Ein Landhaus bei New York

 

»Wir sind angekommen«, sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New Yorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen denen - das Gitter war schon geöffnet - ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Karl zu bemerken, daß die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme neben sich sagen: »Da ist ja endlich der Herr Jakob.«

»Ich heiße Roßmann«, sagte Karl und faßte die ihm hingereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte.

»Er ist ja nur Jakobs Neffe«, sagte Herr Pollunder erklärend, »und heißt selbst Karl Roßmann.«

»Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben«, sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag.

Trotzdem fragte Karl noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen auf das Haus zuschritt: »Sie sind das Fräulein Klara?«

»Ja«, sagte sie, und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, »ich wollte mich aber hier in der Finsternis nicht vorstellen.«

>Ja hat sie uns denn am Gitter erwartet?< dachte Karl, der im Gehen allmählich aufwachte.

»Wir haben übrigens noch einen Gast heute abend«, sagte Klara. »Nicht möglich!« rief Pollunder ärgerlich. »Herrn Green«, sagte Klara.

»Wann ist er gekommen?« fragte Karl, wie in einer Ahnung befangen.

»Vor einem Augenblick. Habt ihr denn sein Automobil nicht vor dem eueren gehört?«

Karl sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber er hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas stärker im Gehen.

»Es nützt nichts, nur knapp außerhalb New Yorks zu wohnen, von Störungen bleibt man nicht verschont. Wir werden unseren Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen müssen; und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen, ehe ich nach Hause komme.«

Sie blieben an der Freitreppe stehen.

»Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier«, sagte Klara, die offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich hinaus beruhigen wollte. »Warum kommt er denn gerade heute abend«, sagte Pollunder, und die Rede rollte schon wütend über die wulstige Unterlippe, die als loses, schweres Fleisch leicht in große Bewegung kam.

»Allerdings!« sagte Klara.

»Vielleicht wird er bald wieder weggehen«, bemerkte Karl und staunte selbst über das Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm gänzlich fremden Leuten befand.

»O nein«, sagte Klara, »er hat irgendein großes Geschäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß gedroht, daß ich, wenn ich eine höfliche Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen.«

»Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht!« rief Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. »Ich hätte wahrhaftig Lust«, sagte er und wurde freundlicher durch den neuen Gedanken, »ich hätte wahrhaftig Lust, Sie, Herr Roßmann, wieder ins Automobil zu nehmen und zu Ihrem Onkel zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört, und wer weiß, wann Sie uns nächstens Ihr Herr Onkel wieder überläßt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder zurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können.«

Und er faßte Karl schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber Karl rührte sich nicht, und Klara bat, ihn hierzulassen, denn zumindest sie und Karl würden von Herrn Green nicht im geringsten gestört werden können, und schließlich merkte auch Pollunder selbst, daß sein Entschluß nicht der festeste war. Überdies - und dies war vielleicht das Entscheidende - hörte man plötzlich Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen: »Wo bleibt ihr denn?«

»Kommt«, sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm gingen Karl und Klara, die einander jetzt im Licht studierten.

>Die roten Lippen, die sie hat<, sagte sich Karl und dachte an die Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter verwandelt hatten.

»Nach dem Nachtmahl«, so sagte sie, »werden wir, wenn es Ihnen recht ist, gleich in meine Zimmer gehen, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigen muß. Und Sie werden dann so freundlich sein, mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Sie das können, ich aber bin leider ganz unfähig, Musik auszuüben, und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe.«

Mit dem Vorschlag Klaras war Karl ganz einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens - an Pollunders Größe hatte sich Karl eben schon gewöhnt -, die sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich allerdings von Karl jede Hoffnung, diesem Mann den Herrn Pollunder heute abend irgendwie zu entlocken.

Herr Green empfing sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn Pollunders Arm und schob Karl und Klara vor sich in das Speisezimmer, das besonders infolge der Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehr festlich aussah und doppelt die Anwesenheit des störenden Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sich noch Karl, der beim Tische wartete, bis die anderen sich setzten, daß die große Glastüre zum Garten hin offen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein wie in eine Gartenlaube, da ging gerade Herr Green unter Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen, bückte sich nach den untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und alles so jugendlich rasch, daß der herbeieilende Diener nichts mehr zu tun fand. Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke des Staunens darüber, daß Karl die Erlaubnis des Onkels zu diesem Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem anderen hob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, links zu Herrn Pollunder, warum er so staune und wie der Onkel über Karl wache und wie die Liebe des Onkels zu Karl zu groß sei, als daß man sie noch Liebe eines Onkels nennen könne.

>Nicht genug, daß er sich hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig zwischen mich und den Onkel ein<, dachte Karl und konnte keinen Schluck der goldfarbigen Suppe hinunterbringen. Dann wollte er sich aber wieder nichts anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte, und begann die Suppe stumm in sich hineinzuschütten. Das Essen verging langsam wie eine Plage. Nur Herr Green und höchstens noch Klara waren lebhaft und fanden mitunter Gelegenheit zu einem kurzen Lachen. Herr Pollunder verfing sich nur einige Male in die Unterhaltung, wenn Herr Green von Geschäften zu sprechen anfing. Doch zog er sich auch von solchen Gesprächen bald zurück, und Herr Green mußte ihn nach einiger Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens Gewicht darauf - und da war es, daß Karl, der aufhorchte, als drohe etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden mußte, daß der Braten vor ihm stand und er bei einem Abendessen war -, daß er von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten Besuch zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem noch gesprochen werden solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstens das Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das Nebensächlichere für morgen oder später aufgespart werden können. Und so sei er auch tatsächlich, noch lange vor Geschäftsschluß, bei Herrn Pollunder gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen, so daß er gezwungen gewesen sei, nach Hause zu telephonieren, daß er über Nacht ausbleibe, und herauszufahren.

»Dann muß ich um Entschuldigung bitten«, sagte Karl laut und ehe jemand Zeit zur Antwort hatte, »denn ich bin daran schuld, daß Herr Pollunder sein Geschäft heute früher verließ, und es tut mir sehr leid.«

Herr Pollunder bedeckte den größeren Teil seines Gesichtes mit der Serviette, während Klara Karl zwar anlächelte, doch war es kein teilnehmendes Lächeln, sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen sollte.

»Da braucht es keine Entschuldigung«, sagte Herr Green, der gerade eine Taube mit scharfen Schnitten zerlegte, »ganz im Gegenteil, ich bin ja froh, den Abend in so angenehmer Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl allein zu Hause einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt ist, daß ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tisch schwerfällt, und ich mich für lange in meinen Sessel zurücklehnen kann, wenn ich sie auf diesem Gang beobachten will. Erst vor kurzem habe ich durchgesetzt, daß der Diener die Speisen bis zur Tür des Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch gehört ihr, soweit ich sie verstehe.«

»Mein Gott«, rief Klara, »ist das eine Treue!«

»Ja, es gibt noch Treue auf der Welt«, sagte Herr Green und führte einen Bissen in den Mund, wo die Zunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit einem Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf. Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunder und Klara nach seinen Händen.

»Sie müssen noch sitzen bleiben«, sagte Klara. Und als er sich wieder gesetzt hatte, flüsterte sie ihm zu: »Wir werden bald zusammen verschwinden. Haben Sie Geduld.«

Herr Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als sei es Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Karl zu beruhigen, wenn er ihm Übelkeiten verursachte.

Das Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen, es bekam wirklich den Anschein, als wolle er sich von seiner alten Wirtschafterin gründlich erholen. Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während Karl versucht war, ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters, ohne vom Teller aufzusehen, die auffallende Appetitlosigkeit Karls. Herr Pollunder nahm Karls Appetit in Schutz, obwohl er als Gastgeber Karl auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. Und tatsächlich fühlte sich Karl durch den Zwang, unter dem er während des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich, daß er gegen die eigene bessere Einsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesem seinen Zustand, daß er einmal ganz unpassend rasch und viel aß und dann wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließ und der Unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der die Speisen reichte, oft nichts anzufangen wußte. »Ich werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein Klara durch Ihr Nichtessen gekränkt haben«, sagte Herr Green und beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch die Art, wie er mit Besteck hantierte, auszudrücken.

»Sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist«, fuhr er fort und griff Klara unters Kinn. Sie ließ es geschehen und schloß die Augen.

«Du Dingschen«, rief er, lehnte sich zurück und lachte, hochrot im Gesicht, mit der Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte sich Karl das Benehmen Herrn Pollunders zu erklären. Der saß vor seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich Wichtige. Er zog Karls Sessel nicht näher zu sich, und wenn er einmal sprach, so sprach er zu allen, aber zu Karl hatte er nichts Besonderes zu reden. Dagegen duldete er, daß Green, dieser alte, ausgepichte New Yorker Junggeselle, mit deutlicher Absicht Klara berührte, daß er Karl, Pollunders Gast beleidigte oder wenigstens als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Taten sich stärkte und vordrang.

Nach Aufhebung der Tafel - als Green die allgemeine Stimmung merkte, war er der erste, der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob - ging Karl allein abseits zu einem der großen, durch schmale weiße Leisten geteilten Fenster, die zur Terrasse führten und die eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türen waren. Was war von der Abneigung übriggeblieben, die Herr Pollunder und seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und die damals Karl etwas unverständlich vorgekommen war? Jetzt standen sie mit Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens Zigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von der der Vater zu Hause hie und da als von einer Tatsache zu erzählen pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals gesehen hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluß auch in Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten würde. So weit entfernt Karl auch stand, noch spürte er von dem Rauch einen Kitzel in der Nase, und das Benehmen Herrn Greens, nach welchem er sich von seinem Platz aus nur einmal schnell umsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nicht mehr für ausgeschlossen, daß ihm der Onkel die Erlaubnis zu diesem Besuch nur deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen Charakter Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung Karls bei diesem Besuch, wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich der Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel ihm nicht, obwohl er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner vorgestellt hatte. Seit sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte, war er sogar überrascht von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besonders von dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen. Einen Rock, der so fest wie der ihre den Körper umschlossen hätte, hatte er noch niemals gesehen, kleine Falten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch lag Karl gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf ihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür, auf deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil steigen oder, wenn der Chauffeur schon schlief, allein nach New York hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann, und draußen im Freien vielleicht Furcht zu haben schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor - und zum erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl -, wie er am Morgen - früher dürfte er kaum zu Fuß nach Hause kommen - den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wußte auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er anklopfen und auf das förmliche »Herein!« ins Zimmer laufen und den lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen und zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für sich vielleicht noch nicht viel, aber man mußte nur ausdenken, was das zur Folge haben könnte. Vielleicht würde er zum erstenmal gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischen ihnen, vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer ständigen Einrichtung werden, vielleicht würden sie infolge dieser Art Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie bisher bloß einmal während des Tages zusammenkommen und dann natürlich auch offener miteinander reden können. Es lag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder, besser, starrköpfig gewesen war. Und wenn er auch heute über Nacht hierbleiben mußte - es sah leider ganz danach aus, obwohl man ihn hier beim Fenster stehen und auf eigene Faust sich unterhalten ließ -, vielleicht wurde dieser unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Besseren in dem Verhältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer heute abend ähnliche Gedanken.

Ein wenig getröstet wandte er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: »Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen.«

Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser gefällten Getränken, die Karl unbekannt waren und die er zu kosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen Ellbogen auf dem Tisch, sein ganzes Gesicht war Herrn Pollunder möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sah sich Green, obwohl man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im geringsten nach Karl um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für sich und Green für sich, solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines von beiden herstellen. >Wenn er das meint<, sagte sich Karl, >dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm, und er soll mich auch in Ruhe lassen.<

Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, daß er sich wahrscheinlich unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto williger ging er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah, dessen dicken Schaft jene mit beiden Händen umschlossen hielten.

»Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt«, erklärte Klara. »Wir haben dieses Haus erst vor kurzem gekauft und es gänzlich umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus mit seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen läßt.«

»Da gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser«, sagte Karl. »Natürlich«, sagte Klara lachend und zog ihn weiter. »Sie haben merkwürdige Begriffe von Amerika.«

»Sie sollen mich nicht auslachen«, sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.

Im Vorübergehen stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür auf und sagte, ohne anzuhalten: »Hier werden Sie schlafen.«

Karl wollte sich natürlich das Zimmer gleich anschauen, aber Klara erklärte ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorher mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlich meinte Karl, er müsse sich nicht in allem nach Klara richten, riß sich los und trat in das Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte Vogelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Karl bedauerte, die elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen. Die Pfeife eines New Yorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land. Sonst war es still. Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich böse rief sie: »Was soll denn das?« und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten, wenn sie höflicher geworden war. Aber sie ging mit großen Schritten auf ihn zu, rief: »Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?« stieß ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derart in die Brust, daß er aus dem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick, vom Fensterbrett gleitend, mit den Füßen den Zimmerboden berührt.

»Jetzt wäre ich bald hinausgefallen«, sagte er vorwurfsvoll.

»Schade, daß es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig! Ich stoße Sie noch einmal hinunter.«

Und wirklich umfaßte sie ihn und trug ihn, der, zuerst verblüfft, sich schwer zu machen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfaßte sie. »Ach, Sie tun mir weh«, sagte sie gleich.

Aber nun glaubte Karl, sie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht, sie in ihrem engen Kleid zu umfassen.

»Lassen Sie mich«, flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er mußte sich anstrengen, sie zu sehen, so nahe war sie ihm. »Lassen Sie mich, ich werde Ihnen etwas Schönes geben.« >Warum seufzt sie so<, dachte Karl, >es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht<, und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich, nach einem Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehens, fühlte er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib, und sie hatte sich ihm entwunden, faßte ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich, mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend, gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Karl hin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm hinabzubeugen:

»Jetzt rühr dich, wenn du kannst.«

»Katze, tolle Katze«, konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er sich befand.

»Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze!«

»Gib acht auf deine Worte«, sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfing, daß Karl ganz unfähig war, etwas anderes zu tun als Luft zu schnappen, während sie mit der anderen Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise sie berührte, sie wieder, und zwar immer weiter, in die Luft zurückzog und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfallen lassen konnte.

»Wie wäre es«, fragte sie dabei, »wenn ich dich zur Strafe für dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nach Hause schicken wollte? Vielleicht wäre es dir nützlich für deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein erträglicher hübscher Junge, und hättest du Jiu-Jitsu gelernt, hättest du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem - es verlockt mich geradezu riesig, dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern; wenn ich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis dir die Backen anschwellen. Und vielleicht bist du ein Ehrenmann - ich möchte es fast glauben - und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist du auch so gegen mich gewesen? Gefalle ich dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht, auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! Jetzt hätte ich dir schon fast unversehens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn du heute also noch so loskommen solltest, benimm dich nächstens feiner. Ich bin nicht dein Onkel, dem du trotzen kannst. Im übrigen will ich dich noch darauf aufmerksam machen, daß du, wenn ich dich ungeohrfeigt loslasse, nicht glauben mußt, daß deine jetzige Lage und wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das gleiche sind. Solltest du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehen, dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle?«

Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.

Sie forderte ihn auf, aufzustehen, er antwortete nicht und rührte sich nicht. Sie entzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht, ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Plafond, aber Karl lag, den Kopf aufs Sofapolster aufgestützt so, wie ihn Klara gebettet hatte, und wandte ihn nicht einen Fingerbreit. Klara ging im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine lange Weile stehen.

»Ausgetrotzt?« hörte man sie dann fragen.

Karl empfand es schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen herum, blieb stehen und redete, und er hatte sie doch so unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fortgehen war sein einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, nur hier auf dem Kanapee wollte er bleiben. Er lauerte nur darauf, daß sie wegginge, um hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln, und dann wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches Bedürfnis, sich zu strecken und zu gähnen, aber vor Klara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm vor den Augen, ohne daß er recht wußte, was es war. Klara trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke, und hätte er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Vielleicht bekommst du später Lust, zu mir zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte, von dieser Tür aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die, zu welcher du dann kommst, ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in den Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf dich warten, aber wenn du kommen willst, so komm. Erinnere dich, daß du versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht habe ich dich ganz entnervt und du kannst dich nicht mehr rühren, dann bleib und schlaf dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, daß dir das Sorge machen sollte.« Darauf lief sie trotz ihrer angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.

Sofort setzte sich Karl aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden. Um ein wenig Bewegung zu machen ging er zur Tür und sah auf den Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür zugemacht und abgesperrt hatte und wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerze stand. Sein Entschluß war, nicht länger in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu gehen, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelt hatte - am Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts -, und mit dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu bitten, nach Hause fahren oder gehen zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas gegen diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben, dann wollte ihn Karl wenigstens bitten, ihn durch einen Diener zum nächsten Hotel führen zu lassen. In dieser Weise, wie sie Karl plante, ging man zwar sonst in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, aber noch seltener ging man mit einem Gaste derart um, wie es Klara getan hatte. Sie hatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der Rauferei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeit gehalten, das war aber schon himmelschreiend. Ja, war denn Karl zu einem Ringkampf eingeladen worden, so daß es für ihn beschämend gewesen wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden, das wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen von Ringkämpferkniffen verbracht hatte? Am Ende hatte sie gar von Mack Unterricht bekommen. Mochte sie ihm nur alles erzählen; der war sicher einsichtig, das wußte Karl, obwohl er niemals Gelegenheit gehabt hatte, das im einzelnen zu erfahren. Karl wußte aber auch, daß, wenn Mack ihn unterrichtete, er noch viel größere Fortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages wieder hierher, höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte natürlich zuerst die Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großer Vorteil Klaras gewesen war, packte dann diese gleiche Klara und klopfte mit ihr das kleine Kanapee aus, auf das sie ihn heute geworfen hatte.

Jetzt handelte es sich nur darum, den Weg zum Saal zurückzufinden, wo er ja wahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einen unpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich mitnehmen, aber selbst bei Licht war es nicht leicht, sich auszukennen. Er wußte zum Beispiel nicht einmal, ob dieses Zimmer in der gleichen Ebene wie der Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem Herweg immer so gezogen, daß er sich gar nicht hatte umsehen können. Herr Green und die leuchtertragenden Diener hatten ihm auch zu denken gegeben; kurz, er wußte jetzt tatsächlich nicht einmal, ob sie eine oder zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten. Nach der Aussicht zu schließen, lag das Zimmer ziemlich hoch, und er suchte sich deshalb einzubilden, daß sie über Treppen gekommen waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja über Treppen steigen müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöht sein? Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer Tür zu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu hören gewesen wäre! Seine Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigte elf Uhr, er nahm die Kerze und ging auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für den Fall, als sein Suchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer wiederzufinden und danach, für den äußersten Notfall, die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türe nicht von selbst schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf dem Gang zeigte sich der Übelstand, daß gegen Karl - er ging natürlich von Klaras Türe weg nach links - ein Luftzug strich, der zwar ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte auslöschen können, so daß Karl die Flamme mit der Hand schützen und überdies öfters stehenbleiben mußte, damit die niedergedrückte Flamme sich erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen, und der Weg schien dadurch doppelt lang. Karl war schon an großen Strecken der Wände vorübergekommen, die gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen, was dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür, er suchte, mehrere zu öffnen, sie waren versperrt und die Räume offenbar unbewohnt. Es war eine Raumverschwendung sondergleichen, und Karl dachte an die östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel bestand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten. Und hier standen so viele Zimmer leer und waren nur dazu da, um hohl zu klingen, wenn man an die Tür schlug. Herr Pollunder schien Karl irregeführt zu sein von falschen Freunden und vernarrt in seine Tochter und dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig beurteilt, und nur sein Grundsatz, auf die Menschenbeurteilung Karls keinen Einfluß zu nehmen, war schuld an diesem Besuch und an diesen Wanderungen auf den Gängen. Karl wollte das morgen dem Onkel ohne weiteres sagen, denn nach seinem Grundsatz würde der Onkel auch das Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhig anhören. Überdies war dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Karl an seinem Onkel nicht gefiel, und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.

Plötzlich hörte die Wand an der einen Gangseite auf, und ein eiskaltes marmornes Geländer trat an ihre Stelle. Karl stellte die Kerze neben sich und beugte sich vorsichtig hinunter. Dunkle Leere wehte ihm entgegen. Wenn das die Haupthalle des Hauses war - im Schimmer der Kerze erschien ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke -, warum war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur dieser große, tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Galerie einer Kirche. Karl bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Haus bleiben zu können, er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder sich überall herumführen und über alles unterrichten lassen. Das Geländer war übrigens nicht lang, und bald wurde Karl wieder vom geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung des Ganges stieß Karl mit ganzer Wucht an die Mauer, und nur die ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt, bewahrte sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der Gang kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick gab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte Karl schon, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der Runde, und hoffte schon, die offene Tür seines Zimmers vielleicht wiederzufinden, aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bis jetzt hatte sich Karl von lautem Rufen zurückgehalten, denn er wollte in einem fremden Haus zu so später Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah er ein, daß es in diesem unbeleuchteten Hause kein Unrecht war, und machte sich gerade daran, nach beiden Seiten des Ganges ein lautes »Hallo!« zu schreien, als er in der Richtung, aus der er gekommen war, ein kleines, sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt konnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen; das Haus war eine Festung, keine Villa. Karls Freude über dieses rettende Licht war so groß, daß er alle Vorsicht vergaß und darauf zulief; schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete nicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter Diener mit einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.

»Wer sind Sie?« fragte der Diener und hielt Karl die Laterne ans Gesicht, wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas steif durch einen großen, weißen Vollbart, der erst auf der Brust in seidenartige Ringel ausging. >Es muß ein treuer Diener sein, dem man das Tragen eines solchen Bartes erlaubt<, dachte Karl und sah diesen Bart unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen, daß er selbst beobachtet wurde. Im übrigen antwortete er sofort, daß er der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden könne.

»Ach so«, sagte der Diener, »wir haben das elektrische Licht noch nicht eingeführt.«

»Ich weiß«, sagte Karl.

»Wollen Sie nicht Ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?« fragte der Diener.

»Bitte«, sagte Karl und tat es.

»Es zieht hier so auf den Gängen,« sagte der Diener, »die Kerze löscht leicht aus, darum habe ich eine Laterne.«

»Ja, eine Laterne ist viel praktischer«, sagte Karl.

»Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft«, sagte der Diener und leuchte mit der Kerze Karls Anzug ab.

»Das habe ich ja gar nicht bemerkt!« rief Karl, und es tat ihm sehr leid, da es ein schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug zu reinigen, so gut es in der Eile ging; immer wieder drehte sich Karl vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und dort einen Fleck, den der Diener folgsam entfernte.

»Warum zieht es denn hier eigentlich so?« fragte Karl, als sie schon weitergingen. »Es ist hier eben noch viel zu bauen«, sagte der Diener, »man hat zwar mit dem Umbau schon angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die Bauarbeiter, wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt sind da ein paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand vermauert, und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehen.« »Da muß ich wohl lauter reden?« fragte Karl.

»Nein, Sie haben eine klare Stimme«, sagte der Diener. »Aber um auf diesen Bau zurückzukommen; besonders hier in der Nähe der Kapelle, die später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muß, ist die Zugluft gar nicht auszuhalten.« »Die Brüstung, an der man in diesem Gang vorüberkommt, geht also in eine Kapelle hinaus?«

»Ja.«

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte Karl.

»Sie ist sehr sehenswert«, sagte der Diener, »wäre sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft.«

»Herr Mack?« fragte Karl, »ich dachte, das Haus gehöre Herrn Pollunder?«

»Allerdings«, sagte der Diener, »aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?« »O ja«, sagte Karl. »Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?«

»Er ist der Bräutigam des Fräuleins«, sagte der Diener.

»Das wußte ich freilich nicht«, sagte Karl und blieb stehen.

»Setzt Sie das in solches Erstaunen?« fragte der Diener.

»Ich will es mir nur zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größten Fehler machen«, antwortete Karl.

»Es wundert mich nur, daß man Ihnen davon nichts gesagt hat«, sagte der Diener. »Ja, wirklich«, sagte Karl beschämt.

»Wahrscheinlich dachte man, Sie wüßten es«, sagte der Diener, »es ist ja keine Neuigkeit. Hier sind wir übrigens«, und öffnete eine Tür, hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers führte.

Ehe Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei Stunden hörte, sagte der Diener: »Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abend hier auszukennen.«

»Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurückkehren,« sagte Karl und wußte nicht, warum er bei dieser Auskunft traurig wurde.

»Es wird nicht so arg sein«, sagte der Diener, ein wenig überlegen lächelnd, und klopfte ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte dahin erklärt, daß Karl beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Karl wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er, der Diener, der ihm besser gefiel als die anderen hiesigen Diener, könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen, und sagte deshalb: »Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich eine große Freundlichkeit von Ihnen, und ich nehme sie dankbar an. Jedenfalls werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich denke schon, daß mir Ihre Hilfe noch nötig sein wird.«

»Gut«, sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau des Hauses zusammenhing. »Ich werde also hier warten. Die Kerze können Sie auch bei mir lassen«, sagte der Diener noch, als Karl mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte. »Ich bin aber zerstreut«, sagte Karl und reichte die Kerze dem Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne daß man wußte, ob er es mit Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, daß er mit der Hand seinen Bart strich.

Karl öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie bestand aus einer einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke festgehalten wurde. Karl ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehen, merkte er noch, wie hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die Tür schloß.

»Verzeihen Sie, daß ich störe«, sagte er zu den beiden Herren, die ihn mit ihren großen, erstaunten Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er war aber nirgends zu sehen, der Eßtisch war völlig abgeräumt, vielleicht war der Hut unangenehmerweise irgendwie in die Küche fortgetragen worden.

»Wo haben Sie denn Klara gelassen?« fragte Herr Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuil und kehrte Karl seine ganze Front zu. Herr Green spielte den Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen.

»Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht mißverstehen dürfen«, sagte Karl, ging eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils. »Was soll denn das für eine Bitte sein?« fragte Herr Pollunder und sah Karl mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. »Sie ist natürlich schon erfüllt.« Und er legte den Arm um Karl und zog ihn zu sich zwischen seine Beine. Karl duldete das gerne, obwohl er sich im allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte. Aber das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger. »Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?« fragte Herr Pollunder.

»Scheint es Ihnen nicht auch, daß man auf dem Lande sozusagen befreit wird, wenn man aus der Stadt herauskommt? Im allgemeinen« - und ein nicht mißzuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Seitenblick ging auf Herrn Green -, »im allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend.«

>Er spricht<, dachte Karl, >als wüßte er nichts von dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel überall.< »Nun«, sagte Herr Pollunder, »die Bitte!«, und schüttelte Karl freundschaftlich, der stumm dastand.

»Ich bitte«, sagte Karl, und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht vermeiden, daß der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem Karl die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders aufgefaßt werden konnte, so gern verschwiegen hätte - »ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nach Hause.«

Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere um so schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge, an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. »Ich möchte um alles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkommen, denn wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin auch ich gerne. Nur heute kann ich nicht hierbleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach mißbraucht. Was für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, daß nichts in diesem Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben vielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel und mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, daß ich schon jetzt irgendwie mein Brot anständig - und vor allem anderen soll mich Gott bewahren - verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht, und das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man weiterstudiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus, und man hat zum Schluß eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium leider herausgerissen worden; manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und schließlich wäre auch alles, was ich wissen könnte, für Amerikaner noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hie und da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und vielleicht auch Handelswissenschaften lernt; als ich aus der Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals nicht ahnen, welches Unglück über mich kommen wird und wie ich das Englische brauchen werde, und zweitens mußte ich für das Gymnasium viel lernen, so daß ich für andere Beschäftigungen nicht besonders viel Zeit hatte. - Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben, daß ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und darum muß ich, um den Fehler, den ich ihm gegenüber begangen habe, nur halbwegs wiedergutzumachen, sofort nach Hause gehen.«

Während dieser langen Rede Karls hatte Herr Pollunder aufmerksam zugehört, öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Karl, wenn auch unmerklich, an sich gedrückt und einige Male ernst und wie erwartungsvoll zu Green hinübergesehen, der sich weiterhin mit seiner Brieftasche beschäftigte. Karl aber war, je deutlicher ihm seine Stellung zum Onkel im Laufe seiner Rede zu Bewußtsein kam, immer unruhiger geworden, hatte sich unwillkürlich aus dem Arm Pollunders zu drängen gesucht. Alles beengte ihn hier; der Weg zum Onkel durch die Glastüre, über die Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen, durch die Vorstädte zur großen Verkehrsstraße, einmündend in des Onkels Haus, erschien ihm als etwas streng Zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn vorbereitet dalag und mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. Herrn Pollunders Güte und Herrn Greens Abscheulichkeit verschwammen, und er wollte aus diesem rauchigen Zimmer nichts anderes für sich haben als die Erlaubnis zum Abschiednehmen. Zwar fühlte er sich gegen Herrn Pollunder abgeschlossen, gegen Herrn Green kampfbereit, und doch erfüllte ihn ringsherum eine unbestimmte Furcht, deren Stöße seine Augen trübten.

Er trat einen Schritt zurück und stand nun gleich weit von Herrn Pollunder und von Herrn Green entfernt.

»Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?« fragte Herr Pollunder Herrn Green und faßte wie bittend Herrn Greens Hand.

»Ich wüßte nicht, was ich ihm sagen sollte«, sagte Herr Green, der endlich einen Brief aus seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. »Es ist recht lobenswert, daß er zu seinem Onkel zurückkehren will, und nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, daß er dem Onkel eine besondere Freude damit machen wird. Es müßte denn sein, daß er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat, was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe hier. Es ist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen; wir sind zwar beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühe machen, zwischen meiner und Herrn Pollunders Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber in das Innere des Onkels können wir nicht hineinschauen, und ganz besonders nicht über die vielen Kilometer hinweg, die uns hier von New York trennen.«

»Bitte, Herr Green«, sagte Karl und näherte sich mit Selbstüberwindung Herrn Green. »Ich höre aus Ihren Worten heraus, daß Sie es auch für das beste halten, wenn ich gleich zurückkehre.«

»Das habe ich durchaus nicht gesagt«, meinte Herr Green und vertiefte sich in das Anschauen des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin und her fuhr. Er schien damit andeuten zu wollen, daß er von Herrn Pollunder gefragt worden sei, ihm auch geantwortet habe, während er mit Karl eigentlich nichts zu tun habe.

Inzwischen war Herr Pollunder zu Karl getreten und hatte ihn sanft von Herrn Green weg zu einem der großen Fenster gezogen. »Lieber Herr Roßmann,« sagte er, zu Karls Ohr hinabgebeugt, und wischte zur Vorbereitung mit dem Taschentuch über sein Gesicht, und bei der Nase innehaltend, schneuzte er sich. »Sie werden doch nicht glauben, daß ich Sie gegen Ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zur Verfügung stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen Garage, da ich noch keine Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist, eine eigene Garage einzurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht hier im Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weiß wirklich selbst nicht, wo. Außerdem ist es gar nicht seine Pflicht, jetzt zu Hause zu sein, seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit hier vorzufahren. Aber das alles wären keine Hindernisse für Ihre augenblickliche Heimkehr, denn wenn Sie darauf bestehen, begleite ich Sie sofort zur nächsten Station der Stadtbahn, die allerdings so weit entfernt ist, daß Sie nicht viel früher zu Hause ankommen dürften, als wenn Sie früh - wir fahren ja schon um sieben Uhr - mit mir in meinem Automobil fahren wollen.«

»Da möchte ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn fahren«, sagte Karl. »An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie sagen selbst, daß ich mit der Stadtbahn früher ankomme, als früh mit dem Automobil.«

»Es ist aber ein ganz kleiner Unterschied.«

»Trotzdem, trotzdem, Herr Pollunder«, sagte Karl, »ich werde in Erinnerung an Ihre Freundlichkeit immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, daß Sie mich nach meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde ich es nächstens besser ausdrücken können, warum heute jede Minute, um die ich meinen Onkel früher sehe, für mich so wichtig ist.« Und als hätte er bereits die Erlaubnis zum Weggehen erhalten, fügte er hinzu: »Aber keinesfalls dürfen Sie mich begleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen ist ein Diener, der mich gern zur Station begleiten wird. Jetzt muß ich nur noch meinen Hut suchen.« Und bei den letzten Worten durchschritt er schon das Zimmer, um noch in Eile einen letzten Versuch zu machen, ob sein Hut doch vielleicht zu finden wäre.

»Könnte ich Ihnen nicht mit einer Mütze aushelfen?« sagte Herr Green und zog eine Mütze aus der Tasche. »Vielleicht paßt sie Ihnen zufällig.« Verblüfft blieb Karl stehen und sagte: »Ich werde Ihnen doch nicht Ihre Mütze wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem Kopf gehen. Ich brauche gar nichts.« »Es ist nicht meine Mütze. Nehmen Sie nur!«

»Dann danke ich«, sagte Karl, um sich nicht aufzuhalten, und nahm die Mütze. Er zog sie an und lachte zuerst, da sie ganz genau paßte, nahm sie wieder in die Hand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere, das er an ihr suchte, nicht finden; es war eine vollkommen neue Mütze. »Sie paßt so gut!« sagte er.

»Also, sie paßt!« rief Herr Green und schlug auf den Tisch.

Karl ging schon zur Türe zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr Green, streckte sich nach dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe, klopfte stark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat und Befehl: »Ehe Sie weggehen, müssen Sie von Fräulein Klara Abschied nehmen.«

»Das müssen Sie«, sagte auch Herr Pollunder, der ebenfalls aufgestanden war. Ihm hörte man es an, daß die Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwach ließ er die Hände an die Hosennaht schlagen und knöpfte immer wieder seinen Rock auf und zu, der nach der augenblicklichen Mode ganz kurz war und kaum zu den Hüften ging, was so dicke Leute wie Herr Pollunder schlecht kleidete. Übrigens hatte man, wenn er so neben Herrn Green stand, den deutlichen Eindruck, daß es bei Herrn Pollunder keine gesunde Dicke war; der Rücken war in seiner ganzen Masse etwas gekrümmt, der Bauch sah weich und unhaltbar aus, eine wahre Last, und das Gesicht erschien bleich und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green, vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aber es war eine zusammenhängende, sich gegenseitig tragende Dicke, die Füße waren soldatisch zusammengeklappt, den Kopf trug er aufrecht und schaukelnd; er schien ein großer Turner, ein Vorturner, zu sein.

»Gehen Sie also vorerst«, fuhr Herr Green fort, »zu Fräulein Klara. Das dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen und paßt auch sehr gut in meine Zeiteinteilung hinein. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich, ehe Sie von hier fortgehen, etwas Interessantes zu sagen, was wahrscheinlich auch für Ihre Rückkehr entscheidend sein kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor Mitternacht nichts zu verraten. Sie können sich vorstellen, daß mir das selbst leid tut, denn es stört meine Nachtruhe, aber ich halte mich an meinen Auftrag. Jetzt ist es viertel zwölf, ich kann also meine Geschäfte noch mit Herrn Pollunder zu Ende besprechen, wobei Ihre Gegenwart nur stören würde, und Sie können ein hübsches Weilchen mit Fräulein Klara verbringen. Punkt zwölf stellen Sie sich dann hier ein, wo Sie das Nötige erfahren werden.«

Konnte Karl diese Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das Geringste an Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder verlangte und die überdies ein sonst unbeteiligter, roher Mann stellte, während Herr Pollunder, den es anging, sich mit Worten und Blicken möglichst zurückhielt? Und was war jenes Interessante, das er erst um Mitternacht erfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nicht wenigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte, um die es sie jetzt verschob, interessierte es ihn wenig. Aber sein größter Zweifel war, ob er überhaupt zu Klara gehen konnte, die doch seine Feindin war. Wenn er wenigstens das Schlageisen bei sich gehabt hätte, das ihm der Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte! Das Zimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche Höhle sein. Aber nun war es ja ganz und gar unmöglich, hier gegen Klara das geringste zu sagen, da sie Pollunders Tochter und, wie er jetzt gehört hatte, gar Macks Braut war. Sie hätte ja nur um eine Kleinigkeit anders sich zu ihm verhalten müssen, und er hätte sie wegen ihrer Beziehungen offen bewundert. Noch überlegte er das alles, aber schon merkte er, daß man keine Überlegungen von ihm verlangte, denn Green öffnete die Tür und sagte dem Diener, der vom Postamente sprang: »Führen Sie diesen jungen Mann zu Fräulein Klara.«

>So führt man Befehle aus<, dachte Karl, als ihn der Diener, fast laufend, stöhnend vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen Weg zu Klaras Zimmer zog. Als Karl an seinem Zimmer vorüberkam, dessen Tür noch immer offenstand, wollte er, vielleicht zu seiner Beruhigung, für einen Augenblick eintreten. Der Diener ließ das aber nicht zu. »Nein«, sagte er, »Sie müssen zu Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst gehört.«

»Ich würde mich nur einen Augenblick drinnen aufhalten«, sagte Karl, und er dachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das Kanapee zu werfen, damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke.

»Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht«, sagte der Diener. >Er scheint es für eine Strafe zu halten, daß ich zu Fräulein Klara gehen muß<, dachte Karl und machte ein paar Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehen. »Kommen Sie doch, junger Herr«, sagte der Diener, »wenn Sie nun schon einmal hier sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weggehen, es geht eben nicht alles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, daß es kaum möglich sein wird.« »Ja, ich will weggehen und werde auch weggehen«, sagte Karl, »und will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen.«

»So?« sagte der Diener, und Karl sah ihm wohl an, daß er kein Wort davon glaubte. »Warum zögern Sie also, Abschied zu nehmen; kommen Sie doch.«

»Wer ist auf dem Gang?« ertönte Klaras Stimme, und man sah sie aus einer nahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem Schirm in der Hand. Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung. Karl ging ihm langsam nach. »Sie kommen spät«, sagte Klara.

Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Karl zum Diener leise, aber, da er seine Natur schon kannte, im Ton strengen Befehls: »Sie warten auf mich knapp vor dieser Tür!« »Ich wollte schon schlafen gehen,« sagte Klara und stellte die Lampe auf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloß auch hier wieder der Diener vorsichtig von außen die Tür. »Es ist ja schon halb zwölf vorüber.«

»Halb zwölf vorüber?« wiederholte Karl fragend, wie erschrocken über diese Zahlen. »Dann muß ich mich aber sofort verabschieden«, sagte Karl, »denn Punkt zwölf muß ich schon unten im Speisesaal sein.« »Was Sie für eilige Geschäfte haben! « sagte Klara und ordnete zerstreut die Falten ihres losen Nachtkleides. Ihr Gesicht glühte und immerfort lächelte sie. Karl glaubte zu erkennen, daß keine Gefahr bestand, mit Klara wieder in Streit zu geraten. »Können Sie nicht doch noch ein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern Papa und heute Sie selbst versprochen haben?«

»Ist es nicht aber schon zu spät?« fragte Karl. Er hätte ihr gern gefällig sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre sie irgendwie aufgestiegen in die Kreise Pollunders und weiterhin Macks.

»Ja, spät ist es schon«, sagte sie, und es schien ihr die Lust zur Musik schon vergangen zu sein. »Dann widerhallt hier auch jeder Ton im ganzen Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben in der Dachkammer die Dienerschaft auf.« »Dann lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen; übrigens, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch einmal meinen Onkel und schauen Sie bei der Gelegenheit auch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu einem so großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben können, wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher verständigen, denn der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für mich engagieren - Sie können sich denken, wie ich mich darauf freue -, und dessen Spiel wird allerdings dafür stehen, mir während der Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, froh, daß es für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlauben Sie, daß ich mich verabschiede, schließlich ist es ja doch schon Schlafenszeit.« Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die Hand reichte: »In meiner Heimat pflegt man zu sagen: >Schlafe wohl und träume süß.<«

»Warten Sie«, sagte sie, ohne die Hand anzunehmen, »vielleicht sollten Sie doch spielen.« Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der das Piano stand. >Was ist denn?< dachte Karl. >Lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch ist.< Es klopfte an der Gangtüre, und der Diener, der die Türe nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: »Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht mehr warten.«

»Gehen Sie nur«, sagte Karl, der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden. »Lassen Sie mir nur die Laterne vor der Türe. Wie spät ist es übrigens? »Bald dreiviertel zwölf«, sagte der Diener.

»Wie langsam die Zeit vergeht!« sagte Karl. Der Diener wollte schon die Türe schließen, da erinnerte sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche - er trug jetzt immer Münzengeld, nach amerikanischer Sitte lose klingelnd, in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche - und reichte ihn dem Diener mit den Worten: »Für Ihre guten Dienste.«

Klara war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als es Karl einfiel, daß er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehen.

»Ich bitte Sie also doch, ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik, daß man sich keine Gelegenheit, sie zu hören, entgehen lassen will.« »Dann ist es aber höchste Zeit«, sagte Karl ohne weitere Überlegungen und setzte sich gleich zum Klavier.

»Wollen Sie Noten haben?« fragte Klara.

»Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen«, antwortete Karl und spielte schon. Es war ein kleines Lied, das, wie Karl wohl wußte, ziemlich langsam hätte gespielt werden müssen, um, besonders für Fremde, auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es in ärgstem Marschtempo hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen da und rührte sich nicht.

»Ganz schön«, sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die Karl

nach diesem Spiel hätte schmeicheln können.

»Wie spät ist es?« fragte er.

»Dreiviertel zwölf.«

»Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit«, sagte er und dachte bei sich: >Entweder - oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen.< Und er fing sein geliebtes Soldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Verlangen des Zuhörens sich nach der nächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nur schwer hergab. Er mußte ja tatsächlich bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehen, das, über das Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden konnte. »Ich kann ja nichts«, sagte Karl nach Schluß des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an. Da ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Händeklatschen. »Es hört noch jemand zu!« rief Karl aufgerüttelt.

»Mack«, sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: »Karl Roßmann, Karl Roßmann!«

Karl schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und öffnete die Tür. Er sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb liegend sitzen, die Bettdecke war lose über die Beine geworfen. Der Baldachin aus blauer Seide war die einzige, ein wenig märchenhafte Pracht des sonst einfachen, aus schwerem Holz eckig gezimmerten Bettes. Auf dem Nachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die Bettwäsche und Macks Hemd waren so weiß, daß das über sie fallende Kerzenlicht in fast blendendem Widerschein von ihnen strahlte; auch der Baldachin leuchtete, wenigstens am Rande, mit seiner leicht gewellten, nicht ganz fest gespannten Seide. Gleich hinter Mack versank aber das Bett und alles in vollständigem Dunkel. Klara lehnte sich an den Bettpfosten und hatte nur noch Augen für Mack.

»Servus«, sagte Mack und reichte Karl die Hand. »Sie spielen ja recht gut, bisher habe ich bloß Ihre Reitkunst gekannt.«

»Ich kann das eine so schlecht wie das andere«, sagte Karl. »Wenn ich gewußt hätte, daß Sie zuhören, hätte ich bestimmt nicht gespielt. Aber ihr Fräulein« - er unterbrach sich, er zögerte »Braut« zu sagen, da Mack und Klara offenbar schon miteinander schliefen. »Ich ahnte es ja«, sagte Mack, »darum mußte Sie Klara aus New York hierherlocken, sonst hätte ich Ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Es ist ja reichlich anfängerhaft, und selbst in diesen Liedern, die Sie doch eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige Fehler gemacht, aber immerhin hat es mich sehr gefreut, ganz abgesehen davon, daß ich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen Sie sich aber nicht setzen und noch ein Weilchen bei uns bleiben? Klara, gib ihm doch einen Sessel.«

»Ich danke«, sagte Karl stockend. »Ich kann nicht bleiben, so gern ich hierbliebe. Zu spät erfahre ich, daß es so wohnliche Zimmer in diesem Hause gibt.«

»Ich baue alles in dieser Art um«, sagte Mack.

In diesem Augenblick erklangen zwölf Glockenschläge, rasch hintereinander, einer in den Lärm des anderen dreinschlagend. Karl fühlte das Wehen der großen Bewegung dieser Glocken an den Wangen. Was war das für ein Dorf, das solche Glocken hatte! »Höchste Zeit«, sagte Karl, streckte Mack und Klara nur die Hände hin, ohne sie zu fassen, und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die Laterne nicht und bedauerte, dem Diener zu bald das Trinkgeld gegeben zu haben.

Er wollte sich an der Wand zu der offenen Tür seines Zimmers hintasten, war aber kaum in der Hälfte des Weges, als er Herrn Green mit erhobener Kerze eilig heranschwanken sah. In der Hand, in der er auch die Kerze hielt, trug er einen Brief.

»Roßmann, warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben Sie denn bei Fräulein Klara getrieben?«

>Viele Fragen!< dachte Karl, >und jetzt drückt er mich noch an die Wand<, denn tatsächlich stand er dicht vor Karl, der mit dem Rücken an der Wand lehnte. Green nahm in diesem Gang eine schon lächerliche Größe an, und Karl stellte sich zum Spaß die Frage, ob er nicht etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressen habe.

»Sie sind tatsächlich kein Mann von Wort. Versprechen, um zwölf hinunterzukommen, und umschleichen statt dessen die Türe Fräulein Klaras. Ich dagegen habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes versprochen und bin damit schon da.« Und damit reichte er Karl den Brief. Auf dem Umschlag stand »An Karl Roßmann, um Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird«.

»Schließlich«, sagte Herr Green, während Karl den Brief öffnete, »ist es, glaube ich, schon anerkennenswert, daß ich Ihretwegen aus New York hierhergefahren bin, so daß Sie mich durchaus nicht noch auf den Gängen Ihnen nachlaufen lassen müßten.«

»Vom Onkel!« sagte Karl, kaum daß er in den Brief hineingeschaut hatte.

»Ich habe es erwartet«, sagte er zu Herrn Green gewendet.

»Ob Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir kolossal gleichgültig. Lesen Sie nur schon«, sagte dieser und hielt Karl die Kerze hin.

Karl las bei ihrem Licht:

»Geliebter Neffe! Wie Du während unseres leider viel zu kurzen Zusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin ich durchaus ein Mann von Prinzipien. Das ist nicht nur für meine Umgebung, sondern auch für mich sehr unangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen Prinzipien alles, was ich bin, und niemand darf verlangen, daß ich mich vom Erdboden wegleugne, niemand, auch Du nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch Du gerade der Erste in der Reihe wärest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen allgemeinen Angriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich am liebsten gerade Dich mit diesen beiden Händen, mit denen ich das Papier halte und beschreibe, auffangen und hochheben. Da aber vorläufig gar nichts darauf hindeutet, daß dies einmal geschehen könnte, muß ich Dich nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fortschicken, und ich bitte Dich dringend, mich weder selbst aufzusuchen noch brieflich oder durch Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast Dich gegen meinen Willen dafür entschieden, heute abend von mir fortzugehen, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluß Dein Leben lang; nur dann war es ein männlicher Entschluß. Ich erwählte zum Überbringer dieser Nachricht Herrn Green, meinen besten Freund, der sicherlich für Dich schonende Worte genug finden wird, die mir im Augenblick tatsächlich nicht zur Verfügung stehen. Er ist ein einflußreicher Mann und wird Dich, schon mir zuliebe, in Deinen ersten selbständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Um unsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlusse dieses Briefes wieder unfaßlich scheint, muß ich mir immer wieder neuerlich sagen: Von Deiner Familie, Karl, kommt nichts Gutes. Sollte Herr Green vergessen, Dir Deinen Koffer und Deinen Regenschirm auszuhändigen, so erinnere ihn daran. Mit besten Wünschen für Dein weiteres Wohlergehen. Dein treuer Onkel Jakob.«

»Sind Sie fertig?« fragte Green.

»Ja«, sagte Karl. »Haben Sie mir den Koffer und den Regenschirm mitgebracht?« fragte Karl.

»Hier ist er,« sagte Green und stellte Karls alten Reisekoffer, den er bisher mit der linken Hand hinter dem Rücken versteckt hatte, neben Karl auf den Boden. »Und den Regenschirm?« fragte Karl weiter.

»Alles hier«, sagte Green und zog auch den Regenschirm hervor, den er in einer Hosentasche hängen hatte. »Die Sachen hat ein gewisser Schubal, ein Obermaschinist der Hamburg-Amerika-Linie, gebracht, er hat behauptet, sie auf dem Schiff gefunden zu haben. Sie können ihm bei Gelegenheit danken.«

»Nun habe ich wenigstens meine alten Sachen wieder«, sagte Karl und legte den Schirm auf den Koffer.

»Sie sollten aber in Zukunft besser auf sie achtgeben, läßt Ihnen der Herr Senator sagen«, bemerkte Herr Green und fragte dann, offenbar aus privater Neugierde: »Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Koffer?«

»Es ist ein Koffer, mit dem die Soldaten in meiner Heimat zum Militär einrücken«, antwortete Karl, »es ist der alte Militärkoffer meines Vaters. Er ist sonst ganz praktisch«, fügte er lächelnd hinzu, »vorausgesetzt, daß man ihn nicht irgendwo stehen läßt.«

»Schließlich Sind Sie ja belehrt genug«, sagte Herr Green, »und einen zweiten Onkel haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier gebe ich Ihnen noch eine Karte dritter Klasse nach San Franzisko. Ich habe diese Reise für Sie beschlossen, weil erstens die Erwerbsmöglichkeiten im Osten für Sie viel bessere sind und weil zweitens hier in allen Dingen, die für Sie in Betracht kommen könnten, Ihr Onkel seine Hände im Spiele hat und ein Zusammentreffen unbedingt vermieden werden muß. In Frisko können Sie ganz ungestört arbeiten; fangen Sie nur ruhig ganz unten an und versuchen Sie, sich allmählich hinaufzuarbeiten.«

Karl konnte keine Bosheit aus diesen Worten heraushören, die schlimme Nachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte, war überbracht, und von nun an schien Green ein ungefährlicher Mann, mit dem man vielleicht offener reden konnte als mit jedem anderen. Der beste Mensch, der ohne eigene Schuld zum Boten einer so geheimen und quälenden Entschließung auserwählt wird, muß, solange er sie bei sich behält, verdächtig scheinen. »Ich werde«, sagte Karl, die Bestätigung eines erfahrenen Mannes erwartend, »dieses Haus sofort verlassen, denn ich bin nur als Neffe meines Onkels aufgenommen, während ich als Fremder hier nichts zu suchen habe. Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigen und mich dann auf den Weg zu führen, auf dem ich zur nächsten Gastwirtschaft komme?«

»Aber rasch«, sagte Green. »Sie machen mir nicht wenig Scherereien.«

Beim Anblick des großen Schrittes, den Green gleich gemacht hatte, stockte Karl, das war doch eine verdächtige Eile, und er faßte Green unten beim Rock und sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren Sachverhaltes: »Eines müssen Sie mir noch erklären: auf dem Umschlag des Briefes, den Sie mir zu übergeben hatten, steht bloß, daß ich ihn um Mitternacht erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde. Warum haben Sie mich also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten, als ich um vierter zwölf von hier fort wollte? Sie gingen dabei über Ihren Auftrag hinaus.«

Green leitete seine Antwort mit einer Handbewegung ein, welche das Unnütze von Karls Bemerkung übertrieben darstellte, und sagte dann: »Steht vielleicht auf dem Umschlag, daß ich mich Ihretwegen zu Tode hetzen soll, und läßt vielleicht der Inhalt des Briefes darauf schließen, daß die Aufschrift so aufzufassen ist? Hätte ich Sie nicht zurückgehalten, hätte ich Ihnen den Brief eben um Mitternacht auf der Landstraße übergeben müssen.«

»Nein«, sagte Karl unbeirrt, »es ist nicht ganz so. Auf dem Umschlag steht: >Zu übergeben nach Mitternacht.< Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mir vielleicht gar nicht folgen können, oder ich wäre, was allerdings selbst Herr Pollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht bei meinem Onkel angekommen, oder es wäre schließlich Ihre Pflicht gewesen, mich in Ihrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr die Rede war, zu meinem Onkel zurückzubringen, da ich so danach verlangte, zurückzukehren. Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich, daß die Mitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie sind es, der die Schuld trägt, daß ich ihn versäumt habe.«

Karl sah Green mit scharfen Augen an und erkannte wohl, wie in Green die Beschämung über diese Entlarvung mit der Freude über das Gelingen seiner Absicht kämpfte. Endlich nahm er sich zusammen und sagte in einem Tone, als wäre er Karl, der doch schon lange schwieg, mitten in die Rede gefallen: »Kein Wort weiter!« und schob ihn, der Koffer und Schirm wieder aufgenommen hatte, durch eine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.

Karl stand erstaunt im Freien. Eine an das Haus angebaute Treppe ohne Geländer führte vor ihm hinab. Er mußte nur hinuntergehen und dann sich ein wenig rechts zur Allee wenden, die auf die Landstraße führte. In dem hellen Mondschein konnte man sich gar nicht verirren. Unten im Garten hörte er das vielfache Bellen von Hunden, die losgelassen, ringsherum im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte in der sonstigen Stille ganz genau, wie sie nach ihren großen Sprüngen ins Gras schlugen.

Ohne von diesen Hunden belästigt zu werden, kam Karl glücklich aus dem Garten. Er konnte nicht mit Bestimmtheit feststellen, in welcher Richtung New York lag. Er hatte bei der Herfahrt zu wenig auf die Einzelheiten geachtet, die ihm jetzt hätten nützlich sein können. Schließlich sagte er sich, daß er ja nicht unbedingt nach New York müsse, wo ihn niemand erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nicht erwarte. Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf den Weg.

Weg nach Ramses

 

In dem kleinen Wirtshaus, in das Karl nach kurzem Marsch kam, und das eigentlich nur eine kleine letzte Station des New Yorker Fuhrwerkverkehrs bildete und deshalb kaum für Nachtlager benützt zu werden pflegte, verlangte Karl die billigste Bettstelle, die zu haben war, denn er glaubte, mit dem Sparen sofort anfangen zu müssen. Er wurde, seiner Forderung entsprechend, vom Wirt mit einem Wink, als sei er ein Angestellter, die Treppe hinaufgewiesen, wo ihn ein zerrauftes, altes Frauenzimmer, ärgerlich über den gestörten Schlaf, empfing und, fast ohne ihn anzuhören, mit ununterbrochenen Ermahnungen, leise aufzutreten, in ein Zimmer führte, dessen Tür sie, nicht ohne ihn vorher mit einem Pst! angehaucht zu haben, schloß.

Karl wußte zuerst nicht recht, ob die Fenstervorhänge bloß herabgelassen waren oder ob vielleicht das Zimmer überhaupt keine Fenster habe, so finster war es; schließlich bemerkte er eine kleine, verhängte Luke, deren Tuch er wegzog, wodurch einiges Licht hereinkam. Das Zimmer hatte zwei Betten, die aber beide schon besetzt waren. Karl sah dort zwei junge Leute, die in schwerem Schlafe lagen und vor allem deshalb wenig vertrauenswürdig erschienen, weil sie, ohne verständlichen Grund, angezogen schliefen; der eine hatte sogar seine Stiefel an.

In dem Augenblick, als Karl die Luke freigelegt hatte, hob einer der Schläfer die Arme und Beine ein wenig in die Höhe, was einen derartigen Anblick bot, daß Karl trotz seinen Sorgen in sich hineinlachte.

Er sah bald ein, daß er, abgesehen davon, daß auch keine andere Schlafgelegenheit, weder Kanapee noch Sofa, vorhanden war, zu keinem Schlafe werde kommen können, denn er durfte seinen erst wiedergewonnenen Koffer und das Geld, das er bei sich trug, keiner Gefahr aussetzen. Weggehen aber wollte er auch nicht, denn er getraute sich nicht, an der Zimmerfrau und dem Wirt vorüber das Haus gleich wieder zu verlassen. Schließlich war es ja hier doch vielleicht nicht unsicherer als auf der Landstraße. Auffallend war freilich, daß im ganzen Zimmer, soweit sich das bei dem halben Licht feststellen ließ, kein einziges Gepäckstück zu entdecken war. Aber vielleicht und höchstwahrscheinlich waren die zwei jungen Leute die Hausdiener, die der Gäste wegen bald aufstehen mußten und deshalb angezogen schliefen. Dann war es allerdings nicht besonders ehrenvoll, mit ihnen zu schlafen, aber desto ungefährlicher. Nur durfte er sich aber, solange das nicht außer jedem Zweifel stand, auf keinen Fall zum Schlafe niederlegen.

Unter dem Bett stand eine Kerze mit Zündhölzchen, die sich Karl mit schleichenden Schritten holte. Er hatte kein Bedenken, Licht zu machen, denn das Zimmer gehörte nach Auftrag des Wirtes ihm ebensogut wie den beiden anderen, die überdies den Schlaf der halben Nacht schon genossen hatten und durch den Besitz der Betten ihm gegenüber in unvergleichlichem Vorteil waren. Im übrigen gab er sich natürlich durch Vorsicht beim Herumgehen und Hantieren alle Mühe, sie nicht zu wecken.

Zunächst wollte er seinen Koffer untersuchen, um einmal einen Überblick über seine Sachen zu bekommen, an die er sich schon nur undeutlich erinnerte und von denen sicher das Wertvollste schon verlorengegangen sein dürfte. Denn wenn der Schubal seine Hand auf etwas legt, dann ist wenig Hoffnung, daß man es unbeschädigt zurückbekommt. Allerdings hatte er vom Onkel ein großes Trinkgeld erwarten können, während er aber andererseits wieder beim Fehlen einzelner Objekte auf den eigentlichen Kofferwächter, den Herrn Butterbaum, sich hatte ausreden können.

Über den ersten Anblick beim Öffnen des Koffers war Karl entsetzt. Wie viele Stunden hatte er während der Überfahrt darauf verwendet, den Koffer zu ordnen und wieder neu zu ordnen, und jetzt war alles so wild durcheinander hineingestopft, daß der Deckel beim Öffnen des Schlosses von selbst in die Höhe sprang.

Bald aber erkannte Karl zu seiner Freude, daß die Unordnung nur darin ihren Grund hatte, daß man seinen Anzug, den er während der Fahrt getragen hatte und für den der Koffer natürlich nicht mehr berechnet gewesen war, nachträglich mit eingepackt hatte. Nicht das geringste fehlte. In der Geheimtasche des Rockes befand sich nicht nur der Paß, sondern auch das von zu Hause mitgenommene Geld, so daß Karl, wenn er jenes, das er bei sich hatte, dazu legte, mit Geld für den Augenblick reichlich versehen war. Auch die Wäsche, die er bei seiner Ankunft auf dem Leib getragen hatte, fand sich vor, rein gewaschen und gebügelt. Er legte auch sofort Uhr und Geld in die bewährte Geheimtasche. Das einzig Bedauerliche war, daß die Veroneser Salami, die auch nicht fehlte, allen Sachen ihren Geruch mitgeteilt hatte. Wenn sich das nicht durch irgendein Mittel beseitigen ließ, hatte Karl die Aussicht, monatelang in diesen Geruch eingehüllt herumzugehen.

Beim Hervorsuchen einiger Gegenstände, die zuunterst lagen - es waren dies eine Taschenbibel, Briefpapier und die Photographien der Eltern -, fiel ihm die Mütze vom Kopf und in den Koffer. In ihrer alten Umgebung erkannte er sie sofort, es war seine Mütze, die Mütze, die ihm die Mutter als Reisemütze mitgegeben hatte. Er hatte jedoch aus Vorsicht diese Mütze auf dem Schiff nicht getragen, da er wußte, daß man in Amerika allgemein Mützen statt Hüte trägt, weshalb er die seine nicht schon vor der Ankunft hatte abnützen wollen. Nun hatte sie allerdings Herr Green dazu benützt, um sich auf Karls Kosten zu belustigen. Ob ihm vielleicht auch dazu der Onkel den Auftrag gegeben hatte? Und in einer unabsichtlichen, wütenden Bewegung faßte er den Kofferdeckel, der laut zuklappte.

Nun war keine Hilfe mehr, die beiden Schläfer waren geweckt. Zuerst streckte sich und gähnte der eine, ihm folgte gleich der andere. Dabei war fast der ganze Kofferinhalt auf dem Tisch ausgeschüttet; wenn es Diebe waren, brauchten sie nur heranzutreten und auszuwählen. Nicht nur um dieser Möglichkeit vorzukommen, sondern um auch sonst gleich Klarheit zu schaffen, ging Karl mit der Kerze in der Hand zu den Betten und erklärte, mit welchem Rechte er hier sei. Sie schienen diese Erklärung gar nicht erwartet zu haben, denn noch viel zu verschlafen, um reden zu können, sahen sie ihn bloß ohne jedes Erstaunen an. Sie waren beide sehr junge Leute, aber schwere Arbeit oder Not hatten ihnen vorzeitig die Knochen aus den Gesichtern vorgetrieben, unordentliche Bärte hingen ihnen ums Kinn, ihr schon lange nicht geschnittenes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf, und ihre tiefliegenden Augen rieben und drückten sie nun noch vor Verschlafenheit mit den Fingerknöcheln.

Karl wollte ihren augenblicklichen Schwächezustand ausnützen und sagte deshalb: »Ich heiße Karl Roßmann und bin ein Deutscher. Bitte, sagen Sie mir, da wir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch Ihren Namen und Ihre Nationalität. Ich erkläre nur noch gleich, daß ich keinen Anspruch auf ein Bett habe, da ich so spät gekommen bin und überhaupt nicht die Absicht habe, zu schlafen. Außerdem müssen Sie sich nicht an meinem schönen Kleid stoßen, ich bin völlig arm und ohne Aussichten.«

Der Kleinere von beiden - es war jener, der die Stiefel anhatte - deutete mit Armen, Beinen und Mienen an, daß ihn das alles gar nicht interessiere und daß jetzt überhaupt keine Zeit für derartige Redensarten sei, legte sich nieder und schlief sofort; der andere, ein dunkelhäutiger Mann, legte sich auch wieder nieder, sagte aber noch vor dem Einschlafen mit lässig ausgestreckter Hand: »Der da heißt Robinson und ist Irländer, ich heiße Delamarche, bin Franzose und bitte jetzt um Ruhe.«

Kaum hatte er das gesagt, blies er mit großem Atemaufwand Karls Kerze aus und fiel auf das Kissen zurück.

>Diese Gefahr ist also vorläufig abgewehrt<, sagte sich Karl und kehrte zum Tisch zurück. Wenn ihre Schläfrigkeit nicht Vorwand war, war ja alles gut. Unangenehm war bloß, daß der eine Irländer war. Karl wußte nicht mehr genau, in welchem Buch er einmal zu Hause gelesen hatte, daß man sich in Amerika vor den Irländern hüten solle. Während seines Aufenthaltes beim Onkel hätte er freilich die beste Gelegenheit gehabt, die Frage nach der Gefährlichkeit der Irländer auf den Grund zu gehen, hatte dies aber, weil er sich für immer gut aufgehoben geglaubt hatte, völlig versäumt. Nun wollte er wenigstens mit der Kerze, die er wieder angezündet hatte, diesen Irländer genauer ansehen, wobei er fand, daß gerade dieser erträglicher aussah als der Franzose. Er hatte sogar noch eine Spur von runden Wangen und lächelte im Schlafe ganz freundlich, soweit das Karl aus einiger Entfernung, auf den Fußspitzen stehend, feststellen konnte.

Trotz allem fest entschlossen, nicht zu schlafen, setzte sich Karl auf den einzigen Stuhl des Zimmers, verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er ja dafür die ganze Nacht noch verwenden konnte, und blätterte ein wenig in der Bibel, ohne etwas zu lesen. Dann nahm er die Photographie der Eltern zur Hand, auf welcher der kleine Vater hoch aufgerichtet stand, während die Mutter in dem Fauteuil vor ihm, ein wenig eingesunken, dasaß. Die eine Hand hielt der Vater auf der Rückenlehne des Fauteuils, die andere, zur Faust geballt, auf einem illustrierten Buch, das aufgeschlagen auf einem schwachen Schmucktischchen ihm zur Seite lag. Es gab auch eine andere Photographie, auf welcher Karl mit seinen Eltern abgebildet war. Vater und Mutter sahen ihn dort scharf an, während er nach dem Auftrag des Photographen den Apparat hatte anschauen müssen. Diese Photographie hatte er aber auf die Reise nicht mitgenommen. Desto genauer sah er die vor ihm liegende an und suchte von verschiedenen Seiten den Blick des Vaters aufzufangen. Aber der Vater wollte, wie er auch den Anblick durch verschiedene Kerzenstellungen änderte, nicht lebendig werden, sein waagerechter, starker Schnurrbart sah der Wirklichkeit auch gar nicht ähnlich, es war keine gute Aufnahme. Die Mutter dagegen war schon besser abgebildet, ihr Mund war so verzogen, als sei ihr ein Leid angetan worden und als zwinge sie sich zu lächeln. Karl schien es, als müsse dies jedem, der das Bild ansah, so sehr auffallen, daß es ihm im nächsten Augenblick wieder schien, die Deutlichkeit dieses Eindrucks sei zu stark und fast widersinnig. Wie könne man von einem Bild so sehr die unumstößliche Überzeugung eines verborgenen Gefühls des Abgebildeten erhalten!

Und er sah vom Bild ein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken wieder zurückkehrte, fiel ihm die Hand der Mutter auf, die ganz vorne an der Lehne des Fauteuils herabhing, zum Küssen nahe. Er dachte, ob es nicht vielleicht doch gut wäre, den Eltern zu schreiben, wie sie es ja tatsächlich beide (und der Vater zuletzt sehr streng in Hamburg) von ihm verlangt hatten. Er hatte sich freilich damals, als ihm die Mutter am Fenster an einem schrecklichen Abend die Amerikareise angekündigt hatte, unabänderlich zugeschworen, niemals zu schreiben, aber was galt ein solcher Schwur eines unerfahrenen Jungen hier in den neuen Verhältnissen! Ebensogut hätte er damals schwören können, daß er nach zwei Monaten amerikanischen Aufenthalts General der amerikanischen Miliz sein werde, während er tatsächlich in einer Dachkammer mit zwei Lumpen beisammen war, in einem Wirtshaus vor New York, und außerdem zugeben mußte, daß er hier wirklich an seinem Platze war. Und lächelnd prüfte er die Gesichter der Eltern, als könne man aus ihnen erkennen, ob sie noch immer das Verlangen hatten, eine Nachricht von ihrem Sohn zu bekommen. In diesem Anschauen merkte er bald, daß er doch sehr müde war und kaum die Nacht werde durchmachen können. Das Bild entfiel seinen Händen, dann legte er das Gesicht auf das Bild, dessen Kühle seiner Wange wohltat, und mit einem angenehmen Gefühl schlief er ein. Geweckt wurde er früh durch das Kitzeln unter der Achsel. Es war der Franzose, der sich diese Zudringlichkeit erlaubte. Aber auch der Irländer stand schon vor Karls Tisch und beide sahen ihn mit keinem geringeren Interesse an, als es Karl in der Nacht ihnen gegenüber getan hatte. Karl wunderte sich nicht darüber, daß ihn ihr Aufstehen nicht schon geweckt hatte; sie mußten durchaus nicht aus böser Absicht besonders leise aufgetreten sein, denn er hatte tief geschlafen und außerdem hatte ihnen das Anziehen und offenbar auch das Waschen nicht viel Arbeit gemacht.

Nun begrüßten sie einander ordentlich und mit einer gewissen Förmlichkeit, und Karl erfuhr, daß die beiden Maschinenschlosser waren, die in New York schon lange Zeit keine Arbeit hatten bekommen können und infolgedessen ziemlich heruntergekommen waren. Robinson öffnete zum Beweise dessen seinen Rock, und man konnte sehen, daß kein Hemd da war, was man allerdings auch schon an dem lose sitzenden Kragen hätte erkennen können, der hinten am Rock befestigt war. Sie hatten die Absicht, in das zwei Tagereisen von New York entfernte Städtchen Butterford zu marschieren, wo angeblich Arbeitsstellen frei waren. Sie hatten nichts dagegen, daß Karl mitkomme, und versprachen ihm erstens, zeitweilig seinen Koffer zu tragen, und zweitens, falls sie selbst Arbeit bekommen sollten, ihm eine Lehrlingsstelle zu verschaffen, was, wenn nur überhaupt Arbeit vorhanden sei, eine Leichtigkeit wäre. Karl hatte noch kaum zugestimmt, als sie ihm schon freundschaftlich den Rat gaben, das schöne Kleid auszuziehen, da es ihm bei jeder Bewerbung um eine Stelle hinderlich sein werde. Gerade in diesem Hause sei eine gute Gelegenheit, das Kleid loszuwerden, denn die Zimmerfrau betreibe einen Kleiderhandel. Sie halfen Karl, der auch rücksichtlich des Kleides noch nicht ganz entschlossen war, aus dem Kleid heraus und trugen es davon. Als Karl, allein gelassen und ein wenig schlaftrunken, sein altes Reisekleid noch langsam anzog, machte er sich Vorwürfe, das Kleid verkauft zu haben, das ihm vielleicht bei der Bewerbung um eine Lehrlingsstelle schaden, bei der um einen besseren Posten aber nur nützen konnte, und er öffnete die Tür, um die beiden zurückzurufen, stieß aber schon mit ihnen zusammen, die einen halben Dollar als Erlös auf den Tisch legten, dabei aber so fröhliche Gesichter machten, daß man sich unmöglich dazu überreden konnte, sie hätten bei dem Verkauf nicht auch ihren Verdienst gehabt, und zwar einen ärgerlich großen.

Es war übrigens keine Zeit, sich darüber auszusprechen, denn die Zimmerfrau kam herein, genau so verschlafen wie in der Nacht, und trieb alle drei auf den Gang hinaus, mit der Erklärung, daß das Zimmer für neue Gäste hergerichtet werden müsse. Davon war aber natürlich keine Rede, sie handelte nur aus Bosheit. Karl, der seinen Koffer gerade hatte ordnen wollen, mußte zusehen, wie die Frau seine Sachen mit beiden Händen packte und mit einer Kraft in den Koffer warf, als seien es irgendwelche Tiere, die man zum Kuschen bringen mußte. Die beiden Schlosser machten sich zwar um sie zu schaffen, zupften sie an ihrem Rock, beklopften ihren Rücken, aber wenn sie die Absicht hatten, Karl damit zu helfen, so war das ganz verfehlt. Als die Frau den Koffer zugeklappt hatte, drückte sie Karl den Halter in die Hand, schüttelte die Schlosser ab und jagte alle drei mit der Drohung aus dem Zimmer, daß sie, wenn sie nicht folgten, keinen Kaffee bekommen würden. Die Frau mußte offenbar gänzlich vergessen haben, daß Karl nicht von allem Anfang an zu den Schlossern gehört hatte, denn sie behandelte sie als eine einzige Bande. Allerdings hatten die Schlosser Karls Kleid ihr verkauft und damit eine gewisse Gemeinsamkeit erwiesen.

Auf dem Gange mußten sie lange hin und her gehen, und besonders der Franzose, der sich in Karl eingehängt hatte, schimpfte ununterbrochen, drohte, den Wirt, wenn er sich vorwagen sollte, niederzuboxen, und es schien eine Vorbereitung dazu zu sein, daß er die geballten Fäuste rasend aneinander rieb. Endlich kam ein unschuldiger kleiner Junge, der sich strecken mußte, als er dem Franzosen die Kaffeekanne reichte. Leider war nur eine Kanne vorhanden, und man konnte dem Jungen nicht begreiflich machen, daß noch Gläser erwünscht wären. So konnte immer nur einer trinken und die beiden anderen standen vor ihm und warteten. Karl hatte keine Lust zu trinken, wollte aber die anderen nicht kränken und stand also, wenn er an der Reihe war, untätig da, die Kanne an den Lippen.

Zum Abschied warf der Irländer die Kanne auf die steinernen Fliesen hin. Sie verließen, von niemandem gesehen, das Haus und traten in den dichten, gelblichen Morgennebel. Sie marschierten im allgemeinen still nebeneinander am Rande der Straße, Karl mußte seinen Koffer tragen, die anderen würden ihn wahrscheinlich erst auf seine Bitte ablösen; hie und da schoß ein Automobil aus dem Nebel, und die drei drehten ihre Köpfe nach den meist riesenhaften Wagen, die so auffällig in ihrem Bau und so kurz in ihrer Erscheinung waren, daß man nicht Zeit hatte, auch nur das Vorhandensein von Insassen zu bemerken. Später begannen die Kolonnen von Fuhrwerken, welche Lebensmittel nach New York brachten, und die in fünf die ganze Breite der Straße einnehmenden Reihen so ununterbrochen dahinzogen, daß niemand die Straße hätte überqueren können. Von Zeit zu Zeit verbreiterte sich die Straße zu einem Platz, in dessen Mitte auf einer turmartigen Erhöhung ein Polizist auf und ab schritt, um alles übersehen und mit einem Stöckchen den Verkehr auf der Hauptstraße sowie den von den Seitenstraßen hier einmündenden Verkehr ordnen zu können, der dann bis zum nächsten Platze und zum nächsten Polizisten unbeaufsichtigt blieb, aber von den schweigenden und aufmerksamen Kutschern und Chauffeuren freiwillig in genügender Ordnung gehalten wurde. Über die allgemeine Ruhe staunte Karl am meisten. Wäre nicht das Geschrei der sorglosen Schlachttiere gewesen, man hätte vielleicht nichts gehört als das Klappern der Hufe und das Sausen der Antiderapants. Dabei war die Fahrtschnelligkeit natürlich nicht immer die gleiche. Wenn auf einzelnen Plätzen infolge allzu großen Andrangs von den Seiten große Umstellungen vorgenommen werden mußten, stockten die ganzen Reihen und fuhren nur Schritt für Schritt, dann aber kam es auch wieder vor, daß für ein Weilchen alles blitzschnell vorbeijagte, bis es, wie von einer einzigen Bremse regiert, sich wieder besänftigte. Dabei stieg von der Straße nicht der geringste Staub auf, alles bewegte sich in der klarsten Luft. Fußgänger gab es keine, hier wanderten keine einzelnen Marktweiber zur Stadt wie in Karls Heimat, aber doch erschienen hie und da große, flache Automobile, auf denen an zwanzig Frauen mit Rückenkörben, also doch vielleicht Marktweiber, standen und die Hälse streckten, um den Verkehr zu überblicken und sich Hoffnung auf raschere Fahrt zu holen. Dann sah man ähnliche Automobile, auf denen einzelne Männer, die Hände in den Hosentaschen, herumspazierten. Auf einem dieser Automobile, die verschiedene Aufschriften trugen, las Karl unter einem kleinen Aufschrei: »Hafenarbeiter für die Spedition Jakob aufgenommen.« Der Wagen fuhr gerade ganz langsam, und ein auf der Wagentreppe stehender kleiner, gebückter, lebhafter Mann lud die drei Wanderer zum Einsteigen ein. Karl flüchtete sich hinter die Schlosser, als könne sich auf dem Wagen der Onkel befinden und ihn sehen. Er war froh, daß auch die beiden die Einladung ablehnten, wenn ihn auch der hochmütige Gesichtsausdruck gewissermaßen kränkte, mit dem sie das taten. Sie mußten durchaus nicht glauben, daß sie zu gut waren, um in die Dienste des Onkels zu treten. Er gab es ihnen, wenn auch natürlich nicht ausdrücklich, sofort zu verstehen. Darauf bat ihn Delamarche, sich gefälligst nicht in Sachen einzumischen, die er nicht verstehe; diese Art, Leute aufzunehmen, sei ein schändlicher Betrug, und die Firma Jakob sei berüchtigt in den ganzen Vereinigten Staaten. Karl antwortete nicht, hielt sich aber von nun an mehr an den Irländer, er bat ihn auch, ihm jetzt ein wenig den Koffer zu tragen, was dieser, nachdem Karl seine Bitte mehrmals wiederholt hatte, auch tat. Nur klagte er ununterbrochen über die Schwere des Koffers, bis es sich zeigte, daß er nur die Absicht hatte, den Koffer um die Veroneser Salami zu erleichtern, die ihm wohl schon im Hotel angenehm aufgefallen war. Karl mußte sie auspacken, der Franzose nahm sie zu sich, um sie mit seinem dolchartigen Messer zu behandeln und fast ganz allein aufzuessen. Robinson bekam nur hie und da eine Schnitte, Karl dagegen, der wieder den Koffer tragen mußte, wenn er ihn nicht auf der Landstraße stehen lassen wollte, bekam nichts, als hätte er sich seinen Anteil schon im voraus genommen. Es schien ihm zu kleinlich, um ein Stückchen zu betteln, aber die Galle regte sich in ihm. Aller Nebel war schon verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte. An der Seite der Straße lagen schlecht bebaute Felder, die sich um große Fabriken hinzogen, die dunkel angeraucht im freien Lande standen. In den wahllos hingestellten einzelnen Mietskasernen zitterten die vielen Fenster in der mannigfaltigsten Bewegung und Beleuchtung, und auf all den kleinen, schwachen Balkonen hatten Frauen und Kinder vielerlei zu tun, während um sie herum, sie verdeckend und enthüllend, aufgehängte und hingelegte Tücher und Wäschestücke im Morgenwind flatterten und mächtig sich bauschten. Glitten die Blicke von den Häusern ab, dann sah man Lerchen hoch am Himmel fliegen und unten wieder die Schwalben, nicht allzuweit über den Köpfen der Fahrenden.

Vieles erinnerte Karl an seine Heimat und er wußte nicht, ob er gut daran tue, New York zu verlassen und in das Innere des Landes zu gehen. In New York war das Meer und zu jeder Zeit die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat. Und so blieb er stehen und sagte zu seinen beiden Begleitern, er habe doch wieder Lust, in New York zu bleiben. Und als Delamarche ihn einfach weitertreiben wollte, ließ er sich nicht treiben und sagte, daß er doch wohl noch das Recht habe, über sich zu entscheiden. Der Irländer mußte erst vermitteln und erklären, daß Butterford viel schöner als New York sei, und beide mußten ihn noch sehr bitten, ehe er wieder weiterging. Und selbst dann wäre er noch nicht gegangen, wenn er sich nicht gesagt hätte, daß es für ihn vielleicht besser sei, an einen Ort zu kommen, wo die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat keine so leichte sei. Gewiß werde er dort besser arbeiten und vorwärtskommen, da ihn keine unnützen Gedanken hindern würden. Und nun war er es, der die beiden anderen zog, und sie freuten sich so sehr über seinen Eifer, daß sie, ohne sich erst bitten zu lassen, den Koffer abwechselnd trugen und Karl gar nicht recht verstand, womit er ihnen eigentlich diese Freude verursache. Sie kamen in eine ansteigende Gegend, und wenn sie hie und da stehenblieben, konnten sie beim Rückblick das Panorama New Yorks und seines Hafens immer ausgedehnter sich entwickeln sehen. Die Brücke, die New York mit Brooklyn verbindet, hing zart über den East River, und sie erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein, und unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Wasserband. Alles in beiden Riesenstädten schien leer und nutzlos aufgestellt. Unter den Häusern gab es kaum einen Unterschied zwischen den großen und den kleinen. In der unsichtbaren Tiefe der Straßen ging wahrscheinlich das Leben fort nach seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen als leichter Dunst, der sich zwar nicht bewegte, aber ohne Mühe verjagbar zu sein schien. Selbst in den Hafen, den größten der Welt, war Ruhe eingekehrt, und nur hie und da glaubte man, wohl beeinflußt von der Erinnerung an einen früheren Anblick aus der Nähe, ein Schiff zu sehen, das eine kurze Strecke sich fortschob. Aber man konnte ihm auch nicht lange folgen, es entging den Augen und war nicht mehr zu finden.

Aber Delamarche und Robinson sahen offenbar viel mehr, sie zeigten nach rechts und links und überwölbten mit den ausgestreckten Händen Plätze und Gärten, die sie mit Namen benannten. Sie konnten es nicht begreifen, daß Karl über zwei Monate in New York gewesen war und kaum etwas anderes von der Stadt gesehen hatte als eine Straße. Und sie versprachen ihm, wenn sie in Butterford genug verdient hätten, mit ihm nach New York zu gehen und ihm alles Sehenswerte zu zeigen und ganz besonders natürlich jene Örtlichkeiten, wo man sich bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im Anschluß daran mit vollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen begleitete und das Karl als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte, die ihm hier mit einem englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je zu Hause gefallen hatte. So gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nur die Stadt unten, die sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar nichts davon zu wissen.

Einmal fragte Karl, wo denn die Spedition Jakob liege, und sofort sah er Delamarches und Robinsons ausgestreckte Zeigefinger vielleicht auf den gleichen, vielleicht auf meilenweit entfernte Punkte gerichtet. Als sie dann weitergingen, fragte Karl, wann sie frühestens mit genügendem Verdienst nach New York zurückkehren könnten. Delamarche sagte, das könne schon ganz gut in einem Monat sein, denn in Butterford sei Arbeitermangel und die Löhne seien hoch. Natürlich würden sie ihr Geld in eine gemeinsame Kasse legen, damit zufällige Unterschiede im Verdienst unter ihnen als Kameraden ausgeglichen würden. Die gemeinsame Kasse gefiel Karl nicht, obwohl er als Lehrling natürlich weniger verdienen würde als ausgelernte Arbeiter. Überdies erwähnte Robinson, daß sie natürlich, wenn in Butterford keine Arbeit wäre, weiterwandern müßten, entweder um als Landarbeiter irgendwo unterzukommen oder vielleicht nach Kalifornien in die Goldwäscherei zu gehen, was, nach Robinsons ausführlichen Erzählungen zu schließen, sein liebster Plan war.

»Warum sind Sie denn Schlosser geworden, wenn Sie jetzt in die Goldwäscherei wollen?« fragte Karl, der ungern von der Notwendigkeit solcher weiten, unsicheren Reisen hörte.

»Warum ich Schlosser geworden bin?« sagte Robinson, »doch gewiß nicht deshalb, damit meiner Mutter Sohn dabei verhungert. In den Goldwäschereien ist ein feiner Verdienst.«

»War einmal«, sagte Delamarche.

»Ist noch immer«, sagte Robinson und erzählte von vielen dabei reich gewordenen Bekannten, die noch immer dort waren, natürlich keinen Finger mehr rührten, aus alter Freundschaft ihm aber und selbstverständlich auch seinen Kameraden zu Reichtum verhelfen würden.

»Wir werden schon in Butterford Stellen erzwingen«, sagte Delamarche und sprach damit Karl aus der Seele, aber eine zuversichtliche Ausdrucksweise war es nicht. Während des Tages machten sie nur einmal in einem Wirtshaus halt und aßen davor im Freien an einem, wie es Karl schien, eisernen Tisch fast rohes Fleisch, das man mit Messer und Gabel nicht zerschneiden, sondern nur zerreißen konnte. Das Brot hatte eine walzenartige Form, und in jedem Brotlaib steckte ein langes Messer. Zu diesem Essen wurde eine schwarze Flüssigkeit gereicht, die im Halse brannte. Delamarche und Robinson schmeckte sie aber, sie erhoben oft auf die Erfüllung verschiedener Wünsche ihre Gläser und stießen miteinander an, wobei sie ein Weilchen lang in der Höhe Glas an Glas hielten. Am Nebentisch saßen Arbeiter in kalkbespritzten Blusen, und alle tranken die gleiche Flüssigkeit. Automobile, die in Mengen vorüberfuhren, warfen Schwaden von Staub über die Tische hin. Große Zeitungsblätter wurden herumgereicht, man sprach erregt vom Streik der Bauarbeiter, der Name Mack wurde öfters genannt. Karl erkundigte sich über ihn und erfuhr, daß dies der Vater des ihm bekannten Mack und der größte Bauunternehmer von New York war. Der Streik kostete ihn Millionen und bedrohte vielleicht seine geschäftliche Stellung. Karl glaubte kein Wort von diesem Gerede schlecht unterrichteter, übelwollender Leute.

Verbittert wurde das Essen für Karl außerdem dadurch, daß es sehr fraglich war, wie das Essen gezahlt werden sollte. Das Natürliche wäre gewesen, daß jeder seinen Teil gezahlt hätte, aber Delamarche wie auch Robinson hatten gelegentlich bemerkt, daß für das letzte Nachtlager ihr letztes Geld aufgegangen war. Uhr, Ring oder sonst etwas Veräußerbares war an keinem zu sehen. Und Karl konnte ihnen doch nicht vorhalten, daß sie an dem Verkauf seiner Kleider etwas verdient hätten, das wäre doch Beleidigung und Abschied für immer gewesen. Das Erstaunliche aber war, daß weder Delamarche noch Robinson irgendwelche Sorgen wegen der Bezahlung hatten, vielmehr hatten sie gute Laune genug, möglichst oft Anknüpfungen mit der Kellnerin zu versuchen, die stolz und mit schwerem Gang zwischen den Tischen hin und her ging. Ihr Haar hing ihr von den Seiten ein wenig lose in Stirn und Wangen, und sie strich es immer wieder zurück, indem sie mit den Händen darunter hinfuhr. Schließlich, als man vielleicht das erste freundliche Wort von ihr erwartete, trat sie zum Tische, legte beide Hände auf ihn und fragte: »Wer zahlt?« Nie waren Hände rascher aufgeflogen als jetzt jene von Delamarche und Robinson, die auf Karl zeigten. Karl erschrak darüber nicht, denn er hatte es ja vorausgesehen, und sah nichts Schlimmes darin, daß die Kameraden, von denen er ja auch Vorteile erwartete, einige Kleinigkeiten von ihm bezahlen ließen, wenn es auch anständiger gewesen wäre, diese Sache vor dem entscheidenden Augenblick ausdrücklich zu besprechen. Peinlich war bloß, daß er das Geld erst aus der Geheimtasche heraufbefördern mußte. Seine ursprüngliche Absicht war es gewesen, das Geld für die letzte Not aufzuheben und sich also vorläufig mit seinen Kameraden gewissermaßen in eine Reihe zu stellen. Der Vorteil, den er durch dieses Geld und vor allem durch das Verschweigen des Besitzes gegenüber den Kameraden erlangte, wurde für diese mehr als reichlich dadurch aufgewogen, daß sie schon seit ihrer Kindheit in Amerika waren, daß sie genügende Kenntnisse und Erfahrungen für Gelderwerb hatten und daß sie schließlich an bessere Lebensverhältnisse als ihre gegenwärtigen nicht gewöhnt waren. Diese bisherigen Absichten, die Karl rücksichtlich seines Geldes hatte, mußten an und für sich durch diese Bezahlung nicht gestört werden, denn einen Vierteldollar konnte er schließlich entbehren und deshalb also ein Vierteldollarstück auf den Tisch legen und erklären, dies sei sein einziges Eigentum und er sei bereit, es für die gemeinsame Reise nach Butterford zu opfern. Für die Fußreise genügte ein solcher Betrag auch vollkommen. Nun aber wußte er nicht, ob er genügend Kleingeld hatte, und überdies lag dieses Geld sowie die zusammengelegten Banknoten irgendwo in der Tiefe der Geheimtasche, in der man eben am besten etwas fand, wenn man den ganzen Inhalt auf den Tisch schüttete. Außerdem war es höchst unnötig, daß die Kameraden von dieser Geheimtasche überhaupt etwas erfuhren. Nun schien es zum Glück, daß die Kameraden sich noch immer mehr für die Kellnerin interessierten als dafür, wie Karl das Geld für die Bezahlung zusammenbrächte. Delamarche lockte die Kellnerin durch die Aufforderung, die Rechnung aufzustellen, zwischen sich und Robinson und sie konnte die Zudringlichkeiten der beiden nur dadurch abwehren, daß sie einem oder dem anderen die ganze Hand auf das Gesicht legte und ihn wegschob. Inzwischen sammelte Karl, heiß vor Anstrengung, unter der Tischplatte in der einen Hand das Geld, das er mit der anderen Stück für Stück in der Geheimtasche herumjagte und herausholte. Endlich glaubte er, obwohl er das amerikanische Geld noch nicht genau kannte, er hätte, wenigstens der Menge der Stücke nach, eine genügende Summe, und legte sie auf den Tisch. Der Klang des Geldes unterbrach sofort die Scherze. Zu Karls Ärger und zu allgemeinem Erstaunen zeigte sich, daß fast ein ganzer Dollar dalag. Keiner fragte zwar, warum Karl von dem Gelde, das für eine bequeme Eisenbahnfahrt nach Butterford gereicht hätte, früher nichts gesagt hatte, aber Karl war doch in großer Verlegenheit. Langsam strich er, nachdem das Essen bezahlt war, das Geld wieder ein, noch aus seiner Hand nahm Delamarche ein Geldstück, das er für die Kellnerin als Trinkgeld brauchte, die er umarmte und an sich drückte, um ihr dann, von der anderen Seite her, das Geld zu überreichen.

Karl war ihnen dankbar, daß sie auf dem Weitermarsch keine Bemerkungen über das Geld machten, und er dachte sogar eine Zeitlang daran, ihnen sein ganzes Vermögen einzugestehen, unterließ das aber doch, da sich keine rechte Gelegenheit fand. Gegen Abend kamen sie in eine mehr ländliche, fruchtbare Gegend. Ringsherum sah man ungeteilte Felder, die sich in ihrem ersten Grün über sanfte Hügel legten, reiche Landsitze umgrenzten die Straße, und stundenlang ging man zwischen den vergoldeten Gittern der Gärten, mehrmals kreuzten sie den gleichen langsam fließenden Strom und vielemal hörten sie über sich die Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden Viadukten donnern.

Eben ging die Sonne an dem geraden Rande ferner Wälder nieder, als sie sich auf einer Anhöhe inmitten einer kleinen Baumgruppe ins Gras hinwerfen, um sich von den Strapazen auszuruhen. Delamarche und Robinson lagen da und streckten sich nach Kräften. Karl saß aufrecht und sah auf die ein paar Meter tiefer führende Straße, auf der immer wieder Automobile, wie schon während des ganzen Tages, leicht aneinander vorübereilten, als würden sie in genauer Anzahl immer wieder von der Ferne abgeschickt und in der gleichen Anzahl in der anderen Ferne erwartet. Während des ganzen Tages seit dem frühesten Morgen hatte Karl kein Automobil halten, keinen Passagier aussteigen gesehen.

Robinson machte den Vorschlag, die Nacht hier zu verbringen, da sie alle genügend müde wären, da sie dann desto früher ausmarschieren könnten und da sie schließlich kaum ein billigeres und besser gelegenes Nachtlager vor Einbruch völliger Dunkelheit finden könnten. Delamarche war einverstanden, und nur Karl glaubte zu der Bemerkung verpflichtet zu sein, daß er Geld genug habe, um das Nachtlager für alle auch in einem Hotel zu bezahlen. Delamarche sagte, sie würden das Geld noch brauchen, er solle es nur gut aufheben. Delamarche verbarg nicht im geringsten, daß man mit Karls Geld schon rechnete. Da sein erster Vorschlag angenommen war, erklärte nun Robinson weiter, nun müßten sie aber vor dem Schlafen, um sich für morgen zu kräftigen, etwas Tüchtiges essen, und einer solle das Essen für alle aus dem Hotel holen, das in nächster Nähe an der Landstraße mit der Aufschrift »Hotel Occidental« leuchtete. Als der Jüngste, und da sich auch sonst niemand meldete, zögerte Karl nicht, sich für diese Besorgung anzubieten, und ging, nachdem er eine Bestellung auf Speck, Brot und Bier erhalten hatte, ins Hotel hinüber. Es mußte eine große Stadt in der Nähe sein, denn gleich der erste Saal des Hotels, den Karl betrat, war von einer lauten Menge erfüllt, und an dem Büfett, das sich an einer Längswand und an den zwei Seitenwänden hinzog, liefen unaufhörlich viele Kellner mit weißen Schürzen vor der Brust und konnten doch die ungeduldigen Gäste nicht zufriedenstellen, denn immer wieder hörte man an den verschiedensten Stellen Flüche und Fäuste, die auf den Tisch schlugen. Karl wurde von niemandem beachtet; es gab auch im Saale selbst keine Bedienung, die Gäste, die an winzigen, bereits zwischen drei Tischnachbarn verschwindenden Tischen saßen, holten alles, was sie wünschten, beim Büfett. Auf allen Tischchen stand eine große Flasche mit Öl, Essig oder dergleichen, und alle Speisen, die vom Büfett geholt wurden, wurden vor dem Essen aus dieser Flasche übergossen. Wollte Karl überhaupt erst zum Büfett kommen, wo ja dann wahrscheinlich, besonders bei seiner großen Bestellung, die Schwierigkeiten erst beginnen würden, mußte er sich zwischen vielen Tischen durchdrängen, was natürlich bei aller Vorsicht nicht ohne grobe Belästigung der Gäste durchzuführen war, die jedoch alles wie gefühllos hinnahmen, selbst als Karl einmal, allerdings gleichfalls von einem Gast, gegen ein Tischchen gestoßen wurde, das er fast umgeworfen hätte. Er entschuldigte sich zwar, wurde aber offenbar nicht verstanden, verstand übrigens auch nicht das geringste von dem, was man ihm zurief.

Beim Büfett fand er mit Mühe ein kleines freies Plätzchen, auf dem ihm eine lange Weile die Aussicht durch die aufgestützten Ellbogen seiner Nachbarn genommen war. Es schien hier überhaupt eine Sitte, die Ellbogen aufzustützen und die Faust an die Schläfe zu drücken; Karl mußte daran denken, wie der Lateinprofessor Dr. Krumpal gerade diese Haltung gehaßt hatte und wie er immer heimlich und unversehens herangekommen war und mittels eines plötzlich erscheinenden Lineals mit scherzhaftem Ruck die Ellbogen von den Tischen gestreift hatte.

Karl stand eng ans Büfett gedrängt, denn kaum hatte er sich angestellt, war hinter ihm ein Tisch aufgestellt worden, und der eine der dort sich niederlassenden Gäste streifte schwer, wenn er sich nur ein wenig beim Reden zurückbog, mit seinem großen Hut Karls Rücken. Und dabei war so wenig Hoffnung, vom Kellner etwas zu bekommen, selbst als die beiden plumpen Nachbarn befriedigt weggegangen waren. Einigemal hatte Karl einen Kellner über den Tisch hin bei der Schürze gefaßt, aber immer hatte sich der mit verzerrtem Gesicht losgerissen. Keiner war zu halten, sie liefen nur und liefen nur. Wenn wenigstens in der Nähe Karls etwas Passendes zum Essen und Trinken gewesen wäre, er hätte es genommen, sich nach dem Preis erkundigt, das Geld hingelegt und wäre mit Freude weggegangen. Aber gerade vor ihm lagen nur Schüsseln mit heringartigen Fischen, deren schwarze Schuppen am Rande goldig glänzten. Die konnten sehr teuer sein und würden wahrscheinlich niemanden sättigen. Außerdem waren kleine Fäßchen mit Rum erreichbar, aber Rum wollte er seinen Kameraden nicht bringen, sie schienen schon sowieso bei jeder Gelegenheit nur auf den konzentriertesten Alkohol auszugehen und darin wollte er sie nicht noch unterstützen. Es blieb also Karl nichts übrig, als einen anderen Platz zu suchen und mit seinen Bemühungen von vorne anzufangen. Nun aber war auch schon die Zeit sehr vorgerückt. Die Uhr am anderen Ende des Saales, deren Zeiger man bei scharfem Hinsehen durch den Rauch gerade noch erkennen konnte, zeigte schon neun vorüber. Anderswo am Büfett war aber das Gedränge noch größer als an dem früheren, ein wenig abgelegenen Platz. Außerdem füllte sich der Saal desto mehr, je später es wurde. Immer wieder zogen durch die Haupttüre mit großem Hallo neue Gäste ein. An manchen Stellen räumten Gäste selbstherrlich das Büfett ab und setzten sich aufs Pult und tranken einander zu, es waren die besten Plätze, man übersah den ganzen Saal.

Karl drängte sich zwar noch weiter durch, aber eine eigentliche Hoffnung, etwas zu erreichen, hatte er nicht mehr. Er machte sich Vorwürfe darüber, daß er, der die hiesigen Verhältnisse nicht kannte, sich zu dieser Besorgung angeboten hatte. Seine Kameraden würden ihn mit vollem Rechte auszanken und gar noch denken, daß er, nur um Geld zu sparen, nichts mitgebracht hatte. Nun stand er gar in einer Gegend, wo ringsherum an den Tischen warme Fleischspeisen mit schönen, gelben Kartoffeln gegessen wurden; es war ihm unbegreiflich, wie sich die Leute das verschafft hatten.

Da sah er ein paar Schritte vor sich eine ältere, offenbar zum Hotelpersonal gehörige Frau, die lachend mit einem Gaste redete. Dabei arbeitete sie fortwährend mit einer Haarnadel in ihrer Frisur herum. Sofort war Karl entschlossen, seine Bestellung bei dieser Frau vorzubringen, schon weil sie ihm als die einzige Frau im Saal eine Ausnahme vom allgemeinen Lärm und Jagen bedeutete und dann auch aus dem einfachen Grunde, weil sie die einzige Hotelangestellte war, die man erreichen konnte, vorausgesetzt allerdings, daß sie nicht beim ersten Wort, das er an sie richten würde, in Geschäften fortlief. Aber ganz das Gegenteil trat ein. Karl hatte sie noch gar nicht angeredet, sondern nur ein wenig belauert, als sie, wie man eben manchmal mitten im Gespräch beiseiteschaut, zu Karl hinsah und ihn, ihre Rede unterbrechend, freundlich und in einem Englisch, klar wie die Grammatik, fragte, ob er etwas suche. »Allerdings«, sagte Karl, »Ich kann hier gar nichts bekommen.«

»Dann kommen Sie mit mir, Kleiner«, sagte sie, verabschiedete sich von ihrem Bekannten, der seinen Hut abnahm, was hier wie unglaubliche Höflichkeit erschien, faßte Karl bei der Hand, ging zum Büfett, schob einen Gast beiseite, öffnete eine Klapptüre im Pult, durchquerte den Gang hinter dem Pult, wo man sich vor den unermüdlich laufenden Kellnern in acht nehmen mußte, öffnete eine zweite Tapetentüre, und schon befanden sie sich in großen, kühlen Vorratskammern. >Man muß eben den Mechanismus kennen<, sagte sich Karl.

»Also, was wollen Sie denn?« fragte sie und beugte sich dienstbereit zu ihm herab. Sie war sehr dick, ihr Leib schaukelte sich, aber ihr Gesicht hatte eine, natürlich im Verhältnis, fast zarte Bildung. Karl war fast versucht, im Anblick der vielen Eßwaren, die hier sorgfältig in Regalen und auf Tischen aufgerichtet lagen, für seine Bestellung rasch ein feineres Nachtessen auszudenken, besonders da er erwarten konnte, von dieser einflußreichen Frau billiger bedient zu werden, schließlich aber nannte er doch wieder, da ihm nichts Passendes einfiel, nur Speck, Brot und Bier.

»Nichts weiter?« fragte die Frau.

»Nein danke«, sagte Karl, »aber für drei Personen.«

Auf die Frage der Frau nach den beiden anderen erzählte Karl in ein paar kurzen Worten von seinen Kameraden, es machte ihm Freude, ein wenig ausgefragt zu werden. »Aber das ist ja ein Essen für Sträflinge«, sagte die Frau und erwartete nun offenbar weitere Wünsche Karls. Dieser aber fürchtete nun, sie werde ihn beschenken und kein Geld annehmen wollen, und schwieg deshalb. »Das werden wir gleich zusammengestellt haben«, sagte die Frau, ging mit einer bei ihrer Dicke bewunderungswerten Beweglichkeit zu einem Tisch hin, schnitt mit einem langen, dünnen, sägeblattartigen Messer ein großes Stück mit viel Fleisch durchwachsenen Specks ab, nahm aus einem Regal einen Laib Brot, hob vom Boden drei Flaschen Bier auf und legte alles in einen leichten Strohkorb, den sie Karl reichte. Zwischendurch erklärte sie Karl, sie habe ihn deshalb hierhergeführt, weil die Eßwaren draußen auf dem Büfett im Rauch und in den vielen Ausdünstungen trotz dem schnellen Verbrauch immer die Frische verlieren. Für die Leute draußen sei aber alles gut genug. Karl sagte nun gar nichts mehr, denn er wußte nicht, wodurch er diese auszeichnende Behandlung verdiene. Er dachte an seine Kameraden, die vielleicht, so gute Kenner Amerikas sie auch waren, doch nicht bis in diese Vorratskammer gedrungen wären und sich mit den verdorbenen Eßwaren auf dem Büfett hätten begnügen müssen. Man hörte hier keinen Laut aus dem Saal, die Mauern mußten sehr dick sein, um diese Gewölbe genügend kühl zu erhalten. Karl hatte schon den Strohkorb ein Weilchen lang in der Hand, dachte aber nicht ans Zahlen und rührte sich auch nicht. Nur als die Frau noch nachträglich eine Flasche, ähnlich denen, die draußen auf den Tischen standen, in den Korb legen wollte, dankte er schaudernd.

»Haben Sie noch einen weiten Marsch?« fragte die Frau.

»Bis nach Butterford«, antwortete Karl.

«Das ist noch sehr weit«, sagte die Frau.

»Noch eine Tagereise«, sagte Karl.

»Nicht weiter?« fragte die Frau.

»O nein«, sagte Karl.

Die Frau rückte einige Sachen auf den Tischen zurecht, ein Kellner kam herein, schaute suchend herum, wurde dann von der Frau auf eine große Schüssel, in der ein breiter, mit ein wenig Petersilie bestreuten Haufen von Sardinen lag, hingewiesen und trug dann diese Schüssel in den erhobenen Händen in den Saal hinaus.

»Warum wollen Sie denn eigentlich im Freien übernachten?« fragte die Frau.

»Wir haben hier Platz genug. Schlafen Sie bei uns im Hotel.«

Das war für Karl sehr verlockend, besonders da er die vorige Nacht so schlecht verbracht hatte. »Ich habe mein Gepäck draußen«, sagte er zögernd und nicht ganz ohne Eitelkeit.

»Das bringen Sie nur her«, sagte die Frau, »das ist kein Hindernis.«

»Aber meine Kameraden!« sagte Karl und merkte sofort, daß die allerdings ein Hindernis waren.

»Die dürfen natürlich auch hier übernachten«, sagte die Frau.

»Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bitten.«

»Meine Kameraden sind im übrigen brave Leute,« sagte Karl, »aber sie sind nicht rein.«

»Haben Sie den Schmutz im Saal nicht gesehen?« fragte die Frau und verzog das Gesicht.

»Zu uns kann wirklich der Ärgste kommen. Ich werde also gleich drei Betten vorbereiten lassen. Allerdings nur auf dem Dachboden, denn das Hotel ist vollbesetzt, ich bin auch auf den Dachboden übersiedelt, aber besser als im Freien ist es jedenfalls.«

»Ich kann meine Kameraden nicht mitbringen,« sagte Karl. Er stellte sich vor, welchen Lärm die beiden auf den Gängen dieses feinen Hotels machen würden; Robinson würde alles verunreinigen und Delamarche unfehlbar selbst diese Frau belästigen.

»Ich weiß nicht, warum das unmöglich sein soll,« sagte die Frau, »aber wenn Sie es so wollen, dann lassen Sie eben Ihre Kameraden draußen und kommen allein zu uns.« »Das geht nicht, das geht nicht«, sagte Karl, »es sind meine Kameraden und ich muß bei ihnen bleiben.«

»Sie sind starrköpfig«, sagte die Frau und sah von ihm weg, »man meint es gut mit Ihnen, möchte Ihnen gern behilflich sein, und Sie wehren sich mit allen Kräften.«

Karl sah das alles ein, aber er wußte keinen Ausweg, so sagte er nur noch: »Meinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit.«

Dann erinnerte er sich daran, daß er noch nicht gezahlt hatte, und fragte nach dem schuldigen Betrag.

»Zahlen Sie das erst, wenn Sie mir den Strohkorb zurückbringen«, sagte die Frau. »Spätestens morgen früh muß ich ihn haben.«

»Bitte«, sagte Karl. Sie öffnete eine Türe, die geradewegs ins Freie führte, und sagte noch, während er mit einer Verbeugung hinaustrat: » Gute Nacht, Sie handeln aber nicht recht.« Er war schon ein paar Schritte weit, da rief sie ihm noch nach: »Auf Wiedersehen morgen!«

Kaum war er draußen, hörte er auch schon wieder aus dem Saal den ungeschwächten Lärm, in den sich jetzt auch Klänge eines Blasorchesters mischten. Er war froh, daß er nicht durch den Saal hatte hinausgehen müssen. Das Hotel war jetzt in allen seinen fünf Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davor in ihrer ganzen Breite hell. Noch immer fuhren draußen, wenn auch schon in unterbrochener Folge, Automobile, rascher aus der Ferne her anwachsend als bei Tage, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer Laternen den Boden der Straße ab, kreuzten mit erblassenden Lichtern die Lichtzone des Hotels und eilten aufleuchtend in das weitere Dunkel.

Die Kameraden fand Karl schon in tiefem Schlaf, er war aber auch zu lange ausgeblieben. Gerade wollte er das Mitgebrachte appetitlich auf Papiere ausbreiten, die er im Korb vorfand, um erst, wenn alles fertig wäre, die Kameraden zu wecken, als er zu seinem Schrecken seinen Koffer, den er abgesperrt zurückgelassen hatte und dessen Schlüssel er in der Tasche trug, vollständig geöffnet sah, während der halbe Inhalt ringsherum im Gras verstreut war.

»Steht auf!« rief er. »Ihr schlaft, und inzwischen waren Diebe da.« »Fehlt denn etwas?« fragte Delamarche. Robinson war noch nicht ganz wach und griff schon nach dem Bier.

»Ich weiß nicht«, rief Karl, »aber der Koffer ist offen. Das ist doch eine Unvorsichtigkeit, sich schlafen zu legen und den Koffer hier frei stehen zu lassen.« Delamarche und Robinson lachten, und der erstere sagte: »Sie dürfen eben nächstens nicht so lange fortbleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt, und Sie brauchen zum Hin- und Herweg drei Stunden. Wir haben Hunger gehabt, haben gedacht, daß Sie in Ihrem Koffer etwas zum Essen haben könnten, und haben das Schloß so lange gekitzelt, bis es sich aufgemacht hat. Im übrigen war ja gar nichts darin, und Sie können alles wieder ruhig einpacken.«

»So«, sagte Karl, starrte in den rasch sich leerenden Korb und horchte auf das eigentümliche Geräusch, das Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm die Flüssigkeit zuerst weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder zurückschnellte, um erst dann in großem Erguß in die Tiefe zu rollen. »Haben Sie schon zu Ende gegessen?« fragte er, als sich die beiden einen Augenblick verschnauften.

»Haben Sie denn nicht schon im Hotel gegessen?« fragte Delamarche, der glaubte, Karl beanspruche seinen Anteil.

»Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Sie sich«, sagte Karl und ging zu seinem Koffer.

»Der scheint Launen zu haben«, sagte Delamarche zu Robinson.

»Ich habe keine Launen«, sagte Karl, »aber ist das vielleicht recht, in meiner Abwesenheit meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen? Ich weiß, man muß unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch darauf vorbereitet, aber das ist zu viel. Ich werde im Hotel übernachten und gehe nicht nach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muß den Korb zurückgeben.«

»Siehst du, Robinson, so spricht man«, sagte Delamarche, »das ist die feine Redeweise. Er ist eben ein Deutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aber ich bin ein guter Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir haben ihm unser Vertrauen geschenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns geschleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tag verloren und jetzt - weil ihn dort im Hotel irgend jemand gelockt hat - verabschiedet er sich, verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem Koffer, und weil er ein grober Deutscher ist, kann er nicht weggehen, ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen und uns Diebe zu nennen, weil wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben.«

Karl, der seine Sachen packte, ohne sich umzuwenden: »Reden Sie nur so weiter und erleichtern Sie mir das Weggehen. Ich weiß ganz gut, was Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt, und keiner kann mir vorwerfen, daß ich mich falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte. Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ich noch einmal nach Europa zurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich sofort als ihren Freund anerkennen. Und Sie, Delamarche, und Sie, Robinson, Sie hätte ich verraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde, so freundlich waren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in Butterford in Aussicht zu stellen? Aber es ist etwas anderes. Sie haben nichts, und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im geringsten, aber Sie mißgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun, nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter mein Volk - damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit, bei Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das alles nicht eigentlich von Ihnen, Robinson. Gegen Ihren Charakter habe ich nur einzuwenden, daß Sie von Delamarche zu sehr abhängig sind.«

»Da sehen wir ja«, sagte Delamarche, indem er zu Karl trat und ihm einen leichten Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, »da sehen wir ja, wie Sie sich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben sich an meinem Rock gehalten, haben mir jede Bewegung nachgemacht und waren sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu halten an. Sie sind ein kleiner Schlaumeier, und ich weiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen werden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das verlangen werden, was Sie uns während des Tages abgeschaut haben. Du, Robinson, wir beneiden ihn - meint er - um seinen Besitz. Ein Tag Arbeit in Butterford - von Kalifornien gar nicht zu reden -, und wir haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in Ihrem Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also, nur immer Achtung aufs Maul!«

Karl hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch den verschlafenen, aber vom Bier ein wenig belebten Robinson herankommen. »Wenn ich noch lange hierbleibe«, sagte er, »könnte ich vielleicht noch weitere Überraschungen erleben. Sie scheinen Lust zu haben, mich durchzuprügeln.«

»Alle Geduld hat ein Ende«, sagte Robinson. »Sie schweigen besser, Robinson«, sagte Karl, ohne Delamarche aus den Augen zu lassen, »im Innern geben Sie mir ja doch recht, aber nach außen müssen Sie es mit Delamarche halten!«

»Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?« fragte Delamarche.

»Fällt mir nicht ein«, sagte Karl. »Ich bin froh, daß ich fortgehe, und ich will mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur eines will ich noch sagen, Sie haben mir den Vorwurf gemacht, daß ich Geld besitze und es vor Ihnen versteckt habe. Angenommen, daß es wahr ist, war es nicht sehr richtig Leuten gegenüber gehandelt, die ich erst ein paar Stunden kannte, und bestätigen Sie nicht noch durch Ihr jetziges Benehmen die Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise?«

»Bleib ruhig«, sagte Delamarche zu Robinson, obwohl sich dieser nicht rührte. Dann fragte er Karl. »Da Sie so unverschämt aufrichtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja so gemütlich beisammenstehen, diese Aufrichtigkeit noch weiter und gestehen Sie ein, warum Sie eigentlich ins Hotel wollen.« Karl mußte einen Schritt über den Koffer hinweg machen, so nahe war Delamarche an ihn herangetreten. Aber Delamarche ließ sich dadurch nicht beirren, schob den Koffer beiseite, machte einen Schritt vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißes Vorhemd setzte, das im Gras liegengeblieben war, und wiederholte seine Frage. Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl erblickt, sagte er: »Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin läßt Ihnen nämlich sagen, daß sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat, dringend braucht.«

»Hier ist er«, sagte Karl mit einer vor Aufregung unsicheren Stimme. Delamarche und Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseitegetreten, wie sie es vor fremden gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte: »Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden anderen Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier, auf der Lehne, ist es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters Schlangen.«

»Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen«, sagte Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf da, und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karl sie ohne weiteres mitnehmen werde. »Für diesen Fall«, sagte der Kellner, »habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zu tragen.«

»Dann warten Sie, bitte, noch einen Augenblick«, sagte Karl und bückte sich, um die paar Sachen, die noch herumlagen, in den Koffer zu legen.

Plötzlich richtete er sich auf. Die Photographie fehlte, sie war ganz oben im Koffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Photographie fehlte. »Ich kann die Photographie nicht finden«, sagte er bittend zu Delamarche.

»Welche Photographie?« fragte dieser.

»Die Photographie meiner Eltern«, sagte Karl.

»Wir haben keine Photographie gesehen«, sagte Delamarche.

»Es war keine Photographie darin, Herr Roßmann,« bestätigte auch Robinson von seiner Seite.

»Aber das ist doch unmöglich«, sagte Karl, und seine hilfesuchenden Blicke zogen den Kellner näher. »Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten!«

»Jeder Irrtum ist ausgeschlossen«, sagte Delamarche, »in dem Koffer war keine Photographie.«

»Sie war mir wichtiger als alles, was ich sonst im Koffer habe«, sagte Karl zum Kellner, der herumging und im Grase suchte. »Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme keine zweite.« Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: »Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.«

Daraufhin sagte der Kellner laut, ohne jede Beschönigung: »Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen.«

»Ja«, sagte Karl sofort, »ich muß die Photographie finden. Aber ehe ich die Taschen durchsuche, sage ich noch, daß, wer mir die Photographie freiwillig gibt, den ganzen gefüllten Koffer bekommt.« Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Karl zum Kellner: »Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung. Aber selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche die Photographie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ich nicht tun.«

Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen, der ihm schwieriger zu behandeln schien als Robinson, den er Karl überließ. Er machte Karl darauf aufmerksam, daß beide gleichzeitig untersucht werden müßten, da sonst einer unbeobachtet die Photographie beiseiteschaffen könnte. Gleich beim ersten Griff fand Karl in Robinsons Tasche eine ihm gehörige Krawatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem Kellner zu: »Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie ihm, bitte, alles. Ich will nichts als die Photographie, nur die Photographie.«

Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karl mit der Hand an die heiße, fettige Brust Robinsons, und es kam ihm zu Bewußtsein, daß er an seinen Kameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im übrigen war alles umsonst, weder bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Photographie vor. »Es hilft nichts«, sagte der Kellner.

»Sie haben wahrscheinlich die Photographie zerrissen und die Stücke weggeworfen«, sagte Karl. »Ich dachte, sie wären Freunde, aber im geheimen wollten sie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf den Einfall gekommen, daß die Photographie solchen Wert für mich hat, aber desto mehr Delamarche.« Karl sah nur den Kellner vor sich, dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst, auch Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.

Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, daß die beiden in das Hotel mitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel, Karl nahm den Strohkorb, und sie gingen. Karl war schon auf der Straße, als er, im Nachdenken sich unterbrechend, stehenblieb und in das Dunkel hinaufrief: »Hören Sie einmal, sollte doch einer von Ihnen die Photographie noch haben und mir ins Hotel bringen wollen - er bekommt den Koffer noch immer und wird, ich schwöre es, nicht angezeigt.« Es kam keine eigentliche Antwort herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines Zurufs Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort den Mund stopfte. Noch eine lange Weile wartete Karl, ob man sich oben nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief er in Abständen: »Ich bin noch immer da!« Aber kein Laut antwortete, nur einmal rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in einem verfehlten Wurf.

Sämtliche Werke
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