schadenersatz verklagt zu werden.«
»Ich hatte schließlich keine andere Möglichkeit, als Zeitung zu lesen«, beschwerte er sich.
»Du hast den Mund ja nicht aufgemacht! Wir anderen führen ein langweiliges Leben und hätten uns über ein paar blutige Details gefreut, um unseren Tag aufzuhellen. Geschieht dir ganz recht, wenn unsere galanten Sicherheitsbehörden dich jetzt grillen. Dieser Constantine war womöglich der Staatsfeind Nummer eins!« Sie hatte bereits den Hörer in der Hand und wählte, als sie ihn freundlich bat, die Klappe zu halten. Als das Gespräch wenige Minuten später geendet hatte, tauchte Gerald hinter seiner Zeitung, wo er sich demonstrativ verschanzt hatte, wieder auf und fragte:
»Möchtest du hören, was deine Sterne sagen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort:
»›Sie werden heute einem neuen Einfluss auf Ihr Leben begegnen.‹ Steht hier, schwarz auf weiß. Dieser Foster wird sich wahrscheinlich als dunkler, attraktiver Fremder herausstellen.«
»Wenn du weiter mit dieser Geschwindigkeit Süßigkeiten in dich hineinstopfst, wirst du noch mehr an Gewicht zulegen«, informierte sie ihn.
»Ich gehe für eine Weile weg – ja, ich werde mich mit Foster treffen! Und erzähl niemandem was davon, ja? Ich möchte nicht, dass alle Bescheid wissen.«
»Ich freue mich, dass Sie mir Ihre Zeit widmen«, sagte Mr. Foster höflich.
»Und ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie so schnell kommen konnten.«
»Ich dachte, es wäre besser, wenn wir es so schnell wie möglich hinter uns bringen«, antwortete Meredith offen. Er war groß, aber weder dunkel noch attraktiv. Er war ein ungepflegter Bursche mit einem schlechten Haarschnitt, der aussah, als hätte er verschlafen, dann mit seiner Frau gestritten und wäre auch noch zum Zug gesprintet. Sein Jackett spannte über den Schultern, und auf seiner Krawatte prangte ein rätselhafter dunkler Fleck. Das Büro passte zu dem, der es benutzte. Es befand sich am Ende einer Treppenflucht und erweckte den Eindruck von etwas, das bestenfalls als viktorianischer Besenschrank durchging, dazu gab es jede Menge viktorianischen Staub. Sein Schreibtisch stand so an eine Wand gequetscht, dass gerade genug Platz blieb, damit er hinter diesem Platz nehmen konnte. An der gegenüberliegenden Wand stand ein offener Metallschrank, der vor Akten überquoll. Die verbliebene Wand wurde von einem außer Betrieb gesetzten Kamin ausgefüllt, verkleidet mit einer durchlöcherten Holzplatte, um im Schornstein dahinter Luftzug zu ermöglichen. Er hatte zwei Tassen Kaffee für sie organisiert.
»Bitte entschuldigen Sie, aber wir haben kein Gebäck mehr«, sagte er und verschlechterte ihre allgemeine Beurteilung seiner Person um ein paar weitere Punkte. Der Kaffee sah ebenfalls nicht besonders einladend aus. Kleine dampfende Spiralen stiegen von den Bechern auf, während er auf seinem Schreibtisch Akten hin und her schob, in der Schublade kramte und schließlich einen abgewetzten Schnellhefter zum Vorschein brachte.
»Es geht um diesen Constantine.«
»Das dachte ich mir.«
»Ziemlicher Schreck für Sie, was?« Er musterte sie hoffnungsvoll und wartete offensichtlich darauf, dass sie sich in Einzelheiten erging. Verdammt!, dachte sie wütend. Er ist genau wie Gerald! Wie Zombies, die auf einem Friedhof herumschnüffeln. Was ist nur mit diesem Mord? Offensichtlich spielt die Abscheulichkeit der Tat für diese Leute nicht die geringste Rolle! Sie starrte ihm in die Augen und erwiderte:
»Ja, das war es.«
»Kannten Sie ihn gut?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich war für sehr kurze Zeit mit seiner Frau in der Schule. Wir hatten uns seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen, als wir … als ich auf der Chelsea Flower Show förmlich in sie hineingerannt bin.«
»Hat sie sich sehr verändert?« Er wirkte interessiert. Meredith dachte nach.
»Genau genommen – nein. Sie hat sich fast überhaupt nicht verändert.« Weder im Aussehen noch in ihrer Persönlichkeit, dachte Meredith. Ich frage mich, ob ich mich genauso wenig verändert habe? Es war ein merkwürdiges Gefühl.
»Haben Sie seither etwas von ihr gehört?«
»Seit dem Mord? Nein, nichts. Sie wohnt in einem Ort namens Lynstone, glaube ich. Ich habe den Namen noch nie gehört, obwohl dieses Lynstone in den Cotswolds liegt. Ich wohne nämlich auch in den Cotswolds, wenn auch in einer anderen Ecke.«
»Ja«, sagte Foster.
»Malefis Abbey. So heißt sein Wohnsitz auf dem Land. Klingt wie ein Name aus einer Horrorgeschichte, wenn Sie mich fragen. Constantine war ziemlich vermögend. Ich schätze, wir können ruhigen Gewissens davon ausgehen, dass es sich nicht um ein Dreizimmerreihenhäuschen handelt.« Seine Stimme hatte den klagenden Tonfall eines Mannes angenommen, der sich selbst für unterbezahlt und überarbeitet hielt, während niemand seine Leistungen zu würdigen wusste.
»Könnten Sie vielleicht auf den Punkt kommen?«, fragte Meredith müde.
»Die Polizei kann Ihnen sicherlich mehr erzählen als ich. Ich habe meine Aussage zu Protokoll gegeben, genau wie mein Begleiter. Wahrscheinlich hat Scotland Yard inzwischen sämtliche Geschäftsbeziehungen Constantines ausgegraben und jede Menge anderer Leute gefunden, die an diesem Tag ebenfalls auf der Ausstellung waren. Warum bin ich hierher zitiert worden?« Er warf den Schnellhefter zur Seite; er brauchte ihn offensichtlich nicht. Reine Schau, dachte Meredith, und ärgerte sich zugleich darüber, dass er meinte, sie damit beeindrucken zu können. Foster wand sich umständlich im beengten Raum seiner Sessel-Wand-Mauer-Schreibtisch-Kombination.
»Ich weiß nicht, was Ihnen die Polizei über Constantine erzählt hat«, begann er.
»Wir wissen wirklich nicht besonders viel über ihn.« Er starrte beunruhigt auf seine eselsohrige Akte. Merediths Mut sank, und sie fragte sich, ob Gerald nicht vielleicht doch Recht gehabt hatte. Aber nein, nicht, wenn Foster so wenig über Constantine wusste. Wäre Alex ein kriminelles Meisterhirn gewesen, hätte Foster eine Menge mehr über ihn gewusst.
»Die Polizei hat mir nicht mehr verraten, als dass er vor vielen Jahren aus Zypern eingewandert ist. Er hat seinen Namen geändert. Hören Sie, es ist doch … es war doch wohl alles einwandfrei, oder nicht?«
»Genau das möchten wir gerne wissen. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass wir keinen Grund zu der Annahme haben, es könnte anders sein. Doch angesichts der besonderen Umstände, die zu seinem Tod geführt haben …« Gerald hatte genauso gedacht. Meredith hätte ihm besser zuhören sollen. Sie würde ihm auf dem Rückweg zum Büro einen Schokoriegel kaufen, als Entschuldigung sozusagen. Düster murmelte sie:
»In den Stiefeln, nicht im Bett.« Foster blickte überrascht auf, dann grinste er.
»Genau. Und wir möchten den Grund dafür wissen! Er ist von Zypern nach England gekommen, so viel steht fest, doch vorher hat er im Libanon gelebt. Er ist dort als Georges Wahid geboren. Constantine war einer jener libanesischen Geschäftsmänner, die Mitte der siebziger Jahre erkannt haben, dass die Dinge in ihrem Land nicht besser werden würden. Er beschloss, sein Unternehmen mit Sack und Pack an ein sichereres Gestade zu verlegen. Er hatte das Glück, dass er sein Geld außer Landes schaffen konnte, und er war in einem Geschäft, das er von jedem Ort der Welt betreiben konnte.« Foster bemerkte Merediths fragenden Blick und erklärte:
»Constantine hat Nahrungsmittel aus dem östlichen Mittelmeerraum exportiert. Rosinen, Feigen, Datteln, Haselnüsse und dergleichen mehr. Zutaten für die Küche des Nahen Ostens. Exotisches Getreide. Türkischen Honig, kistenweise Süßwaren. Die Türkei ist ein wichtiges Exportland für Haselnüsse, wussten Sie das?«
»Nein. In meinen Ohren klang der Name Constantine eher nach Britischem Empire.« Foster zuckte die Schultern.
»Wenn man schon seinen Namen ändern muss, dann sucht man sich einen aus, der gut klingt! Seine Entscheidung, sich einen neuen Namen zuzulegen, muss ihn nicht unbedingt verdächtig machen. Hunderte von Menschen ändern Jahr für Jahr ihre Namen. Er hat ein neues Leben angefangen, und vielleicht war es in seinen Augen ein logischer Schritt. Nach einigen Jahren verließ er Zypern und kam nach Großbritannien, wo er damit begann, die gleichen Waren zu importieren, die er früher exportiert hat. Exotische Küche kam in Mode, und er stieß auf einen ständig expandierenden Markt für seine Waren. Er machte ein Vermögen. Wir haben nichts gegen ihn in der Hand …« Foster blickte auf.
»Ich wiederhole noch einmal – vor dieser Geschichte war sein Ruf makellos. Er gab großzügige Spenden an die Wohlfahrt. Vor sieben Jahren hat er eine Engländerin geheiratet, eine gewisse Rachel Markby, geschieden. Aber das wissen Sie inzwischen.« Foster ließ sich zu einem weiteren Grinsen hinreißen, in dem eine gewisse Bosheit mitschwang.
»Also hat er die britische Staatsangehörigkeit angenommen«, sagte Meredith und verweigerte ihm die Reaktion, auf die er gehofft hatte.
»Und jetzt hat jemand anderes kalte Füße bekommen?« Sie erwiderte das boshafte Grinsen.
»Constantine ist tot, Mr. Foster. Was spielt das noch für eine Rolle? Sie können ihm schließlich nicht vorwerfen, dass er ermordet wurde! Das Opfer ist nicht schuld am Verbrechen!«
»Hören Sie!« Er legte die verschränkten Hände auf den Schreibtisch und beugte sich vor.
»Wenn es wegen einer rein inländischen Angelegenheit ist, etwas, das er hier angestellt hat, dann soll sich die Polizei darüber den Kopf zerbrechen. Dann sind wir nicht zuständig. Aber wenn er ermordet wurde wegen etwas, das ihm aus dem Nahen Osten hierher gefolgt ist … Wenn er Kontakt hatte mit den falschen Leuten, wenn er vielleicht geholfen hat, Kapital zu verschieben … Können Sie mir folgen?«
»Ich kann Ihnen folgen, aber ich weiß nicht, was das mit mir zu tun haben soll!«
»Wir dachten uns«, Foster wurde mit einem Mal ganz herzlich,
»dass Sie sich vielleicht nach Malefis Abbey einladen lassen und die Witwe ein wenig aushorchen könnten? Ihre alte Schulfreundin. Sie helfen ihr in der Stunde der Not, so etwas in der Art. Finden Sie heraus, ob sie etwas über die Kontakte ihres Mannes zu seiner alten Heimat weiß. Falls er welche hatte. Bekam er Briefe aus dem Libanon? Besuche, über die er nicht sprechen wollte?« Meredith seufzte.
»Haben Sie mit Superintendent Hawkins darüber gesprochen?«
»Sollte ich?«
»Falls, und ich wiederhole, falls ich nach Malefis Abbey fahre und anfange, Rachel Constantine auszuhorchen, wird Hawkins denken, ich mische mich in seine Ermittlungen ein. Die Polizei mag es überhaupt nicht, wenn ihr Zivilpersonen in die Quere kommen. Oder Hawkins könnte denken, Alan Markby hätte mich geschickt, was noch schlimmer wäre! Sie hassen es noch viel mehr, wenn sich Beamte aus anderen Bezirken oder Abteilungen in ihre Angelegenheiten einmischen.«
»Darüber sollten Sie sich nicht den Kopf zerbrechen …« Mr. Foster starrte auf die dicke Haut, die sich auf seinem Kaffee gebildet hatte.
»Sollen die Jungs in Blau ihre internen Querelen untereinander austragen. Das hat nichts mit Ihnen oder mir zu tun. Hören Sie, wir bitten Sie schließlich um nichts, das nicht völlig legal wäre. Fahren Sie nach Malefis Abbey, halten Sie Augen und Ohren offen und lassen Sie uns wissen, wenn Ihnen irgendetwas faul erscheint.« Er beugte sich vor und strahlte Meredith an.
»Von unserem Standpunkt aus betrachtet sind Sie die ideale Person für diese Aufgabe. Während ihrer gesamten beruflichen Laufbahn haben Sie immer nur die besten Beurteilungen erhalten. Sie verstehen den Sicherheitsaspekt sehr genau, und Sie kennen diese Frau persönlich!«
»Ihre Zuversicht macht mich richtig verlegen!«, entgegnete Meredith.
»Aber Sie überschätzen das Vertrauen, das Rachel mir entgegenbringen wird. Ich kann nicht deutlich genug betonen, dass wir nie richtige Freundinnen waren und sich unsere Wege nur zufällig gekreuzt haben. Wir waren in der gleichen Korbball-Mannschaft, das ist alles.« Foster kicherte ausgelassen.
»Das hätte ich zu gerne gesehen.« Als er ihren eisigen Blick bemerkte, riss er sich hastig zusammen, doch es war zu spät.
»Oh? Ich verstehe. Ich hätte diese billige Boulevardzeitung meines Kollegen mitbringen sollen! Sie hätten sie beim Kaffee lesen können. Was den Besuch bei Rachel angeht, so möchte ich aus persönlichen Gründen darauf verzichten.«
»Sie meinen nicht zufällig Chief Inspector Markby? Er war früher mit der Dame verheiratet, und jetzt ist er Ihr Freund, nicht wahr?« Sein Tonfall war unverhohlen anzüglich. Es hatte ihm wohl nicht gefallen, dass sie ihn bei seiner Fantasie über pubertierende Mädchen in kurzen Röckchen beim Korbballspiel überrascht hatte. Jetzt versuchte er einen Rückzieher. Wir werden doch alle von Sex angetrieben, Ma’am!, sagte sein Tonfall.
»Es würde ihm nicht gefallen, wenn ich nach Lynstone fahre und Rachel besuche, und das kann ich nur zu gut verstehen! Sie werden zugeben, dass es ein wenig geschmacklos ist.«
»Dann nehmen Sie Ihren Freund doch mit!«
»Damit es endgültig geschmacklos wird?«, fauchte sie.
»Ach, hören Sie schon auf!«, entgegnete Foster unbekümmert.
»Wir leben schließlich in einem aufgeklärten, freien Zeitalter!« Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Sein Fell war so dick wie die Haut auf seinem Kaffee, und er wusste, dass sie sein Angebot einfach nicht ablehnen konnte. Meredith kapitulierte, doch nicht ohne zuvor klar ihre Bedingungen zu formulieren.
»Ich werde gewiss nicht die Kastanien für Ihren Verein aus dem Feuer holen. Aber ich spiele mit, bis zu einer gewissen Grenze. Erstens, es wäre besser und vor allem weniger verdächtig, wenn Rachel sich mit mir in Verbindung setzen würde und nicht umgekehrt. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie anruft. Alan, das heißt, Chief Inspector Markby, ist sich ganz sicher. Sie hat sich zwar bisher noch nicht bei mir gemeldet, aber ich schlage vor, noch eine Woche abzuwarten, ob sie nicht doch anruft. Falls sie sich meldet und mich treffen möchte, fahre ich zu ihr. Was sagen Sie? Ich halte diesen Vorschlag für recht und billig.«
»Großartig!«, sagte er fröhlich.
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie auf Ihrer Dienststelle keine Probleme wegen des Sonderurlaubs bekommen. Ihr richtiger Urlaub bleibt Ihnen selbstverständlich erhalten. Wir sind Ihnen wirklich zu Dank verpflichtet, Miss Mitchell!«
»Keine Ursache«, sagte Meredith grimmig und erhob sich.
»Wir müssen schließlich alle zur Sicherheit unseres schönen Landes beitragen, nicht wahr?« Ihre Worte trafen ins Schwarze.
Sie konnte nichts tun außer beten, dass Rachel nicht anrief, doch den Gefallen tat sie Meredith natürlich nicht. Wie üblich kam sie ohne Vorrede direkt auf ihren Kummer und ihre Not zu sprechen.
»Meredith? Du hast sicher mitbekommen, dass es heißt, mein armer Alex sei ermordet worden? Kannst du dir das vorstellen? Er hatte nicht einen einzigen Feind auf der ganzen Welt! Jeder hat nur das Beste von ihm gedacht! In meinem Kopf herrscht ein einziges Durcheinander! Ich kann mich einfach nicht mit diesem schrecklichen Gedanken befassen!«
Die tränenerstickte Stimme wurde immer schriller, hielt zögerlich stammelnd inne und fuhr nach einer kurzen Pause fester fort:
»Ich bin gerade eben erst nach Lynstone zurückgekehrt. Ich war bei Freunden in London. Sie waren so gut zu mir und haben mir die Presse vom Hals gehalten. Aber ich konnte ihnen nicht noch länger zur Last fallen, und jetzt bin ich hier – ganz allein, und es ist einfach schrecklich! Überall sehe ich Alex, und ständig klingeln irgendwelche Zeitungsleute an meiner Tür! Erst gestern kam eine Frau den ganzen Weg aus London, um mich zu interviewen! Sie spazierte einfach zu meiner Haustür und hat geklingelt, kannst du dir das vorstellen?«
Meredith fand ein paar angemessen mitfühlende Worte als Erwiderung.
»Selbstverständlich habe ich diese Frau weggeschickt, aber sie hat mit einem Fotografen vor dem Grundstück gelauert, bis der Gärtner sie schließlich davongejagt hat! Ich werde noch verrückt, wenn ich alleine hier bleiben muss! Du musst für eine Weile zu mir kommen, Merry! Du musst mir Gesellschaft leisten und mir helfen, die Presseleute auf Abstand zu halten. Ich kann das nicht alleine! Du hast überhaupt keine Vorstellung, wie schrecklich das alles ist!« Meredith unternahm einen letzten Versuch, aus der Sache herauszukommen, trotz Mr. Fosters eindringlicher Worte.
»Was ist mit deiner Familie?«
»Ich habe niemanden. Na ja, eine Schwester, aber sie ist ein hoffnungsloser Fall, besessen von ihren Kindern, und sie leben oben in der schottischen Wildnis. Die einzigen anderen Verwandten, die ich noch habe, sind zwei grimmige alte Tanten, und sie haben Alex nie gemocht, weil er ein Ausländer war. Ich habe ihnen wieder und immer wieder gesagt, er sei Brite. Ich habe ihnen sogar seinen Pass unter die Nase gehalten. Aber sie haben nur den Kopf abgewandt! Jede Wette, dass sie mich enterbt haben, diese alten Besen!« Rachels Stimme sank aus schrillen, verärgerten Tonlagen zu einem leisen Flehen herab.
»Du bist eine meiner ältesten Freundinnen, Merry! Du kannst mich nicht einfach im Stich lassen!« Das war wirklich stark. Mit sechzehn hatten sie sich das letzte Mal gesehen und erst letzte Woche wiedergetroffen. Doch Rachel schien sich bereits davon überzeugt zu haben, dass sie früher Busenfreundinnen gewesen waren.
»Du musst kommen!«, wiederholte sie, herrischer diesmal, wieder ganz sie selbst. Der flehende Tonfall hatte nicht wirklich ehrlich geklungen.
»Also schön, Rachel«, lenkte Meredith mit einem Seufzer ein. Also schön, Mr. Foster, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Ich erledige noch das Notwendigste und komme so schnell nach Lynstone, wie ich kann.«
»Sehr gut, Merry! Ich wusste, du würdest mich nicht im Stich lassen!« Rachels Stimme klang so erleichtert, dass Meredith Gewissensbisse bekam.
»Ich hoffe nur, ich kann dir helfen.«
»Das wirst du. Schon deine Anwesenheit ist Hilfe genug! Die einzige Gesellschaft, die ich hier habe, sind diese verdammten Vögel!« Sie legte auf. Vögel? Was für Vögel? Vielleicht hatte sich Meredith auch verhört. Jedenfalls gab es eine Menge anderer Dinge, die ihr gegenwärtig im Kopf umhergingen. Beispielsweise, wie sie Alan die Neuigkeiten beibringen sollte. Während sie noch überlegte, rief sie bei Mr. Foster an und berichtete ihm von der neuesten Entwicklung. Wenigstens er schien erfreut zu sein. Hätte Meredith sich nicht so unbehaglich gefühlt, als sie am folgenden Abend Alan im Bunch of Grapes in Bamford auf einen Drink traf, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass auch er sichtlich nervös wirkte.
»Rachel hat mich angerufen«, berichtete sie und nippte an ihrem halben Pint Cidre, während sie sich zum sicher hundertsten Mal fragte, wie sie ihm beibringen sollte, dass sie die Absicht hatte, seine Exfrau zu besuchen.
»Ich weiß«, erwiderte er.
»Sie hat mich gleich danach angerufen.«
»Oh. Ich verstehe.« Sie hatte nicht daran gedacht, dass Rachel es für sie tun könnte, doch es ergab Sinn. Wenn Rachel bei ihr anrief, dann würde sie auch Alan anrufen. Sie wünschte, sie hätte gewusst, was Alan empfunden hatte, als er die Stimme seiner früheren Frau am Telefon gehört hatte, doch darüber schwieg er sich aus.
»Ich höre, du fährst nach Lynstone, um ein paar Tage bei ihr zu bleiben?« Seine Stimme klang tonlos.
»Ja. Tut mir Leid, aber mir fiel keine Ausrede ein.« Sie überlegte kurz, ob sie ihm von Foster erzählen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Je weniger Alan in die Geschichte hineingezogen wurde, desto besser.
»Sie ist völlig aufgelöst. Fast hysterisch, genau genommen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, wird sie von der Presse belagert. Hawkins hat vorausgesagt, dass sich die Journalisten auf sie stürzen würden. Es war wirklich ein schlimmer Schock für sie. Ich werde am Freitag zu ihr fahren und vielleicht bis Dienstag oder Mittwoch kommender Woche bleiben. Ich kann mir denken, dass dir das nicht besonders gefällt.«
»Was soll ich sagen, außer, dass du Rachel einige Jahre länger kennst als ich?« Markby grinste schief.
»Außerdem, sie hat mich am Sonntag zum Mittagessen eingeladen, während du zu Besuch bist. Rachel hat sich noch nie von etwas abhalten lassen, nur weil es anderen Leuten peinlich sein könnte.« Meredith starrte ihn an. Sie wusste, dass ihr der Schreck darüber in großen, deutlichen Buchstaben auf die Stirn geschrieben stand und konnte doch nichts dagegen tun.
»Also wirst du ebenfalls zu ihr fahren? Du hast ihre Einladung angenommen?« Er bewegte sein Glas so über die Tischfläche, dass es eine nasse, runde Spur hinterließ.
»Es ist schwer, Rachel etwas zu verweigern, wie du selbst herausgefunden hast. Außerdem hat sie einen schlimmen Schlag hinnehmen müssen, und ich vermute, sie hat sonst wirklich niemanden, an den sie sich wenden könnte …«
»Ich verstehe.« Merediths Stimme klang sehr leise und sehr kalt. Markby sah auf und schob eine blonde Locke zurück, die ihm in die Stirn gefallen war. Er blickte zugleich gereizt und elend drein.
»Hör mal, mir gefällt das genauso wenig wie dir! Ich will nicht zu ihr, und du willst nicht zu ihr! Mein Unbehagen ist wahrscheinlich noch größer als deins, weil meine Beziehung zu Rachel etwas ist, von dem ich geglaubt habe, es sei vergangen und vergessen! Aber wie ich schon sagte, wenn Rachel ein Problem hat, wird jeder in ihrer Umgebung mit hineingezogen!«
»Verdammter Constantine!«, stieß Meredith unvermittelt hervor.
»Gott sei seiner Seele gnädig und alles, aber wenn er sich schon ermorden lassen muss, warum kann es dann nicht in Lynstone sein? Dann wäre es eine Sache der einheimischen Polizei gewesen!«
»Ja«, sagte Markby und nahm sein Glas hoch.
»Ich könnte mir vorstellen, dass irgendjemand genau das vermeiden wollte.« Mit offener Besorgnis blickte Markby sie über den Rand des Glases hinweg an.
»Halt bitte die Augen offen, Meredith, während du in Lynstone bist. Ich habe so ein ungutes Gefühl, als würde irgendwo dort der Mörder herumlaufen.« Hatte Mr. Foster vielleicht auch über diese Möglichkeit nachgedacht?
KAPITEL 6
»Was machst du da, Nevil?« Mrs. James stand in der Küchentür und starrte ihren Sohn an, der in einer Schublade des Schranks kramte. Er drehte sich zu ihr um und hielt etwas hoch, das aussah wie eine winzige Zange.
»Ich hab Rachel gesagt, ich würde nach Malefis kommen und ein paar Krallen stutzen.« Bevor seine Mutter etwas darauf erwidern konnte, fuhr er hastig fort:
»Nein, sag es nicht, Ma! Nicht jetzt. Nicht, nachdem Rachel so etwas Schreckliches widerfahren ist! Sie ist in einem entsetzlichen Zustand. Wir alle sollten tun, was in unserer Macht steht, um ihr über diesen Schicksalsschlag hinwegzuhelfen!«
»Ein paar Krallen zu schneiden sollte ihre Fähigkeiten nicht übersteigen!«, sagte Mrs. James mit spröder Stimme.
»Das lenkt sie ab. Gar nicht verkehrt, wenn sie etwas zu tun hat. Das ist nämlich ihr Problem, dass sie überhaupt nicht weiß, was sie mit sich anfangen soll!«
»Sei fair, Ma! Es war Alex’ Aufgabe, und du kannst nicht erwarten …« Er brach ab und fügte dann störrisch hinzu:
»Du kannst nicht erwarten, dass sie über Nacht lernt, ohne ihn zurechtzukommen.«
»Und warum nicht?« Mrs. James wollte den Streit nicht fortsetzen, doch es gelang ihr nicht, den Mund zu halten.
»Ich musste es schließlich auch, als dein Vater auf und davon gegangen ist!«
»Alex hat sie nicht verlassen, er ist tot!« Nevil schob die Zange in die Tasche.
»Fang nicht wieder damit an, Ma, bitte! Ich hab das alles schon so oft gehört, dass es mir vorkommt wie ein alter Film, der immer wieder von vorn anfängt! Das Einzige, was fehlt, ist ›Hearts and Flowers‹ im Hintergrund. Ich erinnere mich nicht an meinen Vater, und er ist mir vollkommen gleichgültig. Als kleiner Junge hätte ich wahrscheinlich gerne einen Vater um mich gehabt, aber er war nicht da, und heute bin ich kein kleiner Junge mehr! Ich habe ihn nie gebraucht, und offen gestanden, ich brauche dich auch nicht, wenn du weiter vorhast, mein Leben in einen verdammten Haufen Elend zu verwandeln! Du bist besessen von ihm, ist dir das eigentlich bewusst? Er ist vor fünfundzwanzig Jahren abgehauen, aber in deinem Kopf hat er dich nie verlassen! Seit damals zerbrichst du dir seinetwegen den Kopf! Mir ist bewusst, dass er dein Leben ruiniert hat, aber ich werde nicht tatenlos mit ansehen, dass du deswegen meins ruinierst! Manchmal habe ich richtig Mitgefühl für den armen Kerl, der dir eines Tages davongelaufen ist!« Er brüllte inzwischen, was er sonst so gut wie nie tat. Seine Mutter starrte ihn an, erschrocken, entsetzt über die heftige Reaktion, die sie verursacht hatte. Als er ihren bestürzten Gesichtsausdruck bemerkte, die Verwirrung und Furcht auf ihrem wettergegerbten Gesicht und den offen stehenden Mund, fuhr er sanfter und mit schiefem Grinsen fort:
»Hat ihm vielleicht meine Nase nicht gefallen?«
»Ihm gefiel seine Sekretärin!« Rebellisch fügte sie hinzu:
»Eine Wasserstoffblondine mit krummen Beinen. Ein Fall von Rachitis, wenn du mich fragst.« Einen Augenblick später lachten beide.
»Hör zu, Ma, es tut mir Leid«, sagte Nevil.
»Ich möchte keinen Streit. Aber du treibst mich immer wieder dahin, verstehst du?«
»Ach, zum Kuckuck noch mal!«, sagte Mrs. James, während sie ein Taschentuch hervorzog und sich damit über die Augen wischte.
»Ich weiß, dass ich nicht aufhören kann damit, Nevil. Aber das liegt daran, dass mir das Schicksal ein paar ziemlich gemeine Tiefschläge versetzt hat und ich mir keine Illusionen mehr mache. Das Leben ist ein Scheißhaufen.«
»Und ich weiß nichts darüber, willst du das sagen?«
»Offen gestanden – genau das.« Sie biss sich auf die Lippe und wartete darauf, dass er ihr die Schuld dafür gab, weil sie ihn all die Jahr hier festgehalten hatte. Doch er sagte nichts. Stattdessen ging er an ihr vorbei, tätschelte ihren Arm und murmelte:
»Mach dir keine Sorgen, Ma. Alles kommt wieder in Ordnung.«
»Auf den Tag warte ich«, brummte sie und folgte ihm zur hinteren Veranda, um ihn zu beobachten, wie er munteren Schrittes auf die Schornsteine von Malefis Abbey zumarschierte. Sie wusste, wie viele Mütter vor ihr auch, dass es nicht das Geringste gab, was sie daran hätte ändern können. Gillian kehrte mit den Hunden zurück, die sie ausgeführt hatte. Nevil blieb kurz stehen und wechselte ein paar Worte mit ihr, bevor er weiterging. Gillian zerrte die Hunde auf ihre Tageszwinger zu. Die Anzahl der Tiere in der Pension schwankte mit dem Kommen und Gehen der verschiedenen Hunde- und Katzengäste. Diese Woche waren zwei Beagle, der Corgi, der tatsächlich noch aufgetaucht war, sowie ein Mischling von der Sorte, die man wohl am besten mit
»Köter« beschreibt, die einzigen Hunde, die in der Tierpension einquartiert waren. Gillian kam blendend mit den Hunden zurecht. Die Beagle waren ausgebildet und benahmen sich tadellos. Der Corgi, der noch neu in der Pension war, mochte nicht an der Leine gehen oder überhaupt gehen und musste hinterhergezerrt werden. Der Köter hätte alle vier in ein heilloses Knäuel verwandelt, hätte er eine Chance dazu bekommen. Doch Gillian gab ihm keine.
»Nun sieh sich einer dieses Mädchen an.« Mrs. James dachte schon wieder laut.
»Gillian kommt zurecht. Muss sie wohl auch, bei den Eltern. Eine Schande, dass Nevil … aber nein, er will nicht.« Sie seufzte. Immer dann, wenn man dachte, eine Situation wäre schlimm genug, wurde sie noch schlimmer. Die verheiratete Rachel Constantine hatte genug Probleme bereitet. Aber das war nichts gewesen im Vergleich zu denen, die sie nun als attraktive, wohlhabende Witwe bereiten würde. Mrs. James dämmerte allmählich, dass jede beliebige Frau besser für ihren Sohn gewesen wäre als Rachel Constantine mit ihren Schlingen und Fallen. Mrs. James hatte Nevil zu sehr isoliert. Sie hätte ihn drängen sollen, häufiger auszugehen, in die Stadt zu fahren, Freunde und Freundinnen in seinem Alter zu finden. Jetzt war es zu spät, um daran noch etwas zu ändern – nicht, dass es in Mollys Natur gelegen hätte, jemals aufzugeben.
»Wenn ich doch nur jemand anderes für Nevil finden könnte!«, murmelte Mrs. James.
»Jemand Intelligentes, mit Charakter und dazu attraktiv. Aber so jemanden haben wir nicht in Lynstone.« Später am Tag folgte Meredith dem Wegweiser, auf dem
»Lynstone. Einspurige Fahrbahn. Vorsicht!« stand, und bog in eine schmale Landstraße ein. Die Straße stieg sanft an und bot zu beiden Seiten einen hübschen Ausblick auf eine geschwungene Hügellandschaft, die sich in wenigen Monaten in ein Meer blauer Flachsblüten verwandeln würde, doch im Augenblick war alles von monotonem stumpfen Grün überzogen. Oben angekommen, führte die Straße wieder hinab in ein schmales Tal, das von Gras bewachsenen Hängen umschlossen wurde, bis Meredith unterhalb der Felder war und den Eindruck gewann, durch einen Hohlweg zu fahren. Danach stieg der Weg wieder an, doch steiler diesmal und von Bäumen gesäumt, die kaum Licht durchließen. Meredith fuhr weiter in Richtung Hügelkamm, zuversichtlich, dass es nicht mehr weit sein konnte bis zur nächsten Ortschaft. Es gab Hinweise darauf, dass die Gegend bewohnt war. Schmale Einfahrten, die in größeren Abständen zwischen Bäumen und hohen Hecken abzweigten und zu großen, einsam liegenden Häusern führten. Meredith passierte ein Schild mit der Aufschrift
»Lynstone Kennels and Cattery«, Zwinger und Katzenpension. Das Schild war in ungelenker Schrift handgemalt, und eine Zeichnung zeigte einen Hund und eine Katze. Die Katze sah vielleicht noch halbwegs nach einer Katze aus, doch der Hund erinnerte an ein zu groß geratenes Nagetier mit einem langen Hundeschwanz. Danach kam ein weiteres Schild, auf dem in unregelmäßigen Großbuchstaben zu lesen stand:
»BITTE LANGSAM FAHREN. SCHLECHT EINSEHBARE ABZWEIGUNG. LYNSTONE HOUSE HOTEL.« Wie nicht anders zu erwarten, passierte sie eine weite Kurve und bemerkte hinter einer Reihe von Bäumen ein düsteres Herrenhaus. Danach folgten weitere Auffahrten, die zu weiteren ähnlich großen Häusern führten, und schließlich der Hügelkamm selbst. Meredith überquerte die Anhöhe und fand sich plötzlich hinter Lynstone wieder. Die Straße führte steil nach unten in offenes, freies Farmland. Irgendwie war sie am Dorf vorbeigefahren. In der Einfahrt zu einem Feld wendete Meredith den Wagen und fuhr die gleiche Strecke wieder zurück. Auf der einen Seite nach Lynstone hinein, auf der anderen wieder heraus. Aber wo lag das Dorf? Es war, als suchte sie nach dem legendären Brigadoon. Nur nach dem Phantom eines Dorfes. Es existierte überhaupt nicht. Es war nichts weiter als ein Name auf einer Landkarte. Lynstone besaß keine Kirche und kein Pub, es sei denn, man zählte das Lynstone House Hotel dazu. Es gab keine Cottages, keinen heruntergekommenen Dorfladen, keine Schule. Keine Bushaltestelle, keine gepflasterten Bürgersteige, keine flatternden Banner, die einen Flohmarkt ankündigten. Es gab absolut nicht das Geringste, was darauf hingewiesen hätte, dass der Ort Lynstone ein Zentrum hatte. Er erstreckte sich einfach über zahlreiche Fahrwege und Auffahrten, eine Art Schlupfloch für Reiche, die gerne auf dem Land leben und ungestört ihre Privatsphäre genießen wollten. Der einzige Hinweis, dass hier auch irgendjemand arbeitete, war die Existenz der Tierpension. Nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Meredith hätte sich vielleicht einfacher zurechtgefunden, wenn Rachel ihr eine Wegbeschreibung gegeben hätte.
»Du kannst es überhaupt nicht verfehlen!«, war alles, was Rachel gesagt hatte, als Meredith zurückgerufen und ihren Besuch angekündigt hatte. Wie es nun aussah, blieb ihr nichts anderes übrig, als erneut zu wenden und zum Lynstone House Hotel zu fahren, um dort um Auskunft zu bitten. Sie stieg aus dem Wagen, warf die Tür zu und ließ den Blick über die stille Fassade des Hotels gleiten. Es sah aus wie die Residenz eines viktorianischen Gentlemans, die harte Zeiten durchmachte. Meredith drückte auf den Klingelknopf neben der äußeren Eingangstür zur Lobby, und dann, als nichts geschah, öffnete sie die Tür und trat ein, durchquerte die Lobby und die eigentliche Tür, um das Haus selbst zu betreten. Sie fand sich in einer gefliesten Halle wieder. Sie war leer, und es war totenstill. Eine breite Treppe führte nach oben in unsichtbare Regionen. An den Wänden hingen Drucke von Jagdszenen, und aus Glasvitrinen starrte sie eine Auswahl mottenzerfressener ausgestopfter Vögel an. Sie war nicht wirklich überrascht, als sie ein weiteres handgemaltes Schild entdeckte. Eine geschnitzte Hand deutete schweigend auf die Bar. Meredith schätzte, dass dieses Schild genau wie alle anderen in Lynstone von der Hand des gleichen unbegabten Künstlers stammte. Sein Stil war markant, und sein Ziel war, so begann sie zu vermuten, den Ort mit Holzschildern zu füllen, wenn es schon keine Menschen gab. Meredith folgte dem krummen deutenden Finger und fand sich in einem Raum wieder, der wohl irgendwann einmal ein Salon gewesen war. Die Bar selbst befand sich in einer Ecke, und dahinter hing, was wohl früher einmal einer der großen Spiegel des Herrenhauses gewesen war: ein kunstvoll verziertes Stück mit einem breiten geschnitzten Rahmen, wahrscheinlich ziemlich wertvoll. Heruntergekommene, doch gemütliche Sessel standen herum, und auf einem Couchtisch lagen ein paar Zeitungen. Meredith nahm alles in sich auf, die Hände in den Taschen, als sie unvermittelt Stimmen hörte. Beide waren weiblich. Die eine, knapp im Tonfall, hoch und Mittelklasse, sagte:
»Nun, ich mache mir jedenfalls große Sorgen.« Aus der anderen hörte man die Landbewohnerin heraus, sie war dunkler und beruhigend.
»Jetzt reg dich nicht unnötig auf, Molly. Alles wird sich zum Besten wenden, du wirst sehen.«
»Aber wenn dieser Polizist aus London herkommt …« An dieser Stelle betraten die beiden Sprecherinnen die Bar durch eine halb offene Tür an der Seite der Theke. Die Erste war eine groß gewachsene, starkknochige Frau in Kordhosen und einer schmutzigen wattierten Weste. Die andere, die ihr dichtauf folgte, war üppig gebaut, mütterlich; sie trug einen blauen Strickpullover. Dazu hielt sie ein Geschirrtuch in Händen, als wäre es ein offizielles Zeichen ihrer Würde. Beide starrten Meredith an, und die Dicke fragte:
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich habe geklingelt«, erwiderte Meredith.
»Ich brauche eine Wegbeschreibung. Ich hoffe, ich störe nicht?«
»Oh, dann haben Sie sich wohl verfahren?«, sagte die Frau freundlich. Sie klang nicht überrascht oder auch nur neugierig. Wahrscheinlich verfuhren sich ständig irgendwelche Leute auf der Suche nach Lynstone.
»Ich fürchte ja. Ich suche nach Malefis Abbey.« Ihre Worte erzeugten einen subtilen, doch spürbaren Stimmungsumschwung. Die andere Frau, die Meredith bisher schweigend beobachtet hatte, stieß ein lautes:
»Harrrummph!« aus. Die dicke Frau warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Fahren Sie zurück, den Hügel hinauf, meine Liebe, an der Tierpension vorbei, und dann kommen Sie zu einer schmalen Auffahrt, die zwischen Hecken versteckt liegt. Windmill Hill steht dran. Sie fahren die Auffahrt ein paar Hundert Yards hoch, dann sehen Sie bereits das Tor der Abbey. Sie können es überhaupt nicht verfehlen, die Pfosten sind mit zwei großen steinernen Ananas verziert. Aber es ist in Wirklichkeit natürlich keine.«
»Keine?«, fragte Meredith verständnislos.
»Keine Abbey. Es war niemals eine Abtei. Dummer Name, den sie sich da ausgesucht haben. Nicht wie Windmill Hill – früher stand wirklich eine alte Mühle dort oben. Niemand hat sich um sie gekümmert, und gegen Ende des letzten Krieges ist sie eingestürzt. Die alten Leute aus der Gegend kennen die Mühle noch.«
»Ich verstehe«, sagte Meredith. Sie zögerte, als ihr bewusst wurde, dass als Gegenleistung von ihr ebenfalls ein paar Informationen erwartet wurden.
»Ich bin hergekommen, um eine Zeit lang bei Mrs. Constantine zu wohnen.«
»Oh, ja.« Die Dicke klang nicht, als hätte sie eine hohe Meinung von Mrs. Constantine. Doch die Schicklichkeit behielt die Oberhand.
»Wir waren alle betroffen, als wir von dieser Geschichte erfuhren. Ein grässlicher Schock, wirklich. Ich selbst war noch nie in London, und nach allem, was man so liest und im Fernsehen sieht, glaube ich auch nicht, dass ich jemals dorthin möchte! Er – Mr. Constantine, meine ich, war ein netter Mann. Sehr höflich, sehr gebildet. Er ist hin und wieder auf einen Drink hergekommen oder zum Frühschoppen. Er hat nie mehr als einen Drink genommen, immer einen Scotch. Er hat sich mit ein paar Leuten unterhalten und ist dann wieder nach Hause gegangen.« Meredith fragte sich, woher die
»paar Leute« wohl gekommen sein mochten. Woher um alles in der Welt nahm dieses Hotel seine Gäste?
»Sie führen dieses Hotel?«, fragte Meredith. Die Frau kicherte.
»Herr im Himmel, wo denken Sie hin! Ich helfe hier nur aus. Ich heiße übrigens Mavis Tyrrell. Der Besitzer ist Mr. Troughton. Er ist im Augenblick nicht da. Er ist zum Weinhändler gefahren.« Also schien das Lynstone House Hotel trotz des gegenteiligen äußeren Anscheins gut zu gehen. Meredith fragte das Offensichtliche.
»Es ist, äh, sehr still hier. Haben Sie viele Gäste auf der Durchreise?«
»Nein, nein, niemand reist durch Lynstone. Aber wir haben eine Menge Buchungen für Konferenzen und andere Veranstaltungen wie beispielsweise Klassentreffen, und wir haben Gäste, die ihren Urlaub an einem hübschen, ruhigen, gemütlichen Ort verbringen wollen. Außerdem kommen die Einheimischen – es gibt mehr davon, als Sie glauben – in unsere Bar. Nun ja, Lynstone besitzt kein anständiges Pub, verstehen Sie? Nicht, wenn man dieses The Fox nicht mitrechnet, und das würde ich nicht als einladenden Ort bezeichnen. Außerdem müssten sie hinfahren, und die Menschen fahren heutzutage nicht mehr so gerne Auto, oder irre ich mich? Nicht bei den strengen Gesetzen gegen Alkohol am Steuer. Also kommen sie zu Fuß hierher, und jeder kennt jeden, und jeder redet mit jedem. Ihnen gefällt es so. Ich denke, der bedauernswerte Mr. Constantine ist aus dem gleichen Grund gekommen wie die anderen.« Ein wenig verspätet fügte sie hinzu:
»Das ist Mrs. James. Sie führt die Tierpension.« Aus ihrem Mund klang es wie ein bedauerliches Gebrechen.
»Erfreut, Sie kennen zu lernen!«, sagte Mrs. James grimmig.
»Sie sind keine Verwandte, oder?«
»Von Mrs. Constantine? Nein. Wir … offen gestanden, ich bin mit ihr zusammen zur Schule gegangen.«
»Oh?« Das gab ihnen Stoff zum Schwatzen für später. Mrs. James schürzte die dünnen Lippen. Meredith fiel auf, dass Mrs. James eisern geschwiegen hatte, als Mavis ihrem Bedauern über den Tod von Alex Constantine Ausdruck gegeben hatte. Jetzt redete sie dafür umso mehr.
»Ich dachte mir, als ich Sie da hab stehen sehen, Sie wären vielleicht eine Polizistin. Ein weiblicher Detective. Sie sind groß, und Sie sehen aus, als wären Sie tüchtig. Mavis hier …«, sie deutete mit einer Handbewegung auf die Dicke,
»Mavis hat ein Zimmer für das Gesetz reserviert. Du hast es doch schon fertig für den hohen Besuch, nicht wahr, Mavis?«
»Aus London!«, sagte Mavis.
»Sein Name lautet nicht rein zufällig Hawkins?«, erkundigte sich Meredith beunruhigt.
»Genau der!« Mavis’ Miene hellte sich auf.
»Ein Superintendent! Natürlich wissen Sie bestimmt alles über den Mord, wo Sie doch Mrs. Constantines Freundin sind! Wie es passiert ist und so! Auf einer Blumenausstellung! Ist es die Möglichkeit?«
»Äh, ja. Mrs. Constantine ist nie zusammen mit ihrem Mann hergekommen, um etwas zu trinken?« Merediths Blick schweifte durch die Bar.
»Ein- oder zweimal.« Etwas, das aussah wie ein Lächeln, huschte über das fleischige Gesicht der Dicken.
»Ich glaube, hier zu verkehren war nicht so ganz nach ihrem Geschmack.« Weitere Fragen hätten vermutlich Misstrauen erweckt, doch Meredith nahm sich vor, irgendwann im Lauf der nächsten Tage noch einmal herzukommen und etwas zu trinken. Mavis schien von der schwatzhaften Sorte zu sein, und die anderen hatten möglicherweise ebenfalls etwas über Constantine zu sagen. Mrs. James war eher wortkarg, doch etwas in der Art und Weise, wie sie Meredith ansah, ließ vermuten, dass auch sie Neugier verspürte und willens war, Informationen preiszugeben. Sie musterte Meredith intensiv, und Meredith fragte sich, was sie wohl denken mochte. Sie blickte zur Theke und sah vor ihrem geistigen Auge Alex dort sitzen, bei einem Glas Scotch. Im Verlauf ihrer sehr kurzen Bekanntschaft war er ihr – genau wie Mavis – als ein netter Mann erschienen. Sie begann sich zu fragen, ob Alex ein einsamer Mann gewesen war. Nach ihrem kurzen Besuch im Lynstone House Hotel war es jedenfalls ein Leichtes, Malefis Abbey zu finden. Wie Rachel und auch Mavis gesagt hatten – man konnte es überhaupt nicht verpassen. Die Einfahrt lag knapp oberhalb von Windmill Hill, auf der linken Seite, gerahmt von zwei dicken rechteckigen Torpfosten, die halb von Gestrüpp verdeckt waren. Meredith hielt nach den Ananas Ausschau und entdeckte sie schließlich, kaum zu sehen unter dem üppigen grünen Blätterwerk. Sie waren von Moos überwuchert und grob gehauen, und sie standen in einer Art riesigem Eierbecher. Wenn Meredith richtig schätzte, waren sie gut einen Fuß hoch. Sie wusste, dass Ananas ein traditionelles Zeichen für Gastfreundschaft waren, und fragte sich, ob dieses Symbol sich als angemessen für Malefis Abbey herausstellen würde. Das Haus war ein Beispiel für viktorianisch-neugotische Überladenheit. Es war aus dunklem, braunrotem Stein errichtet, vielleicht als Gegenstück zu Lynstone House Hotel, und der Architekt hatte offensichtlich den Auftrag gehabt, eine Abtei zu entwerfen – oder das, was die romantische Vorstellungskraft jener Zeit für ein mittelalterliches Kloster gehalten hatte. Die Fenster liefen in frühem neugotischen Stil nach oben spitz zu. Entlang der Dachgesimse ragten in regelmäßigen Abständen Wasserspeier aus steinernen Drachenköpfen, Adlern und Menschengesichtern, die so grotesk waren, dass sie wahrscheinlich Teufel darstellen sollten. Über der ganz und gar nicht zum Gesamtbild passenden Tudor-Eingangstür hielt ein Adler einen Schild, dessen Wappen längst verwittert war. Das Wappentier grinste auf den Weg zum Haupteingang hinab, als wüsste es etwas, das dem Besucher nicht gefallen würde. In starkem Kontrast zu all dem stand der wunderbar gepflegte Park. Ein junger Mann arbeitete mit einer Hacke und einer Schubkarre bei einem Blumenbeet neben dem Eingang. Er hielt inne, als Meredith sich näherte, und kam zu ihrem Wagen, um ihr die Tür aufzuhalten.
»Guten Morgen, Miss Mitchell! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt hierher?« Seine Stimme klang ein wenig heiser und besaß einen anziehenden französischen Akzent.
»Hallo. Sie sind Martin, nicht wahr?«, sagte sie, als sie den Gärtner-Chauffeur wiedererkannte. Er wirkte um einiges glücklicher hier bei seinen Blumenbeeten als bei ihrer letzten Begegnung, wo er von einer vollkommen hysterischen Rachel Constantine mit Instruktionen bombardiert worden war.
»Ja, Mademoiselle. Mrs. Pascoe, die Haushälterin, ist in die Stadt gefahren. Doch Mrs. Constantine erwartet Sie bereits. Die Tür ist offen. Mrs. Constantine hat gesagt, Sie möchten hereinkommen. Sie finden sie im Wintergarten. Er liegt an der Rückseite des Hauses. Ich werde Ihr Gepäck hineinbringen.« Meredith zögerte.
»Wie geht es Mrs. Constantine?« Martin wich ihrem Blick aus.
»Es geht ihr einigermaßen gut, aber sie, ich kenne den englischen Ausdruck nicht, sie ist en deuil.«
»In Trauer«, half Meredith aus.
»Ah, ja«, sagte Martin nachdenklich.
»Sie ist in Trauer.« Einmal mehr betrat Meredith ein großes, scheinbar menschenleeres Haus. Doch hier verriet ihr die Behaglichkeit des Interieurs sogleich Rachels Hand, die zarten Pastelltöne, die ein sonst gewiss düsteres Inneres erhellten und die seltenen, sorgfältig ausgewählten und platzierten Antiquitäten. Auch war dieses Haus nicht totenstill. Denn als Meredith den Mund öffnete, um ihre Ankunft zu melden, vernahm sie lautes Lachen. Das Geräusch kam so unerwartet und klang so körperlos, wie es von den hohen Decken echote, dass Meredith heftig vor Schreck zusammenfuhr. Das Lachen war von irgendwo im hinteren Teil des Hauses gekommen, aus Richtung – wie hatte Martin doch gesagt? – des Wintergartens. Offensichtlich war Rachel nicht allein. Merkwürdig, dachte Meredith, dass Martin nichts von einem anderen Besucher erwähnt hatte. Meredith hatte auch keinen anderen Wagen gesehen, der irgendwo in der Auffahrt geparkt stand, also war dieser Besucher wahrscheinlich zu Fuß gekommen. War es möglich, dass einer von Lynstones so schwer zu entdeckenden Bewohnern aufgetaucht war, um Rachel einen Kondolenzbesuch abzustatten? Meredith ging weiter in die Richtung, aus der das Lachen gekommen war. Als sie sich näherte, vernahm sie einen weiteren, fast genauso unerwarteten Laut. Es war eine Klangwoge aus Zwitschern, als wären zahlreiche Vögel aus ihren Nestern aufgeschreckt worden. Jetzt erst recht neugierig geworden, durchquerte Meredith einen Speisesaal, trat durch eine Glastür und stieß überrascht einen Laut aus. Sie befand sich in einer riesigen viktorianischen Orangerie, einer hoch aufragenden Konstruktion aus schmiedeeisernen Streben und Glas, das zum Teil rot und blau eingefärbt war. Es herrschten beinahe tropische Temperaturen, dank der dicken Heizrohre, die ein paar Zoll über dem mit Terrakotta gefliesten Boden an den Wänden entlang verliefen. Doch die meisten Pflanzen, die einst in dieser Orangerie gestanden haben mussten, waren entfernt worden – bis auf einen einzigen Orangenbaum, der die Luft schwer machte mit dem süßlichen Duft seiner Blüten. Er war umhüllt von einer riesigen Drahtvoliere, die fast die Hälfte des verfügbaren Raums einnahm. Die Voliere war gefüllt mit Kanarienvögeln – so vielen, dass es unmöglich war, sie zu zählen. Sie flatterten überall zwischen den Zweigen des Orangenbaums umher. Meredith sah gelbe und fast weiße und gestreifte Kanarienvögel. Jetzt, wo Meredith so nah war, war der Lärm, den die Vögel machten, fast ohrenbetäubend. Er echote von den Glaswänden zurück und fing sich unter dem geschwungenen Dach mit seinen schmiedeeisernen Trägern. Zwei Personen standen vor der Voliere. Eine von ihnen, ein junger Mann, hielt einen Kanarienvogel. Er hob das kleine Wesen in die Höhe, um es genauer zu begutachten, und hatte eine seiner Krallen zwischen Daumen und Zeigefinger gepackt. In der anderen Hand hielt er eine winzige Krallenschere. Die andere Person war Rachel. Sie trug dunkle Kleidung, doch nach Schnitt und Farbe konnte man wohl kaum von Trauerkleidung sprechen. Enge schwarze Hosen, dazu passend eine weite purpurne Seidenjacke, die von einem breiten Gürtel aus schwarzem Wildleder mit einer goldenen Schnalle zusammengehalten wurde. Das honigblonde Haar war mit einer schwarzen Samtschleife in den Nacken gebunden. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und stand in einer lässigen und provokativen Haltung auf hochhackigen Schuhen, den einen Fuß leicht hinter dem anderen, die Hüfte vorgestreckt. Sie wandte sich lächelnd um, als sie Merediths überraschten Laut hörte, und breitete zur Begrüßung die Arme aus. Ihre grünen Augen glitzerten.
»Hallo, Merry, meine Liebe! Hat dich der Anblick überrascht? Die meisten Leute sind überrascht, wenn sie zum ersten Mal das Vogelhaus betreten!« Sie deutete auf die Voliere.
»Das war Alex’ Hobby.« Meredith richtete den Blick auf den jungen Mann, der den Kanarienvogel hielt. Er war sichtlich nervös und fühlte sich unbehaglich. War Martin, indem er Rachels Besucher verschwiegen hatte, einfach nur diskret gewesen? Rachel jedenfalls war alles andere als verlegen. Sie tätschelte seinen Arm, eine Geste, die dazu führte, dass er hochrot anlief.
»Das hier ist Nevil«, sagte sie.
»Er ist vorbeigekommen, um den Vögeln die Krallen zu schneiden. Er hat mir sehr geholfen, seit der arme Alex nicht mehr ist. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich ohne ihn zurechtgekommen wäre.« Ein betretenes Schweigen entstand, während Meredith und Nevil sich musterten. Dann streckte Meredith ihm die Hand entgegen.
»Meredith Mitchell. Rachel und ich waren auf derselben Schule. Ich denke, Sie hat Ihnen von mir erzählt?« Nevil murmelte etwas, das sowohl ein Ja als auch ein Nein bedeuten konnte, dann hob er entschuldigend die Hände, den gefangenen Kanarienvogel in der einen und die Krallenschere in der anderen Hand.
»Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht die Hand schütteln kann«, sagte er mit einem nervösen Lächeln.
»Keine Sorge«, erwiderte Meredith. Er sieht, dachte sie, eigentlich ziemlich gut aus, auch wenn seine Gesichtszüge ein wenig schwach ausgeprägt sind. Andere mochten dieses Merkmal vielleicht als Zeichen besonderer Sensibilität deuten. Wie dem auch sei, er wirkte im Augenblick irgendwie absurd, mit dem Kanarienvogel, dessen Kopf aus seiner Hand sah.
»Was machen Sie da?«, fragte Meredith neugierig.
»Krallen schneiden«, sprudelte Nevil hastig hervor, als hätte Merediths Frage einen verborgenen Schalter umgelegt.
»Es ist ganz leicht. Man muss die Krallen nur ins Licht halten, sehen Sie, so.« Er hob den Vogel hoch, eine ausgestreckte Kralle zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine eigenen Hände waren lang und dünn und erinnerten selbst irgendwie an Klauen.
»Im Licht sind sie durchscheinend, sehen Sie, und man kann die Blutgefäße erkennen. Es ist wichtig, dass man sie nicht verletzt.«
»Ich kann das nicht«, sagte Rachel laut.
»Ich mag diese Tiere nicht halten, und ich könnte ihre Füße nicht anfassen! Sie sind so schuppig, igitt.« Sie starrte nachdenklich auf die Voliere.
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich mit ihnen anfangen soll.«
»Ich könnte rüberkommen und mich darum kümmern«, sagte Nevil.
»Es macht mir nichts aus …« Er brach ab und errötete einmal mehr.
»Hören Sie, Rachel«, er warf Meredith einen unsicheren Blick zu,
»ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ich kann ein andermal wiederkommen.« Er öffnete die Tür der Voliere und ließ den Vogel frei. Dieser flatterte aus Nevils Hand und hinauf in die obersten Zweige des Orangenbaums. So ein Baum in einem Käfig hat etwas sehr Eigenartiges, dachte Meredith. Aber Malefis Abbey erwies sich durch und durch als ein sehr eigenartiges Haus.
»Es war nett, Sie kennen zu lernen, Miss Mitchell … bitte entschuldigen Sie mich.« Er eilte davon, nicht durchs Haus, sondern durch eine Tür der Orangerie, die in den weitläufigen Garten hinausführte. Meredith und Rachel sahen ihm hinterher, als er hastig den Rasen überquerte, bis er hinter ein paar Büschen verschwunden war. Rachel seufzte.
»Ich weiß genau, was du jetzt denkst, Merry.«
»Tatsächlich?«, Meredith sah sie an.
»Meine Liebe …«, Rachel hakte sich bei Meredith unter.
»Komm, wir trinken Kaffee, und ich beichte dir alles. Nicht, wie ich betonen möchte, dass es etwas zu beichten gäbe! Aber ich möchte nicht, dass du eine falsche Vorstellung bekommst, wie einige andere Leute hier in der Gegend.«
KAPITEL 7
»Hier scheinen nicht besonders viele Menschen zu leben«, bemerkte Meredith, als sie in einem kleinen, hübschen Wohnzimmer Platz genommen hatten. Rachel schenkte den Kaffee aus, den sie aus der Küche mitgebracht hatte.
»Das eigentliche Dorf liegt weiter die Straße entlang, ungefähr zwei Meilen oder so. Es nennt sich Church Lynstone. Unser Ortsteil hier heißt nur Lynstone.«
»Dann bin ich wohl nicht weit genug gefahren, schätze ich.«
»Oh, es gibt nichts Besonderes zu sehen«, erwiderte Rachel nonchalant.
»Ein hübsche alte Kirche, ein weniger hübsches Pub, ein paar Cottages und Naseby’s Garage. George Naseby verkauft nebenbei Zeitungen, Milch und ein paar Lebensmittel. Grässliches geschnittenes Brot, Corned Beef und Obst in Dosen, dieses Zeugs. Nichts, was man wirklich haben will. Es ist der einzige Laden im ganzen Dorf. Er nennt es Naseby’s MiniMart.« Rachel lächelte. Meredith überlegte, dass Rachel mit diesem
»man« auf einen sozialen Unterschied hingewiesen hatte. Die Dorfbewohner waren wahrscheinlich ganz froh darüber, dass dieser MiniMart geschnittenes Brot und Corned Beef verkaufte. Rachels nächste Worte schlugen ein wie eine Bombe.
»Weißt du, Alex’ Begräbnis findet in dieser Kirche statt. Am Dienstag.«
»Was? Warum hast du davon nichts gesagt?«, rief Meredith.
»Nun, ich habe gefragt, und sie haben gesagt, sie würden seinen Leichnam freigeben. Sie sind fertig mit ihrer Obduktion und allem. Eigentlich war Alex nicht in der Kirche von England. Er hat irgendeiner exotischen Kirche angehört, nicht der orthodoxen, sondern der mer … , der mar …«
»Der maronitischen?«
»Ja, genau! Aber der Priester hatte keine Einwände, als ich ihn gefragt habe. Also war ich bei dem Bestattungsunternehmen in Chipping Norton. Es macht doch keinen Sinn, unnötig lange zu warten. Ich möchte es hinter mich bringen.« Ihre Stimme nahm einen eigensinnigen Tonfall an.
»Ich schwebe irgendwie in der Luft. Ich habe ihn geliebt!« Sie blickte auf und begegnete trotzig Merediths Blick.
»Ja, ich habe ihn geliebt! Und ich will ihn betrauern, aber ich kann nicht! Ich kann es dir nicht erklären. Ich weiß, wenn ich seiner Beerdigung beiwohne, die Totenfeier mitmache, zusehe, wie er begraben wird, kann ich wieder Ordnung in mein Leben bringen und an die Zukunft denken. Es ist schlimm, wenn man nichts tun kann!«
»Ich wünschte nur, du hättest mich bei unserem Telefongespräch vorgewarnt, Rachel«, sagte Meredith und meinte es als Entschuldigung. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass Rachels Worte von Herzen kamen.
»Natürlich weiß ich, dass du ihn begraben und um ihn trauern möchtest. Es ist nur, ich … ich habe überhaupt nichts Schwarzes dabei!« Und sie war auch mental nicht auf ein Begräbnis vorbereitet. Vor ihrem geistigen Auge sah sie immer wieder Alex neben seinem luxuriösen goldenen Wagen auf dem Bürgersteig liegen, Straßenschmutz auf dem Stoff seines kostspieligen Anzugs von Savile Row, und Alan über ihm kniend in dem vergeblichen Bemühen, ein Herz erneut zum Schlagen zu bewegen, das nicht länger Leben spendendes Blut durch die Gefäße pumpte. Vielleicht ging es gut, solange nur Rachel nicht von ihr erwartete, Alex im offenen Sarg zu sehen. Sie würde nicht damit fertig werden, ihn ausgestreckt mit dem Kopf auf einem Seidenkissen in seinem Sarg liegen zu sehen. Sie hatte schon häufiger obduzierte Leichen gesehen, und obwohl die Bestatter ihr Bestes gaben, war doch stets die verräterische horizontale Linie zu sehen gewesen, die von den Schläfen über die Stirn verlief und die sich nicht mit allem Puder und aller Farbe der Welt verdecken ließ. Alex’ Religionszugehörigkeit ließ außerdem eine Reihe weiterer Fragen aufkommen. Wie viel wusste Rachel tatsächlich über ihn? Was hatte er ihr erzählt? Die Wahrheit? Was wusste sie von seiner libanesischen Vergangenheit? Oder seinem früheren Namen? Welchen Grund, wenn überhaupt einen, hatte er ihr für die Namensänderung genannt? Die Erwähnung von Kleidung jedenfalls ließ bei Rachel augenblicklich eine Glocke anschlagen, und sie ging auf Merediths letzte Bemerkung ein.
»Es ist doch nicht tragisch, wenn du nichts Schwarzes dabeihast, heutzutage doch nicht mehr! Das ist doch keine große Sache. Ich glaube nicht, dass Geschäftspartner von Alex aus London kommen werden. Ich habe jedenfalls verlauten lassen, dass wir im engsten Familienkreis sein möchten. Nur, dass weder Alex noch ich Familie haben. Meine Schwester kommt ganz bestimmt nicht aus Schottland herunter.« Das legte die Schlussfolgerung nahe, dass es keinerlei Briefe oder Besucher aus dem Nahen Osten gegeben hatte. Doch sie waren vom ursprünglichen Thema des Gesprächs abgekommen. Meredith beschloss, unverblümt auf den Punkt zu kommen.
»Was wolltest du mir eigentlich über Nevil beichten?« Rachel verzog das Gesicht und stellte ihre Tasse ab.
»Er ist ganz entzückend, aber allmählich wird er ein wenig lästig. Ich befürchte, er hat sich ernsthaft in mich verliebt.« Sie klang selbstzufrieden, als sei das nicht anders zu erwarten gewesen.
»Es spielte keine Rolle, solange Alex … als Alex noch hier war. Alex wusste natürlich Bescheid. Aber er hat nichts gesagt, weil er wusste, dass ich keine Dummheiten machen würde. Aber jetzt ist Alex tot, und Nevil scheint zu glauben, er müsste sich um mich kümmern!« Rachel seufzte.
»Ich will ganz ehrlich sein, Merry. Das ist einer der Gründe, aus denen ich dich hier haben wollte. Damit Nevil sieht, dass ich nicht alleine bin und Unterstützung habe für das bevorstehende Begräbnis. Weißt du, sonst würde er mir vielleicht anbieten, mich zu begleiten, und das kommt wirklich überhaupt nicht in Frage! Andererseits möchte ich seine Gefühle nicht verletzen.« Es schien Meredith unwahrscheinlich, dass Nevils Gefühle noch viel länger unverletzt bleiben würden.
»Wo wohnt er? Hier in der Nähe oder unten in Church Lynstone?«
»Gleich um die Ecke, in der Tierpension. Er ist der Sohn von Molly James und ihr Erbe.«
»Mrs. James habe ich bereits kennen gelernt!«, verkündete Meredith. Rachel wirkte überrascht, und Meredith erklärte ihr kurz die Umstände, unter denen die Begegnung stattgefunden hatte.
»Also bist du dem schrecklichen Duo bereits begegnet, Molly James und Mavis Tyrrell!«, rief Rachel.
»Auf den ersten Blick mögen die beiden wie ein ungleiches Paar wirken, aber sie haben Lynstone unter sich aufgeteilt, glaub mir! In diesem Ort geschieht nichts, aber auch gar nichts, von dem diese beiden alten Waschweiber nicht Wind bekämen!« Was sich durchaus als nützlich erweisen könnte, dachte Meredith bei sich.
»Verstehe ich dich recht, du magst sie nicht?«
»Sie sind mir egal. Aber sie mögen mich nicht! Ich korrigiere mich, Molly hasst mich wie die Pest, natürlich wegen ihres lieben Nevil! Wenn man hört, wie sie mit ihm redet, könnte man meinen, er sei gerade zwölf geworden! Sie versteht überhaupt nichts! Ich will ihren kostbaren Jungen nicht! Ich denke, sie sollte ihn gehen lassen, aber das ist eine andere Geschichte. Ich meine, was hat er schon für ein Leben, eingesperrt mit seiner Mutter und einem Haufen fremder Katzen und Hunde? Wahrscheinlich glaubt sie, dass er eines Tages dieses grobschlächtige Mädchen heiratet, das bei ihnen die Zwinger ausmistet.«
»Wusstest du, dass Superintendent Hawkins im Hotel erwartet wird?«, fragte Meredith und lenkte die Unterhaltung damit entschlossen auf die Probleme der unmittelbaren Zukunft zurück. Zum ersten Mal schien Rachel ein wenig die Fassung zu verlieren.
»Dieser elende Kerl! Er hat gesagt, dass er herkommen würde! Ich frage mich: warum um alles in der Welt? Wer auch immer den armen Alex umgebracht hat, treibt sich in London herum!«
»Vielleicht ist Hawkins anderer Meinung. Er wird nach einem Motiv suchen.« Sie beobachtete, wie Rachel diese Neuigkeit verdaute. Nicht besonders gut.
»In Lynstone wird er bestimmt niemanden mit einem Motiv finden!«, fauchte Rachel.
»Es sei denn natürlich, er verdächtigt mich, meinen Mann unter den Augen der Öffentlichkeit umgebracht zu haben, während Alan ein Bild von dir und mir geschossen hat! Selbst dieser Hawkins wird hoffentlich nicht so dumm sein!«
»Nein. Aber er wird Fragen stellen. Hör mal, Rachel, besser, du beendest diesen Flirt mit dem jungen Nevil James so schnell es geht, weil Hawkins daraus möglicherweise falsche Schlüsse zieht!«
»Was für ein Unsinn!« Nichtsdestotrotz wirkte Rachel verängstigt. Doch dann hellte sich ihre Miene wieder auf.
»Alan kommt ebenfalls her!«, berichtete sie unvermittelt.
»Am Sonntag, zum Mittagessen. Er bleibt bis zur Beerdigung. Er kann mit diesem Hawkins reden und ihm alles erklären!« Es schien tatsächlich so, wie Alan gesagt hatte. Wenn Rachel vor einem Problem stand, wurde jeder in ihrer Umgebung mit hineingezogen.
An jenem Nachmittag, während Rachel Briefe schrieb, fuhr Meredith nach Church Lynstone hinunter.
Die Ortschaft lag am Fuß des Hügels, wo das Land wieder flach wurde. Naseby’s Garage und Mini-Mart lagen zur Rechten, unmittelbar hinter einer uralten, aus Stein errichteten Herberge. Das verwitterte Schild über dem Eingang verkündete, dass dies The Fox sei, und zeigte ein verblasstes gemaltes Bild von einem Fuchs, der offensichtlich in einer Schneewehe feststeckte. Gegenüber dem Pub stand eine Reihe alter Cottages mit unregelmäßigen Dächern und eingesackten Stürzen. Hinter ihnen lagen der Friedhof und die Kirche selbst. Meredith parkte vor dem Friedhof und öffnete das Tor. Die Anlage war relativ gepflegt. Ein Hinweisschild im Kirchenvorraum verkündete, dass die Kirche Teil der Verbandsgemeinde St. Olave, Church Lynstone und St. Mary in Lower Wenburry war. Der Vikar saß in Lower Wenburry, und seine Telefonnummer war angegeben. Die Kirche war abgesperrt, vielleicht aus diesem Grund. Meredith umrundete das Bauwerk und stieg über eingesunkene Gräber mit schiefen Grabsteinen. Flechten hatten viele der Namen unkenntlich gemacht, doch die Daten, soweit noch zu lesen, waren ausnahmslos altehrwürdig und reichten zurück bis ins achtzehnte Jahrhundert. Zusätzlich zu den Inschriften zeigten die meisten Grabsteine herausgearbeitete Schädel oder Engelsgesichter. Eines, wahrscheinlich das älteste von allen, enthüllte eine beunruhigende Botschaft, die Meredith mit Hilfe der Finger entzifferte:
Wie ich einst war, so seid nun Ihr, wie ich nun bin, werd’t Ihr einst sein. Eu’r Leben ein vergänglich Blüt’, Eu’r Atem nur ein Hauch im Wind.
Selbst dass es in Verse gesetzt war, konnte nicht von der kalten Botschaft ablenken.
Ein steinerner Sitz – oder eine Sargstütze – in der äußeren Kanzelwand ermöglichten ihr hinaufzuklettern und durch ein Fenster einen Blick ins Innere der Kirche zu werfen.
Während sie sich am erodierten Gestein des Fenstersimses festhielt, beobachtete Meredith, dass es zwar sauber war im Innern, doch ansonsten wenig spektakulär. Jegliche Bleiverglasung, die es früher vielleicht einmal gegeben hatte, war längst zerstört und entfernt worden, und die Fenster waren ausnahmslos in farbloses Glas gefasst. Über der westlichen Tür, die vermutlich aus dem achtzehnten Jahrhundert stammte, verlief eine hölzerne Galerie. Zusammen mit den Grabsteinen legte sie die Vermutung nahe, dass Lynstone zweihundert Jahre zuvor wohl eine blühende und relativ wohlhabende Gemeinde gewesen war. Heute schlummerte sie halb vergessen vor sich hin, wie so viele andere alte Gemeinden auf dem Land auch.
Meredith kletterte wieder hinunter, klopfte ihre Hände ab, kehrte zum Wagen zurück und fuhr zu Naseby’s Garage, um zu tanken. Die Zapfsäulen waren zur Selbstbedienung, und zum Bezahlen ging man in den Mini-Mart.
Als Meredith den Laden betrat, ließ sie interessiert den Blick in die Runde schweifen, um zu sehen, was – abgesehen von den Dingen, die Rachel so verächtlich aufgezählt hatte – sonst noch zum Verkauf angeboten wurde. Tatsächlich war Rachels Schilderung recht genau gewesen. Ein Soziologe hätte mit Hilfe der von Naseby angebotenen Waren sicher eine ganze Menge Informationen über den Lebensstil der Menschen in den Cottages nebenan herausgefunden. Lachs in Dosen, Pfirsiche in Sirup, Dosenmilch, eine Anzahl tiefgefrorener Fertiggerichte und Kuchen. Außerdem gab es ein Kühlfach mit Margarine, verschiedenen Wurstsorten und vakuumverpacktem Schinken. Und Tee, Kaffee, Zucker, Mehl. Meredith vermutete, dass man ganz gut überleben konnte, wenn man im Dorf wohnte und kein Auto besaß, um außerhalb in einem größeren Geschäft einzukaufen. Naseby’s Mini-Mart leistete somit wertvolle Dienste für die Gemeinde.