„Dies ist mein Blut in deinen Adern – Pfand meiner unsterblichen Seele und ewiger Verbundenheit. Doch deine Schuld kann ich dir nicht vergeben.“
Das kleine gotische Gotteshaus am Rande der Karpaten war bereits vor langer Zeit entweiht worden. In diese trostlose Gegend verirrte sich heute niemand mehr. Eine schmale Allee hatte vor vielen Jahrzehnten einmal zu dieser Kirche und dem angrenzenden Waldfriedhof geführt, selbst diese war inzwischen zugewachsen.
Auf dem früheren Altar aus Steinquadern standen jetzt Kerzenleuchter und Trinkgefäße. Nach wie vor hing der schwere Duft von kaltem Weihrauch in der Luft. Er schien aus den Mauern zu kommen. Dicke Kerzen in gusseisernen Leuchtern erhellten die Seitenwände, und in deren Schein zeigte die alte Kirche einen Hauch ihrer früheren Pracht, obwohl die Farbe der ländlich gemalten Bibelszenen an den einst weiß getünchten Wänden längst abgeblättert war. Eine dünne Strohdecke war über dem steinernen Boden ausgelegt. Kein Kreuz zierte mehr diese Mauern, keine Heiligenfigur die leeren Nischen. Nur die teilweise bunten Fensterscheiben vermittelten noch eine Art religiöse Atmosphäre.
Umgeben von den überwucherten Gräbern des ehemaligen Friedhofes, lebten heute Geschöpfe der Finsternis – zwei Brüder, Sascha und Sergej. Sie waren Zwillinge und glichen einander wie ein Ei dem anderen. Dunkles, an den Seiten leicht gelocktes Haar, zu einem Zopf zusammengebunden. Katzenhafte, schwarzbraune Augen mit übergroßen Pupillen und ein aristokratisches Gesicht mit hohen Wangenknochen, die ihre slawische Herkunft verrieten. Es ging etwas Geheimnisvolles von ihnen aus, etwas Verruchtes und gleichzeitig Verführerisches. Von der äußeren Erscheinung her mochten sie vielleicht gerade mal Zwanzig sein, doch in ihren Augen verlor sich die Zeit wie in einem tiefen Brunnen. Normalerweise trugen Sie schlichte, schwarze Kleidung, die ihre schlanke Gestalt betonte. In den kalten, verschneiten Wintern hüllten sie sich in weite Gehröcke, die an das späte 18. Jahrhundert erinnerten, obwohl sie die eisige Kälte eigentlich gar nicht spüren konnten.
An diesem Abend saßen die beiden jungen Männer wie so oft vor ihrem Schachspiel an dem hölzernen Tisch vor dem Altar. Damit vertrieben sie sich die Zeit, wenn sie nicht gerade auf der Jagd waren. Doch diese Beiden jagten lieber zweibeinige Beute anstatt das Wild in den nahe gelegenen Wäldern. Der Köder, den sie dabei benutzten, waren sie selbst. Es war ihre dunkle Aura, die Jeden in den Bann zog, der ihnen begegnete, dabei lächelten sie nur selten. Ihr Verhalten war eher kühl, bis sie ihr Opfer auserwählt hatten. Daher war ihr bevorzugtes Jagdgebiet die Anonymität der Großstadt, die einige Kilometer Luftlinie entfernt lag. Wer jetzt denkt, dass sich Vampire in Fledermäuse verwandeln, der irrt. Diese Geschöpfe bedienen sich der Teleportation, der Reise mittels Gedankenkraft, und so erreichen sie jeden Ort in kürzester Zeit.
„Sie ist kein Kind mehr“, bemerkte plötzlich einer der Beiden, während er über seinen nächsten Zug sinnierte. Seine Stimme hatte etwas Ehrerbietendes, etwas sanftes, Zwingendes, das durch die Akustik des leeren Kirchenschiffes widerhallte.
„Wir können die Wahrheit bald nicht länger vor ihr verbergen.“
Der Andere nickte ebenso besonnen. „Wir können Sie aber auch nicht einfach gehen lassen. Es bleibt zu überlegen, wer ihr Erschaffer wird.“
„Du hast sie mitgenommen, also ist sie dein“, sagte der Erste wieder. Sein Bruder blickte kurz auf.
„Wir haben beide ihre Eltern getötet.“
„Also gut, wir werden ihr die Freiheit der Entscheidung überlassen. Das ist mehr, als man uns vor vierhundert Jahren zugestanden hat.“
Erneut versanken die Spieler in Schweigen. Irgendwo in der Ferne schrie ein Käuzchen.
Das Wesen, über das Sascha und Sergej sprachen, hieß Annika und war gerade 17 Jahre alt geworden. Aus einer Laune heraus hatten die Brüder sie als Kleinkind mitgenommen, nachdem sie den Wagen ihrer Eltern, die als Touristen im Land unterwegs waren, eines Nachts auf der verregneten Landstraße anhielten und das Paar unvermittelt töteten. Die knapp Vierjährige auf dem Rücksitz hatte bei ihrer Untat nicht einmal geschrien und Sascha nur neugierig mit großen, blauen Augen angestarrt, als seine blutverschmierten Lippen näher kamen, sie zart auf die Stirn küssten, und er sie aus dem Kindersitz heraushob. Vielleicht hatte dieses Stillsein dem Kind das Leben gerettet. Gemeinsam hatten die Brüder das kleine Mädchen großgezogen.
Dabei sahen sie es eher als ein lebendiges Spielzeug an. Es bereitete ihnen Vergnügen, mit ihr zu spielen, ihr mittels Büchern die Sprache beizubringen, sie einzukleiden wie eine kleine Adelige, sie wie einen Schatz in der kleinen Pfarrkammer hinter dem Altar zu hüten, während sie selbst die Krypta als Schlafplatz bevorzugten. Menschliche Nahrung für das Kind besorgten sie unauffällig von den umliegenden Märkten, oder brachten ab und zu ein erlegtes Tier mit.
Aus dem Mädchen war mit den Jahren eine junge Frau geworden. Für die Zwillinge selbst spielte Zeit keine Rolle mehr, seit ihr Vater sie noch als Halbwüchsige als Diener an den gefürchteten Fürsten Andreusz verkaufte, der sie seinerseits später zu Engeln der Finsternis machte, um sie seine Söhne nennen zu können. Durch das verdorbene Blut des grausamen Landesherrn wurden auch seine „Kinder“ zu verderbten Geschöpfen. Schön, gefährlich und mächtig zugleich. Einige Jahre später starb der Fürst in den Flammen des Schlosses, von dem nur noch eine Ruine übrig blieb. Die Einwohner der umliegenden Dörfer erzählten sich hinter vorgehaltener Hand, dass die Söhne des Fürsten selbst das Schloss in Brand gesteckt hätten, um dem Despoten zu entkommen. Sascha und Sergej blieben spurlos verschwunden und gerieten in Vergessenheit. Das geschah im Rumänien des 16. Jahrhunderts.
Annika selbst hatte im Laufe der Zeit eine tiefe Zuneigung zu ihren beiden „Entführern“ entwickelt, von deren wahren Wesen sie nichts ahnte. Nur in ihren nächtlichen Alpträumen schwelte die Erinnerung an einen schrecklichen Unfall, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren.
Sie lernte erst später, die Zwillinge auseinander zu halten, am Geruch oder am Temperament. Sascha war der Heißblütige von ihnen, Sergej eher der zurückhaltende Typ.
Mittlerweile war das Empfinden der Brüder für die heranwachsende Annika mit den langen goldbraunen Haaren ein anderes geworden. Eine kleine, zierliche Schönheit hatte sich entwickelt, eine Rose, die gerade erblühte. Sascha und Sergej hielten sich nur in der Zeit von ihr fern, wenn sie das Blut witterten, das sie als Frau auszeichnete. Unter dem Vorwand, in der Stadt Geschäftliches erledigen zu müssen, blieb Annika für einige Zeit auf sich allein gestellt.
Andererseits betrachteten sie das junge Mädchen bereits als eine der ihren, doch die Beiden wussten auch, dass Annika dazu noch ihre Weihe empfangen musste – den blutigen Kuss der Verdammnis.
Wer auch immer ihr diesen Kuss schenkte, würde auf ewig mit ihr verbunden sein. Ein Privileg und zugleich ein Fluch. Wer Blut nahm, der musste auch Blut schenken, so lautete das uralte Gesetz, um einen neuen Vampir zu erschaffen, und mit dem Blut als Träger der Seele, flossen ebenso Schuld und Unschuld ineinander.
Die Schuld eines jahrhundertealten Vampirs ist so groß, dass alle Unschuld ausgelöscht wird. Mit dem Auslöschen der Unschuld aber wird erneut die Schuld des Erschaffers vergrößert, ein Teufelskreis, aus dem es für die Bluttrinker kein Entrinnen gibt. Daher überlegt sich jeder Vampir ganz genau, mit wem und mit was er sich unlösbar verbindet.
Die meisten Vampire schrecken davor zurück und überlassen die sterbenden Opfer lieber ihrem Schicksal und damit Gott. Ihnen hingegen würde niemand je vergeben. Nicht umsonst nennen die Menschen sie Untote. Sie sind dazu verdammt, auf das Ende der Welt zu warten, auf das Jüngste Gericht, den Zeitpunkt, an dem ihre Namen aus dem Buch des Lebens gestrichen werden und sie selbst für immer ausgelöscht. Doch dieser Zeitpunkt scheint noch unendlich fern.
Auch Sascha und Sergej hatten niemals zuvor einen anderen Vampir erschaffen. Erst seit Annika bei ihnen lebte, trugen sie sich mit diesem Gedanken und der Sehnsucht, sie für immer bei sich zu behalten. Im Großen und Ganzen waren sie mit ihrer Zuneigung bislang eher sparsam gewesen. Das Verlangen nach einer Gefährtin war erst langsam in ihnen gewachsen, so, wie auch Annika langsam heranwuchs.
Das Mädchen vertraute den Brüdern, kannte sie doch nichts anderes als dieses ungewöhnliche Heim, den Friedhof und einen Teil des Waldes, wenn sie dort Feuerholz und essbare Früchte sammelte. Im Gegensatz zu den beiden Brüdern bedurfte sie der Wärme, denn im Inneren der Kirche herrschte eine schwere Kühle, die selbst im Sommer nicht wich.
Das Licht aus den kleinen Buntglasornamenten der Fenster dagegen faszinierte Annika schon als kleines Kind, obwohl durch den dichten Wald in der Umgebung selbst am Tage eine Art ständiges Dämmerlicht in dem alten Bauwerk herrschte. Daher konnten sich die Brüder zu jeder Tages- und Nachtzeit darin frei bewegen. Fiel doch einmal ein greller Sonnenstrahl hinein, so wichen sie in die Schatten zurück. Die Sonne konnte sie zwar nicht mehr direkt töten, aber immerhin noch schmerzhafte Verbrennungen zufügen. Also blieben sie den alten Gesetzen der Dunkelheit treu.
Ein leises Knarren der Holztür hinter dem Altar kündigte jetzt das Eintreten von Annika an. Sie trug ein langes, altmodisches Kleid, das in der Taille von einem Stoffgürtel gehalten wurde. Eine weiße Spitzenborte betonte das leicht ausgeschnittene Dekollete ihrer bereits fraulichen Figur als einziger Schmuck. Ein Tuch hielt die langen Haare aus der Stirn.
„Wird dieses Spiel euch nicht langsam langweilig?“, fragte sie mit einem warmherzigen Lächeln zur Begrüßung. Die beiden Brüder blickten von ihrem Spiel auf.
„Es hilft uns beim Nachdenken!“, erklärte Sascha.
„Worüber denkt ihr denn nach?“, wollte das Mädchen wissen.
„Über dich“, lächelte Sergej jetzt zurück.
Annikas blaue Augen wurden noch größer. „Über mich? Wieso denn das?“
„Wenn du dich entscheiden müsstest für einen von uns beiden, wen würdest du wählen?“, fragte Sascha sie statt einer Antwort. Seine melodische Stimme hatte etwas Lauerndes.
Annika konnte nicht ahnen, dass sie nur ihren Tod wählen konnte. Die Beiden würden sie niemals als Mensch gehen lassen.
„Wie sollte ich mich für einen von euch entscheiden können. Ich liebe euch doch beide“, gab Annika zur Antwort. Liebe… das war die Falle, die alle Vampire ihren Opfern stellten. Ein menschliches Gefühl, das ihnen dienlich war, um an frisches Blut zu kommen. Im Zustand der freiwilligen Hingabe schmeckte das Blut ihrer Opfer unglaublich süß, ganz anders, als wenn es von Furcht und Abscheu durchtränkt war.
Und nun sprach dieses halbe Kind von Liebe, eine Liebe, die noch rein war, und die die beiden Brüder nicht kannten. Gerade das aber reizte besonders Sascha. Er erhob sich und ging zu dem Mädchen hinüber. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn, ganz wie damals, strich zärtlich über das lange, glänzende Haar, spürte ihren warmen Atem an seiner Wange, als sie sich an ihn schmiegte. Sie duftete nach Lavendel und Weihrauch. Sascha sog diesen Duft tief in sich auf. Seine feinen Sinne nahmen den Rhythmus ihres Herzens wahr, der ihn zum Tanz aufforderte. Es lockte ihn und ihn ihm wuchs das Verlangen, sich diese fremde Wärme zu eigen zu machen. Spontan schlang er seine Arme um sie. Seine Hände folgten der schlanken Taille bis zu den Rundungen ihres Pos. Annika hielt ganz still. Körperliche Nähe hatten die Brüder bislang immer vermieden. Jetzt verwirrte es sie, aber es tat ihr auch irgendwie gut. Das spürte sie ganz deutlich.
Sergej hatte diese Szene beobachtet. Er erhob sich nun ebenfalls und mahnte seinen Bruder ungehalten, sich zurück zu halten. Annika lachte kokett auf. Der Natur der jungen Frau schmeichelte dieser Konkurrenzkampf. „Vielleicht solltet ihr um mich spielen“, schlug sie scherzhaft vor und deutete auf das Schachspiel. Die Zwillinge schauten sich an. „Nun gut, spielen wir diese Partie um dich.“ Wieder war es Sascha, der das Wort ergriff.
Zug und Zug verging die Nacht und keiner der Brüder konnte einen Sieg davon tragen. Annika hatte sich in der Zwischenzeit auf einer der Kirchenbänke zum Schlafen niedergelegt.
„Wir sollten sie beide einweihen“, schlug Sergej plötzlich vor. „Zwei Erschaffer? So etwas hat es noch nie gegeben, meines Wissens nach“, konterte Sascha, der Annika gerne für sich allein gehabt hätte. Doch darin gab sein Bruder nicht nach. „Was soll schon geschehen? Wir würden sie weiterhin auch beide beschützen können“, meinte Sergej.
„Es ist besser, wir machen dieser Sache jetzt ein Ende, statt noch lange zu diskutieren“, mit diesen Worten trat Sascha zu der Schlafenden und rüttelte sich sanft an der Schulter.
„Annika, wach auf.“ Verschlafen rieb sich das Mädchen die Augen und setzte sich auf.
„Hast du gewonnen, Sascha?“
„Nein, Prinzessin, wir beide haben beschlossen, dir jetzt von unserem Geheimnis zu erzählen.“ Sascha setzte sich neben sie und begann, Annika von ihrem Dasein als Vampire zu berichten, verschwieg aber wohlweißlich den Tod ihrer Eltern, die sie zu verantworten hatten. Als er geendet hatte, hätte man eine Stecknadel fallen hören können.
„Du kennst nun unsere wahre Natur. Wenn du bei uns bleiben willst, dann müssen wir dich in unsere Welt aufnehmen“, sagte Sergej. Er hatte ihr anfängliches Erschrecken und Zurückweichen mit Bedauern festgestellt, dennoch erschien sie jetzt unerwartet gefasst.
„Ihr ernährt euch also von Blut?“, fragte Annika mit einem leichten Widerwillen in der Stimme.
„Das ist auch nicht besser, als wenn ihr Menschen euch von toten Tieren ernährt“, gab Sergej zu bedenken. Nach einer kurzen Pause nickte das Mädchen, nahm einen tiefen Atemzug.
„Gut, ich möchte, dass wir Drei für immer zusammenbleiben können.“ Sascha und Sergej tauschten einen erleichterten Blick. Sie hätten nicht gedacht, dass es so einfach werden würde. „Wird es wehtun?“, fragte Annika dann leise.
„Wir werden ganz sanft sein“, versprach Sergej und setzte sich nun ebenfalls zu ihr auf die Holzbank. Sie nahmen das Mädchen in ihre Mitte. Sergej löste das Tuch aus ihrem Haar und verband ihr damit die Augen
"Hab keine Angst, wir möchten nur nicht, dass du uns anders siehst, als du uns kennst“, sagte er dabei. Annika lehnte ihren Kopf an Saschas Brust, hielt die Augen fest geschlossen und erwartete ängstlich einen unangenehmen Schmerz.
Stattdessen begannen die Brüder ein sinnliches Spiel, mit dem sie das Verlangen nach einer Vereinigung bis ins Unermessliche steigern würden. Sie entblößten die schmalen, weißen Schultern, küssten die zarte, bislang unberührte Haut, während sie den jungen Körper entkleideten und das Mädchen behutsam zu Boden gleiten ließen. Ein Bündel Kleidungsstücke auf der Strohunterlage diente als Schutz vor dem kalten Steinboden. Die kühlen Hände der beiden Männer glitten auf Annikas immer heißer werdenden Haut entlang, gefolgt von ihren Lippen, die die mörderischen Werkzeuge verbargen. Dabei beiden jungen Vampiren fiel es schwer, ihre Instinkte zu zügeln und nicht gleich über sie herzufallen. Gleichzeitig genossen sie die erwachende Sinnlichkeit des hübschen Mädchens.
Zitternd und neugierig überließ sich Annika immer noch mit geschlossenen Augen den Zärtlichkeiten zweier Raubtiere, deren scharfe Zähne zunächst nur leicht ihre Haut ritzten, dort, wo das Blut so dicht unter der Haut pulsierte. Einzelne, kostbare Blutstropfen leckten sie ab und weckten dadurch um so mehr Annikas Verlangen. Ihr heftig klopfendes Herz und ihr leises Stöhnen spornte die Vampire nur noch mehr an. Sascha machte seinen Besitzanspruch als Erster geltend. Ein leises Fauchen in Richtung seines Bruders und ein warnender Blick genügten, Sergej zunächst zurück zu halten.
Mit wachsender Leidenschaft wurden auch die Bisse heftiger und tiefer, Annikas Schreie lauter. Sie konnte nicht genug kriegen von diesem bittersüßen Schmerz, der Teil ihres langsamen Todes war. Es war eine gespenstisch-bösartige Szenerie, die sich im Flackern der Kerzen dem Betrachter auftat. Selbst die zuckenden Schatten an den Wänden schienen von diesem Ort fliehen zu wollen.
Dieser Rausch aus Leidenschaft und Blutdurst ließ erst nach, als Annika erschöpft und erlöschend vor den beiden Männern lag. Dann gaben ihr die Vampire aus ihren eigenen Adern zu trinken. Sascha und Sergej tröpfelten aus ihrem aufgerissenen Puls die zukünftige Nahrung in den halb geöffneten Mund ihres früheren Schützlings. Annika seufzte. Mit jedem Tropfen, der durch ihre Kehle rann, floss das Wissen und die Macht der vampirischen Generationen, aber auch das Leid unschuldiger Opfer von Jahrhunderten in sie hinein, füllte die geleerten Adern aufs Neue.
Mit einem bitteren Nebeneffekt hatten die Brüder allerdings nicht gerechnet: Durch das Blut zweier Erschaffer und der darin enthaltenen doppelten Blutschuld verging Annikas Seele, deren Unschuld zuvor von ihnen beiden aufgesaugt worden war. Sie zerbrach wie dünnes Glas unter einer schweren Last.
Entsetzt sahen die Brüder zu, wie ihre Wandlung zwar begann, jedoch nicht vollendet werden konnte. Annika schrie auf, der schlanke, von Bissen übersäte Körper bäumte sich auf wie in einem epileptischen Krampf. Dabei waren die überlangen Eckzähne in ihrem Mund schon deutlich zu sehen. Sie riss sich die Augenbinde ab. Ihre Pupillen waren fast doppelt so groß.
Das Blau ihrer ursprünglichen Farbe wurde von Fäden schwarzer Tinte durchzogen. Sie hörte noch Sergejs verzweifelte Stimme „Vergib uns!“ rufen. Dann geschah alles rasend schnell. Noch bevor die junge Vampirin in ihrer dunklen Existenz erwachen durfte, zerfiel sie zu einem Häufchen Staub. Annika starb als Halbwesen ohne Seele.
Mit ihrem Tun hatten Sascha und Sergej eine dermaßen große Schuld auf sich geladen, wie kein Vampir jemals zuvor. Das reine Blut des jungen Mädchens in ihren Adern begann zu kochen. Die ansteigende Hitze verglühte die Vampire von innen heraus, immer rascher zerfiel ihre Haut in Ascheflocken. Wie Betrunkene taumelten die Brüder durch die Kapelle, in der sich langsam die Morgendämmerung ausbreitete. Sie flüchteten hinunter in die Dunkelheit der Krypta. Doch es gab keine Rettung mehr. Eine letzte, aufsteigende Stichflamme, die den Rest ihrer Körper umfasste, vernichtete die beiden Geißeln der Nacht für immer.
Ein erster Sonnenstrahl traf das bunte, runde Fenster über dem Altar und tauchte den kleinen Innenraum der leeren Kirche, in der noch leichte Rauchschwaden trieben, für wenige Minuten in ein strahlendes Farbenmeer. Es schien, als hätte Gott sein vergessenes Haus zurückerobert. Zum ersten Mal in der Chronik der Untoten hatte die Unschuld gesiegt.
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