ALLERSEELEN
NORA WANIS
Panik. Seit Wochen kenne ich kaum etwas anderes. Nackte, elementare Panik. Man kann sie riechen, diese Panik, denn sie riecht nach Tod und Verwesung, nach Hunger und Grauen.
Mein Blick huscht
durch die menschenleeren Straßen, die Unterführung entlang. Alles
ist leer. Trotz des Regens treibt mir der aufkommende Wind
Brandgeruch ins Gesicht. Inzwischen ist es Herbst, ich glaube zu
wissen, dass es Oktober ist. Oder ist es bereits
November?
Mit zitternden Fingern umklammere ich den
Kragen meiner Jacke. Sie ist alt, grau und muffig, doch wenigstens
spüre ich die nagende Kälte in meinen fast immer feucht-eisigen
Verstecken nicht mehr so sehr, seit ich sie dem madenzerfressenen
alten Mann abgenommen habe, den ich vor einigen Tagen tot auf der
Straße gefunden habe. Der letzte Mensch, der mir begegnet ist.
Selbst die Toten sind verschwunden. Aufgefressen. Mit Haut und
Haaren. Oder reaktiviert durch den Virus, den viele der Maden in
sich tragen. Tartaros, so nennen sie ihn. Tartaros, wie der
mythologische Sündenpfuhl des Hades. Wie passend.
Ein weiteres Zittern durchfährt mich mit der nächsten Windböe. Gott, ich habe Hunger, doch es gibt nichts mehr. Keine der beiden Seiten hat noch etwas übrig gelassen.
Die Supermärkte sind geplündert, die Häuser leer.
Ich presse mich fester
an die raue Hauswand in meinem Rücken. Vielleicht sollte ich auch
weiterziehen. Immer in Bewegung bleiben, das lernt man doch im
Überlebenstraining, nicht wahr? Bloß nie zu lange an einem Ort
bleiben.
Wie lange bin ich nun schon in Wetzlar?
Nicht länger als ein paar Tage, das weiß ich.
Erneut huscht mein Blick über den Vorplatz des riesigen Einkaufstempels auf der anderen Straßenseite. Wo sind alle hin? Lebt tatsächlich niemand mehr? Als ich aus Gießen hierher kam, hatte es wenigstens von Zeit zu Zeit noch Bewegung gegeben. Ein Auto, die allgegenwärtigen Hubschrauber der alliierten Dreckschweine, die uns alle, die ein ganzes Land einkesseln wie krankes Vieh und die keine Ahnung haben, was sie tun können, außer jeden zu erschießen, der sich in die Nähe einer Grenze wagt, egal an welchem Ende des Landes.
Ich starre hinab auf meine wunden Hände. Ob es im Forum noch etwas zu essen gibt? Vielleicht gibt es Batterien, dann könnte ich zumindest das kleine Funkradio weiter nutzen, das mich mit den Nachrichten versorgt, den Zahlen, Fakten, den gefallenen und überrannten Städten, und das meine Hoffnung am Leben hält, dass die hochgelobten Forscher endlich ein Gegenmittel oder zumindest eine Impfung finden.
Ich schiebe mich weiter voran, renne schließlich über die Straße und werfe mich mit aller Kraft gegen eine der Glastüren des Einkaufszentrums. Nur weg von der Hauptstraße, wo ich völlig schutzlos bin. Vielleicht gibt es auch hier noch Wachen auf den Dächern, so wie es in Gießen zuletzt war. Oder es taucht wie aus dem Nichts ein Hubschrauber auf und erschießt mich einfach. Mühsam quetsche ich mich durch einen Spalt und trete mit der Kraft der Verzweiflung einige Europaletten beiseite, mit denen jemand eine Barrikade errichtet hat. Ich lausche, kneife die Augen zusammen und starre in das schummrige Halbdunkel. Ist noch jemand hier? Am liebsten möchte ich rufen, doch ich traue mich nicht.
Zu groß ist meine Angst. Wenn mir etwas passiert, hat Leni keine Chance.
Obwohl mir die Panik fast die Galle in den Hals treibt, beuge ich mich hinunter und greife nach einer der Metallstangen, mit denen die Paletten gegen die Tür verkeilt worden sind. Der Brandgeruch wird stärker, als ich mich langsam auf die erste Biegung zuschiebe, das schwere, fast armlange Metallstück in der Hand. Wenn ich Glück habe, ist tatsächlich niemand mehr hier und ich kann in Ruhe einige der Geschäfte durchstöbern, auch wenn ich, immerhin fast ein halbes Jahr nach Ausbruch der Epidemie, wenig Hoffnung habe, noch etwas Brauchbares zu finden.
Ich hole tief Luft und drücke mich an der Wand entlang in den ersten Laden. Zerbrochenes Glas knirscht unter meinen Füßen und ich halte die Luft an. Lauschend verharre ich einen Moment, schelte mich aber noch in derselben Sekunde einen Dummkopf. Kaum jemand, dem noch nicht die Ohren abgefressen worden sind, kann überhört haben, wie ich mir gerade Zugang in das Einkaufszentrum verschafft habe.
Langsam lasse ich mich zu Boden sinken und warte.
Ich weiß, ich habe nicht ewig Zeit, denn Leni braucht etwas zu essen. Und selbst die ängstlichste Vierjährige bleibt nicht für immer in ihrem Versteck, speziell wenn es ein mit Taubenmist verunreinigter Spalt unter einer Autobahnbrücke ist. Ich zwinge mich zur Ruhe, atme so gleichmäßig wie möglich. Der Gedanke an Leni gibt mir Kraft und ich umfasse meine Waffe fester, die Stirn an das kalte Metall gelehnt. Einen Moment werde ich abwarten; wenn noch jemand hier ist, dann wird er irgendwann aus seinem Loch kriechen müssen und dann …
Mein Kopf fährt herum und ich starre mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Ein Schritt? Etwas hat leise gescheppert, ich bin mir sicher. Mein Puls rast so sehr, dass mir übel wird. Irgendjemand ist noch hier. Mit steifen Fingern umklammere ich die Metallstange und richte mich langsam auf. Der alte Aufsteller, hinter dem ich mich verkrochen hatte, bietet kaum Schutz und ich rücke näher an eine der drei Schaufensterpuppen heran, die seltsam unwirklich und noch immer aufrecht im nicht mehr vorhandenen Schaufenster stehen. Für einen kurzen Augenblick schließe ich die Augen und schärfe mein Gehör. Ein Schlurfen lässt mich zusammenfahren. Es klingt erschreckend nah. Im nächsten Augenblick sehe ich auch den dazugehörigen Schatten. Ist er allein? Hat er mich vielleicht schon gerochen?
Langsam und geduckt schleicht die Gestalt an meinem Schaufenster vorbei.
Fehler Nummer eins: Das Mondlicht erhellt auf groteske Weise verschattet einen jungen Mann, kaum älter als 20. Er ist klein, seine dunklen Haare hängen ihm wirr in die Stirn und betonen noch zusätzlich die tiefen Ringe unter seinen Augen. Mit beiden Händen klammert auch er sich an ein Stück Metall, das aussieht, als hätte es jemand von einer Kassenabsperrung abgerissen. Mit Sicherheit nicht er. Blitzschnell registriere ich sein Humpeln. Er mag vielleicht einen Kopf größer sein als ich, doch der dunkle Fleck auf seiner hellen Jogginghose glänzt feucht im fahlen Mondlicht.
Fehler Nummer zwei: Er ist bereits an mir vorbeigelaufen und verharrt, ohne mich zu bemerken, an der Säule direkt vor dem Geschäft.
Ich schließe für einen Moment die Augen und atme so leise und tief ein, wie ich nur kann.
Er fährt zwar herum, als ich die Schaufensterpuppen beiseite stoße und von meinem Aufsteller herabspringe, doch die Verletzung hat ihn langsam gemacht und er schafft es nicht, den Arm mit seiner eigenen Waffe auch nur zu heben oder dem Schlag auszuweichen, der seine Schläfe trifft. Ich sehe die Erkenntnis und die Resignation in seinem Gesicht aufblitzen, doch ich schließe meine Augen und schlage blind ein zweites Mal zu.
Leni hat Hunger. Und ich auch.