Alfred Bekker

und W.A.Hary

schrieben als

Ashley Parker

 

 

Dunkelerde

Gesamtausgabe

All-Age-Fantasy-Roman

 

Das vorliegende Werk erschien auch in einer zweibändigen Ausgabe.

 

 

Ein CassiopeiaPress E-Book

© by Author

© der Digitalausgabe 2013 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de 

 

 

Die Alchimisten des Mittelalters hatten die Idee, aus Dreck Gold zu machen. Ein Ziel, das sie nie erreichten.

Dafür schufen sie, ohne dass sie ahnten, etwas anderes.

Die Dunkelerde…

Durch den Abgrund der Dimensionen von uns getrennt existiert eine zweite Erde in einem Paralleluniversum. Eine Erde, die durch das fehlgeleitete Experiment von Alchimisten entstand. Während in unserer Welt innerhalb weniger Jahrhunderte das technische Zeitalter begann, vergingen auf der Dunkelerde nicht nur Jahrhunderte, sondern viele Jahrtausende, denn die Zeit verlief auf den beiden Zwillingserden mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Erst allmählich glichen sich beide Welten in diesem Punkt wieder aneinander soweit an, dass ein Übertritt möglich wurde.

Möglich mit den Mitteln der Alchimie, die Dunkelerde einst geschaffen hatten – einen Ort, an dem das finstere Mittelalter niemals aufgehört hatte und Magie die Rolle der Wissenschaft einnahm.

Schauen wir hinüber, über die Barriere, indem wir den 14jährigen Pet und die 13jährige Jule auf ihrem gefahrvollen Weg über jene Grenze begleiten, die beide Welten trennt.

Ihren Weg auf die Dunkelerde…

 

*

 

„Alchimie?”, fragte Kralle gedehnt und gab sich alle Mühe, es möglichst abfällig klingen zu lassen.

„Ja, genau!”, bestätigte Jule schnippisch und schürzte ihren kirschroten Kussmund. Allerdings nicht, weil sie ihren Freund Pet küssen wollte, sondern um damit ihren anklagenden Tonfall zu unterstreichen.

„Na und?”, erwiderte Pet und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe jetzt nicht, was das soll!”

„Was das soll?”, äffte seine Freundin ihn nach und wandte sich an die anderen aus der Clique. „Er fragt doch tatsächlich, was das soll! Habt ihr das gehört? Er beschäftigt sich mit Alchimie. Ein vierzehnjähriger Alchimist sozusagen, der dabei völlig vergisst, dass er vielleicht auch noch eine Freundin hat.”

„Nicht mehr lange”, kommentierte Kralle und in seinen Augen blitzte es dabei. Jeder in der Clique wusste schließlich, dass er ebenfalls schon länger auf Jule stand.  Allerdings hatte er keinerlei Chancen bei ihr. Genauso wenig wie sonst wer. Wenigstens nicht, so lange sie ihrerseits voll und ganz auf Pet fixiert war.

„Da fragst du noch?”, funkelte sie gerade ihren Freund an. „Ich habe dich tagelang nicht mehr gesehen, außer in der Schule und da bist du mir sogar aus dem Weg gegangen.” Sie hob warnend die Hände. „Jetzt unterbrich mich bitte nicht. Ich bin noch lange nicht fertig: Dein Handy war abgeschaltet. Deine Eltern wussten gar nicht genau, was du treibst. Aber ich wusste es: Alchimie! Ha, dass ich nicht lache...”

„Voll krass!”, meinte Ferdie. Er war einmal sitzen geblieben und nicht nur der Älteste unter ihnen, sondern mit Abstand auch der Stärkste. Allerdings war er nicht der Klügste, obwohl sich niemand getraut hätte, darauf anzuspielen. „Sind das nicht diese Typen, die Gold aus Eisen machen wollen?”

„Nein, nicht aus Eisen, sondern aus Blei!”, berichtigte Pet ihn prompt, ohne ihn dabei anzusehen. Ferdie benahm sich gern als der Big-Boss in der Clique, was er allerdings noch nie gewesen war. Er war jedoch der einzige, der das nicht merkte. Jeder mochte ihn trotzdem. Ferdie tat zwar gern großspurig und prahlte mit seinen überlegenen Körperkräften, aber im Grunde genommen war er ein Typ, der keiner Fliege was zuleide tun konnte. Es war alles nur eine Fassade, die er aufgebaut hatte, um seinen ziemlich weichen Kern zu verbergen.

„Wo ist denn da der Unterschied?”, beschwerte sich Ferdie, denn wenn er eines nicht leiden konnte, dann war es Besserwisserei.

Pet hob die Schultern.

„Na, das eine ist halt Eisen und das andere eben Blei. Das macht den Unterschied.”

„Ehrlich?” Ferdie runzelte die Stirn und schien angestrengt nachzudenken.

„Ich hätte viel mehr Zeit für dich, Jule, wirklich!”, versprach Kralle, weil er glaubte, die Gunst der Stunde nutzen zu können.

„Grins mich nicht so an, Kralle. Du weißt, dass ich nicht auf dich steh. Und wann willst du endlich zum Zahnarzt? Wenn du so grinst, sieht man deine Zahnlücke.”

Kralle schloss verblüfft den Mund.

„Hör mal, Jule, ich finde das jetzt nicht fair”, wandte sich Pet an seine Freundin. „Ich habe dich vernachlässigt, zugegeben...”

„Vernachlässigt? Nein, mein Lieber, du hast dich sogar verleugnen lassen! Hältst du mich für doof?”

„Nein, natürlich nicht. Ehrlich. Ich weiß doch, was ich an dir habe.”

„Und was ist jetzt, bitte, unfair von mir?”

Pet atmete hörbar und machte eine ausholende Geste.

„Weil du das hier anspricht, in dieser Runde.”

„Wo und wann denn sonst? Ich habe dich doch gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und jetzt sind wir hier, bei unserem Treffen, wie vereinbart. Mit der Clique. Und die anderen sollen ruhig wissen, was du für einer bist.”

„Ein Alchimist!”, kicherte Kralle, neuen Mut schöpfend.

„Sag mal, stimmt das denn wirklich?”, fragte Susi. Niemals hätte sie zugegeben, dass sie Pet mochte, wirklich niemals - obwohl es trotzdem jeder wusste. Was will er eigentlich von dieser Göre?, dachte sie häufig. Jule ist erst Dreizehn und eine Klasse unter uns - und das im wahrsten Sinne des Wortes!

Aber Susi tat immer ausgesucht freundlich gegenüber Jule.

Diese nahm es gelassen hin.

Pet wandte sich an Susi. „Es stimmt nicht direkt.”

„Wie, nicht direkt?”, funkte Jule dazwischen. „Du beschäftigst dich mit Alchimie anstatt mit mir. Von der Schule ganz zu schweigen. Jetzt bitte keine Ausflüchte.”

„Ich will damit sagen, dass ich mich nicht direkt mit Alchimie beschäftige, sondern lediglich mit deren Geschichte.”

„Geschichte?”, rief Ferdie. „Aha, dann erzähle uns die doch mal!”

„Nein, keine Geschichte, die man erzählt, sondern eben... Geschichte, Historie...”

„Ach so!” Ferdie war sichtlich enttäuscht.

Der Jüngste in ihrer kleinen Clique, Bennie, einen Monat jünger als Jule und in deren Klasse, meldete sich zu Wort: „Könnte interessant sein, die Geschichte der Alchimie. Schließlich ist sie die Vorläuferin der modernen Chemie. Und wo wären wir ohne die heute?”

„Wahrscheinlich in gesünderer Luft!” Susi winkte ab. „Und jetzt bitte keinen Vortrag, Bennie. Ich habe keinen Bock darauf. Siehst du nicht, dass wir hier echte Probleme wälzen?”

„Probleme? Wir?” Bennie schaute anzüglich von Pet zu Jule und von Jule zu Susi. „Wir?”, wiederholte er.

Susi lief rot an, ohne es verhindern zu können. Das ärgerte sie maßlos. Deshalb hielt sie lieber den Mund.

Pet war froh, dass wenigstens einer das Thema ernst zu nehmen schien. „Weißt du, Bennie, ich bin zufällig darauf gestoßen. Mein Vater hat alte Sachen auf dem Speicher, auch Bücher.”

„Und darin geht es um Alchimie?”

„Ja, genau. Hast du eine Vorstellung, wie selten diese Bücher heutzutage sind?”

„Und da schmeißt die dein Alter einfach so auf den Speicher?”

„Na, er hat schon dafür gesorgt, dass nichts dran kommt. Die sind tadellos in Schuss.”

„Cool!”, meinte Ferdie.

„Nein, total uncool!”, belehrte ihn Jule. „Wollen wir jetzt stundenlang über Alchimie labern? Ich denke, wenn das so ist, ziehe ich mich zurück. Hat noch jemand Lust, dem trauten Laber-Paar hier den Rücken zu kehren?”

„Ich!”, meldete sich Kralle begeistert.

„War doch klar!”, sagte Susi abfällig und dann: „Geht schon mal vor. Ich komme nach.”

„Allein oder mit Pet?” Diese Bemerkung konnte sich Ferdie nun doch nicht verkneifen - und er bewies damit, dass er nicht ganz so unbedarft war wie es manchmal den Anschein hatte. „Vergiss es einfach.”

Pet hob beschwörend beide Hände: „Nun hört endlich auf damit, Leute. Ich habe mich jetzt ein paar Tage mit Alchimie beschäftigt, gut, zugegeben. War nicht gerade fair gegenüber Jule. Ich habe sie sogar zweimal versetzt und war nicht erreichbar und es...”

„Endlich gibt er es zu!”, seufzte Jule.

Pet fuhr fort: „...sind sowieso in ein paar Tagen Ferien. Die letzte Arbeit haben wir geschrieben. Viel zu lernen gibt es nicht mehr...”

„...und da beschäftigt sich der junge Herr halt mal lieber mit Alchimie, also mit blankem Unsinn!”, fiel ihm Jule ins Wort.

„Alchimie, ja, aber nicht blanker Unsinn!” Pet sagte das in einer Art und Weise, die jeden aufhorchen ließ. Sogar Susi schaute ihn ganz erschrocken an. So ernsthaft hatte man Pet ja noch nie gesehen! Er war ja regelrecht aufgebracht. Normalerweise war er der Junge mit dem sonnigen Gemüt. Er hatte auch dann noch einen lockeren Spruch auf den Lippen, wenn die anderen sich bereits total dem Frust hingaben: Wenn es in der Schule gerade nicht so lief, wie man es gern gehabt hätte oder wenn das Taschengeld mal wieder vor der Zeit aufgebraucht war...

„Ist gut, ich habe verstanden!”, sagte Jule und machte auf dem Absatz kehrt. Mit wiegenden Hüften stolzierte sie davon. Kralle war sofort hinter ihr her.

„Krasser Fehler, Alter!”, meinte Bennie und klopfte Pet auf die Schulter.

Pet machte Anstalten, seiner Freundin zu folgen.

„Lass sie erst mal. Die ist sauer wie eine Zitrone. Aber spätestens, wenn Kralle ihr so auf den Wecker geht, dass sie es nicht mehr aushält, kommt in ihr die Sehnsucht nach Pet zurück, glaube mir!”

„Ich hoffe.”

„Wie denn, ich hoffe? Wo bleibt dein sonniges Gemüt? Verdirbt Alchimie die Stimmung oder was?”

„So ungefähr!”, gab Pet zu und dachte dabei: Wenn du wüsstest, Bennie... Wenn du wüsstest, was ich herausgefunden habe...

„Ich mache dir einen Vorschlag, Pet: Ich komme hinterher und versuche, das Schlimmste zu verhindern.”

„Das Schlimmste?”

„Es hat einen Namen und der lautet: Kralle!”

Wer ist eigentlich auf die bescheuerte Idee gekommen, den Jungen Kralle zu nennen?, überlegte Pet. Ist genauso bescheuert wie mich Pet zu nennen. Dabei heiße ich noch nicht einmal Peter. Es ist also gar keine Abkürzung. Ich heiße Harald. Aber wer, um alles in der Welt, läuft heutzutage außer mir auch noch mit diesem oberbescheuerten Namen Harald herum?

Außer meinem Vater!, fügte er in Gedanken hinzu und schaute Bennie nach, der beruhigend winkte und dann sich Mühe gab, den Anschluss an Jule und Kralle nicht zu verlieren. Obwohl er sowieso wusste, wohin die gingen, nämlich ins nahe gelegene JUG, also ins Jugendzentrum. So wie immer.

Ferdie schürzte nachdenklich die Lippen. Was sollte er tun? Ja, nichts anderes bedeutete das wohl.

Pet nickte ihm zu. „Geh hinterher - und vergiss nicht, Susi mitzunehmen.”

„Und du?”

„Die Alchimie, weißt du?”

„Ach so, Gold machen, was?”

„Aus Blei!”

„Logisch.”

Er ging. Susi blieb.

„Du hast was vergessen!”, rief Pet ihm nach.

Ferdie wandte den Kopf. Pet deutete mit dem Kinn auf Susi.

„Das ist nicht fair!”, beschwerte diese sich.

„Wann ist das Leben jemals so etwas wie... fair?”, philosophierte Pet. Ungewohnte Worte aus seinem Mund. Susi schaute ein wenig erschrocken und ließ sich dann von Ferdie weg ziehen.

Pet ging in die umgekehrte Richtung. Das Buch!, hämmerte es in ihm. Ich muss unbedingt das Buch noch einmal in die Hände nehmen. Es wird mir die Wahrheit sagen, ganz bestimmt, weil ich es deutlich spüre. Ja, die Wahrheit sogar weit über das hinaus, was damals wirklich geschehen ist und wieso es heute schon lange keine Alchimisten mehr gibt. Vor allem sind sie nicht deshalb spurlos verschwunden, weil sie Chemikern Platz gemacht haben, wie alle Welt glaubt. Ganz bestimmt nicht...

 

*

 

„Wo gehst du hin?”, fragte die Mutter, als Pet am Wohnzimmer vorbei lief, ohne auch nur einmal den Blick zu wenden.

„Auf den Speicher!”, war seine knappe Antwort.

„Schon wieder zu den Büchern? Was soll das?” Diese Worte waren eher an ihren Mann gerichtet als an Pet. Der lief einfach weiter.

„Lass ihn!”, hörte er seinen Vater beschwichtigen.

„Aber wieso? In seinem... Alter?”

„Weil es für ihn wichtig ist.”

„Er vernachlässigt auch noch seine nette Freundin. Die Jule ist so ein liebes Ding...”

„Ich sagte: Es ist wichtig für ihn! Glaube mir, ich weiß, wovon ich rede.”

„Du weißt es?”

„Ja!” In diesem einen Wort, das den davon eilenden Pet noch einholte, steckte soviel Überzeugung, dass Pet unwillkürlich stehen blieb.

Natürlich weißt du es!, dachte er auf einmal. Logisch: Es ist kein Zufall, dass du die Bücher auf dem Speicher hast, ordentlich verstaut, damit nichts dran kommt, aber auch so untergebracht, dass niemand zufällig darüber stolpern kann.

Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Hatte der Vater ihn nicht regelrecht erst auf den Gedanken gebracht, sich um die Bücher zu kümmern? Wann jemals hatten die ihn denn vorher interessiert? Und dann die seltsamen Andeutungen von Vater... Bis er endlich doch auf den Speicher gegangen war, von einer seltsamen Neugierde getrieben. War bei seinem Aufstieg auf den Speicher nicht ein verräterisches Glitzern in Vaters Augen getreten?

Wieso?

Pet blieb stehen und schüttelte heftig den Kopf: Die Bücher waren Familienbesitz, so viel wusste er. Sie wurden vom Vater auf den Sohn weitervererbt. Jeder Vater zeigte sie irgendwann seinem Sohn, damit dieser irgendwann dasselbe mit seinem Sohn tat. Blieb nur noch eine Frage offen: Wieso ausgerechnet zu dieser Zeit? Wieso nicht nächste Woche oder in einem Jahr?

Unruhe erfasste ihn und trieb ihn weiter. Er kam nicht dagegen an. Es war, als würden die Bücher ihn locken. Keine Macht der Welt würde es schaffen, ihn zurück zu halten. Und Vater musste das gewusst haben! Er hatte Pets Neugier sogar auch noch unterstützt.

Wieso?, durchzuckte es Pets Gedanken. Spürt er es denn auch? Spürt er, dass es wichtig ist, ausgerechnet jetzt?

„Es duldet keinen Aufschub”, murmelte er vor sich hin, wie automatisch. „Keine Minute, vor allem keine Stunde oder gar... einen Tag.”

Er dachte an Jule.

Sie würde ganz schön sauer sein.

Pet griff in die Tasche und zückte sein Handy. Achtlos legte er es ab - ausgeschaltet! -, bevor er weiter lief, um auf den Speicher zu steigen. Er tat dies so hastig, dass er beinahe von der Treppenleiter gestürzt wäre, die hinauf führte.

Und dann war er oben. Endlich! Er sah die offen stehende Kiste mit den Büchern. Sie waren in einem tadellosen Zustand, aber uralt. Eines war praktisch wie neuwertig.

Er griff danach. Es hatte ganz unten gelegen. Erst gestern war es ihm überhaupt aufgefallen. Aber er hatte nur einen kurzen Blick riskiert: Eigenartige Zeichen waren auf dem Einband zu sehen, die irgendwie keinerlei Sinn ergaben.

Jetzt konnte er es endlich wieder in die Hände nehmen. Dabei wurde ihm bewusst, dass er sich in den letzten Minuten nichts auf der Welt sehnlicher gewünscht hatte.

Er starrte auf den lederartigen Einband. Das Buch war dick, aber dennoch federleicht. Die Kanten hatten Goldeinfassungen, wohl, damit sie nicht abstießen. Aber das Gold hatte nicht einmal einen Kratzer. Es war blitzblank, als hätte man das Buch gerade erst hergestellt und ihm dabei nur das Aussehen eines uralten Schmökers verliehen.

Mit diesem Buch stimmt was nicht! Es ist... kein gewöhnliches Buch. Nicht wie die anderen... Ein flüchtiger Blick über die durcheinander liegenden sonstigen Bücher. Er hatte die meisten aufgeblättert und nur Teile davon gelesen. Ganz bestimmte Teile. Da hatte gestanden, dass die Alchimisten zu einer Zeit, die man heute das finstere Mittelalter nennt, einfach verschwunden waren und dass dies einen plausiblen Grund hatte. Später waren wieder Alchimisten aufgetaucht beziehungsweise Leute, die sich als solche ausgaben. Aber hatte keine echten Alchimisten mehr gegeben. Aus den falschen Alchimisten schließlich hatten sich die

Vor allem dieses Buch nicht!

Pet schaute zwischenzeitlich auf die seltsamen Zeichen und da war es ihm, als würden sie sich bewegen. Er blinzelte verwirrt. Nein, sie bewegten sich natürlich nicht wirklich. Nur eine Illusion. Etwas ganz anderes war passiert: Nicht die Zeichen hatten sich verändert... sondern er. Besser gesagt: seine Betrachtungsweise!

Er schüttelte total verwirrt den Kopf und starrte wieder darauf.

Es waren dieselben Zeichen, ganz ohne Zweifel. Sie hatten sich überhaupt nicht verändert. Aber... er wusste auf einmal, was sie bedeuteten:

Barosch Alchimisch Dunkel.

„Dunkel?”, murmelte er. Nein, das stand nicht wirklich da, aber es hatte genau diese Bedeutung, als ein einzelnes Zeichen. Und Alchimisch war ein Wort aus einer Geheimsprache, der Sprache der Alt-Alchimisten, wie man sie nennen durfte, nachdem die falschen Nachfolger der Alchimisten versucht hatten, in ihre Fußstapfen zu treten.

„Geheimsprache?”, fragte er sich laut und schloss eine Sekunde lang die Augen. Als er sie wieder aufriss, standen die seltsamen Zeichen vor ihm, deren Sinn er verstand, ohne es jemals gelernt zu haben.

„Barosch: Der Führer!” Er lauschte den eigenen Worten nach. Was da in der Geheimsprache der Alt-Alchimisten stand, hieß nichts anderes, als dass dieses Buch der alchimistische Führer zum Dunkel sei.

Zum Dunkel? Welches Dunkel? Die Finsternis des Satans oder so ähnlich?

Er schüttelte den Kopf, weil er gleichzeitig wusste, dass damit nicht jene Finsternis gemeint war.

Zögernd schlug er den Buchdeckel auf. Vergilbtes Pergament starrte ihn an. Es waren keinerlei Zeichen zu sehen - für normale Augen. Pet starrte darauf und las laut vor - in jener fremden Sprache, der Geheimsprache der Alt-Alchimisten. So perfekt, als hätte er sein Leben lang niemals etwas anderes getan.

Er erschrak.

Was geschieht hier?, fragte er sich.

Ihm schauderte.

 

*

 

„Was sind denn das für Tierlaute?”, fragte jemand direkt vor ihm.

Hätte ihm einer mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, wäre die Wirkung kaum anders gewesen. Mit einem Aufschrei schlug Pet das Buch zu und wollte aufspringen.

Aber er sank sogleich wieder zurück: Jule! Sie stand vor ihm wie aus dem Boden gewachsen.

Er schluckte.

„Jule!”

„Ach, du hast mich tatsächlich gleich wiedererkannt?”, fragte sie amüsiert.

„Aber wie... wieso...?”

„Ich kam die Treppenleiter herauf, falls du das meinst. Vorher habe ich deine Eltern nach dir gefragt. Erst wollte mich dein Vater weg schicken. Er hat dich sowieso die letzten Tage immer am Telefon verleugnet, hat behauptet, nicht zu wissen, was du treibst. Aber dann hat er sich... nun, sagen wir: ein wenig seltsam benommen und zu deiner Mutter gesagt, es sei richtig.“

„Wie bitte?“

„Anschließend hat er mir die Treppenleiter gezeigt. - Was dagegen, das ich hier bin?”

„Nein, natürlich nicht.

„Hätte ja sein können. Alchimie hat doch auch was Geheimniskrämerei zu tun, wen ich richtig informiert bin.“

„Jule, ich...”

„Was waren das für Laute eben?”

„Laute?”

„Es klang wie Tierstimmen. Du hast gezischelt wie eine Schlange, die um ein Kaninchen kämpft, das perdu nicht gefressen werden will. Armes Kaninchen, kann man da nur sagen. Genauso hat es sich jedenfalls angehört.”

„Angehört?”, echote er.

Jule runzelte die Stirn.

„Hallo? Jemand daheim da oben?” Sie tippte ihm an die Stirn. „Ich bin‘s nur, die vernachlässigte Freundin, Herr Chefalchimist!”

So etwas wie ein Lächeln entstand um seine Mundwinkel. „Entschuldigung, Jule, aber...”

„Darum möchte ich auch gebeten haben, Alter!”

„Jetzt fängst du beinahe so an zu reden wie Ferdie.”

„Na und? Der redet wenigstens noch mit einem - im Gegensatz zu dir, der du nur irgendwelche Tierlaute von dir gibst. Wozu sollte das überhaupt gut sein? Irgendeine Beschwörung? Ach, ja, ich sehe schon: Du hast es doch tatsächlich geschafft, den Rand dieses Buches in pures Gold zu verwandeln. Alle Achtung. Hätte ich dir niemals zugetraut, echt.”

„Hör auf mit den Witzen. Es ist wirklich nicht witzig, glaub’ mir!”

„Was soll nicht witzig sein? Bücher in Gold zu verwandeln? Nein, witzig ist das ganz und gar nicht. Ich würde eher sagen: Obercool!”

„Der Goldrand war vorher schon da.”

„Ach! Jetzt bin ich aber enttäuscht!”

„Es ist ein... Geheimbuch, abgefasst in der Geheimschrift und der Geheimsprache der Alt-Alchimisten.”

Sie schaute ihn forschend an, als wollte sie dadurch herausfinden, ob er tatsächlich übergeschnappt war oder ob es sich nur so anhörte.

Sein Tonfall wurde beschwörend: „Bitte, Jule, damit darf man nicht scherzen. Ich meine es bitter ernst. Es geht hier nicht um diese Scharlatane, die sich später als Alchimisten ausgegeben haben. Es geht um die echten Alchimisten. Sie hatten eine weltumspannende Organisation im Mittelalter. Sogar indianische Zauberpriester gehörten dazu, obwohl zu diesem Zeitpunkt Amerika noch gar nicht entdeckt gewesen war. Sie standen untereinander in Verbindung. Eine magische Verbindung. Ihre gemeinsame Sprache war Valuremisch. Außer ihnen wusste niemand davon.”

„Und das alles steht in diesen Büchern geschrieben?”

„Ja, ich musste das erst lernen, bis ich mich um dieses Buch hier kümmern konnte.”

Sie nahm ihm  das Buch einfach aus der Hand, ehe er es verhindern konnte und betrachtete es von allen Seiten. „Da sind eigenartige Zeichen...” Sie schlug es auf.

„Nicht!”, warnte Pet erschrocken, doch er bewirkte damit das genaue Gegenteil: Sie wich seinen zupackenden Händen aus, sprang außerhalb seiner Reichweite und blätterte darin.

„Leere Blätter!”, stellte sie enttäuscht fest.

„Die Blätter sind ganz und gar nicht leer, Jule!”, widersprach Pet heftig. „Ungeschulte Augen können nur nichts sehen.”

„Aber deine schon?”

„Natürlich.”

„Weil sie geschult sind?“

„Ja.“

„Wer hat dich wann darauf vorbereitet? Hast du alles in den Büchern da gelernt, unter anderem eben, wie man unsichtbare Schrift lesen kann?” Es klang nicht gerade überzeugt. Außerdem konnte sie einen spöttischen Unterton einfach nicht unterdrücken.

„Es sind dieselben Schriftzeichen wie auf dem Einband. Sie gehören zur Geheimsprache der Alt-Alchimisten. Wer sie sehen kann, der kann sie auch verstehen.”

„Das beantwortet meine Fragen nicht.”

„Ich habe es niemals gelernt. Ich... ich kann es ganz einfach.”

„So plötzlich?”

„Ja, so plötzlich, Jule, ich kann es doch auch nicht so richtig erklären. Das war vorhin erst, kurz bevor du gekommen bist.”

„Diese seltsamen Tierlaute... War das die Geheimsprache?”

Pet nickte nur.

Jule trat näher. Sie zögerte kurz. Dann reichte sie ihm das Buch zurück. „Lies weiter!”

„Wie bitte?”

„Richtig gehört, Chefalchimist: Ich will wissen, was du da liest. Also nicht in der Geheimsprache, sondern gleich übersetzt, damit normale Ohren auch verstehen, was normale Augen noch nicht einmal sehen können.”

„Also gut!”, machte Pet verdattert und schlug das Buch wieder auf. Er runzelte die Stirn und stutzte kurz.

Jule dachte schon, jetzt wären die unsichtbaren Schriftzeichen auch für ihn unsichtbar geworden und wollte eine diesbezügliche abfällige Bemerkung machen, aber dann begann Pet mit monotoner Stimme - so monoton, dass es Jule eisig kalt über den Rücken lief - zu übersetzen:

„Zehn Jahre ist es her. Deshalb schreiben wir das Jahr Zehn nach er Gründung von Valurema, der weltumspannenden Alchimisten-Organisation. Es war alles am Anfang so wahnsinnig schnell gegangen. Innerhalb von Stunden waren wir uns bewusst geworden, dass die Anderen existierten, zwar räumlich getrennt von der unseren, aber dennoch erreichbar. Die Freude war groß, doch die Ernüchterung folgte bald: Wir konnten uns gegenseitig zwar erreichen, über jegliche Entfernung hinweg, aber wir sprachen alle verschiedene Sprachen. Deshalb gründeten wir Valurema, den Bund der Alchimisten, einen Geheimbund. Diejenigen, die die größten sprachlichen  und grammatischen Kenntnisse hatten, machten sich daran, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Aber eine, die mehr war, als nur ein einfaches Verständigungsmittel. Sie hatte magische Bedeutung. Es wurde wahre Geheimsprache der Alchimisten.

Ich war einer von ihnen. Mehr noch: Ich wurde ihr Barosch, ihr Führer. Das Wort Valurema war noch willkürlich gewählt, aber die Sprache, die wir schufen, durfte nicht klingen wie eine menschliche Sprache. Wir wählten Laute jener Tiere, die für uns magische Bedeutung haben. Wir ahmten ihre Laute nach, kombinierten sie mit den anderen und spürten dabei ihre magische Wirkung.

In jener Zeit fragte sich niemand von uns, wie es denn möglich war, dass wir plötzlich über große räumliche Entfernungen hinweg miteinander ohne Mühe in Verbindung treten konnten, was vorher niemals gelang. Ja, was hatte dies ermöglicht?

Keiner konnte für sich allein darauf kommen. Nein, es bedurfte der kollektiven Zusammenarbeit. Diese jedoch war nur möglich, wenn wir eine gemeinsame Sprache sprachen. Valuremisch.

Und als dies gelungen war, schlossen wir uns zu einem geistigen Verbund von unvorstellbarem Ausmaß zusammen zu. Es war, als hätte die Erde selber angefangen zu denken. Wir waren sozusagen das Gehirn der Erde - der belebten Erde zumindest. Alle anderen Lebewesen waren die Zellen eines Lebenskörpers, der die Welt umspannte. Ein grandioses Gefühl, das wir lange auf uns einwirken ließen, indem wir gemeinsam in unserer gemeinsamen Sprache darin schwelgten.

Ich machte schließlich den gewagten Vortritt, indem ich die Frage stellte, wie dies denn alles möglich geworden war - so unvermittelt, wie es schien.

Die Wahrheit fanden wir schnell heraus: Es war keineswegs zufällig geschehen, sondern war abhängig von der Gesamtzahl der praktizierenden und damit gleichzeitig aktiven Alchimisten. Das hieß, es musste weltweit eine bestimmte Anzahl von Alchimisten gleichzeitig sich mit den Dingen beschäftigen, die sich außerhalb normaler menschlicher Vorstellung befanden. Noch niemals zuvor hatte es genügend Alchimisten gegeben, um dies zu ermöglichen - bis vor zehn Jahren! Bis eben zur Gründung von Valurema.

Faszinierend und erschreckend zugleich. Faszinierend wegen den Möglichkeiten, die sich uns dadurch eröffneten - erschreckend wegen den Gefahren, die der Welt drohten, falls wir bei der Ausübung dieser ungewohnten Machtfülle Fehler begingen...

Nun, da du diese Worte liest, Auserwählter, weißt du, dass nicht die Faszination obsiegte, sondern das Entsetzen! Du liest dies, weil wir versagt haben, in unserem Wunsch, mit unserer Macht das Gute zu bewirken und dabei das Dunkle unterschätzten.

Nicht dass du dies nun falsch verstehst, Auserwählter... Ach, vergiss diesen Einwand gleich wieder, denn du bist schließlich der Auserwählte. Wie könntest du also da überhaupt etwas falsch zu verstehen? Und dir zur Seite steht dein weibliches Äquivalent oder der weibliche Gegenpol. Sie ist die Auserwählte. Du bist dazu bestimmt, das Buch zu lesen und zu verstehen - und sie ist dazu bestimmt, den Kontakt zur Erde zu halten - zu dem eben, was man allgemein die Wirklichkeit nennt. Als wäre das andere etwas anderes als eine Wirklichkeit!

Es mag dir jetzt, in diesem Stadium deiner Studien, noch seltsam erscheinen - seltsam und vor allem unverständlich -, aber alles ergibt einen Sinn. Dieses Buch ist der Führer zu einer besonderen Art des Dunkels. Es ist der Führer zur Dunkelerde! Nur zu diesem Zweck habe ich es geschaffen, dass du es eines Tages liest, wenn die Stunde dafür reif ist, als Auserwählter. Dieses Buch wird von Generation zu Generation weiter gereicht, denn ich habe zwei Vorahnungen: Eine sagt mir, alles geht gut - und die andere sagt mir, dass wir Alchimisten dabei sind, mit unserer Macht die schrecklichste Katastrophe zu verursachen, die man sich überhaupt vorstellen kann. Dieses Buch wurde von mir dazu geschaffen, einen Auserwählten nach der möglichen Katastrophe zu befähigen, noch Schlimmeres zu verhindern, vielleicht sogar den endgültigen Untergang aller menschlichen Zivilisation. Ja, in der Tat, ich weiß es nicht, sondern ahne es nur, denn auch der perfekteste Seher sieht nur die Möglichkeiten - aber du wirst es erfahren, Auserwählter und wirst die blanke Wahrheit erkennen. Du wirst der Wissende sein, während ich, der dir diese Möglichkeiten eröffne, um damit mein schlechtes Gewissen zu beruhigen ob unseres Vorhabens und seiner Risiken... Ich bin nur der Ahnende. Merke es dir: Du wirst der Wissende sein und ich werde der Ahnende bleiben - längst für immer ausgelöscht, wenn du diese Zeilen liest.

Eines aber musst du noch bedenken, Auserwählter: Du musst dir stets vor Augen halten, dass nicht die beschwörenden Worte es sind, die allein Magie bewirken, sondern der Geist, der durch die beschwörenden Worte erneut erwacht.

Ich ahne schon, dass du es nicht sogleich verstehen wirst, aber es ist sehr wichtig, Auserwählter, dass du dies verstehst: Indem du diese Worte liest, denkst du die gleichen Gedanken, die ich gedacht habe, als ich sie niederschrieb! Dein Geist schwingt mit meinem Geist in Einklang. Ich, der schon lange nicht mehr existiere, erwache in dir zu neuem Leben. Es sind meine Worte, also meine Gedanken, die zu deinen Worten, also zu deinen Gedanken werden. Somit bist du hier und jetzt... Barosch Alchimisch Dunkel! Ja, es ist nicht nur der Titel des Buches, sondern... ich war es selbst, denn ich habe als Barosch, vereint mit der Macht aller Alchimisten, dies alles bewirkt, was dir begegnen wird. Ich fürchte, Auserwählter, wenn du diese Worte in dich aufnimmst und meine Gedanken denkst, hat die Katastrophe längst stattgefunden und das wahre Grauen siegte, nicht unsere guten Vorsätze. Wie viel Zeit ist inzwischen vergangen? Jahrhunderte? Jahrtausende?”

Pet schrie auf und ließ das Buch fallen. Er zitterte am ganzen Körper und brüllte: „Jahrtausende, Barosch! Jahrtausende!”

Jule packte verzweifelt seine Schultern und rüttelte daran.

„Pet, bitte, komm zu dir! Du bist ja völlig von Sinnen.”

„Jahrtausende!”, schrie Pet und schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen. Sein Blick war entrückt. Seine Augen blickten in eine weite, unbekannte Ferne, in... eine andere Welt?

„Dunkelerde!”

„Aber nein, Pet, es ist doch höchstens Jahrhunderte her. Die Alchimisten, hörst du? Im finstersten Mittelalter hast du gesagt.”

Sein Blick wurde prompt klarer. Er blinzelte verwirrt.

„Im finstersten Mittelalter, wahrlich, das war es... damals, zehn Jahre nach Valurema. Die Katastrophe. Es sind nur Jahrhunderte vergangen, hier, auf Hellerde. Aber viele Jahrtausende drüben, auf Dunkelerde.”

„Hellerde? Dunkelerde?”

Pet war außer sich. „Du wirst es verstehen, Jule, du wirst es verstehen müssen. Du bist der weibliche Pol. Du bist die Auserwählte. Aber wieso? Ja, wieso du und ich? Was haben wir denn getan?”

„Du bist mein Sohn!”, sagte da eine Stimme.

Sie fuhren beide herum. Pet erkannte seinen Vater. Er stand auf der Treppenleiter. Man konnte nur seinen Kopf sehen und er wirkte sehr ernst.

„Es ist anders als sonst, Pet. Das tut mir aufrichtig leid, aber ich fürchte...”

„Was fürchtest du, Pap?” Sein Vater war an die Abkürzung Pap gewöhnt.

Er antwortete: „Ich fürchte, niemand kann es dir abnehmen. Ich auch nicht. Ich hatte mein Leben lang gehofft, es möge nie eintreten, aber jetzt ist es soweit - nach Jahrhunderten.”

„Was ist soweit, Pap, was?”

„Die Störung wird erfolgen und der Jüngste ist auserwählt, als eine Art Wächter, oder gar Krieger oder sogar Richter. Niemand kann ihm diese Aufgabe abnehmen, auch und vor allem nicht sein Vater.”

„Und Jule?”

„Ihr liebt euch und es ist eine vollkommen reine Liebe. Sie wäre nicht dein weiblicher Gegenpol, wenn ihr bereits... Sex miteinander gehabt hättet. Doch dies ist nicht der einzige Grund.”

„Was denn sonst noch?”

„Ich habe deine Mutter kennen gelernt, weil sie die Auserwählte gewesen wäre. Wir haben jahrelang in Keuschheit gelebt, bis mir klar wurde, dass ich niemals der Auserwählte zu sein brauchte. Dann kamst du zur Welt und ich habe inbrünstig gehofft, du würdest genauso davon verschont bleiben.”

„Heißt das... Jule und ich haben uns gefunden, weil es unser beider Schicksal ist?”

„Ja, Pet: Sie ist eine direkte Nachfahrin eines jener Alchimisten, die damals verschwanden - genauso wie du und ich.”

„Und meine Eltern?”, rief Jule. „Mann, ist das denn hier ein Irrenhaus oder was?”

Niemand sagte etwas. Beide schauten sie nur an. Sie begriff auch ohne Worte, dass dies hier keineswegs ein Irrenhaus war, wie sie es nannte, sondern bittere Wirklichkeit.

„Auch deine Eltern!”, antwortete Pets Vater endlich. „Genauso wie die Eltern von Pets Mutter, wie meine Eltern... Heutzutage ist das ja nichts Besonderes mehr: Die Menschen kommen aus aller Welt zusammen. Heißt du nicht den italienischen Nachnamen Nero? Siehst du, wir heißen Magnus. Es war Harald Magnus, der dieses Geheimbuch schuf. Er war der Barosch Alchimisch Dunkel. Drum heiße auch ich Harald Magnus. Und deine Mutter ist sicher Gabriella Nero. Aber auch du heißt so: Gabriella! Obwohl dich alle Welt Jule ruft...”

„Sie... Sie wissen das alles - schon länger?”

„Natürlich weiß ich es schon länger. Schließlich bin ich Harald Magnus - und mein Sohn teilt mein Schicksal. Mehr noch: Er wird das Schicksal der ganzen Ahnenreihe sogar erfüllen.”

„Aber wieso?”, protestierte Pet wie irre. „Ich will das alles nicht. Ich bin ein ganz normaler Vierzehnjähriger. In ein paar Tagen sind Ferien. Ich habe eine Freundin, die ich liebe. Ich habe dufte Kumpels. Ich...” Er brach ab.

„Ich weiß es nicht!”, gab sein Vater zu. „Niemand weiß es. Du musst alles selber herausfinden und Jule muss dich dabei begleiten. Unser Vorfahre hat es dir geschrieben. Jule ist der weibliche Gegenpol, damit du dich bei deiner Aufgabe nicht verlierst.”

„Welche Aufgabe überhaupt?”

„Du brauchst die Aufgabe nicht zu suchen, Sohn, denn die Aufgabe hat dich bereits gefunden. Alle Fragen werden beantwortet, aber nicht durch mich. Ich werde mich jetzt zurückziehen. Verzeih, Sohn, viel lieber wäre ich an deiner Stelle, glaube mir. Du bist doch noch so schrecklich jung - und dann eine solche Verantwortung?”

„Ich pfeife auf deine Verantwortung, hörst du, Pap? Ich pfeife auf diesen ganzen Scheiß. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich... ich will meine Ruhe davon. Disko am Wochenende, büffeln bis zum Abitur, Ferien mit der Clique - das alles halt! Verdammt, ich bin doch nicht so ein beschissener Auserwählter. Ich bin einfach nur Pet, sonst nichts!”

Das Gesicht seines Vaters drückte unendliche Traurigkeit aus, als er nach unten stieg. Die beiden jungen Menschen hörten ihn, wie er sich flüsternd mit Pets Mutter unterhielt. Aber dann zogen sich beide zurück und es wurde still.

„Ich bin hier im falschen Film, tatsächlich!”, murmelte Jule. Vorhin noch hatte sie sich bemüht, Pet zu trösten, aber jetzt hätte sie es selber bitter nötig gehabt.

„Das sind wir beide”, murmelte Pet tonlos und nahm das Buch wieder in die Hand. „Wir könnten jetzt einfach alles wieder weg packen und vergessen.”

„Könnten wir das?”

„Nein, eigentlich nicht!”, gab er kleinlaut zu.

„Die Aufgabe hat dich gefunden...”

„Sie hat UNS gefunden!”, betonte er.

„Aha, dann willst du jetzt alles auf mich abwälzen oder was?”

„Wenn es gehen würde: Ja!”

„Also, du...” Sie hob drohend die Rechte, als wollte sie ihn schlagen, aber es war nur ein Spaß, der beiden für ganz kurze Zeit zumindest ein eher müdes Lächeln entlockte.

„Die Aufgabe...”, murmelte Pet vor sich hin. „Wenn ich nur wüsste, was für eine blöde Aufgabe das überhaupt sein soll.”

„Nun, vielleicht... Rettung der Welt?”

„Ja, klar: Pet, der große Weltenretter. Das hat mir gerade noch gefehlt.”

„In der Tat, das hat es!”

Jetzt lachten sie beide wie über einen gelungen Scherz, aber wirklich froh klang das nicht. Sie starteten damit nur den untauglichen Versuch, doch noch Abstand von allem zu gewinnen. Aber dann starrte Pet auf das Buch in seinen Händen und er schlug es wieder auf.

Wie unter Zwang.

„Die Aufgabe!”, sagte er dabei tonlos. „Was für eine beschissene Aufgabe meint der eigentlich?”

„Willst du wieder... vorlesen?”, fragte Jule bang.

„Von Wollen kann keine Rede sein: Ich MUSS! Es ist das Buch, glaube ich, oder die darin eingefangenen Gedanken meines Ahnen, der mich über das Buch dazu zwingt. Ich soll seine Gedanken denken.”

„Und dann?”

„Dunkelerde!”, sagte Pet und seine Augen weiteten sich. „Ich - ich verstehe endlich, was das bedeutet: Dunkelerde, das ist der Schatten unserer Erde.”

„Liest du das schon vor oder was?”

„Ja, ja, Jule, ich habe es hier gelesen. Es steht in der Geheimschrift geschrieben, aber ich übersetze es für dich: Dunkelerde, das ist der Schatten unserer Erde. Folglich dürfen wir unsere Erde Hellerde nennen.

Wir haben es herausgefunden und auf einmal erscheint es uns nicht mehr schwierig, Dinge zu schaffen, wie aus dem Nichts. Denn wir haben nicht nur die Existenz von Dunkelerde erfahren, sondern auch, in welchem Verhältnis sie zur hellen Erde steht: Dunkelerde ist der Schatten von allem! Ja, genauso kann man es beschreiben: Jedes lebende oder tote Objekt auf Erden, sogar die Erde selbst... Sie werfen einen Schatten. Nicht den normalen Schatten, den es gibt, wenn man vor einer Lichtquelle steht, sondern wir werfen eine andere Art von Schatten... in eine andere Welt. Eine Art Schattenwelt. Deshalb haben wir sie spontan Dunkelerde genannt. Doch während die Hellerde, also unsere Erde, lebt, ist Dunkelerde tot. Eben nur der Schatten der Wirklichkeit, nicht mehr und auch nicht weniger. Der tote Schatten, wie dein Schatten vor dir auf dem Steinpflaster, während die Sonne in deinem Rücken steht.

Die erste Frage, die uns beseelte: Wäre es möglich, einen solchen Schatten zu beleben?”

Pet brach ab. Er starrte auf die für Jule leeren Seiten, mit großen, schreckgeweiteten Augen, aber er sagte nichts mehr.

„Was ist, Pet?”, drängte Jule. „Lies doch weiter. Ich will wissen, was es mit dieser Dunkelerde  auf sich hat. Existiert sie noch? Sind die Alchimisten damals etwa... dorthin verschwunden? Aber wieso bezeichnet dein Vorfahr dies als Katastrophe? Für wen war es eine Katastrophe? Nur für die Alchimisten? Oder auch für uns? Und in wie fern?”

Endlich löste Pet seinen Blick aus dem Buch und schaute Jule an. Sie brach mitten im Wortschwall ab.

„Ich - ich kann nicht weiterlesen”, behauptete er.

„Wie bitte?”

„Ich kann nichts mehr sehen. Ich kann nichts mehr verstehen.”

„Aber wieso?”

„Vielleicht hat mich dies alles zu sehr angestrengt? Es ist so eine Art Magie und sie ermüdet mich stark. Ja, so wird es sein.”

„Du lügst!”, stellte Jule beleidigt fest.

„Wie?”

„Ich kenne dich gut genug, Pet, um dir an der Nasenspitze anzusehen, dass du lügst. Du warst schon immer ein besonders lausiger Lügner, glaub mir.”

„Nein, Jule, wirklich, ich lüge nicht.”

„Was verheimlichst du mir? Was hast du gelesen, was du mir nicht mitteilen willst? Und warum verschweigst du es mir? Willst du mich verschonen? Das geht nicht. Schon vergessen? Ich bin die Auserwählte oder so...”

„Tut mir leid, Jule, wirklich, aber wir müssen jetzt aufhören damit. Es geht nicht mehr. Ich kann nicht mehr.” Demonstrativ klappte er das Buch zu und erhob sich.

Jule schaute ihn zweifelnd an.

„Pause?”

„Ja, Pause! Wir machen dann morgen weiter, nach der Schule.”

„Du kommst morgen zur Schule - nach alledem?”

„Wieso nicht? Die Aufgabe läuft mir nicht davon, gewiss nicht. Obwohl es mir lieber wäre, ehrlich.“

Sie schürzte nachdenklich die Lippen. „Also gut, einverstanden.” Auch sie stand jetzt auf. Beide gingen in Richtung Dachluke, um nach unten zu steigen.

Kurz hielt Jule inne: „Du versprichst mir hoch und heilig, dass du ohne mich nichts unternimmst?”

„Großes Ehrenwort!”, versprach Pet.

Der lügt, wenn er nur den Mund auf macht!, dachte Jule schwer enttäuscht, aber sie sagte nichts mehr. Was denn auch? Wie sollte sie sich denn überhaupt verhalten in einer Situation, wie sie verrückter nicht sein konnte? Wenn man das jemandem erzählen würde... Nicht auszudenken!

Sie stiegen nach unten. Pet tat dabei ganz normal, als sei überhaupt noch nie alles normaler gewesen als gerade heute...

 

*

 

Am nächsten Morgen sahen sie sich kurz vor Schulbeginn auf dem Schulhof. Pet sah übernächtigt aus, aber auch Jule wirkte nicht gerade ausgeschlafen.

Sie standen voreinander, als wären sie sich rein zufällig begegnet und würden sich jetzt erst gegenseitig wiedererkennen - so überrascht, dass keiner auch nur einen Ton hervorbringen konnte.

„Du hast mich schwer enttäuscht, Pet!”, sagte sie schließlich - und es klang ein wenig weinerlich.

„Enttäuscht?”, echote er verblüfft.

„Ich hatte so sehr gehofft, dass du nachkommen würdest, ins JUG. Alle kamen, außer dir. Bennie hat versucht, mich zu beruhigen. Da bin ich abgehauen, weil mir klar wurde, dass ich umsonst auf dich warte. Ich ging heim und versuchte, dich über Handy zu erreichen: Ausgeschaltet! Es grenzt an ein Wunder, dass du überhaupt noch hier aufgetaucht bist - und sogar mit mir redest. Äh, tust du das überhaupt? Hast du überhaupt auch nur ein einziges Wort bis jetzt gesagt? Vielleicht sogar... eine Entschuldigung oder so etwas? Aber da solltest du wirklich gut überlegen vorher. Lass dir was einfallen, was plausibel genug ist.”

„Ich - ich verstehe das alles nicht.”

„Wie denn jetzt? Du verstehst nicht, dass ich sauer bin oder was?”

„Aber, Jule, du warst doch gestern...”

„...die total Angeschmierte, ja, falls du das meinst: Bingo!”

„Nein, du bist doch bei mir aufgetaucht und...”

Sie zog die hübsche Stirn kraus und legte den Kopf schief. Damit nicht genug. Sie stemmte beide Arme in die Seite und schürzte die Lippen wie zu einem Kuss: Äußerstes Alarmzeichen.

„Owh-owh!”, machte jemand an Pets Seite. Es war Bennie. Pet brauchte nicht hin zu sehen, um es zu wissen. Solche Laute gab sonst kaum einer von sich.

„Hau einfach ab!”, fuhr Pet ihn an, heftiger als beabsichtigt. Er wandte sich wieder an Jule: „Du warst gestern mit mir zusammen, Jule. Was soll also der Scheiß jetzt? Willst du mich veralbern oder was?”

Sie hatte zu einer gehörigen Standpauke ansetzen wollen, aber das vergaß sie schlagartig. Ihre Hände sanken herab. Sie zog die Stirn noch ein wenig krauser.

„Wer will jetzt wen veralbern, mein Guter? Ich soll bei dir gewesen sein? Und wieso weiß ich nichts davon?”

„Keine Ahnung, Gabriella Nero!”

„Wieso nennst du mich so? Schau hin: Ich bin’s, Jule! Und wen hattest du gestern bei dir? Vielleicht Susi, diese üble...”

„Vorsicht!”, rief Susi in diesem Moment. Niemand hatte ihr Kommen bemerkt.

Jule schloss für eine Sekunde ergeben die Augen. „Das musste jetzt ja sein!”

„Ich war jedenfalls nicht bei Pet!” Es klang sehr bedauernd aus Susis Mund.

„Nein, stimmt: Jule war bei mir!”, stellte Pet eindeutig klar.

„Müsst es ja ziemlich toll getrieben haben, wenn sie sich nicht mehr erinnert. Oder sollte ich mich so in dir irren und du bist der totale Langweiler, den man sowieso besser komplett wieder vergisst?”

„Ha, ha, extrem witzig. Ich lache mich rund!” Pet schüttelte den Kopf.

„War doch nur ein Scherz!”, verteidigte sich Susi prompt und zog einen Schmollmund, der wahrscheinlich bedeuten sollte: „Bitte, bitte, Pet, nimm es mir bloß nicht krumm!”

„Hau einfach ab, Susi: Siehst du nicht, wie sehr du störst?” So direkt war Jule ja noch nie gewesen. Was war denn in sie gefahren?

Aber es wirkte: Beleidigt zog sich Susi zurück.

„Ich muss hinein, sonst gibt es Probleme mit dem Klassenlehrer, wie du weißt”, lenkte Pet ab.

„Hiergeblieben! Wie war das nun, das mit meinem gestrigen Besuch?”

Er forschte in ihrem unglaublich hübschen Gesicht. Einerseits war sie total überzeugt davon, nicht bei ihm gewesen zu sein, aber andererseits - schimpfte sie ihn nicht einen Lügner?

Aber sie war doch da!, dachte er eine Spur verzweifelt. Pap ist mein Zeuge - und Ma genauso. Sie war da. Sie ist die Auserwählte - und ich...?

Sie blinzelte verwirrt. „Ich begreife es nicht. Du behauptest, wir wären zusammen gewesen, aber ich habe doch die ganze Zeit über versucht, dich zu erreichen. Vergeblich.”

„Wie lange hast du es versucht?”, fragte Pet hoffnungsfroh und dachte dabei: Lieber Gott, mach, dass sie es gestern wirklich persönlich war und dass es sich nicht nur um eine beschissene Illusion des Buches handelte. Vielleicht bin ich einfach nur verrückt geworden und bilde mir Dinge ein, die gar nicht sein können? Sogar das mit Vater, dass er kurz bei uns war - und was er dabei gesagt hat...? Später war keine Rede mehr davon gewesen. Wir haben alle so getan, als sei nichts geschehen. Auch nachdem Jule wieder gegangen war...

Jule sagte: „Ich - ich kann mich nicht erinnern. Aber irgendwann habe ich auf die Uhr geschaut. Stunden waren vergangen. Ich hatte gerade wieder versucht, dich zu erreichen.” Sie strich sich  mit einer fahrigen Bewegung über die Stirn. „Verflixt und zugenäht, ich kam heim und griff nach dem Telefon, um dich anzurufen. Auf deinem Handy. Dann dachte ich daran, persönlich bei dir aufzukreuzen. Anschließend griff ich wieder nach dem Telefon, um dich anzurufen. Ich habe dich nicht erreicht und schaute auf die Uhr. Eigentlich konnten nur Augenblicke vergangen sein, aber es waren Stunden.” Sie sah ihn an. In ihren Augen war deutlich Verzweiflung zu lesen. „Werde ich verrückt oder was?”

„Wenn, dann müssten wir schon beide verrückt geworden sein”, schränkte Pet ein.

„Vor Liebe oder was?”, fragte Kralle, der gerade vorbei kam.

„Kriegt man denn von dem niemals seine Ruhe?”, seufzte Jule.

Noch einer, der beleidigt war an diesem Morgen. Kralle zog ohne einen weiteren Kommentar wieder ab.

„Du bist tatsächlich gekommen. Das Buch. Du erinnerst dich? Mein Vater...”

„Mist!” Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ja, da war was. Aber wieso habe ich es danach... einfach vergessen? Alles war weg, wirklich alles. Und jetzt...”

„...kommt es wieder zurück?”, ergänzte Pet, verstärkt hoffnungsfroh.

„Warst du danach noch mal auf dem Speicher - ohne mich?”, zischelte sie.

„Nein, war ich nicht, ehrlich!”

„Du lügst mich nicht an?”

„Warum sollte ich denn?”

„Was verheimlichst du mir, sprich!”

„Nichts!”

„Das ist jetzt eine verdammte Lüge! Du hast das Vorlesen abgebrochen, weil da was ist, was du mir nicht sagen willst.” Sie stach anklagend mit dem Zeigefinger in seine Richtung.

„Ja!”, gab er nach kurzem Zögern zu. „Aber das hat einen gewichtigen Grund, glaube mir.”

„Welchen?”

„Ich kann ihn dir nicht sagen - nicht hier und nicht jetzt.”

„Wann und wo denn sonst?”

„Nach der Schule? Kommst du wieder zu mir?”

„Ja!”, sagte sie nun ihrerseits. Sie hob ihre Rechte und trat einen Schritt näher. „Ich weiß nicht, warum ich das alles vergessen habe. Vielleicht deshalb, weil sich mein Unterbewusstsein dagegen wehrt?”

„Möglich!”, meinte Pet.

 

*

 

Pet saß ihm Wohnzimmer und wartete, bis Jule kam. Er wollte nicht vorher schon auf den Speicher gehen, obwohl es ihn sehr viel Kraft kostete, erst auf Jule zu warten. Andererseits redete er sich selber erfolgreich ein, dass es ungeheuer wichtig war, dass sie ab sofort wirklich alles gemeinsam taten. Die Zeichen dafür waren deutlich - überdeutlich, wie er meinte.

Und dann kam Jule. Sie hatte zuerst nach Hause gehen müssen, ohne es zu begründen. Jetzt sah Pet es selber: Sie brachte ihre Eltern mit.

Die beiden machten einen sehr ernsten Eindruck. Sie begrüßten die Eltern von Pet ohne ein einziges Wort, völlig stumm. Aber auch, als würden sie sich schon seit vielen Jahren sehr genau kennen und wüssten alles voneinander - auch um die Bedeutung des heutigen Tages?

Welche Bedeutung hat er denn überhaupt?, fragte sich Pet unwillkürlich.

Jule und er begrüßten sich genauso stumm, nämlich mit einem eher flüchtigen Kuss auf den Mund. Hand in Hand gingen sie zur Treppenleiter, die hinauf auf den Speicher führte. Dort verhielten sie für einen Augenblick, um zu lauschen. Aus dem Wohnzimmer drang kein Laut zu ihnen hin. Anscheinend saßen sich ihre Eltern immer noch genauso schweigend gegenüber, wie sie sich begrüßt hatten.

Pet ließ seiner Freundin den Vortritt. Sie stieg vor ihm hinauf auf den Speicher.

„Und jetzt kannst du mir endlich sagen, warum du gestern so plötzlich abgebrochen hast?”, begrüßte sie ihn oben.

Er lächelte ein wenig verkrampft - und dann stieß er eine Lautfolge aus, die nicht so klang, als würde sie einer menschlichen Kehle entsteigen. Es hörte sich an wie das Lautgewirr aus einem Dschungel, wobei das gefährliche Zischen von Schlangen überwog. Es war Valuremisch, die Geheimsprache der Alt-Alchimisten! Und es bedeutete: „Nur hier und jetzt kann ich es dir erklären, Jule, glaube mir!” Lediglich das Wort Jule war in verständlichem Deutsch, sonst nichts.

Jule wurde es gar nicht bewusst, sie antwortete, als hätte Pet in Wahrheit Deutsch gesprochen: „Aber wieso?”

„Kommst du denn nicht selber drauf?”, fragte er auf Valuremisch.

Sie runzelte die Stirn und da traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Sie japste nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen und suchte unwillkürlich eine Sitzgelegenheit, um sich schwer darauf nieder zu lassen.

Pet nickte und sagte auf Valuremisch: „Während ich gestern übersetzte, baute ich, ohne es zu wollen, immer mehr Originallaute mit ein, bis ich am Ende gar nicht mehr übersetzte, sondern... einfach nur vortrug, was ich aus dem Buch aufnahm. Als es mir bewusst wurde, traf es mich so hart wie soeben dich selber.”

„Ich - ich kann diese Geheimsprache, obwohl ich sie niemals gelernt habe!”, keuchte Jule und griff sich an die Kehle, als wollte sie sich würgen.

„Genau! Verstehst du jetzt meine Reaktion? Ich konnte einfach nicht mehr. Ich war so erschrocken...”

„Dann ist alles tatsächlich wahr! Sonst würde ich diese Sprache nicht genauso verstehen wie du.”

„Aber kannst du sie auch... lesen?”

„Was meinst du?”

„Nimm das Buch, schlage es auf!”

Zögernd griff sie danach. „Die Zeichen auf dem Deckel, die erkenne - und verstehe ich!”

„Ja, aber die sind ja auch für normale Augen sichtbar. Und was ist mit den Zeichen, die allen normalen Augen verborgen bleiben?”

Sie schlug das Buch auf und schaute hinein. Ein paar bange Sekunden verstrichen, in denen Pet noch nicht einmal zu atmen wagte. Dann schüttelte sie den Kopf: „Die Seiten sind für mich leer!”

Er setzte sich neben sie und nahm ihr das Buch ab. „Dann habe ich es richtig verstanden: Ich bin dazu ausersehen, die Verbindung nach Dunkelerde zu schaffen, aber du bist dazu bestimmt, den Kontakt mit der Wirklichkeit zu halten. Du bist sozusagen unsere Rückversicherung. Ohne dich würde ich mich verlieren und nicht mehr zurückkehren können.”

„Zurückkehren? Aber dafür müsstest du doch erst mal dorthin, oder?”

Er wich ihrem fragenden Blick aus. „Womöglich?”

„Was heißt das denn nun schon wieder: Sollst du mit diesem Buch Dunkelerde besuchen oder nicht? Aber ist Dunkelerde denn nicht... tot?”

„Das war sie - vor der Katastrophe.”

„Was ist das für eine Katastrophe überhaupt? Was ist passiert?”

„Eins nach dem anderen!”, versprach Pet und schaute wieder auf die für Jule nach wie leeren Seiten. Er begann laut zu lesen, ohne es diesmal übersetzen zu müssen:

„Ich beschreibe dir die erste entscheidende Versuchsanordnung, mein Auserwählter. Du brauchst die Versuchsanordnung an sich nicht selber vorzunehmen. Es genügt, wenn du meinen Worten und somit meinen Gedanken folgst. Die Kräfte werden erweckt - in dir. Es sind meine Kräfte, die durch den Gleichklang unserer Gedanken durch dich zu wirken beginnen. Benutze dafür Gold. Eine Münze beispielsweise...”

Suchend schaute Pet in der Bücherkiste umher. Dann griff er zu. Als er die Hand heraus zog und vor Jules Gesicht öffnete, lag darin ein funkelndes Goldstück, wie frisch geputzt.

„Dabei habe ich es vorher noch nicht einmal bemerkt!”, ächzte Pet. „Ich fand es erst jetzt, da im Buch darauf hingewiesen wird.”

„Und was sollst du damit tun?”

„Ich halte das Goldstück in meiner Hand. Es bildet einen Schatten in Dunkelerde, wie jedwedes Ding auf Erden, wie sogar die Erde selber...”, intonierte Pet monoton auf Valuremisch. „Der Schatten ist tot und unsichtbar, aber ich belebe ihn und hole ihn herüber nach Hellerde...”

Jule stierte auf das Goldstück in Pets Hand, aber nichts geschah, zumindest nichts, was sie hätte sehen können. Es folgten noch eine ganze Reihe von Beschwörungsworten - sogenannte Schaltwörter, wie die Alchimisten sie kannten -, aber das Goldstück zeigte keinerlei Veränderung, geschweige denn, dass wie aus dem Nichts ein zweites Goldstück auftauchte, wie erwünscht.

Bis es Pet endlich wieder aufgab. Er schloss die Hand mit dem Goldstück, zögerte kurz und warf dann das Goldstück in die Kiste zurück.

Ein wenig ärgerlich las er weiter: „Wir taten es erst nur, um zu experimentieren. Aber es blieb nicht bei wenigen Versuchen. Wir nahmen Gold und belebten seinen Schatten, um den belebten Schatten in das Hier und Jetzt zu rufen, das wir die Wirklichkeit auf Erden nennen. Es war gleich zu setzen mit einer Verdoppelung des Goldes! Damit nicht genug: Sobald das Gold in der Wirklichkeit war, begann es, selber Schatten zu werfen - nach Dunkelerde. Man konnte den Vorgang wiederholen, mehrmals, bis es endlich keinen belebbaren Schatten mehr gab und das Gold somit vollends in die Wirklichkeit eingegangen war.

Du weißt, Auserwählter, was das für unsere Geheimorganisation bedeutete: Nicht nur Macht, sondern auch unendlichen Reichtum! Wir konnten jeden Gegenstand verdoppeln, der uralte Traum eines jeden Alchimisten wurde Wirklichkeit. Wir hatten endlich gefunden, wonach wir immer gesucht hatten. Bislang vergeblich, aber nun dafür um so erfolgreicher! Doch wir konnten nicht nur totes Material verdoppeln, indem wir seinen Schatten belebten und in die Wirklichkeit herüber holten. Genauso gelang es uns auch mit lebenden Dingen. Sowohl Pflanzen, auf die sich unsere Experimente zunächst beschränkten, als auch Tiere, was wir als fortgeschrittene Experimente bezeichneten... Und Menschen!

Ja, du liest richtig: Wir suchten und fanden Freiwillige. Das heißt, ganz so freiwillig taten sie es nicht. Es waren Menschen, die in tiefstem Elend zu leben gezwungen waren, falls man diesen Zustand überhaupt noch als Leben bezeichnen konnte. Wir brauchten sie nur zu fragen - und sie sahen endlich einen winzigen Hoffnungsschimmer, ihr Dasein sinnvoller oder zumindest angenehmer zu machen. Kein Wunder, dass sie begeistert einwilligten.

Bis zum ersten tatsächlichen Ergebnis: Ein Mensch wurde verdoppelt. Als er sich selber sah, sein Ebenbild, seinen belebten Schatten, erfasste ihn das nackte Grauen. Wir hatten Mühe, ihn zu beruhigen. Bis wir den nächsten Schatten von ihm belebten - und den übernächsten. Damit war unsere Macht vorläufig erschöpft.

Das Original verließ die Experimentierrunde, die weltweit von jenen Alchimisten auf magische Weise unterstützt wurde, die nicht persönlich anwesend sein konnten. Doch kaum hatte er die Runde verlassen, als er in seinem Wahnsinn Selbstmord beging. Seine Doppelgänger, die belebten Schatten, jedoch... lebten weiter, auch ohne ihn. Und wir experimentierten mit ihnen, ohne um den Toten zu trauern.

Ich kann nur zu unser aller Entschuldigung sagen: Die Faszination des Entdeckten und die Gier nach immer mehr Erkenntnis war übermächtig in uns und ließen uns jede Vorsicht und vor allem sämtliche ethischen Bedenken außer Acht lassen. Dass dies später zu unser aller Verhängnis werden würde, ahnte ich nicht allein, sondern jeder mit seherischen Fähigkeiten. Aber wir waren zu schwach, um diesen bösen Ahnungen den gebührenden Vorrang zu geben. Ganz im Gegenteil: Begeistert machten wir weiter! Dabei fanden wir heraus, dass nach dem Tode des Originals ein weiterer Schatten geboren werden konnte, um belebt zum nächsten Doppelgänger zu werden. Und dieser konnte sich sogar an den Tod erinnern!

Es erschreckte uns maßlos, weshalb wir diese Art von Experiment vorerst einstellten. Nur vorerst! Bis dann die erste Panne passierte.

Ja, ich nenne es Panne, obwohl es mehr war - viel mehr! Denn die ersten Goldstücke, die wir verdoppelt hatten - verschwanden auf einmal! Es blieb nicht dabei: Nach und nach verschwand alles dorthin, wo es her gekommen war, nämlich nach Dunkelerde! Am Ende auch die Doppelgänger. Sie verschwanden einer nach dem anderen. Sie wurden wieder zu Schatten, aber da es kein Original mehr gab, denn dieses war ja tot, vergingen sie sogar als Schatten. Es blieb nichts von  ihnen... Das hieß, doch, eines blieb: Der Schatten des Toten - und der war nicht wiederbelebbar! Er blieb tot und konnte somit auch nicht mehr in die Wirklichkeit zurück gerufen werden.

Es herrschte große Unruhe in unserer weltumspannenden Organisation. Diese drohte darüber sogar auseinander zu brechen.

Ich erzähle dir das nicht, um unser weiteres Tun zu rechtfertigen, sondern es soll eine sachliche und nüchterne Schilderung sein, schonungslos und ohne meine eigene Rolle in diesem grausigen Spiel ruhmreicher zu machen, als sie war. Ich erwähnte es schon: Ich war der Führer nach Dunkelerde! Denn darin gipfelten all unsere Gedanken: Wir wollten die toten Schatten von jedwedem Ding auf Erden, ja, den Schatten der Erde selber... beleben!

Wir, die Alchimisten mit seherischen Fähigkeiten, sahen deutlich die beiden Möglichkeiten, die sich uns damit eröffneten: Entweder endlich die Macht, die wir erst kurz zuvor bereits in Händen zu halten geglaubt hatten - oder unser aller Untergang! Die Macht, die wir uns damit eröffnen konnten, war klar umrissen: Dunkelerde würde ein unerschöpfliches Reservoir für uns werden. Wir würden die Schatten beleben und damit eine zweite Erde schaffen. Gemeinsam, im Verbund, würden wir alles herüber zwingen, was wir wünschten - und dabei die Kontrolle darüber behalten! Jeder von uns konnte aus den belebten Schatten von Dunkelerde seine eigene Armee schaffen, um auf Erden seinen Bereich zu unterwerfen. Wir würden die Erde beherrschen, kompromisslos, ausnahmslos. Natürlich zum Wohle aller, wie wir uns erfolgreich einredeten, um nur ja nicht an die möglichen negativen Auswirkungen denken zu müssen.

Ich war derjenige unter den Sehern, der als am begabtesten galt. Mit ein Grund, mich zum Meister der weltumspannenden Seance werden zu lassen. Meine Vorahnung wurde überdeutlich: Die Katastrophe würde kommen! Sie war viel wahrscheinlicher als alles andere, was wir uns auszumalen versuchten. Doch ich redete mir ein, niemanden überzeugen zu können von dieser Wahrheit. Du weißt es zu deiner Zeit ganz sicher, dass wir gescheitert sind in unseren Versuchen, die Macht auf Erden zu erlangen. Wir haben eine Katastrophe erzeugt und diese Katastrophe hat den Namen... Dunkelerde! Du weißt es und hast auch den Beweis: Denn es ist nicht mehr möglich, durch das Beleben eines Schattens in Dunkelerde einen Gegenstand wie ein Goldstück zu verdoppeln. Es gelingt deshalb nicht mehr, weil durch die Katastrophe Dunkelerde komplett wiederbelebt worden ist, aber uns vollkommen die Kontrolle über diesen Vorgang entglitt.

Während du diese Worte liest und meine Gedanken dadurch denkst, haben wir uns längst in der alles entscheidenden Seance selber nach Dunkelerde verbannt, die nun zur existierenden und belebten zweiten Erde geworden ist. Jetzt gibt es keine direkte Verbindung mehr zwischen Erde und Dunkelerde, obwohl beider Schicksal nach wie vor eng miteinander verwoben bleibt. Es wirft kein Ding jedweder Art mehr seinen Schatten in Dunkelerde, weil einst die existenten Schatten von uns belebt wurden. Dunkelerde hat sich selbständig gemacht. Und deshalb schuf ich dieses Buch - und bestimmte einen meiner Nachfahren als den Auserwählten, weil meine Vorahnung mir sagt, dass ich selber nicht mehr regulierend eingreifen kann, denn ich werde nicht mehr länger... existieren!”

Pet ließ das Buch sinken und murmelte vor sich hin: „Die Aufgabe!”

„Ich - ich sehe sie noch immer nicht, Pet, tut mir leid”, gab Jule tonlos zu.

Er suchte ihren Blick. „Die Aufgabe ist es, eine bevorstehende Störung zu verhindern, die unser aller Schicksal besiegeln könnte, die also auch Auswirkungen auf unsere Welt hat!”

„Welche Störung denn?”

„Wir werden es erfahren. Das Buch wird es uns zeigen.”

„Wie kannst du denn so sicher sein?”

„Ich spüre es ganz einfach. Die Worte des Erz-Alchimisten und oberstem Meister der Alchimisten-Bewegung Harald Magnus wurden zu meinen eigenen Worten und somit wurden seine Gedanken zu meinen eigenen Gedanken.”

Sein Blick senkte sich in das Buch, tiefer als vorher. Seine Augen weiteten sich.

Unwillkürlich schaute auch Jule genauer hin - und da sah sie auf einmal etwas. Es waren keine Schriftzeichen auf Valuremisch, sondern es war ein grauer Schleier, der sich allmählich lichtete und die Konturen einer mittelalterlichen Stadt frei gab. Nein, keine Stadt, sondern eher eine Anhäufung von mittelalterlichen...

Ruinen.

„Schi-Scho-Lah!”, murmelte Pet im Beschwörungstonfall und Jule wusste gleichzeitig, dass es der Name dieser verfallenen Stadt war. Und dann nahm eine bestimmte Szene sie in ihren Bann, genauso wie Pet...

 

*

 

Ein hochgewachsener Mann in dunkler Kutte, deren Kapuze tief ins Gesicht gezogen war, ging durch die verfallenden Straßen des nächtlichen Schi-Scho-Lahs.

Die Ruinenstadt stellte heute nur einen Abklatsch früherer Größe dar. War sie einst die zweite Hauptstadt des Reiches der Seekönige gewesen, so wurde sie jetzt von dem sagenumwobenen Bettlerkönig beherrscht, der seine Anhänger in alle Welt aussandte. Einst, zur Zeit des Reiches der scho-lahnischen Seekönige, war Schi-Scho-Lah eine Weltstadt gewesen. Jetzt rochen ihre zerbröckelnden Mauern nach Moder und eine Aura des Verfalls hatte sich dieses Ortes bemächtigt. Schi-Scho-Lah bot dem Gesindel der gesamten Hemisphäre Unterschlupf. Piraten und Ausgestoßene trafen sich hier, Sonderlinge, Propheten verschrobener Kulte und Gelehrte, deren Lehren andernorts als Ketzerei galten.

Wie ein Schatten wirkte der Kuttenmann.

Das Licht des fahlen Mondes drang nicht in das Dunkel, das seine Kapuze erfüllte.

Von seinem Gesicht war nichts zu sehen.

Eiligen Schrittes und fast lautlos ging er durch die engen, finsteren Gassen.

Lärm, Musik und zänkisches Stimmengewirr drang aus den vereinzelten Schänken.

Hier und da wurde eine Tür oder ein Fenster geöffnet und für kurze Augenblicke drang etwas Licht in die Finsternis der Straßen Schi-Scho-Lahs.

Die Schritte des Kuttenträgers waren schnell und zielstrebig. Er schien sehr genau zu wissen, wo sein Ziel lag.

Die sich nähernden kehligen Stimmen einiger Männer ließen ihn aufhorchen, als er in eine weitere Gasse bog.

Drei lärmende Männer kamen ihm entgegen, die offenbar schon einiges getrunken hatten. Seeleute irgendeines Piratenschiffs.

Der Kuttenträger verbarg sich im Schatten einer Türnische und ließ die drei vorbeiziehen. Sie waren zu betrunken, um ihn zu bemerken.

Dann setzte er seinen Weg fort.

Vor der hölzernen Tür eines zweigeschossigen Hauses blieb er stehen. Er benutzte den Schlagring, um anzuklopfen.

Zunächst erfolgte keinerlei Reaktion. Erst nach dem zweiten Versuch öffnete ein alter, gebeugter Mann mit wirren weißen Haaren und einem dünnen Bart.

„Wer seid Ihr?”, fragte der Alte.

„Einer, der mit dem Gelehrten Konscholl-Veris zu sprechen wünscht!”, war die Antwort des Kuttenträgers. Er sprach leise und mit tiefer, etwas rauer Stimme. Es klang beinahe wie ein düsteres Flüstern. Er sprach zwar das Valuremisch, das aus der einstigen Geheimsprache der Alchimisten hervor gegangen war, aber mit einem eigentümlichen Akzent, der keinen Zweifel daran ließ, dass er aus einem anderen Teil Dunkelerdes stammen musste.

Der Alte runzelte die Stirn.

„Ich bin Konscholl-Veris”, erklärte er.

„So lass mich eintreten. Ich habe mit Euch über eine Schriftrolle zu reden, die sich gegenwärtig in Eurem Besitz befindet, Konscholl-Veris.”

„Ich weiß nicht, wovon Ihr redet!”, erwiderte der Gelehrte.

Eigentlich widerstrebte es ihm ganz offensichtlich, diesen Fremden hereinzulassen.

Aber der Kuttenmann setzte einfach einen Fuß nach vorn. Zwei Schritte und er stand in dem spärlich beleuchteten Haus. Kerzenlicht flackerte in der Zugluft. Mit dem Absatz gab der Kuttenträger der Tür einen Stoß, sodass sie ins Schloss fiel.

Konscholl-Veris wich zurück.

Der Kuttenträger schob den Riegel vor die Tür.

„Es ist viel Gesindel in der Stadt”, erklärte er dazu.

„Jetzt sagt mir, was Ihr wollt, Fremder!”, forderte Konscholl-Veris unmissverständlich.

Aber ein angstvolles Zittern schwang in seiner Stimme mit. Sie hatte einen leicht vibrierenden Klang, drohte sich zu überschlagen. Der Gelehrte schluckte.

Der Kuttenträger legte seine Kapuze zurück. Das hagere Gesicht eines grauhaarigen, bärtigen Mannes wurde sichtbar. Der Teint war dunkel. Und der Blick der dunklen, beinahe schwarzen Augen hatte eine geradezu hypnotische Intensität, die Konscholl-Veris unwillkürlich erschauern ließ.

Nie zuvor war ihm ein vergleichbarer Blick begegnet.

„Verzeiht meine Unhöflichkeit”, sagte der Kuttenträger schließlich nach einer längeren Pause des Schweigens. „Mein Name ist Barasch-Dorm. Und genau wie Ihr habe ich Jahre meines Lebens dem Studium der Alchimie, der Magie und der alten Schriften gewidmet.”

„Ich habe Euren Namen noch nie zuvor gehört”, meinte Konscholl-Veris stirnrunzelnd.

Ein dünnes Lächeln spielte um Barasch-Dorms Lippen.

„Das ist gut möglich”, sagte er und hob dabei die Schultern. „Ich bin hier, um mit Euch über eine Schrift zu sprechen, die über verschlungene Pfade in Euren Besitz gelangt ist...”

„Oh, das gilt gewiss für viele Schriften, die ich in meiner Privatbibliothek im Laufe vieler Jahrzehnte gesammelt habe!”, erwiderte Konscholl-Veris.

„Ich spreche von der Rolle der geheimen Worte...”

Konscholl-Veris schluckte. Er öffnete halb den Mund, so als wollte er etwas erwidern. Aber kein einziges Wort kam über seine Lippen.

„Ich bin nicht im Besitz dieser Rolle!”, behauptete er schließlich und wich noch ein paar Schritte weiter vor dem Fremden, der sich Barasch-Dorm genannt hatte, zurück.

Dessen Stimme bekam jetzt einen bedrohlichen Unterton.

„Jahre schon jage ich dieser Schrift hinterher, habe jede Station ihres Aufenthalts verfolgt, bin ihr über Meere und Kontinente nachgereist. Ich verfolgte ihren Weg über Schanni-Schann und Karusch-Hamman, über das Meer der fünf Winde nach Valurema. So traf ich einen Händler von zweifelhaftem Ruf, der sich mitunter wohl auch als Pirat versucht, wenn die Geschäfte schlecht gehen. Ein schmalgesichtiger Parschadrim namens Anscha-dasch-Por. Ich bin überzeugt davon, dass Ihr Euch an seinen Namen erinnern werdet!”

„Nein! Ich habe diesen Mann nie getroffen!”

Barasch-Dorm lächelte zynisch. „Ich glaube kaum, dass dieser Anscha-dasch-Por mich angelogen hat. Mir stehen nämlich sehr wirkungsvolle Methoden zur Verfügung, um die Wahrheit aus jemandem herauszuholen. Wenn Ihr versteht, was ich meine...?”

Konscholl-Veris versuchte, sich vor dem Kuttenträger in Sicherheit zu bringen. Aber sein Körper war von einem Augenblick zum nächsten wie gelähmt. Er vermochte sich nicht mehr zu bewegen. Alles, was er noch vermochte, war, seine Augäpfel zu drehen und zu sprechen.

Barasch-Dorm trat nahe an den Gelehrten heran.

Konscholl-Veris starrte den Fremden entsetzt an. Für einige Augenblicke waren Barasch-Dorms Augen vollkommen schwarz. Nicht ein bisschen Weiß war noch zu sehen. Diese Erscheinung verschwand allerdings schon nach einigen Momenten. „Ich verfüge über Kräfte, von denen selbst ein Mann wie Ihr keinen Begriff haben dürfte. Und jetzt zeige mir die Schriftrolle, die ich suche...”

„Nein...”, krächzte der Gelehrte.

Dann begann er plötzlich zu röcheln, so, als ob er keine Luft mehr bekam. Sein Gesicht verfärbte sich, wurde dunkelrot.

„Nicht... nein...”, keuchte er.

Noch einmal wurden die Augen des Kuttenträgers für einen kurzen Moment vollkommen schwarz. Barasch-Dorms Gesicht verwandelte sich dabei in eine hasserfüllte, verzerrte Maske.

Konscholl-Veris schrie auf.

Dann entließ Barasch-Dorm den Gelehrten aus dem Griff seiner magischen Kräfte.

Konscholl-Veris rang nach Luft, keuchte. Er hielt sich an der Wand fest.

„Ihr müsst ein Hexer sein, der sich der schwarzen Magie bedient - oder gar einer der verdammten Alt-Alchimisten! Dabei dachte ich, sie wären für immer vergangen!”, brachte er dann hervor. „Anders kann ich mir das nicht erklären...”

„Es ist mir gleichgültig, was Ihr darüber denkt, Konscholl-Veris. Mich interessiert nur die Schriftrolle. Und Ihr werdet sie mir geben.”

Konscholl-Veris nickte. Er sah wohl ein, dass er keine Möglichkeit hatte, sich gegen das Ansinnen dieses Mannes zu wehren.

„Folgt mir, Barasch-Dorm.”

Während Konscholl-Veris das sagte, rieb er sich den Hals.

Er führte den Kuttenträger in einen anderen, von Kerzenlicht erfüllten Raum. Der flackernde Schein ließ Schatten an den Wänden tanzen. Überall lagen alte Folianten und Schriftrollen herum.

„Wie ich sehe, habe ich Euch bei Euren Studien gestört, Meister Konscholl-Veris...”

Der Gelehrte holte einen zylindrischen Behälter hervor und reichte ihn Barasch-Dorm. „Die Rolle, die Sie suchen, befindet sich darin!”, behauptete er.

Barasch-Dorm öffnete den Behälter, holte vorsichtig die enthaltene Rolle hervor. Den Behälter ließ er zu Boden fallen. Dann entrollte er vorsichtig das Schriftstück.

Jahrelang bin ich diesem Schatz hinterher gejagt!, ging es ihm durch den Kopf. Ein Magier und Alchimist aus dem untergegangenen ersten Reich der Alt-Alchimisten, geschaffen, nachdem sich die Alchimisten durch das Beleben von Dunkelerde selber hierher verbannt hatten. Nein, nicht irgendeiner der Alt-Alchimisten, sondern der wichtigste überhaupt, der Barosch Alchimisch Dunkel: Harald Magnus! ER  hatte persönlich die 'Rolle der geheimen Worte' verfasst. Kaum sonst einer wusste zu welchem Zweck, außer Barasch-Dorm, dem wohl derzeit mächtigsten und kundigsten Alchimisten und Magier von ganz Dunkelerde. Wenn er nicht sogar der einzige war, der um die Bedeutung dieser Rolle wusste...

Eine schier unvorstellbare Irrfahrt hatte dieses Dokument anschließend hinter sich gebracht. Aber jetzt gehört es mir!, dachte Barasch-Dorm. Das letzte Stück, das mir in dem großen Mosaik noch gefehlt hat...

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Barasch-Dorm eine Bewegung.

Konscholl-Veris schnellte auf ihn zu. In seiner Rechten blitzte ein Dolch.

Der Gelehrte holte zum Stoß aus.  

Mitten in der Bewegung hielt er inne. Seine Hand mit der Klinge zitterte. Wie von einer unsichtbaren Kraft abgelenkt, fuhr ihm der Dolch dann selbst in die Brust. Röchelnd sank er zu Boden.

Für Sekunden waren Barasch-Dorms Augen wieder vollkommen schwarz geworden.

Er blickte zu den am Boden liegenden Gelehrten hinab.

Wie es scheint, habe ich ihn unterschätzt!, überlegte er. Konscholl-Veris kannte offenbar ebenfalls die immense Bedeutung dieser Schriftrolle...

„Schoschnasch Tschumanscha Grofanscha...”, murmelte der Mann in der Kutte. Formelhafte Worte in der Geheimsprache der Alt-Alchimisten, aus der später die Sprache in vereinfachter Form, das heutige  Valuremisch nämlich, hervor gegangen war - die Sprache, die seitdem Dunkelerde beherrschte. Trotzdem hätte niemand, der Valuremisch sprach, die Worte verstanden, weil es sich um sogenannte Schaltwörter handelte. All dieses Wissen war für fast alle Menschen von Dunkelerde genauso verloren gegangen wie das Wissen um ihre Herkunft - als Schatten. Bis auf zumindest eine Ausnahme: Der Kuttenträger!

 

*

 

Pet und seine Freundin Jule schrien im Duett - so laut und so lang, bis ihr eigenes Geschrei sie endlich in die Wirklichkeit zurück holte.

In die Wirklichkeit?

„Das - das war doch soeben... ein Mord oder was?”

„War es!”, bestätigte Pet genauso entsetzt.

„Ich  - ich habe so etwas oft genug im Fernsehen gesehen und im Kino... Aber das war diesmal anders, ganz anders...”

„Es war die Wirklichkeit. Die ist immer anders als in der Fantasie!”, versuchte Pet, abgeklärter zu wirken. Es misslang kläglich. Jule sah ihn an und bemerkte, dass er an Armen und Beinen zitterte, immer noch unter dem Eindruck des gemeinsam miterlebten Verbrechens. Dabei waren sie nicht einfach nur stumme Beobachter gewesen, wie die Zuschauer bei einem Film, sondern sie hatten die Gedanken des Kuttenträgers mitbekommen, zumindest die wichtigsten. Sogar die Angst des Sterbenden war zu ihrer eigenen Angst geworden.

„Wie so ein FANTASY oder wie die Dinger heißen! Herr der Ringe halt oder so...”, meinte Jule kopfschüttelnd.

„Schlimmer als das, viel schlimmer: Die Wirklichkeit eben! Wir wissen nun, dass es diese zweite Wirklichkeit tatsächlich gibt. Wir haben sie gesehen und erlebt.”

„Dunkelerde!” Nur sehr schwer kam dieses Wort über die Lippen von Jule. „Wie das schon klingt... Und sie hat sich verändert seitdem, wie ich glaube. Allerdings arg zu ihrem Nachteil. Darf man das so sagen? Innerhalb von nur ein paar Jahrhunderten?”

„Nein, es sind inzwischen auf Dunkelerde Jahrtausende vergangen. Die Zeit läuft dort anders ab als hier. Nennen wir unsere Wirklichkeit mal die erste Wirklichkeit. Dann ist das, was auf Dunkelerde passiert, die zweite Wirklichkeit. Einst war alles parallel, gleichzeitig. Die Gedanken der Menschen blieben in der ersten Wirklichkeit, die zweite war tot - so tot, wie Schatten nur sein können. Die Katastrophe besteht darin, dass die Alt-Alchimisten diese zweite Wirklichkeit schufen, indem sie Dunkelerde mit ihrer Macht belebten. Aber dabei hat es sie hinüber gerissen. Mit anderen Worten: Sie wurden selber Bestandteile von Dunkelerde.”

„Steht das denn auch in diesem Buch drin?”

„Nein, kann es nicht, denn dieses Buch hat der alte Magnus geschaffen, bevor er Meister der alles entscheidenden Seance wurde. Also konnte er das Buch nicht ergänzen, weil es ihn danach nicht mehr gab hier auf Erden. Aber er hat seine Gedanken eingefangen in diesem Buch - bis zum Schluss. In dem Moment, wo sie abreißen, öffnet sich das Tor.”

„Das Tor?”, rief Jule alarmiert.

„Ja, ich nenne es so.”

„Hast du das denn schon gelesen?”

„Nein, natürlich nicht! Ich würde doch damit das Tor öffnen und nach Dunkelerde geraten. Würde ich das ohne dich tun, wäre ich genauso verloren wie alle Alt-Alchimisten, die es damals wagten.”

„Glaubst du wirklich, du könntest mit dem Buch dieselbe Macht erzeugen?”

„Nein, das hast du jetzt falsch verstanden, Jule: Ich kann mit diesem Buch nur ein kleines Tor öffnen, für mich selber, um hinüber zu gelangen, denn das ist meine Bestimmung.”

„Und ich bleibe hier zurück und halte die Verbindung?”

„Genauso hat der alte Magnus das vorgesehen. Deshalb ist es so enorm wichtig, dass dem Auserwählten, wie er es nennt, die Auserwählte zur Seite steht. Sie ruft ihn zurück, wenn es sich als nötig erweist. Ohne sie ist er verloren.”

„Aber was muss ich dabei tun?”

„Du wirst es rechtzeitig wissen - genauso wie ich selber Dinge weiß, dich ich weder gelesen noch sonstwie erfahren habe. Sie sind einfach da. Nenne es den Rest von Macht des alten Harald Magnus. Sie beseelt das Buch und zwingt uns in eine Rolle, die wir beide nicht wollen. Niemand kann uns dagegen beistehen, wirklich niemand. Auch unsere Eltern nicht. Ich glaube, sie sind deshalb so schweigsam, weil sie sich schrecklich Sorgen um uns machen.”

„Das kann ich gut nachvollziehen, denn ich mache mir mindestens genauso große Sorgen um uns beide!”, erklärte Jule grimmig.

„Aber wenn wir uns vor unserer Pflicht drücken könnten, wäre niemandem geholfen. Wir würden ebenfalls untergehen, wenn die Katastrophe endgültig wird.”

„Wie könnte sie das denn - letztlich? Nach Tausenden von Jahren, wie du es nennst? Bist du der erste Auserwählte seitdem? Aber wieso?”

„Es muss mit diesem Barasch-Dorm zusammenhängen.”

„Ist er wirklich einer der Alt-Alchimisten - der einzige Überlebende auf Dunkelerde gar?”

„Ich weiß es nicht.”

„Wieso sollte er auch als einziger die Jahrtausende überlebt haben? Was wurde aus Harald Magnus, was aus den anderen Alchimisten? Wie viele waren das eigentlich damals?”

„Keine Ahnung. Die genaue Zahl wurde niemals erwähnt. Vielleicht waren es hundert, weltweit verteilt? Vielleicht mehr - sogar viel mehr? Aber es spielt letztlich keine Rolle.”

„Und ob das eine Rolle spielt, Pet. Überlege doch! Wieso sind sie auf Dunkelerde untergegangen?”

„Nun, ich nehme an, dass ihre Macht zwar groß war, aber irgendwie dennoch begrenzt. Sonst hätten sie es vielleicht geschafft, zur Erde zurückzukehren.”

„Haben sie es denn versucht?”, fragte Jule.

Pet schaute sie überrascht an. „Das wäre eine Erklärung!”

„Wofür?”

„Na, für ihr Verschwinden auch auf Dunkelerde! Was denn, wenn sie es irgendwann mit vereinten Kräften noch einmal probiert haben und dabei.. sich selber und endgültig vernichteten?”

„Du hast Recht, ja, das könnte eine Erklärung sein. Aber dann gehörte Barasch-Dorm nicht wirklich zu ihnen.”

„Sicher nicht!”

„Aber was ist er... dann? Wieso haben wir ihn gesehen?”

„Er gehört zur Aufgabe - irgendwie halt. Dessen bin ich mir sicher. Er hat diese Schriftrolle gesucht und gefunden. Eine Art Schlüsselszene, die wir gewissermaßen live miterlebt haben, ohne dass er es bemerkte. Die Schriftrolle stammt von Harald Magnus. Er schuf sie auf Dunkelerde.”

„Vielleicht die Ergänzung zum Buch hier?”

„Das könnte sein, Jule. Aber wir können es nicht erfahren, indem wir uns zurückhalten, sondern wir müssen...”

„Du willst noch einmal sehen, was dieser Barasch-Dorm inzwischen anstellt? Vielleicht bringt er gerade mal wieder jemanden um oder was?” Sie schüttelte sich angewidert.

„Ein gemeiner Mörder.” Pet nickte. „Mehr noch als das: Er ist ganz offensichtlich die Schlüsselfigur. Sonst hätte das Buch uns nicht zu dieser Szene geführt. Ich fürchte, wir werden uns mit dem Kuttenträger noch näher beschäftigen müssen.”

„Du willst das Ritual lesen, die Beschreibung der Seance, um das Tor zu öffnen - zu diesem Barasch-Dorm? Das ist doch verrückt, Pet. Er wird dich genauso killen wie diesen armen Alten, dem er die Schriftrolle weg nahm.”

„Bleibt mir denn eine Wahl?”

„Vielleicht doch?”, hoffte Jule.

Pet betrachtete nachdenklich das Buch, das er fallen gelassen hatte. Es war in der Kiste gelandet und lag dort, als sei nichts geschehen.

„Ich spüre, dass es noch zu früh ist.”

„Was heißt das im Klartext?”

„Wir werden uns morgen darum kümmern.”

„Aber dann wird womöglich auf Dunkelerde mehr Zeit als nur ein Tag vergangen sein!”, gab Jule zu bedenken.

„Nicht nur womöglich, sondern mit absoluter Sicherheit. Aber vertrau mir einfach: Ich habe es tatsächlich im Gefühl. Wenn wir jetzt noch einmal hinüber schauen würden, über die Barriere nach Dunkelerde, wäre das der falsche Zeitpunkt. Wir müssen Geduld üben. Nicht wir geben hier den Ton und das Tempo an - vor allem spielen unsere persönlichen Hoffnungen und Wünsche keinerlei Rolle mehr - sondern das Buch beziehungsweise die darin eingefangenen machtvollen Gedanken von Harald Magnus, dem einzig wahren Borosch Alchimisch Dunkel!”

„Ich erlaube mir eine Gänsehaut, wenn du gestattest!”

Pet musste lachen. Aber es war längst nicht mehr das fröhliche Lachen, das man sonst von ihm kannte. Wie denn auch...?

 

*

 

Kurz vor Schulbeginn standen Kralle, Ferdie, Susi und Bennie zusammen. Pet sah sie und ging gleich zu ihnen hinüber.

„Hört mal”, begann er anstelle einer Begrüßung, „es tut mir echt leid wegen gestern.”

Nur Susi, Kralle und Bennie fühlten sich angesprochen. Ferdie schaute indessen ein wenig einfältig drein, weil er nicht begriff, um was es ging. „Es ist nur, weil Jule und ich ein wenig Stress haben.”

„Und das so knapp vor den Ferien?”, überlegte Ferdie laut. „Sieht nicht gut aus. Habt wohl Angst vor zuviel Zeit miteinander?”

Es hatte ein Scherz sein sollen, einer, wie man ihn von Ferdie gewöhnt war. Er ärgerte sich schon lange nicht mehr darüber, dass niemand über seine Scherze lachte. Obwohl er jedesmal beifallheischend sich umschaute. Wenn niemand reagierte, vergaß er es einfach wieder.

Diesmal war es ein wenig anders. Pet legte ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter. „Du bist ein feiner Kerl, Ferdie, weißt du das überhaupt? Ich meine, du hast jetzt versucht, die Situation zu entspannen, mit einem Scherz. Dass die nicht lachen, liegt nicht an dir, glaube mir, sondern es liegt einfach an der Situation.” Er wandte sich an die anderen. „Wieso müsst ihr Trübsal blasen, wenn Jule und ich ein wenig Stress miteinander haben?”

„Trübsal blasen, wir? Sieht es denn so aus?”, fragte Kralle prompt. „Äh, ganz im Gegenteil, will ich mal sagen.”

„Müsste ja nicht sein, euer Stress miteinander, meine ich!”, bemerkte Susi ein wenig schnippisch und stieß Kralle mit dem Ellenbogen an.

Der grinste so breit, dass man wieder seine Zahnlücke sehen konnte.

„Genau! Also, ich für meinen Teil...”

Pet winkte mit beiden Händen ab. „Ich weiß, ich weiß, du hättest mit Jule keinerlei Stress, aber die vielleicht umso mehr mit dir?”

„Allein schon wegen der Zahnlücke. So etwas muss nun wirklich nicht mehr sein, heutzutage. Bist du einfach nur zu dämlich, zum Zahnarzt zu gehen, oder zu feige?” Susi hatte das gesagt.

„Also du jetzt!”, brauste Kralle auf. „Ausgerechnet von dir muss ich mir das anhören. Ich dachte die ganze Zeit, du wärst auf meiner Seite.”

„Bin ich doch auch, Kralle. Merkst du das denn nicht?”

„Nee, das hast du ganz schön versteckt.”

„Na, ich meine es gut mit dir. Du willst doch schließlich gefallen, oder?”

„Na, dir bestimmt nicht!”

„Sag mal, schnallst du es nicht oder was?”

„Aufhören!”, mischte sich Pet ein. „Also, bevor ihr beide euch um Beute streitet, die es gar nicht gibt: Jule und ich haben zwar ein wenig Stress miteinander, aber das soll absolut gar nichts heißen!”

„Ganz genau!” Das war die Stimme von Jule, die hinzu trat. Sie lachte fröhlich. Ein Kunststück, um das Pet sie zutiefst beneidete. Ach, wie gern hätte er den Freunden reinen Wein eingeschenkt, aber das war völlig undenkbar. Sie hätten kein Wort geglaubt von alledem und wenn er ehrlich war: Er an ihrer Stelle auch nicht! Nein, da mussten sie ganz allein durch, Jule und er.

Und hoffen, dass wir es überleben!, fügte er halbwegs resignierend hinzu. Aber dann gab er sich innerlich einen Ruck und zeigte es äußerlich, indem er sich kerzengerade aufrichtete.

„Oh, Jule, ich dachte schon, du würdest dich verspäten.”

„Nö, gerade noch rechtzeitig, nicht wahr?” Sie umarmte und herzte ihren Freund. „Hast mich wohl schon arg vermisst, was?”

Susi und Kralle schauten sich betreten an. Dann schauten sie auf das liebende Pärchen. mit dem anscheinend alles wieder in bester Ordnung war. Die Enttäuschung in ihren Gesichtern war so klar zu sehen, dass Bennie und Ferdie laut zu lachen anfingen. Dabei hieben sie sich gegenseitig auf die Schultern. Das war allerdings für Bennie nicht so besonders vorteilhaft. Nach dem Heiterkeitsausbruch hatte er nämlich das Gefühl, irgendwie sei da was gebrochen. Immer wieder drehte er heimlich den Arm im Schultergelenk, um sich davon zu überzeugen, dass das auch wirklich noch richtig funktionierte.

Ferdie wurde es gar nicht bewusst. Er grinste noch, als er den Unterrichtsraum betrat. Nach der schmerzlichen Miene von Bennie hatte er sich nicht einmal mehr umgedreht, als der sich von ihm getrennt hatte, um seinen eigenen Unterrichtssaal zu betreten.

Pet indessen setzte sich auf seinen Platz und fragte sich im Stillen, wie er den Schultag überhaupt überstehen sollte. Wann begannen die Ferien? Ach ja, morgen war der letzte Tag. Oder erst übermorgen?

Verflixt, dachte er bestürzt, ich kriege das einfach nicht mehr auf die Reihe. Ist ja auch kein Wunder.

Er hörte seinen Namen rufen, wie aus weiter Ferne. Wie von Dunkelerde? Nein, schlimmer: Der Lehrer! Wie war noch die Frage gewesen? Ja, wie sollte Pet das überhaupt überleben bis zum Mittag?

Und dann geht es ab nach Dunkelerde. Das weiß ich ganz sicher. Wenn ich Pech habe... für immer. Oder bin ich bis heute Abend schon... tot?

Verflixt, jetzt hatte er die Wiederholung der Frage auch noch verpasst. Das konnte ja alles nur noch heiter werden...

 

*

 

Der Mittag kam weit schneller, als es Pet eigentlich lieb sein konnte. Es wurde ihm mit einem Schlag bewusst, dass die heutige Serie von höchstpersönlichen Pleiten im Unterricht absolut gar nichts war gegenüber dem, was er jetzt noch vor sich sah. Wenn es ihn nicht so sehr getrieben hätte, wäre er nach Schulschluss lieber in die entgegengesetzte Richtung geeilt und vorläufig nicht nach Hause zurückgekehrt, um die Konfrontation mit dem, was auf dem Speicher auf ihn lauerte. möglichst lange vor sich her zu schieben. Doch es gab keinen Ausweg. Die fremde Macht, die ihn antrieb, war nicht zu besänftigen. Es war die Vererbung von Harald Magnus, dem er mehr verdankte, als nur seinen Namen. Er hatte seine Fähigkeiten geerbt. Sie waren von Generation zu Generation weiter gereicht worden, bis zum heutigen Tag.

Wäre Dunkelerde nicht entstanden, überlegte Pet auf dem Nachhauseweg, würde es die Alchimisten heute noch geben. Ich wäre einer von ihnen. Es hätte sich eine ganz andere Welt entwickelt. Vielleicht völlig ohne Autos, Flugzeugen, Handys und so. Aber sie wäre möglicherweise nicht besser als die Welt, die er kannte. Vielleicht wäre sie sogar so wie Dunkelerde geraten?

Niemand vermochte das zu sagen, am allerwenigsten er selber. Aber es interessierte ihn zur Zeit auch nicht mehr. Seine Gedanken fokussierten sich ganz ohne sein Zutun mehr und mehr auf die bevorstehende Aufgabe.

Wenn ich nur wüsste, wie diese Aufgabe überhaupt lautet!, klagte er im Stillen.

Er war allein auf dem Nachhauseweg, seit er sich von Jule getrennt hatte. Sie hatten nur ein paar Schritte gemeinsamen Weg und sie hatte auch heute erst mal nach Hause gehen wollen. Kein Wunder, denn ihre Eltern waren genauso krank vor Sorge wie die Eltern von Pet. Allzu gern hätten sie ihren Kindern geholfen, in irgendeiner Weise, aber es gab nicht die geringsten Möglichkeiten für sie. Allerdings hätten sie ihren Kindern in anderer Weise beistehen können. Sie hätten sie vielleicht zu trösten versuchen sollen, aber sie kamen nicht einmal auf die Idee vor lauter eigenen Sorgen. Pet hätte es seinen Eltern sagen können, aber das traute er sich nicht. Er sah doch selber, dass sie mehr noch des Trostes bedurften als Jule und er.

Irgendwie wundere ich mich, dass ich nicht vor Angst sterbe!, überlegte Pet. Ist es, weil die Kräfte von Harald Magnus in mir schlummern, obwohl sie in dieser modernen Welt überhaupt keine Chance haben, etwas wie magische Macht zu entfalten, weil damals so gut wie alle Magie aufgebraucht worden ist zur Schaffung von Dunkelerde - für immer?

Nein, es war nur das Buch, die Resonanz jener Macht, die darin gebunden war und nur auf Jule und ihn wirkte - und auch das nur im Zusammenhang mit Dunkelerde. Das Buch war Zwang und Stütze zugleich. Sonst wäre Pet wirklich eher vor Angst gestorben, denn allzu mutig war er sein Lebtag noch nicht gewesen.

Endlich kam er zu Hause an: So sah es ein Teil von ihm. Der andere Teil dachte sich: Viel zu früh! Vielleicht hätte ich noch ein paar Minuten gebraucht, ganz los gelöst von alledem?

Nein, er hatte wirklich keine Wahl, auch wenn er es sich noch so sehr wünschte.

Seine Eltern empfingen ihn diesmal in der Küche.

„Ich weiß, dass es heute zur Entscheidung kommt”, sagte sein Vater und wagte es nicht, seinem Sohn dabei in die Augen zu schauen, als würde er sich schämen ob seiner eigenen Ohnmacht.

„Ich habe dir was Feines zu Essen gemacht, Pet. Du wirst alle Kräfte brauchen.”

„Ich habe keinen Appetit”, gestand Pet. „Wie denn auch?”

„Iss lieber, Pet!”, riet ihm der Vater. „Wer weiß, wann du wieder was Richtiges zwischen die Zähne bekommst.”

„Du weißt, dass ich heute nach Dunkelerde gehen werde?”

„Ja, Pet!”

„Aber ich will das gar nicht. Ich will nur gemeinsam mit Jule einen Blick hinüber werfen, mehr nicht. Das haben wir gestern schon getan.”

„Ich - ich habe es gespürt - und deine Mutter auch.”

„Und die Eltern von Jule?”

„Ebenfalls!”, bekannte sein Vater. „Ach, wir schämen uns so sehr, dass wir euch in keiner Weise helfen können.”

„Das brauchst du nicht!”, sagte Pet warmherzig und klopfte seinem Vater beruhigend auf die Schulter.

Es ist völlig absurd!, sagte er sich dabei: Sieht ja so aus, als würde ich jetzt ihn trösten, anstatt er mich!

Aber wenn er seinen Vater anschaute, wusste er, dass er es umgekehrt von ihm nicht erwarten konnte. Seine Eltern hatten beide keinerlei Kraft mehr. Sie sahen aus, als könnten sie jederzeit vor Sorge sterben.

Bin ich nur dumm oder ist es wirklich die Macht des Buches, dass ich mich nicht genauso sehr fürchte?, fragte sich Pet unwillkürlich.

Zu weiteren Überlegungen kam er nicht mehr, denn es klingelte.

Jule und ihre Eltern!, vermutete Pet und seine Vermutung war richtig. Sie kamen gemeinsam herein. Jule wirkte... fröhlich! Aber es war nur Fassade, was allerdings nur Pet klar wurde.

Ich beneide sie!, gestand er sich ein. Wie schafft sie das überhaupt, so stark zu erscheinen? Ein wirklich tolles Mädchen. Und ich dagegen...?

Er brach an dieser Stelle den Gedankengang lieber ab und eilte seiner Freundin entgegen. Sie fielen sich in die Arme und hielten sich gegenseitig fest. Nur ganz kurz, aber das tat unendlich gut.

Als sie sich wieder voneinander trennten, spürte Pet regelrecht Schwindelgefühle und von da an war er ganz sicher, dass es keineswegs die Macht des Buches war, die ihn tapferer machte als er gemeinhin gewesen wäre, sondern es war... Jule! Sie gab ihm Kraft, genauso wie er umgekehrt ihr Kraft gab. Sie gehörten zusammen, nicht nur in diesem Abenteuer, das sie sich in keiner Weise selber ausgesucht hatten, sondern überhaupt. Nur gemeinsam konnten sie das alles überstehen. Sogar die Schule unter dem Eindruck von Dunkelerde. Ansonsten hätte er sich zumindest von seinem Vater eine Entschuldigung für die Schule schreiben lassen. Der hätte das mit Sicherheit bedenkenlos getan - angesichts der Situation. Aber nein, dann hätte er hier stundenlang Trübsal geblasen - bis zum frühen Nachmittag, wenn die richtige zeit gekommen war. Pet wollte stattdessen durchhalten, genauso wie Jule. Niemand sollte wissen, was war - noch nicht einmal ahnen. Das waren sie sich gegenseitig schuldig - und sie ermöglichten es sich gegenseitig, das zu schaffen: mit ihrer gemeinsamen Liebe!

„Wir müssen uns beeilen”, sagte Pet in die entstehende Stille hinein, die sich sehr unangenehm auf ihrer aller Gemüt zu legen begann. „Ich spüre, dass die Zeit reif ist.”

„Zu was ist die Zeit reif?”, fragte Jule.

„Es ist nur ein Gefühl, Ich weiß nichts Konkretes”, wich Pet aus und nahm sie bei der Hand.

Leichtfüßig wie völlig unbeschwerte Teenager liefen sie zur Treppenleiter. Doch sie waren dabei alles andere als unbeschwert.

Beide Eltern schauten ihnen nach. Die Frauen hatten dicke Tränen in den Augen, die Männer schafften noch das Kunststück, ihre eigenen Tränen zu unterdrücken. Sie sahen aus, als hätten sie ihre Kinder soeben das letzte Mal lebend gesehen.

Dabei ahnten sie nicht einmal, dass ihre Kinder ähnliche Befürchtungen hatten, es sich nur nicht anmerken ließen. Pet ging sogar noch einen Schritt weiter: Gab es denn Schlimmeres noch als den Tod? Nun, vielleicht würde er es bald schon am eigenen Leib erfahren - sehr bald sogar?

Mit solchen negativen Gedanken beladen, folgte er seiner Jule hinauf auf den Dachboden.

Inzwischen war auch sie ungewöhnlich ernst. Sie gingen zur offenen Truhe und setzten sich davor.

„Jetzt!”, sagte Pet und nahm das Buch aus der Truhe. „Wochen sind vergangen!”

„Wochen?”

„Spürst du es nicht selber, Jule?”

Sie nickte unwillkürlich. „Ja, seltsam, ich spüre es ebenfalls! Für uns verging nur ein Tag, aber für Dunkelerde waren es Wochen. Aber die Zeit ist nicht immer in der gleichen Weise unterschiedlich. Selten passiert es, dass ein Tag auf Hellerde der selbe Tag ist wie auf Dunkelerde. Und dann geht alles so schnell wie diesmal...”

Pet betrachtete sie, während sie redete und als sie endete, nickte er ihr zu. „Siehst du, dass wir beide die Richtigen sind?”

„Zumindest sind wir die sogenannten Auserwählten!”, schränkte Jule ein. „Ob wir dafür aber auch wirklich die Richtigen sind, das wird sich wohl noch erweisen müssen.”

Allzu optimistisch klang das zwar nicht, aber Pet ließ sich dadurch nicht beirren. Er schlug das Buch auf und blätterte darin. Erst blieb er schweigsam. Dann sagte er: „Wir schauen hinüber. Lass mich die Worte sprechen. Es sind die Schaltworte der Sicht über die Barriere. Ich sehe... einen Mann, einen wilden Seefahrer.”

„Er ist das, was aus dem Schatten von einst entstand!”, sagte Jule monoton. „Und aus dem lebenden Schatten wurde der nächste. Wenn der eine stirbt, entsteht ein anderer, von der gleichen Art. Schatten, die leben, fühlen, denken, hoffen und sehnen. Ich weiß es, du weißt es, wir wissen es - und wir schauen...”

Also wirkte das Buch jetzt fast in gleicher Weise auf sie wie auf Pet.

Gern hätte Pet nach ihr geschaut, aber die rituellen Worte nahmen ihn gefangen. Sie kamen wie von allein über seine Lippen, die Worte des alten Harald Magnus. Die Worte wurden zu seinen eigenen Gedanken  und öffneten eine Art Sichtfenster nach „drüben”, nach Dunkelerde. Es war so ähnlich wie gestern, beim ersten Mal. Noch öffnete sich nicht das Tor. Dazu waren die Schaltworte nötig, die danach folgten. Pet wusste das, obwohl er sie natürlich noch nicht einmal betrachtet, geschweige denn gelesen hatte. Er hoffte inbrünstig, dass er nicht gegen seinen Willen einfach weiter sprach und über die erste Folge von Schaltworten die zweite und alles entscheidende Folge aufsagte. Das Tor würde sich dadurch öffnen und er würde dorthin geraten, wohin er gemeinsam mit Jule gerade noch geschaut hatte...

 

*

 

„Bei Kalreschs Streitaxt!”, entfuhr es Koschna-Perdoschna Wolfsauge. „Ein valuremisches Handelsschiff! Darauf habe ich gewartet!” Der große, hellhaarige Kapitän und Schiffseigner stand am Bug des Darscha-Dosch Langschiffs SEEWOLF. Die Gischt spritzte hoch empor, das Segel wurde von dem kräftigen Wind gebläht, der über die Meeresstraße zwischen den Küsten Scho-Lahns und Valuremas wehte.

Die SEEWOLF war vierzig Meter lang, acht Meter breit und mit etwa zweihundert Kriegern bemannt. Am Bug befand sich der charakteristische Drachenkopf, der die Darscha-Dosch-Schiffe als Schrecken der Meere kennzeichnete.

„Es wurde Zeit, dass wir endlich auf Beute stoßen”, murmelte Kulesch Einauge, ein mächtiger Mann mit grauem Bart, der jetzt neben Koschna-Perdoschna getreten war. „Die Männer wurden schon unruhig.”

Koschnas Hand schloss sich um den Griff des Breitschwertes, das er an der Seite trug.

„Ich hoffe nur, dass dieser valuremische Segler die Mühe auch lohnt und wertvolle Fracht an Bord hat.”

Kulesch Einauge lachte rau.

„Wie die Barkasse eines Stadtfürsten sieht diese Nussschale nicht gerade aus, Koschna!”

Die Männer stimmten ein wildes Kriegsgeheul an.

Die SEEWOLF fuhr seitlich auf den valuremischen Segler zu, näherte sich ihm von der dem Wind zugewandten Seite. Das war Taktik. Irgendwann würde das Quadratsegel, das von dem Gaffel der SEEWOLF hing, dem valuremischen Handelssegler im wahrsten Sinne des Wortes den Wind aus den Segeln nehmen.

Das Handelsschiff war ohnehin viel schwerfälliger, was die Manövrierfähigkeit anging.

Unter den Valuremiern brach offensichtlich Panik aus. Hektische Aktivität war zu beobachten. Die wirren Schreie drangen durch das Tosen der Gischt bis zu den Darscha-Doschn an Bord der SEEWOLF hinüber und stachelte die Freibeuter nur noch mehr an.

„Mehr Steuerbord!”, rief Koschna in Richtung von Solamisch-Darrschon, dem ersten Steuermann des Drachenschiffs. „Diese fette Beute soll uns nicht entkommen.”

Bogenschützen gingen in Stellung und schossen ihre Pfeile in Richtung des Handelsseglers. Manche der Pfeilspitzen schnitten in die Segel hinein, andere bohrten sich in die Körper der valuremischen Seeleute.

Erste Todesschreie gellten über das Meer.

Einige Valuremier versuchten ebenfalls mit dem Bogen zurückzuschießen. Pfeile sirrten durch die Luft. Aber kaum einer erreichte auch die SEEWOLF. Hastig und schlecht gezielt glitten die meisten von ihnen ins Wasser.

Dann war die SEEWOLF bis auf wenige Meter an das Handelsschiff herangekommen.

Einer der Darscha-Dosch schleuderte eine Wurfaxt über die Reling des Handelsschiffs und traf einen der Valuremier mitten in der Stirn.

Die Segel des valuremischen Schiffes hingen schlaff vom Mast. Enterhaken wurden hinüber geworfen, hakten sich fest.

An dicken Tauen zogen die Krieger aus dem Norden von Dunkelerde den valuremischen Segler näher an ihr eigenes Schiff heran.

Gleichzeitig wurden die Segel der SEEWOLF los gelassen, so dass das Drachenschiff innerhalb weniger Augenblicke fast vollkommen die Fahrt verlor.

Die SEEWOLF legte sich jetzt längsseits des valuremischen Seglers.

Ein Pfeil durchdrang die Brust eines Darscha-Doschs. Getroffen kippte er über die Reling der SEEWOLF hinein in die Fluten.

Doch der valuremische Schütze kam nicht mehr dazu, einen zweiten Pfeil einzulegen, denn Proschta Schädelspalter hatte seine Wurfaxt herausgerissen und mit einer wuchtigen Bewegung in Richtung des Gegners geschleudert.

Mitten in die Stirn wurde der valuremische Bogenschütze getroffen. Nicht einmal mehr für einen Schrei blieb ihm noch Zeit.

Für die darscha-doschen Seefahrer gab es jetzt kein Halten mehr. Koschna-Perdoschna, der Kapitän der SEEWOLF, kletterte als einer der Ersten an Bord des valuremischen Seglers.

Dicht hinter ihm Schauron Axtmann, der eine gewaltige Streitaxt schwang, um damit Tod und Verderben unter den valuremischen Seeleuten zu säen.

Etwas zischte durch die Luft.

Koschna duckte sich im letzten Moment. Eine scharfe, blitzende valuremische Klinge schnellte dicht über ihn hinweg.

Den nächsten Hieb parierte Koschna mit seinem eigenen Schwert. Metall schlug klirrend auf Metall.

Der Valuremier holte erneut aus, aber ehe er seinen Schlag wirklich anbringen konnte, hatte Koschna-Perdoschna Wolfsauge ihm den Kopf vom Rumpf getrennt.

Überall auf dem Schiff war jetzt Waffengeklirr zu hören. Es mischte sich mit den Schreien der Sterbenden und den barbarischen Kriegsrufen der Darscha-Dosch.

Der Übermacht der geballten Kampfkraft der Darscha-Dosch hatten die valuremischen Seeleute auf Dauer nichts entgegen zu setzen.

Die Verteidiger waren zum Untergang verurteilt. Einer nach dem anderen sank blutüberströmt auf die Planken oder in die salzige See.

Schauron Axtmann ließ seine gewaltige, fast schon monströs wirkende Streitaxt kreisen.

Proschta Schädelspalter hieb mit einem einzigen Schwertstreich seinen Gegner in der Mitte durch.

Koschna drang indessen ins Innere des Schiffes vor. Er stieg eine schmale Treppe hinab, die unter Deck führte.

Ein Mann in einem dunkelroten, tunikaartigen Gewand stürmte ihm entgegen.

Sein dunkles Haar kräuselte sich etwas und zeigte Ansatz zur Lockenbildung. Die eine Hand umklammerte ein langes, schlankes Schwert, die andere einen Wurfspeer. Das Gesicht dieses Mannes war zu einer Maske der Wut verzerrt.

Er schleuderte seinen Speer. Koschna wich zur Seite. Nur eine Handbreit neben ihm fuhr der Speer entlang und zerschmetterte eine der Sprossen jener Holztreppe, über die Koschna soeben hinabgestiegen war.

Mit der Wucht derselben Bewegung stürzte der Valuremier nun vorwärts, ließ dabei das Schwert kreisen. Seine Hiebe folgten rasch aufeinander.

Koschna vermochte sie nur mit Mühe zu parieren. Er wich aus, taumelte zu Boden.

Der Valuremier war über ihm, fasste das Schwert mit beiden Händen, um Koschna-Perdoschna Wolfsauge den Todesstoß zu versetzen, als sich ein Pfeil in die Brust des Valuremiers bohrte.

Mit einem verständnislosen Ausdruck in den Augen sank er zu Boden.

Koschna kam wieder auf die Füße. Er atmete tief durch, blickte dann hinauf zu jener Luke, durch die er hinab gestiegen war.

Dort sah er das breite, bärtige Gesicht von Schusska Bogenschütze.

„Das war knapp, Kapitän”, sagte Schusska. Er stieg jetzt ebenfalls hinab, übertrat dabei die von dem Speerwurf zerstörte Sprosse.

Oben, an Deck, war der Kampflärm inzwischen abgeebbt. Die Schreie der Sterbenden verstummten.

Koschna legte Schusska eine Hand auf die Schulter.

„Du hast etwas gut bei mir, Schusska.”

Schusska Bogenschütze lachte dröhnend.

„Ich denke, auf dieser Fahrt werden sich noch genügend Gelegenheiten ergeben, bei denen du dich revanchieren kannst, Kapitän.”

„Da magst du wohl Recht haben”, nickte Koschna.

Schusska ließ kritisch den Blick umher schweifen.

Einige Kisten und Fässer standen in diesem Raum herum und waren durch Taue gut befestigt, damit sie während der Fahrt bei hohem Seegang nicht in Bewegung gerieten.

Schusska zog sein Schwert, hieb eines der Taue durch und kantete eine der zugenagelten Kisten auf.

Er verzog angewidert den Mund.

„Eingelegtes Salzfleisch, pah und Stockfisch.”

„Hast du Kisten voller Gold erwartet?”, fragte Koschna.

Schusska grinste.

„Jedenfalls wäre mir das lieber als dieser Fraß hier.”

Eine hochauf geschossene Gestalt schälte sich aus dem Halbdunkel des Laderaums heraus.

Die Gestalt trug einen kuttenartigen Kapuzenmantel. Unwillkürlich fasste Koschna den Schwertgriff fester und auch durch die Gestalt von Schusska Bogenschütze ging ein Ruck. Seine Rechte ließ das Schwert fallen. Mit einer behänden, sehr schnellen Bewegung zog er einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn in den Bogen ein.

„Ich warne euch”, sagte die Gestalt mit dunkler Stimme. „Wenn ihr mich tötet, so werdet ihr es bereuen.”

Der Unbekannte hatte Valuremisch gesprochen, die Hauptsprache von Dunkelerde, die Koschna-Perdoschna einigermaßen beherrschte, obwohl sein Heimatdialekt ein wenig anders klang.

Gut zehn Sommer war es jetzt schon her, dass Koschna auf dem Handelsschiff seines Onkels Kartusch-Ommarschson angeheuert hatte und zum Steuermann ausgebildet worden war.

Kartusch-Ommarschsons Fahrten hatten oft in die Städte Valuremas geführt und in jener Zeit hatte Koschna-Perdoschna gelernt, wie man ein Schiff führte und wie man es dabei anstellte, dass man die Elemente zu Freunden hatte.

All dies kam dem Kapitän, da er mit eigenem Schiff und auf eigene Rechnung auf Raubfahrt ging, sehr zu gute.

Ebenso die Kenntnisse über die valuremischen Städte und Handelsplätze, die er damals erworben hatte. Denn auch geraubtes Gut wollte irgendwo und irgendwann wieder in klingende Münze verwandelt werden, wobei es Koschna-Perdoschna Wolfsauge ziemlich einerlei war, welcher Herrscher diese Münzen jeweils geprägt hatte.

Der Unbekannte legte jetzt seine Kapuze zurück. Sein grauhaariger Kopf kam zum Vorschein.

Der noch beinahe schwarze Bart unterstrich die harten Konturen seiner Züge. Die dunklen, fast schwarzen Augen schienen eine beinahe hypnotische Kraft zu haben, der man sich schwer entziehen konnte.

Mit einem stechenden Blick musterte der Bärtige die beiden Darscha-Dosch.

„Ich bin der Kartenleser dieses Schiffes und mein Wissen könnte euch von großem Nutzen sein.”

Die Augen des Unbekannten verengten sich plötzlich, wurden zu schmalen Schlitzen. Sein Gesicht bekam einen äußerst angespannten Ausdruck.

Schusska Bogenschütze schrie unvermittelt auf, riss den Bogen empor, als würde er aus dem Unsichtbaren heraus angegriffen werden. Der Pfeil schoss in die Decke, blieb in dem dunklen Holz stecken und zitterte dabei, während der Bogenschütze rückwärts zu Boden ging und der Bogen aus seinen Händen glitt.

Schusskas Augen waren schreckgeweitet.

Koschna stand wie erstarrt da, musterte kurz den Bogenschützen.  Auf was hatte der geschossen? Es war doch gar nichts zu sehen! Oder nur... für ihn? Nie zuvor hatte er bei Schusska so etwas erlebt...

Koschna nahm das Schwert mit beiden Händen.

„Bei den einfältigen Göttern Valuremas, wer bist du?”, fragte er den Fremden.

Das Lächeln, das jetzt auf dessen Gesicht erschien, triefte nur so vor Verachtung und Zynismus.

„Immerhin beherrschst du die Hochsprache der Zivilisation gut genug, um in ihr fluchen zu können”, stellte er fest. „Das kann nicht jeder Barbar von sich behaupten.”

Vollkommen unerschrocken trat der Mann einen Schritt nach vorn.

„Mein Name ist Barasch-Dorm”, erklärte er.

„Das ist wohl kein valuremischer Name”, stellte Koschna fest. Es war nur so ein Gefühl, keine Überzeugung. „Und selbst ich, der ich ja nur ein Barbar bin, höre den Akzent, mit dem du sprichst.”

„Du hast Recht. Ich bin kein Valuremier.”

Schusska Bogenschütze, der immer noch unter dem Eindruck des Monsters stand, das aus dem Nichts aufgetaucht war - wenn auch nur für ihn! -, um genauso wieder nach dem Schuss unsichtbar zu werden, streckte die Hand aus. Er schluckte dabei.

„Dieser Mann ist von einem Dämon besessen”, stieß er hervor. „Er hat Kräfte, die sich nicht mit den Gesetzen der Natur in Einklang bringen lassen. Irgendeine Art von Magie scheint er anzuwenden.”

Schusska erhob sich. Er wollte nach dem Bogen greifen, aber Koschna schüttelte den Kopf.

„Bevor wir ihn erschlagen, lassen wir ihn doch noch erzählen”, forderte der Kapitän.

Koschna war sich nicht sicher, ob sein Gegenüber auch Doschska, mehr ein sich im Laufe der vielen Jahrhunderten selbständig entwickelter Dialekt als eine eigene Sprache, verstand.

„Du hast gesagt, du seist Kartenleser”, wandte er sich dann in der valuremischen Hauptsprache an Barasch-Dorm.

„Das ist richtig”, nickte dieser.

„Wohin wart ihr unterwegs?”

„Die Reise dieses Schiffes sollte nach Kreitska führen. Es ging darum, einen Schatz von kaum vorstellbarem Wert zu bergen.”

„In Kreitska?”, höhnte Koschna. „Nach allem, was ich über dieses Land gehört habe, besteht es aus Wüsten, Sand und Ruinen, die hin und wieder vom Wind freigelegt werden.”

„Du bist vielleicht nicht ganz so weltläufig wie du glaubst, Barbar. Im Übrigen habt ihr alle erschlagen, die mit mir diesen Schatz zu bergen hofften. Ich schlage daher vor, dass wir uns zusammen tun. Ich brauche ein Schiff und eine Mannschaft und nach allem, was ich über die Darscha-Dosch weiß, sind sie für die Aussicht auf Reichtum durchaus bereit, jedes nur erdenkliche Risiko einzugehen.”

„Gut”, sagte Koschna. „Wir nehmen dich mit, als unseren Gefangenen.”

Barasch-Dorm lachte laut auf.

„Du kannst das nennen wie du willst, Barbar, aber im Endeffekt werden wir beide Partner sein, gleichberechtigte Partner. Denn ohne mein Wissen wirst du diesen Schatz nie erringen können. Dir wird nichts anderes übrig bleiben, als mit mir zusammen zu arbeiten. Mal davon abgesehen, dass es nicht so leicht ist, mich zu erschlagen. Das haben schon ganz andere versucht.”

Er streckte die Hand aus. Der Bogen, den  zuvor Schusska fallen gelassen hatte, schwebte jetzt empor, direkt in die Hand des Bogenschützen. Barasch-Dorm murmelte dabei etwas vor sich hin, das in den Ohren der beiden Männer wie sinnlos aneinander gereihte Silben klang.

Plötzlich machte er eine völlig unerwartete Kehrtwendung und griff hinter sich in das Halbdunkel des Lagerraums. Er zerrte - und dann taumelte ein junger Mann, beinahe noch wie ein Kind aussehend, aufstöhnend an ihm vorbei, strauchelte und fiel zu Boden. Er war höchst seltsam gekleidet, wie die Barbaren es noch nie gesehen hatten. Und er war nicht allein, denn hinter ihm stolperte ein junges Mädchen drein, das versuchte, ihn festzuhalten, aber gegen die Gewalt des Magiers genauso wenig ankam wie der Junge.

„Was ist denn das?”, wunderte sich Koschna.

„Diesmal keine Monster jedenfalls!”, stellte sein Schusska Bogenschütze fest und hob die garantiert tödliche Waffe, klar zum Schuss, um seinem Namen alle Ehre zu geben...

 

*

 

Jule hatte alles genau beobachtet, gemeinsam mit Pet, während dieser immer wieder die Schaltwörter murmelte. Es hörte sich an wie ein monotoner Singsang. Eigentlich grausige Laute, aber Jule verstand sie inzwischen genauso gut wie Pet, obwohl sie diese Sprache niemals gelernt hatte. In ihr waren auch Informationen erwacht, die sie in sich noch nicht einmal vermutet hätte. Als hätte sie dies alles von ihren Eltern geerbt - und diese wiederum von ihren Eltern. Eine lange Ahnenreihe, die zurück ging bis zu jenem italienischen Alchimisten, der mit Namen Nero einer der entscheidenden Mitglieder jener Seance zur Belebung von Dunkelerde gewesen war - und seitdem zu den Verschollenen gehörte. Mit Jule befand sich gewissermaßen immer noch ein Stückchen von ihm im Diesseits. Und mit Pet war auch ein Stück von Harald Magnus, dem Meister-Alchimisten, zurückgeblieben.

Nicht mehr lange!, dachte Jule flüchtig. Und sie dachte auch daran, dass sie hier bleiben musste, beobachtend, sondierend, um rechtzeitig eingreifen zu können - und somit auch schützend. Sie würde Pet zurückholen können von Dunkelerde, wenn es für diesen wirklich brenzlig wurde. Dafür wusste sie sogar schon die Schaltworte. Sie schlummerten in ihrem Gedächtnis, verfügungsbereit, gewissermaßen darauf lauernd, jederzeit eingesetzt werden zu können. Dabei wusste Jule gar nicht so recht zu sagen, ob sie die Schaltwörter aus dem geheimen Buch kannte oder ob sie über die Vererbung in ihr verankert worden waren - wie so mach anderes, was ihr bis gestern in keiner Weise bewusst geworden wäre. Ja, sie hätte noch nicht einmal im Entferntesten geahnt, dass es so etwas wie Dunkelerde, Schaltwörter und dergleichen überhaupt geben könnte. Sie hätte allein schon bei der Erwähnung eher schallend gelacht. Auch über den Alchimie-Fimmel ihres Freundes, wie sie es bislang nannte, hatte sie schließlich noch vor Tagen gelacht. Bis der Ärger darüber größer geworden war. Das Ergebnis kannte man ja...

Sie konzentrierte sich wieder auf das Geschehen. Es war furchtbar anzusehen: Der Überfall auf das Handelsschiff, die Schreie der Verletzten und Sterbenden. Das hatte absolut keine Faszination. Konnte man in einem Kinofilm noch eher unbeteiligt tun - vielleicht auch durch ähnliche Gewaltszenen längst abgestumpft -, war dies hier völlig anders: Es war keine gestellte Szenenfolge, sondern es war... grausame Wirklichkeit. Die da starben, taten nicht nur so, sondern sie starben wirklich.

Aber das war nur die eine Seite. Es gab auch eine andere Seite - und diese erfüllte Jule mit großem Erstaunen. Noch vor Minuten hätte sie eher angenommen, nichts mehr könnte in ihr überhaupt noch so etwas wie Erstaunen hervorrufen, nach alledem, was sie innerhalb von nur einem Tag alles hatte erfahren müssen - in seiner fantastischsten Art. Und doch war der Vorgang dermaßen verblüffend, dass ihr schier der Atem weg blieb.

Sie spürte, dass es Pet an ihrer Seite genauso erging. Er vergaß beinahe darüber, die rituellen Worte weiterhin zu murmeln, damit der Kontakt mit Dunkelerde nicht abriss:

Während die Unterlegenen starben, wurden sie wieder... zu Schatten, aus denen sie einst geboren worden waren! Ihre Schatten flatterten davon, unsichtbar für alle anderen, außer für Jule und Pet, irgendwohin ins Zwischenreich zwischen Schattenerde und Hellerde. Nicht für immer, denn sie wurden wiedergeboren, wurden wieder der selbe belebte Schatten, als Abbild einer Person, wie sie vor Jahrhunderten auf Erden tatsächlich gelebt hatte. Das absolut Besondere daran war jedoch - und das war es letztlich, was die beiden Beobachtenden am meisten in Erstaunen versetzte: Die zu neuem Leben erwachten Schatten wussten nichts mehr von ihrer Vorexistenz. Sie fingen gewissermaßen ganz von vorn wieder an, nämlich als frisch geborenes Baby, um nach vielen Jahren wieder derjenige zu werden, wie er einst auf Erden gelebt hatte und sich nun als wiederbelebter Schatten an Dunkelerde anpassen musste...

Es beschäftigte sie beide so sehr, dass sie nur relativ wenig von der Szene im Lagerraum mit bekamen. Sie wohnten unsichtbar der Szene bei, im Hintergrund des Lagers, als würden sie sich in das Halbdunkel hinter dem Magier ducken, obwohl sie doch gar nicht gegenständlich auf Dunkelerde waren.

Und da geschah es - für beide völlig überraschend: Der Magier bemerkte sie! War Pet bei seinen Beschwörungen nicht vorsichtig genug gewesen? Hatte er sich von seinen eigenen Gedanken zu sehr ablenken lassen und hatte daher Fehler begangen bei der Beschwörung? Er hätte später schwören mögen, dass er niemals die rituellen Worte zur Öffnung des Tores gesprochen hatte, sondern lediglich die Schaltwörter für das Sichtfenster nach Dunkelerde. Aber wie kam es dann, dass der Magier sie entdeckte und nach ihnen sogar greifen konnte?

Das hieß, eigentlich griff er nur nach Pet, nicht nach Jule. Seine Hände reichten nicht bis ins Diesseits. Das brauchten sie auch gar nicht, weil sich die beiden nicht mehr völlig im Diesseits befanden, sondern nur noch teilweise. Sonst hätten sie keine freie Sicht auf das Geschehen gehabt, wie es sich auf Dunkelerde abspielte. Der Magier packte mit Brachialgewalt nach Pet, dass dieser die Beschwörung abbrach und schmerzerfüllt aufschrie.

Jule wiederum packte ebenfalls nach Pet, um ihn zu retten, um ihn wieder den Händen des Magiers zu entreißen. Auch sie schrie, jedoch nicht vor Schmerz, sondern verzweifelt den Namen ihres geliebten Freundes: „Pet!”

Doch der Magier zerrte mit solcher Kraft an Pet, dass Jule einfach keine Chance hatte. Sie hatten letztlich beide keine Chance, vor allem, da der Überraschungsmoment zu hundert Prozent auf der Seite des mächtigen Magiers war.

Und so taumelten sie beide hinüber. Pet zuerst, zu Boden stürzend, sobald der Magier ihn wieder frei ließ und Jule hinterdrein, bis sie am Ende über ihn fiel, sich unwillkürlich krümmte, um nicht böse mit dem Kopf auf den roh gezimmerten Planken aufzuschlagen.

Sie blieb für Sekunden benommen liegen und bekam den Rest nur noch wie aus weiter Ferne mit:

Pet fing sich schneller: Er schaute den Bogenschützen an, sah die Spitze des tödlichen Pfeils, die ihn ihm nächsten Moment durchbohren würde und wusste gleichzeitig, dass er nicht die geringste Möglichkeit hatte, etwa auszuweichen. Der Pfeil würde auf jedenfalls schneller sein.

„Nein, halt!”, brüllte Koschna-Perdoschna auf einmal befehlsgewohnt und drückte die tödliche Pfeilspitze zur Seite.

Pet wollte aufatmen, weil ihm dieser Barbar damit offensichtlich das Leben rettete, aber da rief der Magier anklagend:

„Doch, tötet sie! Sie müssen sterben!”

Koschna schaute zu den beiden Jugendlichen und dann zu dem Magier.

„Aha?” So etwas wie ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, was bei seinem wilden, normalerweise hellem, aber vom Schmutz gelblich-braun gefärbten Bart kaum erkennbar war. „Was weckt in dir so sehr das Interesse, dass sie sterben sollen? Gehören sie denn nicht zu dir? Hast du sie nicht hier vor uns verstecken wollen?”

„Hätte ich sie dann hervor gezerrt?”, war die Gegenfrage des Magiers.

Koschna lächelte stärker. Er stieß seinen Bogenschützen mit dem Ellenbogen an. „Begreifst du das?”

„Nein!”, antwortete dieser wahrheitsgemäß. Es klang ein wenig dümmlich.

„Na, vielleicht erklärt es uns der große Barasch-Dorm?”

Pet wollte sich nicht mit der Frage beschäftigen, wieso er überhaupt hier war, obwohl er ganz sicher sein durfte, nicht das Tor geöffnet zu haben. Nein, jetzt noch nicht. Es galt nämlich zunächst, einfach nur die nächste Minute zu überleben - und in Koschna sah er eine winzige Chance:

„Er nennt sich Barasch. Das klingt so ähnlich wie Barosch, aber er ist alles andere als das!” Angewidert spuckte er aus. Es war kein echtes Spucken, sondern nur eine Geste, aber sie schien Koschna sehr zu gefallen.

„Tötet sie!”, forderte der Magier noch einmal hart.

Koschna lachte hässlich: „Warum tust du das nicht selber, großer Magier? Bist du noch nicht einmal in der Lage, gegen halbe Kinder zu bestehen? Brauchst du dazu Handlanger wie uns? Und vergiss den Befehlston. Der steht dir nicht zu. Noch immer nicht begriffen?”

„Wir haben eine Abmachung!”

„So, haben wir die? Beinhaltet diese auch das Töten unbewaffneter Kinder, weil es dir gerade mal so in den Kram passt? Wieso waren sie hier, gemeinsam mit dir offensichtlich? Und wieso hast du sie aus ihrem Versteck geholt, um sie von uns töten zu lassen? Ist das nicht ein Zeichen dafür, dass du selber ihnen... vielleicht sogar im gewissen Sinne unterlegen bist?”

„Interessant!”, kommentierte Schusska an seiner Seite. „Sehr interessant sogar. Da hätte ich ja beinahe einen schlimmen Fehler begangen...”

„Beinahe!”, bestätigte Koschna nickend.

„Verdammte Barbaren, warum wollt ihr denn nicht hören?”, keifte der Magier und ballte im Zorn die Hände zu Fäusten. In seinen Augen blitzte es gefährlich.

Pet indessen schüttelte verwirrt den Kopf. War die Rede von mehr als einem? War er denn nicht... allein...?

Aber nein! Erst jetzt kam ihm das so richtig zu Bewusstsein.

„Jule!”, rief er erschrocken und drehte sich nach ihr um. „Verdammt, Jule, bist du denn von Sinnen? Wieso - wieso... bist du HIER?”

„Ich - ich kann nichts dafür, ehrlich!”, murmelte sie kläglich und schlug schuldbewusst die Augen nieder.”

„Aber wie soll ich dann jemals...?”

Sie zuckte nur mit den Achseln und Pet schaute wieder nach Koschna.

Dem war das kurze Intermezzo nicht entgangen, aber er hatte die Worte nicht verstanden, denn Pet und Jule hatten Deutsch gesprochen.

Koschna runzelte mal wieder die Stirn. „Es waren Klänge, die ich nicht verstand, aber die mir... irgendwie bekannt vor kamen, als wären es Klänge der Ursprache aller Darscha-Dosch.”

„Dummkopf, das war Deutsch - eure frühere Sprache, bevor ihr angefangen habt, euren valuremischen Dialekt zu entwickeln!”, geiferte der Magier.

Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand.

Pet schaute mit schreckgeweiteten Augen darauf: War das nicht der Dolch, mit dem er den armen alten Mann in Schi-Scho-Lah gewissermaßen vor ihren Augen getötet hatte? Und jetzt wollte er damit...?

„Waren es magische Worte mithin?”, sinnierte Koschna laut. „Haben die beiden etwa magische Kräfte, vor denen sogar du dich fürchtest?”

„Kräfte, wie mir scheint, die dagegen uns nicht gefährlich werden wollen!”, vermutete Schusska an seiner Seite. Es klang eine Spur zu gehässig. „Kein Wunder, dass er die beiden lieber tot sehen will. Mit seiner Magie kann er nichts gegen sie ausrichten, aber er hofft auf die tödliche Wirkung unserer Waffen.”

„Na, immerhin waren sie hier bei ihm, wohl die ganze Zeit über. Sie haben sich vor uns versteckt.”

„Nicht nur vor uns”, vermutete Schusska. „Sieh, was sie anhaben. Hast du schon jemals solche Kleidung gesehen?”

„Nein, vor allem scheint sie mir recht unpraktisch zu sein. Offensichtlich sind die beiden keine Valuremen. Sie mögen sich vor diesen hier auf dem Schiff genauso versteckt haben wie vor uns.”

„Nur eines macht mich stutzig”, überlegte Schusska laut: „Wieso hat der Magier sie nicht von denen töten lassen, die vorher die Herren dieses Schiffes waren? Wieso müssen ausgerechnet wir diese Drecksarbeit jetzt für ihn erledigen?”

„Müssen wir das?”

„Nee!” Schusska grinste breit.

„Also gut!”, machte der Magier, „dann werde ich es selber erledigen. Seht her!”

Pet sah es längst kommen. Er sprang schreiend auf und ergriff die Flucht, aber der Dolch des bösen Magiers war schneller. Pet spürte einen schrecklichen Schmerz, der sich ihm in den Rücken bohrte. Es war ein Brennen, als wäre die Dolchklinge bis kurz vor dem Schmelzpunkt erhitzt. Sie drang in seinen Rücken ein, tief, viel zu tief, bis zum Herzen nämlich. War die Klinge denn wirklich so lang? Hatte sie nicht kürzer ausgesehen?

Das wie wild schlagende Herz wurde gestoppt. Jeder weitere Schlag wurde ihm untersagt von der glühenden Dolchspitze, die es durchbohrt hatte.

Über die Lippen von Pet kam nur noch ein ersterbendes Ächzen, während Jule laut seinen Namen schrie. Dabei lag in diesem einen Wort alle Verzweiflung, die sich ihrer bemächtigt hatte: „Pet!”

Wie durch ein Nebel hörte Pet es noch, während er das Schwinden sämtlicher Kräfte spürte. Eine bleierne Müdigkeit floss in seine Glieder und war auf einmal sogar höchst willkommen, versprach sie doch, den grausamen Schmerz zu löschen, wenn auch... für immer.

„Pet!” Jule warf sich auf den Niedergestürzten, aus dessen Rücken nur noch der Griff des Dolches ragte. „Pet!”

Brutal riss der Magier sie beiseite, um den Dolch aus Pets Rücken zu ziehen und sich gegen Jule zu wenden.

Sie floh entsetzt vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die groben Planken stieß, aus denen die Wand des Lagerraums bestand.

„Stopp!”, brüllte Koschna und war mit drei Sätzen heran. Er griff nach dem Magier und riss ihn herum.

Wütend ob der Behinderung schaute der Magier ihn an. Seine Augen wurden schwarz. Koschna spürte, wie eine unglaubliche Macht nach seinen Gedanken griff, um sie zu zerquetschen. Er wusste im gleichen Augenblick, dass mit all seinen Gedanken auch... sein Leben erlöschen würde.

Da bekam der Magier unerwartet einen kräftigen Schubs von dem Mädchen, was ihn völlig aus dem Konzept brachte. Koschna erholte sich prompt wieder von dem magischen Angriff, griff zu und entwand dem Magier mit einer geübten Handbewegung den Dolch. Mit einem Sprung brachte er sich in Sicherheit - vor allem vor den Augen des Magiers. Als würde so ein kleiner Abstand überhaupt was nützen.

Aber die Schwärze war aus den Augen des Magiers geschwunden. Fassungslos sahen die beiden Darscha-Dosch zu, wie Jule ihn mit wilden Schlägen von ihrem Freund weg drängte. Kurz wurden die Augen des Magiers doch wieder schwarz, aber es war offensichtlich, dass dies nicht den geringsten Eindruck machte auf das Mädchen.

Hätte Jule mehr Kraft besessen, hätte sie den Magier zu Boden geprügelt, vielleicht sogar bis zu dessen Bewusstlosigkeit. So aber konnte sie ihn nur bis zur Wand zurück drängen. So lange, bis die Kräfte sie verließen und sie schwer atmend einhalten musste.

Ein Stöhnen klang auf. Es kam ganz offensichtlich von Pet.

Aller Augen schauten zu ihm hin, nicht nur die von Jule und den Darscha-Dosch, sondern auch die des Magiers. Er schien über das Stöhnen genauso verblüfft zu sein wie die anderen.

War Pet nicht soeben gestorben - tödlich getroffen von dem Dolch?

Koschna schaute unwillkürlich auf das Mordinstrument in seiner Hand.

Kein Tropfen Blut mehr! Die Klinge war blitzeblank, als hätte sich  das Blut davon zurückgezogen, um in den Körper zurückzukehren, in den es gehörte - in den von Pet nämlich. Wie war das möglich? Er hatte doch selber gesehen, wie tief der Dolch in den Rücken des Jungen gedrungen war. Das konnte kein Mensch überleben.

Kein Mensch?

In Pet kam Bewegung. Stöhnend wälzte er sich auf den Rücken und betastete seine Brust. Er spürte dabei sein heftig pochendes Herz.

Sein Herz - pochend? War es denn nicht soeben erst stehengeblieben - für immer?

Die Sinne waren ihm geschwunden, doch nur kurz. Dann hatte ihn der Schmerz wieder geweckt. Doch es war ein Schmerz, der langsam abklang, bis nur noch ein winziger Rest übrig blieb.

Pet lauschte in sich hinein und stellte verblüfft fest, dass auch jener Rest verklang, als hätte es ihn niemals gegeben.

Er versuchte, sich aufzurichten und das gelang völlig mühelos.

Es schwindelte ihn ein wenig, so dass er sich an den Kopf fasste, aber ansonsten fühlte er sich wie nach einem kurzen, aber erholsamen Schlaf.

Er schaute nach Jule. „Gottlob hat er mich nicht richtig getroffen mit dem Dolch, dieser Mörder!”

„Nicht richtig getroffen?” Der Magier lachte. Es klang eine Spur zu hysterisch.

Seine Augen wurden mal wieder schwarz, aber er musste einsehen, dass all seine Macht wirkungslos war gegen die beiden halben Kinder. Nicht nur dafür hasste er sie:

„Ihr seid keine Schatten! Ihr seid nicht wie diese da!”, sagte er abfällig - nicht auf Valuremisch, sondern... auf Deutsch. Es war dies ein sehr altmodisches Deutsch, das die beiden Jugendlichen eigentlich nicht verstanden hätten, aber sie bekamen einen Teil der Gedanken mit, die jedes der Worte begleiteten. Dadurch hatten sie nicht die geringsten Probleme, sie zu verstehen. Aber nicht nur einen Teil der Gedanken konnten sie aufnehmen, sondern auch... Gefühle!

Es war seltsam und erschreckend zugleich für die beiden. Nicht nur, weil es völlig ungewohnt war für sie.

Der Magier sprach indessen weiter: „Ihr habt mich beobachtet. Ihr kommt... von Hellerde!”

„Woher willst du das wissen?”, konterte Jule.

„He, junge Dame, ein wenig mehr Respekt vor dem Alter!” Der Magier lachte gehässig.

„Vor einem... Mörder?”

„Wenn du deinen Freund meinst: Der lebt, wie du siehst.”

„Ja, das stimmt allerdings...!” Jule schaute ihren Pet an, mit einem forschenden Blick. In ihren Augen war nicht nur Sorge zu lesen, sondern auch... Verwunderung.

„Er hat mich nicht richtig getroffen!”, behauptete Pet lahm.

„Das habe ich sehr wohl!”, wandte der Magier ein. „Aber du bist ein Magier von Hellerde. Deshalb bist du immun gegen meine Magie - und nicht nur gegen diese! Bilde dir aber nur ja nichts darauf ein. Es bedeutet nicht, dass du etwas unsterblich bist. Dieser Schutz, den du deiner Magie verdankst, hat Grenzen - wie jedwede Magie übrigens.”

„Meine... Magie?”, echote Pet verwundert.

„Ich spüre sie sehr deutlich. Mit eurer Magie habt ihr alles beobachtet. Dabei habt ihr geglaubt, sicher zu sein. Doch ich habe euch bewiesen, dass ich stärker bin.”

„Schluss jetzt!”, grollte Koschna. „Was sind das für Worte?” Er hatte natürlich absolut nichts verstanden, genauso wenig wie Schusska.

Jule schaute jetzt ihn an: „Es sind magische Worte, Kapitän.” Sie verbeugte sich ehrerbietig vor ihm, was ihm sichtlich gefiel. „Wir haben versucht, dem Magier Paroli zu bieten, wenn du verstehst, was ich meine?”

„Ein - ein Kampf auf magischer Ebene?”, wunderte sich Koschna und schaute von einem zu anderen. Dann stieß er ein heiseres Lachen aus: „Ging anscheinend unentschieden aus!”

„Genauso wie der Messerangriff!”, erinnerte Jule ihn.

„Wie mir scheint, seid ihr euch zumindest ebenbürtig. Jedenfalls kann der Magier euch nichts anhaben”, stellte Koschna fest.

„Uns nicht - aber Euch, mein Kapitän!”

Koschna runzelte ärgerlich die Stirn. Aber er erinnerte sich an die plötzlich schwarz werdenden Augen des Magiers. Hatte ihm das Gör nicht... das Leben gerettet? Ja, davon war er letztlich überzeugt.

Er blinzelte und wirkte dabei ein wenig verwirrt. Aber nicht lange: „Ich sehe schon, es ist wirklich besser, euch am Leben zu lassen.”

„Es ist ein schlimmer Fehler!”, protestierte hingegen der Magier aus dem Hintergrund. „Warum will mir niemand glauben?”

Pet wandte sich an ihn: „Warum willst du so sehr unseren Tod?” Er hatte Valuremisch gesprochen, damit die Darscha-Dosch ihn verstanden, doch der Magier antwortete auf Deutsch:

„Ihr seid mir im Weg!”

Dabei dachte er allerdings: Sie kommen von Hellerde - und ich würde alles tun, um dorthin zu gelangen. Aber sie haben keinerlei Möglichkeit, zurückzukehren, weil ich sie gewaltsam her gebracht habe - gegen ihren Willen. Aber das war kein Fehler, denn sie hätten mir sowieso nie geholfen...

Er schaute Pet an und erkannte, dass dieser seine Gedanken gelesen hatte. Erschrocken blockte er sie ab.

Er schielte nach Jule, aber auch die wusste genau, was er gedacht hatte.

Jule und Pet schauten sich an und dachten dasselbe: Der will unter allen Umständen zurück auf die Erde? Dann ist er kein belebter Schatten, sondern vielleicht sogar... einer der Alchimisten? Der letzte gar, den es gab?

Der Magier hatte zwar nicht ihre Gedanken gelesen, aber er erriet sie: „Gebt euch keine Mühe, ihr werdet es niemals erfahren, wer ich bin und woher ich komme! Dafür werde ich sorgen! Und ich war auch nicht einer der Alt-Alchimisten, falls ihr das glaubt. Sehe ich denn aus, als wäre ich einer dieser Narren, die sich selber dem Untergang geweiht haben?”

Er hatte abermals Deutsch gesprochen.

Koschna sagte daraufhin, bebend vor Zorn: „Noch einmal, Barasch-Dorm und ich werde dich töten: Diese beiden stehen unter meinem persönlichen Schutz! Das gilt auch für dich. Also keine Tricks mehr!”

Klar, er dachte, es hätte sich wieder um magische Worte gehandelt, um einen neuen Versuch also, die beiden Jugendlichen zu vernichten.

Ein geringschätziges Lächeln umspielte den Mund des alten Magiers, aber er entgegnete nichts mehr.

Jule verbeugte sich ehrerbietig vor Koschna.

„Ich danke Euch aus vollem Herzen, mein Kapitän! Ihr werdet diesen Entschluss nicht zu bereuen haben!”

Pet stellte sich neben seine Freundin und verbeugte sich ebenfalls, jedoch ohne was zu sagen.

Nicht bereuen?, dachte Koschna indessen skeptisch. Das wird sich noch zeigen. Vorteile verspreche ich mir jedenfalls keine von den beiden Kindern. Es sei denn, den Magier betreffend. Der ist unberechenbar und gefährlich. Ich habe mich trotzdem auf ihn eingelassen, wegen einem Schatz, den es vielleicht gar nicht wirklich gibt. Doch mir bleibt nichts anderes übrig, um die Besatzung bei Laune zu halten. Und die beiden Kinder sind eine kleine Rückversicherung dafür, dass ich das bevorstehende Abenteuer vielleicht sogar... überlebe!

Jule und Pet belauschten diese Gedanken, ohne dass Koschna es bemerkte.

Sie sahen sich an. Wie war das eigentlich möglich?

Jule dachte: Na, sind wir denn nicht die direkten Nachkommen von mächtigen Alchimisten und Magiern?

Ja, das war die einzig mögliche Erklärung für dieses Phänomen.

Auch Pet musste daran denken. Beiden war jedoch klar, dass sie mit den magischen Kräften, die offensichtlich in ihnen schlummerten, eines nicht tun konnten: nämlich kämpfen! Es waren eher passive Kräfte, die sie beherrschten. Um sie zu Waffen zu machen, hätten sie erst jede Menge lernen müssen, wie sie vermuteten.

Aber dann schauten sie den Magier an und dachten: Um am Ende gar zu werden wie dieser?

Nein!

In dieser Schlussfolgerung waren sich die beiden einig, ohne sich darüber auch nur einmal verständigen zu müssen.

Jetzt, da sich für sie die Lage zumindest vorübergehend etwas entspannt hatte, konnte sich Pet nicht verkneifen, leise Jule zuzuzischen: „Wieso hast du nicht besser aufgepasst? Jetzt können wir nicht mehr zurück und sind verloren!”

„Ich - ich kann wirklich nichts dafür! Es war der böse Magier. Er hat uns bemerkt und überrascht. Niemand sonst kann was dafür.”

„Ist ja schon gut, Jule. War nicht so gemeint. Bin halt nur sauer darüber. Was sollen wir denn jetzt bloß tun?”

„Keine Ahnung!”, gab Jule zu.

„Na, zumindest eines: Versuchen, zu überleben!”

„Und deine Aufgabe, Pet?”

„Nun, vielleicht stecken wir bereits mittendrin?”

Sie sahen nach dem Magier.

„Was tuschelt ihr zwei da herum?”, krächzte dieser hasserfüllt.

„Lass sie in Ruhe!”, raunzte Koschna ihn an. Er gab Schusska einen Wink. „Bring sie irgendwo unter, getrennt von dem Magier. Und sage der Besatzung Bescheid. Die wird sich ohnedies wundern, wo wir so lange bleiben.” Er lauschte kurz. „Gekämpft wird da oben jedenfalls schon lange nicht mehr.” Er wunderte sich kurz, wieso keiner von denen inzwischen nach ihnen gesehen hatte. Aber dann spürte er die seltsame Aura, die hier unten herrschte. Das war, seit die beiden Jugendlichen aufgetaucht waren. Er war sich da ganz sicher, obwohl es ihm jetzt erst so recht bewusst wurde. Allem Anschein nach hatte es seine Leute zurückschrecken lassen. Sie hatten es gespürt und prompt gemieden.

Schusska nickte ihm zu und wandte sich an Jule und Pet.

„He, wie heißt ihr eigentlich?”

„Ich bin Jule”, antwortete Jule vorlaut und Pet fügte hinzu: „Nenne mich Pet.”

„Was denn, nur Jule und Pet? Was sind denn das für Namen?”

„Ich weiß, ziemlich bescheuerte”, meinte Pet mit einem verlegenen Grinsen. „Aber mehr kann ich Euch leider nicht bieten, tut mir leid!”

„Na, ist mir doch egal. Also, ihr habt es gehört: Kommt mit nach oben - Jule und Pet!”

Wieso habe ich nicht gesagt, dass ich in Wirklichkeit Harald Magnus heiße und Pet nur mein Spitzname ist?, fragte sich Pet im Stillen, aber ein ungewisses Gefühl hatte ihn davor gewarnt. Er schielte  zu dem Magier hinüber. Dessen lauernder Blick war ihm nicht entgangen.

Ja, es war dessentwegen. Der durfte nicht zuviel von ihnen beiden wissen. Vor allem nicht ihre richtigen Namen. Wer wusste, was er mit diesem Wissen alles hätte anfangen können? Bloß kein Risiko eingehen!

 

*

 

Koschna und seine Männer ließen den valuremischen Segler brennend zurück, nachdem Jule und Pet längst unter Deck eingesperrt worden waren. Hoch loderten die Flammen empor. Die Rauchfahne wurde vom Wind in Richtung der Küste Valuremas geweht.

An Bord der SEEWOLF wurde das Segel gesetzt. Der stärker werdende Wind drehte und kam nun zunehmend aus Richtung Nord, aber er war stark genug, die Segel zu blähen und sehr schnell eine immer größer werdende Distanz zu dem Wrack des valuremischen Seglers zu schaffen.

Barasch-Dorm, dieser geheimnisvolle, mit magischen Fähigkeiten ausgestattete Mann, stand am Heck der SEEWOLF, dort, wo Solamisch-Darrschon mit seinen kräftigen Pranken das Ruder hielt. Koschna hatte den Magier nicht einsperren lassen. Er war nämlich sicher, dass der Magier weder etwas gegen sie unternehmen würde, noch dass irgendwelche Fluchtgefahr bestand - vorläufig jedenfalls nicht. Nur bei den beiden seltsamen Jugendlichen war er da nicht so ganz überzeugt. Die wollte er sich aufheben - für alle Fälle. Er glaubte, sie wären gut als eine Art Rückversicherung gegen den Magier und das machte die beiden für ihn im gewissen Sinne ziemlich wertvoll, obwohl er sich noch nicht im Klaren darüber war, wie er in Zukunft mit den beiden verfahren würde. Ihr Auftauchen hatte jedenfalls unter seinen Leuten leichte Unruhe erzeugt. Es war nicht üblich, dass sie Gefangene machten. Erst als Koschna ihnen erklärt hatte, was es mit dem Magier auf sich hatte und den Schatz erwähnte, begannen ihre Augen gierig zu leuchten. Und als er dann noch sagte, die beiden Jugendlichen wären eine Art Pfand dafür, dass der Magier sie nicht herein legte, waren sie plötzlich gewillt, auch sie zu akzeptieren, wenn auch nur als Gefangene, die man besser weg sperrte, ehe sie vor der Zeit noch verloren gingen. Deshalb hatte Koschna auch eine ständige Wache für die beiden organisiert. Jeder, der vor der Tür Wache stehen musste, bürgte mit seinem Kopf für die Sicherheit der beiden.

Nur Barasch-Dorm wusste, dass den beiden Jugendlichen auch in ihrem Gefängnis nichts davon entgehen würde, was an Bord geschah. Sicherheitshalber blockte er seine Gedanken gegen sie ab. Sie würden nichts von ihm erfahren und so hatte er ihnen gegenüber immer einen Vorteil.

Bis zu ihrem Tode!, dachte er grimmig. Und er fügte in Gedanken hinzu: Sie wissen, dass ich ein Tor schaffen will ins Diesseits von Hellerde. Wissen sie auch um die Schriftrolle mit den geheimen Worten? Vielleicht hoffen sie, dass ich sie sogar mitnehme? Er kicherte gehässig vor sich hin, womit er sich einen erschrockenen Blick von Seiten des Steuermanns einhandelte. Aber dann konzentrierte dieser sich wieder auf seine Arbeit.

Die Ruderriemen waren inzwischen eingezogen worden. Ein Darscha-Dosch ruderte normalerweise nur dann, wenn es aus irgendwelchen Gründen nicht möglich war, segelnd vorwärts zu kommen, bei Flaute oder wenn man einen Flusslauf stromaufwärts fahren wollte.

„Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee war, diesen eigenartigen Mann an Bord zu nehmen”, sagte Schusska Bogenschütze an Schauron Axtmann gewandt, weit außer Hörweite des Magiers: Die beiden Männer hielten sich auf dem Vorderdeck des Schiffes auf.

Schauron zuckte die Achseln. „Unser Kapitän wird schon wissen, was er tut.”

„Das will ich hoffen.”

„Du bist doch sonst nicht so ängstlich, Schusska”, lächelte Schauron. „Und lockt dich der sagenhafte Schatz nicht genauso wie jeden anderen hier an Bord? Außerdem, selbst wenn wir dem Magier nicht trauen können: Diese beiden seltsamen Figuren, die bei ihm waren, ohne wirklich zu ihm zu gehören... Mir kommen die so vor, als wären sie eine Art Aufpasser. Dabei erscheinen sie in keiner Weise gefährlich. Zumindest nicht für uns.”

Schusska ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. „Bei Schaman-Ull, dem Gott des Schabernacks und der Zauberei, ich habe die Kraft gespürt, die in diesem Mann schlummert. Vielleicht sind diese halben Kinder wirklich eine Art Schutz dagegen, aber für wie lange?”

Schauron Axtmann hörte stirnrunzelnd zu, während sein Gegenüber zu einer dramatischen Erzählung jener Ereignisse ansetzte, die sich unter Deck abgespielt hatten.

Schließlich zuckte Schauron mit den Schultern.

Koschna, der sich unterdessen wie der Magier am Heck der SEEWOLF befand, wandte sich an Solamisch-Darrschon, den Steuermann und machte eine Bewegung mit der Hand.

„Halte dich weiterhin in Richtung der valuremischen Küste”, forderte er. „Dort ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass wir noch auf lohnendere Beute stoßen als auf diesen Segler.”

„Eine so armselige Beute habe ich selten erlebt”, meinte Solamisch.

Ein paar Waffen, Ausrüstungsgegenstände und Vorräte hatten die Darscha-Dosch an Bord der SEEWOLF gebracht. Eine Beute, die den Aufwand kaum gelohnt hatte.

Wenn diese Pechsträhne weiter anhält, werden die Männer unruhig werden, dachte Koschna-Perdoschna Wolfsauge.

Von früheren Fahrten wusste er nur zu gut, dass es in so einem Fall kritisch werden konnte.

Koschna drehte sich zu Barasch-Dorm herum, der gedankenverloren der Rauchsäule des brennenden valuremischen Seglers nachsah.

„Was ist das wirklich für ein Schatz, von dem du gesprochen hast?”, fragte der Kapitän.

Barasch-Dorm lächelte mild.

„Ich sehe, du hast Blut geleckt, Darscha-Dosch. Genauso wie ich es mir gedacht habe. Der Gedanke daran, mit wenig Mühe einen sagenhaften Reichtum ernten zu können, lässt dich nicht los.”

Ein spöttischer Zug erschien in Koschnas Gesicht.

„Mehr als hohle Worte scheint mir bisher nicht hinter deinem Gerede zu stecken, Barasch-Dorm. Oder willst du etwa behaupten, dass du mit dieser valuremischen Nussschale wirklich und wahrhaftig Richtung Kreitska unterwegs warst?”

Barasch-Dorm hob die Schultern.

„Es war mir leider nicht möglich, in Schi-Scho-Lah ein besseres Schiff zu bekommen”, erklärte er.

„So, von Schi-Scho-Lah aus bist du aufgebrochen?”, echote Koschna.

Er wusste sehr wohl: Die Ruinenstadt stellte heute nur einen Abklatsch einstiger Größe dar. War sie einst die zweite Hauptstadt des Reiches der Seekönige gewesen, so wurde sie jetzt von dem sagenumwobenen Bettlerkönig beherrscht und bot dem Gesindel der gesamten Hemisphäre Unterschlupf. Piraten und Ausgestoßene trafen sich dort.

Barasch-Dorm trat einen Schritt auf Koschna zu.

Er hatte jetzt einen geradezu beschwörenden Gesichtsausdruck. Die kühle, abgeklärte Distanziertheit, die sonst sein Mienenspiel kennzeichnete - wenn es sich nicht gerade um Jule und Pet handelte -, war von einem Augenblick zum anderen von ihm abgefallen.

„Ich brauche ein neues Schiff”, stieß er hervor. „Und ganz gleich, wer der Kapitän dieses Schiffes sein wird, er wird als reicher Mann von dieser Reise zurückkehren.”

„Du verkennst deine Lage, Barasch-Dorm”, lachte Koschna. „Du bist ein Gefangener und den Kurs bestimme ich ganz allein.”

„Du magst ein Barbar aus dem Norden sein, aber du bist nicht dumm”, stellte Barasch-Dorm fest. „Einst erstreckte sich zu beiden Seiten des großen Stromes Üruschil das Zentrum von Dunkelerde, das Reich der Alt-Alchimisten, der Schöpfer dieser Welt. Sie nannten es Parasch-Tschu-Dra. Seine erhabenen Tempel, die Häuser seiner Städte sind größtenteils zu Staub zerfallen, aber ein Teil davon liegt noch unversehrt unter dem Wüstensand. Immer wieder stoßen baschidische Karawanen auf vor Jahrtausenden verlassene Geisterstädte.”

„Geisterstädte?”

„Der Üruschil hat oft sein Bett verändert und so lagen sie ehedem wohl in der Uferzone. In einer dieser Ruinenstädte stieß ich auf einen Schatz von schier unvorstellbarer Größe. Gold, Silber, mehr davon, als man auf dein Schiff laden könnte.”

„Warum hast du diesen Schatz nicht selbst geborgen, wenn du schon einmal da warst?”, fragte Koschna.

Barasch-Dorm hob die Augenbrauen.

„Ich war mit einer kleinen Gruppe baschidischer Begleiter dort”, behauptete er. „Karawanenführer, die ich angeheuert hatte. Durch das Studium uralter Karten war mir die Lage dieser Ruinenstadt bekannt. Ich ließ die Baschiden soviel von dem Zeug aufladen, wie die wenigen Kamele, die wir bei uns hatten, zu tragen vermochten. Allerdings wurden wir unterwegs von Räubern überfallen. Nur wenige Stücke vermochte ich zu retten.”

Er griff in die Taschen seines weiten Mantels, holte ein Amulett hervor. Zweifellos war es aus Gold. Fremdartige Schriftzeichen, die Koschna-Perdoschna Wolfsauge nie zuvor gesehen hatte und der er auch kein bekanntes Alphabet zuzuordnen vermochte, waren in das Edelmetall eingraviert worden.

Barasch-Dorm gab Koschna das Amulett.

„Behalte es, Kapitän.”

Koschna hielt das Amulett ins Licht, fuhr dann mit der Fingerkuppe darüber. Immerhin gab es jetzt so etwas  wie einen greifbaren Beweis für die Geschichte Barasch-Dorms. Aber noch immer hatte Koschna-Perdoschna Zweifel. Er traute diesem Mann einfach nicht. Das lag nicht nur an dem, was er in jenem Lagerraum erlebt hatte...

„Zurück zu deiner Geschichte”, begann der Darscha-Dosch. „Unter Deck des valuremischen Seglers habe ich gesehen, dass du über erstaunliche Kräfte verfügst. Immerhin hast du meinen besten Bogenschützen außer Gefecht gesetzt, der dir liebend gern einen Pfeil ins Auge gejagt hätte, einmal ganz zu schweigen, als du dich gegen mich... Obwohl, diese beiden halben Kinder...” Er schnalzte mit der Zunge. Es klang verächtlich, aber der Magier ignorierte es einfach:

„Ich bin ein umfassend gebildeter Gelehrter und war als solcher in verschiedenen Städten Valuremas tätig”, berichtete Barasch-Dorm großspurig. „Unter anderem habe ich mich eben auch mit der Kunst der Magie befasst. Es wäre dumm, es jetzt noch zu leugnen - nach alledem.”

„Warum habt ihr diese Kunst dann nicht gegen jene Räuber angewandt, die euch damals in der Wüste von Kreitska überfielen?”

„Gleich zu Beginn des Kampfes bekam ich einen Pfeil in den Rücken”, sagte Barasch-Dorm. „Diese Verwundung setzte mich zunächst vollkommen außer Gefecht und ohne meine magischen Heilkräfte hätte ich jenen Tag auch nicht überlebt. Im Übrigen machst du dir vielleicht eine falsche Vorstellung von meinen Fähigkeiten.”

„Dann erkläre es mir genauer”, forderte Koschna.

„Ich verfüge über gewisse Kräfte, die ich durch Konzentration meines Geistes mobilisieren kann, aber das ist oft abhängig von den Umständen, von der Umgebung. Die Hilfe übernatürlicher Wesen lässt sich nicht überall herbeirufen und im Übrigen sind meine Kräfte begrenzt, auch wenn dich mein Kunststück im Lagerraum des valuremischen Seglers anscheinend beeindruckt hat.”

Koschna verzog das Gesicht, weil er wieder an Jule und Pet denken musste. Hatten die ebenfalls solche Kräfte? Nein, sie waren ganz klar magisch begabt und konnten unter Umständen sogar den Tod überwinden. Beeindruckend, zugegeben, aber sie waren keinesfalls gefährlich dadurch. Ganz im Gegensatz zu diesem Magier hier vor ihm...

„In einem scheinst du jedenfalls unschlagbar zu sein, Barasch-Dorm.”

Der Magier hob die Augenbrauen. „Wovon sprichst du?”

„Von deiner Fähigkeit, für alles eine Erklärung zu finden.”

„Ich spreche nichts als die Wahrheit und ich gebe dir unverdientermaßen und nur durch die Umstände begründet die Möglichkeit, ein reicher Mann zu werden. Alles, was du tun musst, ist zur Mündung des Üruschil zu segeln, dann flussaufwärts bis zu einem Punkt, den nur ich kenne, um schließlich ein paar Meilen landeinwärts zu der Ruinenstadt zu reisen, von der ich gesprochen habe. Ein Ort voller Reichtümer, den die Zeit und die Welt vergessen haben.”

Der Magier machte eine weit ausholende Handbewegung. „Frage deine Männer, was sie darüber denken. Vielleicht können sie deine Zweifel zerstreuen?”

Ein teuflisches Lächeln spielte jetzt um seine dünnen Lippen. „Oder sollte ich das vielleicht für dich tun?”

Bis jetzt hatten sie leise genug miteinander gesprochen, so dass die Männer von dieser Unterhaltung kaum etwas mitbekommen hatten.

„Vielleicht ist es doch günstiger, wenn du sie selber vor diese Frage stellst”, fuhr der Magier indessen fort. „Du hast nicht mehr als nur Andeutungen gemacht und danach deine Befehle gebellt. Ihre Meinung scheint dich darüber hinaus nicht so sehr zu interessieren, obwohl es vielleicht besser wäre...”

Ich darf ihm nicht trauen!, redete sich Koschna ein. Dieser Mann schien tatsächlich so etwas wie ein Universalgelehrter zu sein. Ein Mann allerdings, der mit seinen Fähigkeiten eher hinter dem Berg hielt als sie offen zu demonstrieren. Das war klar und die beiden seltsamen Jugendlichen waren eigentlich mehr eine Hoffnung als eine Garantie, trotz allem.

Koschna betrachtete das goldene Amulett mit den eigenartigen Schriftzeichen. Warum eigentlich nicht?, ging es ihm dann durch den Kopf. Ich habe ihn mit an Bord genommen - und die beiden Jugendlichen ebenfalls. Das war bereits die Entscheidung. Ich brauche jetzt nur dabei zu bleiben.

Außerdem: Nicht zum ersten Mal würde er mit der SEEWOLF einen Fluss hinauf rudern.

„Ich werde die Männer fragen”, versprach Koschna, „du hast sicher Recht: Es ist nicht gut, wenn ich sie einfach nur vor vollendete Tatsachen stelle. Sie sind im Moment noch Feuer und Flamme, weil sie an den erwähnten Schatz denken, aber sie sollen auch von den Risiken wissen.” Für seinen Teil war im Grunde seines Herzens die Entscheidung längst gefallen, auch ohne die Meinung seiner Leute, die er eigentlich gar nicht gewohnt war zu erfragen. Die Neugier hatte ihn gepackt, was es mit diesem Schatz auf sich hatte. Die Gier nach Reichtum hatte Besitz von ihm ergriffen.

„Solltest du gelogen haben, Magier, dann werde ich dich töten!” Er dachte dabei an Jule und Pet und auch daran, dass es ohne die beiden gar nicht möglich wäre. Schaudernd erinnerte er sich an die plötzlich schwarz werdenden Augen des Magiers und was danach mit ihm geschehen war. Es hätte ihn das Leben gekostet, hätte Jule dem Unheimlichen nicht im entscheidenden Moment einen Schubs gegeben...

Und auch da wurde seine vorläufige Entscheidung endgültig: Die beiden würden jedenfalls mit von der Partie sein, während er für ihre Sicherheit garantierte - und dafür, dass sie nicht abhauen konnten!

 

*

 

Ihr Gefängnis war viel zu klein, zu eng, zu schmutzig - und vor allem dunkel.

„So sollte man noch nicht einmal Tiere unterbringen!”, beschwerte sich Jule. „Ist das der Dank dafür, dass ich diesem Wilden das Leben gerettet habe?”

Sie schaute sich um. Obwohl kein Licht in ihr Gefängnis fiel, konnte sie trotzdem alles klar erkennen. Sie wusste, dass dies eine besondere Art von Magie war - und wunderte sich nicht mehr darüber. Magie funktionierte im Diesseits nicht mehr, seit es Dunkelerde gab beziehungsweise seit die Alchimisten mit ihrer entscheidenden Seance Dunkelerde komplett belebt hatten. Es hatte eine klare Trennung verursacht, wenn man so wollte...

„Der denkt sich gar nichts dabei, dieser Koschna. Er will unsere Sicherheit und dafür sollten wir ihm dankbar sein.”

„Du hast gut reden, Pet, wo du sogar den Tod überwunden hast.”

„Ach, übertreibe doch nicht so...”

„Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, Pet. Es war ganz schrecklich. Ach, ich bin ja so froh, dass du den Tod überwinden kannst, ehrlich und verspreche, dich nie mehr deswegen aufzuziehen!” Sie flog in seine Arme und musste auf einmal weinen. „Es ist alles nur meine Schuld. Wieso habe nicht besser aufgepasst? Ich dürfte einfach nicht hier sein, dann wäre alles gut. Du würdest den Tod überwinden und wenn es dann noch schlimmer werden würde, kämst du einfach zu mir zurück, nicht wahr?”

„Es ist halt anders gekommen - anders als sogar der alte Magnus es vorhersagen konnte. Er hat nur die Dunkelerde gekannt, als sie noch nicht belebt gewesen war. Hätte er konkret gewusst, was alles passiert, hätte es diese Katastrophe namens Dunkelerde gar nicht gegeben. Alles wäre anders - und das ist es nun einmal nicht!”

„Danke, dass du mich immer wieder so schön aufbaust, Pet!”

„Jetzt mach aber mal einen Punkt, Jule. Und drehe mir hier bloß nicht durch!”

„Einverstanden!” Sie löste sich von ihm und wischte mit dem Ärmel tapfer die Tränen aus ihrem Gesicht. „Bin schon wieder völlig in Ordnung.”

„Sag mal, Jule und sei mir bitte nicht böse, wenn ich dich das  so frage... Äh, hast du schon mal versucht, die Schaltwörter für die Rückkehr zu benutzen? Ich meine, nur du weißt sie. Es gehört schließlich zu deiner Aufgabe.”

Sie tippte ihm auf die Nasenspitze.

„Dummerchen, natürlich habe ich das längst ausprobiert und ich kann dir versichern, dass mir die Schaltwörter wach im Gedächtnis sind. Allerdings funktionieren sie halt nur, wenn ich drüben bin, während du hier bist. Verstehst du? Ansonsten klappt es nicht, egal, wie sehr ich mich auch bemühe. -  Und was machen wir jetzt?”

„Keine Ahnung.”

„Prima Hilfe!”

„Mach einen besseren Vorschlag!”

„Wir entspannen uns, so gut es geht und lauschen in das Schiff hinein, damit uns nichts entgeht. Du weißt, das wir das können. Ist schon klasse, wenn man Magie kann, was?”

„Ein Handy wäre mir lieber. Oder ein Gameboy!”, behauptete Pet abfällig und machte auch eine diesbezügliche Handbewegung. „Aber bekanntlich kann man es sich nicht aussuchen. Vor allem wir nicht.”

„Weißt du, was ich glaube, Pet? Dieser Magier ist von der Erde, genauso wie wir. Keine Ahnung, wie er hierher geriet, aber er will unter allen Umständen zurück - dorthin, woher er kommt.”

Pet nickte bestätigend: „Genauso wie wir!”

„Das ist sicherlich deine Aufgabe - so als Auserwählter, meine ich. Die Art und Weise, mit der dieser Magier zurückkehren will, könnte die befürchtete Störung sein. Irgendwie sollst du das verhindern.”

„Soll ich das? Und was ist mit uns beiden? Wir bleiben dafür dann für immer hier oder was?”

Sie hob in einer hilflos anmutenden Geste die Schultern hoch. „Woher soll ich das denn wissen?”

„Okay, fassen wir zusammen: Dieser Mordbube hat einiges vor, was mit Sicherheit die Katastrophe verschlimmern wird. Ich bin hier, um das Schlimmste zu verhindern. Das ist das Erbe des alten Harald Magnus. Zwar gibt es für mich keine Rückversicherung mehr, zumindest nicht, wie er es für mich vorgesehen hatte, aber wir müssen das Kunststück schaffen, nicht nur meine Aufgabe zu erledigen, sondern dabei selber die Gelegenheit nutzen zu können, nach Hause zurück zu kehren. Nette Aussichten, wahrhaftig! Erscheint zwar alles völlig unmöglich, aber wie heißt es noch bei dieser abartigen Autowerbung: NICHTS ist unmöglich!”

„Auch nicht auf Dunkelerde!”, rief Jule begeistert und riss die rechte Hand hoch. Pet tat es ihr gleich und sie schlugen beide ein, wie zu einem heiligen Schwur.

Danach legten sie sich mit dem Rücken auf die Taue, die sie sich zu einer Art Bett geformt hatten und kuschelten aneinander, um ihre Sinne gemeinsam hinaus auf das Schiff zu schicken. Sie wollten wissen, was da vor sich ging. Nichts durfte ihnen entgehen, vor allem nichts, was für sie vielleicht von Bedeutung hätte sein können.

 

*

 

Stunden vergingen.

Die SEEWOLF war mit gutem Wind in südliche Richtung gesegelt.

Koschna zögerte noch, auf den Vorschlag des Magiers einzugehen. In der rechten Hand hielt er das goldene Amulett.

Immerhin, ganz aus der Luft gegriffen konnten die Erzählungen des Magiers ja nicht sein. Irgendwoher musste das Gold, aus dem dieses Amulett geschmiedet war, schließlich stammen.

„Hört her, ihr Männer!”, rief er schließlich. Er hielt das Amulett empor. „Dieses Gold stammt aus jenem Schatz, den ich bereits erwähnt habe und der in einer Ruinenstadt in Kreitska verborgen liegt. Jedenfalls sagt das unser Gefangener Barasch-Dorm. Und jetzt ist es an der Zeit, euch nicht nur den Rest zu erzählen, sondern auch, eure Meinung zu hören, denn ich will nichts unternehmen, hinter dem nicht jeder von euch voll und ganz stehen kann.”

Er legte eine kleine Kunstpause ein, während der er von seinen Leuten erwartungsvoll gemustert wurde. Der Magier indessen hielt sich mit starrem Gesichtsausdruck zurück.

Dann fuhr Koschna fort: „Wir werden also zur Mündung des Üruschil segeln und dieser Mann hier”, Koschna deutete auf Barasch-Dorm, „wird uns zu jenem Ort führen, an dem er dies hier fand. Und damit er uns nicht hereinlegen kann, haben wir die beiden Grünschnäbel mit an Bord. Ihr werdet es nicht glauben, aber der Kerl hier hat enorme Fähigkeiten, mit denen er uns gefährlich werden könnte, doch die beiden Grünschnäbel können ihn gewissermaßen neutralisieren. Deshalb sind sie besonders wichtig für uns. Ich weiß, es gefällt euch nicht, dass wir alle drei brauchen, aber niemand bedauert das mehr als ich selber - sowieso!”

Normalerweise hätten seine Leute mit Unglauben reagiert, denn dem Magier sah man nicht wirklich an, zu was er fähig war, aber inzwischen hatten sich die Vorgänge im Lagerraum des untergegangenen Seglers herumgesprochen. Dafür hatte vor allem Schusska Bogenschütze gesorgt. Außerdem hatte jeder von ihnen jene Aura gespürt, die sie davon abgehalten hatte, ebenfalls den Lagerraum zu betreten. Wahrscheinlich war inzwischen so viel noch hinzu gedichtet worden, dass die Leute einen gehörigen Respekt hatten  vor dem Magier - und im Grunde genommen heilfroh waren, die beiden Jugendlichen mit an Bord zu haben, mit denen sie sich gegen eventuelle Attacken seinerseits schützen konnten.

Koschna konnte das nur recht sein. Vor allem führte es dazu: Ein Großteil der Männer war sogar regelrecht begeistert wegen den in ihren Augen klasse Aussichten.

„Das hört sich endlich mal nach guter Beute an”, rief Proschta Schädelspalter und nicht nur Schauron Axtmann teilte seine Begeisterung. „Zu lange hat uns das Pech verfolgt, aber es scheint, als würden wir jetzt auf der Gewinnerseite stehen.”

Als der erste Tumult sich gelegt hatte, meldete sich Schusska Bogenschütze zu Wort. Sein Gesicht wirkte grimmig, die Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammen gezogen. Seine ausgestreckte Hand deutete auf Barasch-Dorm.

„Ich traue diesem Burschen nicht. Er verfügt über dämonische Kräfte und um ehrlich zu sein, ich segle nicht gern mit jemandem an Bord desselben Schiffes, der offenbar in der Anwendung übernatürlicher Kräfte derart ausgebildet ist. Außerdem ist er durch und durch skrupellos und für ihn sind wir nur billiges Geschmeiß, nur dazu nütze, ihm untertänig zu dienen.”

„Bei Pruschkars blutgetränkter Streitaxt!”, fluchte Solamisch-Darrschon, der 1. Steuermann der SEEWOLF. „Rufen wir nicht alle den Beistand des Übernatürlichen herbei, wenn wir in Gefahr sind? Oder vor dem Kampf?”

„Der Unterschied ist nur, dass die übernatürlichen Kräfte auf diesen Mann zu hören scheinen”, entgegnete Schusska.

Solamisch-Darrschon machte eine wegwerfende Handbewegung. „Bei den Göttern, das ist doch kein Grund, jemandem zu misstrauen! Zumal wir die beiden Grünschnäbel als eine Art Rückversicherung haben. Denkst du nicht an die große Beute und dass sie zumindest ein solch kleines Risiko wert ist? Also, wenn es nicht mehr ist, was du zu bedenken hast...”

„Du hast seine Kraft nicht zu spüren bekommen”, erwiderte Schusska. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. „Und es gibt nicht wirklich Garantien, dass uns die beiden in ausreichendem Maße beizustehen vermögen. Sie selber sind vor ihm geschützt, aber ist der Schutz wirklich auch für uns alle gültig - auf Dauer?”

„Es hat keinen Sinn, wenn wir uns streiten”, meinte Koschna-Perdoschna. „Ich bin der Kapitän. Mir gehört dieses Schiff und ich entscheide. So ist es immer gewesen und so ist es auch diesmal. Es gibt keinen vernünftigen Grund, diesem Mann zu misstrauen. Zumal wir beide erlebt haben, dass die Grünschnäbel auf unserer Seite sind. Wollte er nicht, dass wir sie sogar für ihn töten, weil er es selber nicht vermag? Wir haben erlebt, dass er es versucht hat: Es ist ihm in der Tat völlig unmöglich! Außerdem: Er wird uns schon deswegen nicht betrügen, weil er selbst einen Teil dieses Schatzes haben will - einen vergleichsweise winzigen Teil sogar nur.”

Der Magier trat jetzt vor, stellte sich neben Koschna. Er hatte die Kapuze aufgesetzt. Sein Gesicht lag bis auf die Kinnspitze im Schatten.

Die Sonne stand schon tief.

„Ich will sogar... gar nichts von dem Gold. Das könnt ihr alles für euch haben. Ich will einzig und allein ein einzelnes unscheinbares Juwel, das ich für meine magischen Studien benutzen möchte, die ich betreibe.”

Barasch-Dorm hatte sehr langsam gesprochen und zum ersten Mal auf Doschska, dem Dialekt der Darscha-Dosch. In dem Moment, indem er die Stimme erhoben hatte, war es augenblicklich ruhig gewesen, so als ob eine Art natürlicher Autorität diesen Mann wie eine Art Aura umgab.

„Jeder von euch wird diese Reise als reicher Mann beenden, jeder von euch wird sich, wenn er heim kehrt, ein eigenes Schiff kaufen, eine eigene Mannschaft anheuern und auf eigene Rechnung auf Fahrt gehen können. Zugegeben, es braucht etwas Mut dafür. Ich habe schon viel über die Männer Darscha-Dosch-lands gehört, aber noch nicht, dass sie feige sind. Also dürfte dieser Punkt kein Hinderungsgrund sein.”

Einige Augenblicke lang herrschte Schweigen und das Rauschen der Gischt war zu hören, die hoch aufspritzte, während die SEEWOLF hindurch pflügte.

„Redet so ein Gefangener?”, rief Schusska. „Pah, wahrscheinlich steht ihr alle unter seinem magischen Einfluss. Wer weiß schon, über welche Kräfte er wirklich verfügt? Bei Schaman-Ulls Hinterlist!”

„Wenn dem so wäre, dann hätte ich doch leicht auch dich beeinflussen können, Bogenschütze”, erwiderte Barasch-Dorm auf seine schleppende, akzentbeladene Art und Weise.

Schusska machte eine betreffende Handbewegung. Er spürte, dass die anderen Männer sich nichts sehnlicher wünschten als in den Besitz des Schatzes zu gelangen, von dem Barasch-Dorm gesprochen hatte. Er wandte sich an Koschna-Perdoschna Wolfsauge.

„Du bist der Kapitän”, sagte er. „Ich habe bei dir angeheuert und ich folge dir, aber das heißt noch lange nicht, dass ich diesem Kapuzenmann hier auch nur einen Meter über den Weg traue.”

Schusska spuckte aus.

„Mir ist ehrliche Feindschaft lieber als falsche Freundschaft”, sagte Barasch-Dorm, als Schusska sich bereits umgedreht und der See zugewandt hatte. „Aber spätestens in dem Augenblick, in dem du mehr Gold besitzt als du tragen kannst, wirst du einsehen, dass du Unrecht hattest, Bogenschütze.”

Unterdessen wandte sich Koschna an den Steuermann. „Wir ändern den Kurs in Richtung Südwesten.”

„Wir werden ziemlich nah an den Gewässern Scho-Lahns vorbeikommen”, erwiderte Solamisch.

„Fürchtest du dich? Unsere Fregatte ist bei ihrer ganz speziellen Bauart schneller als jede scho-lahnische Galeere, aber der Wind steht günstig für diesen Kurs und wir könnten auf diese Weise wesentlich schneller an der Mündung des Üruschil sein als wenn wir uns entlang der Küste orientieren.”

Solamisch-Darrschon zuckte die Achseln. „Du bist der Kapitän, Koschna.”

„Ich weiß.”

Wenig später war die Versammlung aufgelöst: Der Kapitän hatte von der Mannschaft die vollste Zustimmung. Nur einer war anderer Meinung: Schusska Bogenschütze.

Und vielleicht der Steuermann - ein wenig zumindest: Solamisch-Darrschon umklammerte mit grimmiger Miene das Steuerruder, um dem Wunsch des Kapitäns und der übrigen Mannschaft zu entsprechen. Das bedeutete, er ließ die SEEWOLF eine halbe Drehung vollführen. Sie fuhr jetzt nicht mehr mit seitlichem, sondern mit Rückenwind.

Mit höchster Fahrt dem sagenhaften Schatz entgegen, obwohl der erste Steuermann den Verdacht hegte, dass dies alles bei weitem nicht so leicht sein würde, wie alle gern glauben mochten...

 

*

 

In den nächsten Tagen geschah nichts Besonderes, außer, dass der Wind immer mehr nachließ. Die See wurde spiegelglatt. Das Quadratsegel der SEEWOLF hing schlaff vom Gaffel herunter.

Jule und Pet waren nicht auf ewig in ihrem kleinen Gefängnis. Sie verbrachten darin zwar die größte Zeit, aber bewacht von zwei grimmig dreinschauenden Seemännern durften sie die übrige Zeit auf Deck verbringen. Ansonsten fehlte es ihnen an nichts, natürlich im Rahmen der Möglichkeiten, denn so etwas wie Luxus war an Bord eines mittelalterlichen Seglers ein absolutes Fremdwort. Außer brackig schmeckendem Wasser, verschimmeltem und von Ratten angenagtem Brot, bestialisch stinkendem Trockenfleisch und sonstigen garantierten Unappetitlichkeiten hatte der Segler nichts zu bieten. Doch es reichte zum nackten Überleben - immerhin!

„Da gibt es Leute, die zahlen jede Menge Kohle, um abzuspecken”, beschwerte sich Jule zwischendurch, während sie versuchte, den Schimmel an ihrem Brot zu ignorieren. „So eine lustige Seereise wäre viel billiger.”

Pet lachte nur humorlos und kämpfte gegen den übermächtigen Brechreiz an. Schlucken, du musst schlucken!, hämmerten seine Gedanken, aber sein Kehlkopf wollte einfach nicht gehorchen, obwohl ihm letztlich nichts anderes übrig blieb, denn Pet wollte schließlich nicht verhungern.

„Jedenfalls bekommt für mich das Wort Saufraß eine völlig neue Bedeutung”, philosophierte Jule grimmig: „Wie dankbar ich jetzt für einen solchen wäre! Welch königlich-köstliches Mahl gegenüber dem hier!”

Darüber vergaß Pet sogar vorübergehend seinen Ekel und er konnte endlich schlucken, bevor er sich ein lautes Lachen gönnte.

Womit haben wir das bloß verdient?, überlegte er anschließend in schierem Selbstmitleid und dachte dabei nicht zufällig an Ferdie, Susi und Bennie. Wie es denen zur Zeit erging, außer dass sie auf die übliche Hygiene und menschengerechtes Essen im Gegensatz zu ihnen beiden nicht zu verzichten brauchten? Apropos Zeit: Wieviel Zeit war daheim eigentlich inzwischen vergangen? Vielleicht nur... Minuten?

Ja, so verbrachten sie ziemlich freudlos ihre Tage. Und die Flaute wurde immer schlimmer. Schließlich gab es keine andere Möglichkeit, als dass die Männer der SEEWOLF an die Ruderriemen gingen, sollte die schnittige Fregatte nicht mehr oder weniger ohne Kurs dahin dümpeln.

Keiner der darscha-doschen Seefahrer murrte.

Es ist die Aussicht auf schnellen Reichtum, die ihre Arme stark macht, ging es Koschna-Perdoschna Wolfsauge durch den Kopf. Die blanke Gier nach Gold. Aber ist sie nicht auch in deinem Fall die treibende Kraft?, überlegte der Kapitän.

Er stand auf dem Vorderdeck, am Bug der SEEWOLF, dort, wo der imposante Drachenkopf begann, der weit nach vorn ragte.

Einen Fuß stellte er auf die niedrige Brüstung der Außenwandung und blickte dem immer dunstiger werdenden Horizont entgegen.

Es ist nichts dagegen einzuwenden, Koschna, sagte eine Stimme in seinem Hinterkopf. Du darfst nur nicht zu leichtsinnig werden. Gier betäubt die Sinne und macht dich verwundbar.

Koschna lauschte dem regelmäßigen Geräusch, das das Eintauchen der Ruderblätter in das glatte, grünblaue Wasser verursachte.

Aus dem Hintergrund heraus, wie aus weiter Ferne, hörte Koschna die Stimme von Schusska Bogenschütze. Provozierend wandte sich der Darscha-Dosch an Barasch-Dorm, den Magier.

„Was ist, wie wäre es, wenn du deine Kräfte darauf verwendest, für Wind zu sorgen, Magier? Wir versprechen dir sogar, dass es die beiden Grünschnäbel nicht zu verhindern gedenken.”

„Ich glaube, du überschätzt meine Möglichkeiten”, erwiderte Barasch-Dorm in seinem akzentschweren Doschska. Ätzender Spott mischte sich dann in seinen Tonfall, als er fortfuhr: „Dafür, dass ihr zu Reichtum kommt, werdet ihr schon noch einiges tun müssen.”

Koschna nahm diese Unterhaltung nur ganz am Rande wahr. Er verengte ein wenig die Augen. Einige dunkle Punkte am Horizont fesselten seine Aufmerksamkeit.

Die Punkte wurden größer.

Koschna drehte sich plötzlich herum.

„Riemen aus dem Wasser!”, rief er. „Sofort! Und schafft die Grünschnäbel von Deck. Ab mit ihnen in ihre Unterkunft!”

Die Befehle des Kapitäns wurden unverzüglich befolgt.

Jule und Pet hatten nichts einzuwenden: Sie spürten beide, dass etwas besonders Schlimmes bevorstand - ihnen allen! Es musste so schlimm sein, dass ihnen heiß und kalt zugleich wurde.

Es war das erste Mal, dass sie regelrecht dankbar dafür waren, in ihr enges Gefängnis gesperrt zu werden. Mit ihren magischen Sinnen lauschten sie dem Weiteren...

Der Kapitän wandte sich an Schauron Axtmann, deutete gen Horizont. „Wofür hältst du diese kleinen Punkte dort, die aus dem Dunst heraus auftauchen?”

Schauron blickte angestrengt drein, dann zuckte er die Achseln. „Schiffe, würde ich sagen.”

„Gegen ein scho-lahnisches Handelsschiff hätte ich nichts einzuwenden”, rief Solamisch-Darrschon.

Barasch-Dorm, der Magier, mischte sich jetzt ein. Er ging in Richtung Bug und blieb in einigen Schritten Entfernung von Koschna stehen.

„Das sind keine Handelsschiffe”, sagte er im Brustton der Überzeugung. „Es sind Kriegsgaleeren.”

„Woher weißt du das?”, fragte Koschna.

„Ich weiß es eben. Das sollte dir genügen.”

Koschna gab Solamisch-Darrschon den Befehl, den Kurs zu ändern, um der herannahenden Flotte auszuweichen.

Die Punkte am Horizont wurden indes rasch größer. Es dauerte nicht lange, bis Koschna erkannte, dass der Magier Recht gehabt hatte. Es handelte sich tatsächlich um scho-lahnische Kriegsgaleeren.

Das Reich der Seekönige war längst untergegangen. Die Inselgruppe, über die das scho-lahnische Imperium heute herrschte, stellte nur einen Abklatsch der einstigen Größe dar. Nominell unterstanden dem Imperium zwar noch immer die Küstenstaaten im Norden, aber faktisch waren diese seit langem vollkommen unabhängig. Auf einen kärglichen Rest der ehemaligen Größe war das ruhmreiche Imperium geschrumpft und doch waren die Scho-Lahner noch eine bedeutende Seefahrernation, deren Schiffe an allen Küsten Dunkelerdes zu finden waren.

Ihre schnellen und wendigen Kriegsschiffe waren berüchtigt und bei den Gegnern gefürchtet.

Unter normalen Umständen wäre der Segler der Darscha-Dosch gegenüber den Kriegsgaleeren im Vorteil gewesen. Sofern es Wind gegeben hätte, wäre die SEEWOLF um einiges schneller als diese scho-lahnischen Kriegsgaleeren. Aber es herrschte Flaute, absolute Windstille und das Meer war spiegelglatt.

Das bedeutete, dass die größere Zahl der Ruderer über das Tempo entschied und dieser Vorteil lag nun eindeutig auf Seiten der Scho-Lahner.

Sie kamen rasch heran. Die Trommeln, die den Rhythmus für die Ruderer angaben, waren bereits dumpf zu hören.

Den Männern an Bord der SEEWOLF war ziemlich schnell klar, dass sie gegen diese Übermacht keine Chance hatten, wenn es zum Kampf kam. So gab es nur die Flucht.

Die Galeeren näherten sich. Der Trommelrhythmus wurde beschleunigt. Offenbar strebten die Scho-Lahner an, das Tempo noch weiter zu erhöhen.

Es ist die Frage, wie lange sie es durchhalten können, dachte Koschna.

Sie bewegten sich in einer weit auseinander gezogenen, halbkreisförmigen Formation und versuchten ganz offensichtlich der darscha-doschen Fregatte den Weg abzuschneiden.

Koschna gab Anweisung, den Kurs entsprechend zu ändern, aber auch das konnte nichts daran ändern, dass die Scho-Lahner immer mehr aufholten.

Wind hätte sie vielleicht retten können, aber es sah nicht danach aus, als ob sich etwas an der Flaute ändern würde.

Die Stunden krochen dahin.

Die Darscha-Dosch an Bord der SEEWOLF legten sich nach Kräften in die Riemen, aber die scho-lahnischen Galeeren holten immer mehr auf. Gleichgültig, wohin diese Flotte unterwegs war, ein einzelnes Drachenschiff der Darscha-Dosch würden sie sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Zu oft hatten darscha-dosche Piraten auch die Gewässer Scho-Lahns unsicher gemacht, Schiffe aufgebracht, brennend zurückgelassen und Siedlungen geplündert.

Was die Wendigkeit und die seglerischen Qualitäten anging, waren die darscha-doschen Fregatten den scho-lahnischen Galeeren natürlich überlegen, aber der fehlende Wind machte diesen Vorteil so gut wie vollkommen wett und wenn es einer der Galeeren erst einmal gelang, einen Rammstoß gegen die SEEWOLF auszuführen, war das Schicksal von Koschna-Perdoschna Wolfsauge und seiner Mannschaft besiegelt.

Barasch-Dorm stand mit geschlossenen Augen da, während auf den Galeeren damit begonnen wurde, die Katapulte zu bestücken. Die ersten dieser Geschosse schlugen links und rechts neben der SEEWOLF ein, zumeist wurden Steinbrocken oder brennendes Pech verwendet. Ein einziges dieser Steingeschosse reichte schon, um ein furchtbares Loch in die Außenwandung der SEEWOLF zu reißen.

Ein Hagel von Pfeilen regnete als nächstes auf die SEEWOLF nieder. Dutzende von Bogenschützen hatten sich auf den beiden am nächsten heran gekommenen Galeeren aufgestellt. Manche dieser Pfeile brannten.

Die Ruderer der SEEWOLF verkrochen sich hinter ihren Schilden, der Rhythmus verlangsamte sich. Überall gingen die Pfeile nieder, blieben zitternd im Holz stecken oder bohrten sich in die Körper der Darscha-Dosch.

Erste Todesschreie gellten. Brandpfeile fetzten durch das Segel hindurch, das innerhalb weniger Augenblicke in Flammen stand.

Die wenigen Bogenschützen an Bord der SEEWOLF versuchten, den Beschuss durch die Scho-Lahner zu erwidern so gut es ging, aber die Übermacht war erdrückend.

Barasch-Dorm blieb vollkommen ruhig. Er stand mit geschlossenen Augen da, schien wie entrückt zu sein.

Links und rechts von ihm zuckten die Pfeile vorbei. Das schien den Magier von geheimnisvoller Herkunft nicht im Mindesten zu stören.

Er breitete die Arme aus. Eine Falte erschien auf seiner Stirn. Er murmelte eigenartige Formeln vor sich hin, die wie sinnlos aneinander gereihte Silben klangen.

„Er soll uns Wind bringen, dieser fremde Hexer”, rief Solamisch-Darrschon, „und wenn die finsteren Mächte, zu denen er betet, dazu nicht in der Lage sind, dann ist wahrscheinlich auch seine Geschichte von dem sagenhaften Schatz nichts weiter als eine Fabel.”

Immer näher kamen die Galeeren heran. Langsam aber sicher begannen sie, die SEEWOLF einzukreisen.

„Scheimischam-Nakesch-Schpradatt!”, rief Barasch-Dorm. Er öffnete die Augen. Sie waren vollkommen schwarz. Sein Gesicht war verzerrt.

„Scheimischam-Nakesch-Schpradatt!”

Er wiederholte diese Schaltworte immer wieder wie einen Singsang, streckte dabei die Arme aus. Ein Zittern durchlief seinen Körper.

Bei Pruschkar, was tut er jetzt?, ging es Koschna-Perdoschna Wolfsauge durch den Kopf.

Die zuvor fast spiegelglatte Wasseroberfläche begann sich zu kräuseln, eigenartige kleine Strudel bildeten sich, obwohl kein Wind blies. Nicht ein Hauch.

Auch die Männer auf den scho-lahnischen Galeeren schienen das zu bemerken, denn ihr Kriegsgeheul wurde leiser. Das Wasser bildete eigenartige Formen, Formen menschlicher Körperteile. Arme, Beine, Köpfe, Gesichter, die aus Wasser geformt zu sein schienen, wie gläserne Abbilder von Menschen.

Mit gespenstischer Behändigkeit griffen diese Hände nach den Wanden der scho-lahnischen Galeeren. Sie kletterten an den Schiffswandungen empor, dabei veränderten sich ihre biegsamen Gestalten ständig, lösten zwischendurch ihre Form vollkommen auf, so dass sie zwischen den Rudern hindurch gleiten konnten. Lautlos waren sie, lautlos und tödlich.

Als der erste dieser Wasserdämonen an Deck jenes scho-lahnischen Kriegsschiffes gelangte, das der SEEWOLF am nächsten war, wurde er fassungslos angestarrt.

Dann wurden schrill klingende Befehle gerufen. Einer der an Deck stehenden Bogenschützen ließ einen Pfeil durch die Luft sirren.

Der Pfeil drang durch den Körper des Wasserdämons hindurch, blieb dahinter im Mast zitternd stecken. Lautlos schnellte der Wasserdämon vor, packte den erstbesten Scho-Lahner und schleuderte ihn über Bord. Schreiend klatschte er ins Wasser.

Weitere dieser unheimlichen Wasserdämonen hatten das Deck der Galeere erklommen.

Die Erstarrung, die die Scho-Lahner anfänglich gelähmt hatte, war nun von ihnen abgefallen. Sie wehrten sich, legten Pfeil um Pfeil in ihre Bögen, ließen die Schwerter kreisen, aber ihre Waffen waren wirkungslos. Sie fuhren durch die Körper der Wassergestalten hindurch, ohne dass irgendeine Wirkung erkennbar war.

Die aus dem Meer empor gestiegenen Angreifer jedoch gingen mit grausamer Konsequenz vor.

Aus ihren gestaltverändernden Körpern bildeten sich Formen heraus, die an die Waffen der Scho-Lahner erinnerten. Schwertklingen zumeist, die direkt aus den Handgelenken der Wasserdämonen herauswuchsen.

Vollkommen lautlos ließen die Angreifer sie durch die Luft schnellen. Die Schreie der Scho-Lahner waren weithin zu hören. Köpfe wurden von den Körpern getrennt. Panik an Bord brach aus.

Der Abwehrkampf der Scho-Lahner gegen die Wasserdämonen war hoffnungslos. Einer nach dem anderen sank tödlich getroffen zu Boden. Blut tränkte bald die Galeerenplanken.

Noch immer bildeten sich weitere dieser kleinen, charakteristischen Strudel, aus denen die Wasserdämonen herauswuchsen, um dann behände die Außenwandungen der Galeeren zu erklimmen.

Auf insgesamt drei der scho-lahnischen Kriegsschiffe wurde jetzt erbittert gekämpft. Auf einem davon waren sehr schnell sämtliche Besatzungsmitglieder niedergemetzelt worden. Die Meeresdämonen hatten ganze Arbeit geleistet.

Sie sprangen zurück ins Wasser, vermischten sich wieder mit jenem Element, aus dem sie aufgestiegen waren, während sich an anderer Stelle neue kleine Strudel bildeten, aus denen gläsern wirkende Arme sich emporreckten.

Das Zittern, das Barasch-Dorms Körper durchfuhr, wurde immer heftiger. Eigenartige Laute drangen aus seinem Mund hervor.

„Legt euch in die Riemen, Männer!”, rief Koschna unterdessen. „Schauron, Schorleisch, gebt, was ihr könnt! Wer immer hier uns zu Hilfe gekommen ist, der Angriff dieser Wasserdämonen verhilft uns vielleicht zur Flucht.”

Die Männer der SEEWOLF ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie ruderten mit neuer Hoffnung und neuer Kraft.

Schnell gewann die SEEWOLF wieder an Fahrt, während die Verfolger zurückblieben, verwickelt in einen Kampf mit einem übernatürlichen Gegner, den sie nicht gewinnen konnten.

Die grausigen Schreie der Scho-Lahner ließen selbst Koschna erschaudern und einige Augenblicke lang empfand er sogar so etwas wie Mitleid mit ihnen. Keinem Seemann wünschte man ein derartiges Schicksal.

Der Vorsprung wuchs wieder. Das Quadratsegel war inzwischen fast vollständig verbrannt. Die letzten Fetzen kohlten noch vor sich hin. Hier und da begann das Feuer bereits auf den Mast und das Quergaffel über zu gehen.

Koschna gab zwei Männern den Befehl, an den Seilen empor zu klettern und mit Hilfe von feuchten Decken die Brandherde zu löschen.

„Seht nur, diese scho-lahnischen Hasenfüße kehren um!”, rief Solamisch-Darrschon und deutete auf die nachrückenden scho-lahnischen Flotteneinheiten.

Sie hatten gesehen, welches Schicksal die vorangefahrenen Schiffe erlitten hatten und sie begriffen sehr schnell, dass sie es mit einem Gegner zu tun hatten, gegen den nicht der Hauch einer Überlebenschance bestand. So begannen sie eine heillose Flucht.

Jene Galeeren, auf denen die Wasserdämonen gewütet hatten, trieben hingegen führerlos dahin, dümpelten in der wieder spiegelglatt gewordenen See.

„Sie wagen es nicht, uns zu folgen”, stellte Koschna fest.

„Bei Pruschkar, dieser Mann wird mir immer unheimlicher”, murmelte Solamisch-Darrschon, halb an den Kapitän gewandt, halb zu sich selbst. „Was für ein Segen für uns, dass wir die Grünschnäbel haben!” Aber würden die eine solche Macht auch tatsächlich zu verhindern wissen, wenn sie sich gegen die Darscha-Dosch selber richtete?

Koschna-Perdoschna trat an den Magier heran. Die Schwärze verschwand jetzt wieder aus dessen Augen.

Sein Gesicht, durchzuckte es den Kapitän schaudernd. Es schien um Jahre gealtert zu sein. Wie ein ledriges Relief wirkte die Haut jetzt, bleich, fast pergamentartig.

Das Gesicht eines Toten, dachte der Kapitän.

„Ich danke dir für deine Hilfe”, sagte Koschna.

Die Züge des Magiers blieben unbewegt. Ein Muskel zuckte unterhalb seines linken Auges. Dieser Mann wirkte sehr, sehr müde.

„Sieh mich an, Kapitän!”, forderte der Magier. „Sieh mich an. Verstehst du jetzt? Begreifst du nun, warum ich meine magischen Kräfte nur dann anwende, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gibt? Es kostet Kraft, so viel Kraft.”

„Jedenfalls hast du bei mir was gut”, erwiderte Koschna.

Ein zynischer Zug erschien um die Mundwinkel Barasch-Dorms.

„Möglicherweise werde ich eines Tages darauf zurückkommen, Kapitän.” Dann ging ein schauerliches Ächzen über seine Lippen und er brach auf der Stelle zusammen.

Besorgt beugte sich der Kapitän über ihn und tastete nach seinem Puls. Seine schlimmste Befürchtung wurde wahr:

Da war... nichts mehr!

Aber der Magier hatte doch gerade noch mit ihm gesprochen...? Konnte er sich denn so selber überschätzt haben?

Oder gab es einen anderen Grund, der ihn alles hatte riskieren lassen, weil es letztlich doch noch eine Chance für ihn gab - auch wenn er jetzt normalerweise für tot hätte erklärt werden müssen? Vielleicht...?

„Holt mir die Grünschnäbel!”, brüllte Koschna.

Das ließen sich seine Leute nicht zweimal sagen, denn sie hatten durchaus mitbekommen, was passiert war.

Dieser verdammte Hexer!, dachte der Kapitän. Ich würde ihn lieber sterben lassen, hier und jetzt, aber wie soll ich anschließend meinen Leuten erklären, dass es jetzt doch keinen Schatz mehr geben kann?

Ein schlimmer Zwiespalt, in dem er sich befand - und er musste sich für den Magier entscheiden, für dessen Weiterleben.

Aber konnten die beiden Jugendlichen ihm dabei wirklich helfen?

 

*

 

Mit ihren magischen Sinnen, die nur hier auf Dunkelerde wirksam waren, hatten Jule und Pet alles mitbekommen. Es war wirklich schlimm für sie gewesen: Die Kämpfe, die Wassermonster, das Sterben der belebten Schatten, die genauso wie normale Menschen wirkten, mit ihren Todesängsten, ihren Schmerzen... Und dann die Idee von Koschna... Pet spürte, wie sich sein Nacken schmerzhaft zusammen zog: Wie sollten sie das denn überhaupt anstellen? Doch er befürchtete, dass sie nichts anderes tun konnten, als es zumindest zu probieren.

Und da wurde auch schon die Tür zu ihrem kleinen Gefängnis aufgerissen.

„Los, mitkommen!”, befahl einer der Barbaren bärbeißig.

Wortlos folgten sie ihm. Er führte sie schnurstracks zu dem Magier.

Noch bevor sie dort waren, wussten die beiden: Er war gewissermaßen körperlich tot, aber sein Geist hatte den Körper nicht völlig verlassen.

„Er ist kein belebter Schatten”, zischelte Pet, nur für Jule hörbar.

„Genau!”, bestätigte diese. „Er stammt von der Erde, genauso wie wir. Sonst wäre er jetzt wirklich tot - halt wie die anderen: Um als unsichtbarer Schatten davon zu flattern, sozusagen in die Warteposition, damit er als derselbe, wenn auch ohne Gedächtnis, wiedergeboren werden kann.”

„Wenn wir warten, geschieht es trotzdem noch, allerdings endgültig und ohne Wiedergeburt”, gab Pet zu bedenken.

„Was willst du tun?”

„Was werden WIR tun?”

„Halte mich da raus! Zur Erinnerung: Ich bin nur die Jungfrau, die die Stellung halten muss, während der Held...”

„Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, schon vergessen? Nicht in der Zeit von Magnus und seinen Alchimisten. Das war lange vor der Emanzipation.”

„Ich pfeife darauf, hier und heute!”, kommentierte Jule seine Worte verbittert. Aber sie beugte sich trotzdem gemeinsam mit ihm über den Regungslosen.

„Könnt... könnt ihr was tun?”, fragte Koschna bang.

Er bekam keine Antwort. Pet legte die Hand auf die Brust des verruchten Magiers. Am liebsten hätte er es gehabt, wenn der Magier gestorben wäre. Das musste er sich ehrlich eingestehen. Andererseits war er der Dreh- und Angelpunkt, was die Aufgabe betraf. Pet spürte sehr deutlich in seinem Innern, dass seine Aufgabe keineswegs damit gelöst war, wenn er den Magier sterben ließ und ihm die Schriftrolle weg nahm. Es war mehr als nur so ein Gefühl. Inzwischen wusste Pet, dass es Vorahnungen waren, die erschreckend verlässlich sich zeigten, egal, ob man sie berücksichtigte oder nicht.

Außerdem: Wie sollen wir ohne diesen Typen zurück nach Hause finden?

Das war ausschlaggebend. Pet konzentrierte sich auf den leblosen Körper und suchte den Geist des Magiers, der sich ziemlich erfolgreich gegen die Gedankenspionage der beiden Jugendlichen schützte, seit sie ihm bewusst geworden war. Und Pet fand eine winzige Resonanz: Da war er, der Geist! Nur noch Sekunden, dann war er weg - und dann war alles zu spät.

Erschrocken „griff” Pet danach. Er spürte Jule an seiner Seite, so nah wie noch nie zuvor. Nicht nur körperlich, sondern auch... geistig! Als wären sie zu einer Einheit verschmolzen. Als wären sie als lebende Menschen nur zwei Teile eines einzigen Ganzen und nun, in ihrem gemeinsamen Bemühen, den verruchten Magier zu erwecken, waren sie vollkommen wieder dieses Ganze, wenn auch nur vorübergehend: Bis sie ihre Aufgabe erfüllt hatten nämlich!

Und da regte sich der Geist des Magiers stärker. Sie spürten, welche Macht in ihm steckte, obwohl er jetzt im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode erschöpft war. Er bemerkte ihre Anwesenheit und packte seinerseits zu. Die beiden mussten es ihm erlauben. Sie durften sich nicht zurückziehen, sonst verloren sie ihn.

Jule ächzte unwillkürlich. Sie merkte, dass die Kräfte, die auf den Magier von ihr über gingen, sie schwächten. Wenn sie nicht auf passte, war am Ende sie in diesem Zustand knapp vor dem endgültigen Tod.

Pet erging es genauso. Sie bemerkten es beide und wurden sehr achtsam, damit es nicht geschah, damit der Magier bei seinem Erwachen nicht zu weit ging und dabei letztlich über ihren Tod triumphierte.

Da tauchte in Pet ein schlimmer Verdacht auf: Hatte sich der verruchte Magier denn absichtlich in Todesgefahr begeben, damit sie beide ihn zu retten versuchten - und er bei dieser Gelegenheit sie vernichten konnte, weil sie sich ihm zwangsläufig ganz öffneten?

Er brauchte sich mit Jule nicht zu verständigen, nicht in dem Zustand, in dem sie beide sich befanden. Ihre Gedanken bewegten sich im Gleichklang. Sie gaben Kräfte frei, die den Magier beseelten. Bis dieser die Augen aufschlug. Es waren keine normalen Augen, sondern sie wurden von Schwärze erfüllt: Der Magier erkannte die Situation und wollte sie für seine hinterhältigen Zwecke nutzen: Also doch! Aber die beiden waren gewappnet, was er nicht vorausgesehen hatte: Gleichzeitig nämlich brachen Jule und Pet den Kontakt ab. Erschöpft, aber siegreich und nicht mehr länger gefährdet sanken sie auf die Schiffsplanken zurück und blieben erst mal mit geschlossenen Augen liegen.

Koschna kümmerte sich besorgt um sie.

„Sie leben!”, rief er erleichtert. Erst dann kümmerte er sich um den Magier.

Dieser erhob sich gerade. Er tat es taumelnd. Seine Augen wirkten wieder normal. Missbilligend schaute er auf die beiden Jugendlichen hinab.

„Du wolltest sie umbringen, während sie dich zurück ins Leben gerufen haben!”, klagte Koschna ihn an.

„Für einen Barbaren bist du gar nicht mal so dumm”, bemerkte der Magier gehässig. „Aber keine Bange, du hast ja selber feststellen können, dass es ihnen gut geht. Zwar sind sie ein wenig erschöpft, aber ansonsten...”

Er fügte einen deutlichen Gedanken hinzu, der von den beiden leicht aufgenommen werden konnte, aber von dem sonst niemand was mit bekam: „Ihr hofft, dass ihr durch mich nach Hause zurückkehren könnt? Also habe ich richtig vermutet. Aber verlasst euch nur nicht zu sehr darauf!”

Pet dachte: „Willst du es uns ausreden oder was? Wenn ja, sehen wir keinen Grund mehr, dich länger am Leben zu lassen!” Gleichzeitig öffnete er die Augen und schaute ihn ernst an.

Es entging ihm nicht, dass der Magier zusammen zuckte. Also hatte er diesen Gedanken sehr wohl aufgenommen.

Pet schaute nach Jule. Diese hatte zwar Pets Gedanken nicht mitbekommen, aber sie ahnte, was passiert war. Sie brauchten sich nicht extra darüber zu unterhalten.

Jule richtete sich auf, obwohl es ihr noch schwer fiel. Aber auch dem Magier ging es noch lange nicht so gut wie vorher. Er sah um Jahrzehnte gealtert aus, nach wie vor und bewegte sich auch so schwach wie ein uralter Greis.

„Ich hoffe, wir haben keinen Fehler gemacht!”, bemerkte sie gehässig.

Koschna schüttelte den Kopf darüber: „Bestimmt nicht. Zumindest nicht so lange wir den Kerl brauchen.”

Jule schaute ihn überrascht an. Koschna schien auf ihrer Seite zu sein, aber das durfte sie nicht zuviel hoffen lassen. Für Koschna waren sie Mittel zum Zweck. Dass er sie mochte, war dabei eher zweitrangig. Wenn es für ihn und seine Besatzung besser gewesen wäre, hätte er sich von den beiden getrennt - egal, in welcher Form.

Er würde uns sogar töten lassen, wenn er es für besser halten würde!, erkannte Jule voller Entsetzen. Aber dann schlug sie die Augen nieder, damit Koschna es ihr nicht ansehen konnte und raunte zu Pet gewandt: „Komm, wir gehen in unser Gefängnis zurück und ruhen uns aus.”

„Richtig”, pflichtete ihr Pet bei: „Dann brauchen wir wenigstens nicht mehr den Anblick von diesem Oberkrassen zu ertragen...”

 

*

 

Ein ganzer Tag noch verging, ohne dass Wind wehte, aber dann veränderte sich das Wetter. Dunkle Wolken zogen am Horizont auf und der Wind begann, seine gewohnte Kraft zu entfalten. Die Wellen ließen das Schiff schaukeln.

An Bord der SEEWOLF wurde das Ersatzsegel aufgezogen. Bald schon nahm die SEEWOLF wieder gute Fahrt auf, Richtung Südosten.

Am Tag orientierte man sich am Stand der Sonne, des Nachts an den Gestirnen.

Von Bord des valuremischen Seglers, den die Darscha-Dosch gekapert hatten, waren sämtliche Seekarten mit von Bord genommen worden.

Solamisch-Darrschon stellte schnell fest, dass sie von außergewöhnlicher Qualität waren. „Viel besser und genauer als alle valuremischen Seekarten, die ich je zu Gesicht bekommen habe”, erklärte er.

„Es sind meine Karten”, erläuterte Barasch-Dorm. „Ich habe sie selbst angefertigt.”

„Du bist ein Mann vieler Talente”, stellte Koschna fest. Man sah ihm nicht an, was er ansonsten noch über den Magier dachte.

Hunderte von Meilen auf dem Meer der fünf Winde lagen vor den Männern der SEEWOLF.

Die Tage vergingen einer wie der andere. Barasch-Dorm unterstützte die Darscha-Dosch bei der Navigation. Er schien auch auf diesem Gebiet über erstaunliche Kenntnisse zu verfügen, die selbst die erfahrenen Seemänner aus dem Norden in Erstaunen versetzten. Pet und Jule gingen ihm möglichst aus dem Weg, um seinen Anblick nicht ertragen zu müssen. Ansonsten durften sie jetzt ihr Gefängnis verlassen, wann immer dazu Lust hatten. Sie machten reichlich davon Gebrauch, denn sie langweilten sich schier zu Tode.

„Ein Königreich für einen Gameboy!”, meinte Pet einmal.

Jule machte eine gespielt finstere Miene:. „Halbwegs normales Essen wäre mir dabei schon lieber. Es muss ja nicht gleich 'ne Curry sein...”

Der Wind kam günstig und nahm von Tag zu Tag zu.

Nach einer Woche geriet die SEEWOLF schließlich in einen Sturm. Mehrere Männer gingen über Bord. Ihnen konnte nicht geholfen werden.

Jule und Pet verbrachten die Zeit des Sturms lieber unter Deck in ihrem Gefängnis. Sie wunderten sich beide darüber, wieso sie nicht schrecklich seekrank wurden. Auf „ihrer” Erde wären sie das gewiss geworden, aber hier galten für sie gewissermaßen andere Gesetze.

Da hätte mich ja auch dieser Dolchstoß zu Beginn getötet!, dachte Pet in diesem Zusammenhang...

Einige Fässer mit Vorräten gingen ebenfalls verloren.  In der Folgezeit mussten aufgrund der bei dem Sturm erlittenen Verluste die Nahrungsmittel rationiert werden, was natürlich nicht gerade zur Verbesserung der Stimmung an Bord beitrug.

Nur Jule und Pet beschwerten sich nicht darüber. Sie hatten für sich noch nicht völlig entschieden, ob ständiges Hungern nicht doch besser war als das, was die seemännische Kost eher gewöhnten Darscha-Dosch so mit der mehr als hochtrabenden Umschreibung „Lebensmittel” meinten.

Immer wieder kam es zu Streitereien, mehrere Besatzungsmitglieder wurden krank. Es war zu vermuten, dass auch ein Teil der auf dem Schiff verbliebenen Vorräte schlecht geworden war.

„Was Wunder?”, kommentierte Jule ein wenig gehässig, aber gottlob nur Pet zugewendet. Ansonsten hielten sie sich aus allem möglichst heraus, ehe sie auch noch - sozusagen als unerwünschte Mitesser - zum Zentrum des Zorns wurden.

Groß war allerdings der Jubel unter der Besatzung, als endlich die Küste des Sultanats Hamasch am Horizont auftauchte. Damit war das Schlimmste offensichtlich überstanden: In Hamasch-Hafen wurden neue Vorräte aufgenommen, dann ging es zügig weiter an der Küste entlang, Richtung Osten.

Dicker Wermutstropfen für Jule und Pet dabei allerdings: Sie wurden während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes im Hafen wohlweislich weg gesperrt! Zwar nahmen sie viele interessante Eindrücke mit ihren magischen Möglichkeiten auf, aber das war nicht dasselbe, als wären sie persönlich mit an Land gegangen. Ein Umstand, der sie ziemlich wütend auf Koschna machten, auch wenn ihm das offensichtlich egal war.

„Dafür tu ich dem auch noch mal einen Gefallen!”, drohte Jule. Aber auch das hörte nur einer: Pet!

 

*

 

Die SEEWOLF erreichte den Hafen Dahn-Al-Quaddisch, der an der westlichsten jener unzähligen Mündungen gelegen war, in die sich der große Fluss Üruschil in seinem Delta verzweigte. Bevor sie einliefen, durften Jule und Pet diesmal noch mit an Bord bleiben.

„Ich ahne, wie diese Stadt auf unserer Erde heißt, obwohl sie natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit hat”, murmelte Pet vor sich hin.

„Wie meinen?”, wandte sich Jule an ihn.

Pet deutete mit dem Kinn nach vorn. „Ich tippe auf Kairo - oder das, was auf Dunkelerde ungefähr an dieser Stelle sich befindet.”

„Dann wäre der Üruschil... früher der Nil gewesen?”, wunderte sich Jule.

„Es sind hier Jahrtausende vergangen, Jule, vergiss es nicht. Vor der Abkoppelung war Dunkelerde ganz genauso gewesen wie unsere Erde - als ihr unbelebter Schatten. Mit der Belebung wurde Dunkelerde zu einer selbständigen Welt und war künftig starken Veränderungen unterworfen. Das Meer der fünf Winde... das war früher sicher mal unser Atlantik.”

„Und wir sind hier an Bord gekommen, als sich das Schiff vielleicht... im Ärmelkanal befunden hatte?”

„Ich vermute es zumindest. Vieles deutet darauf hin, aber alles ist hier auf Dunkelerde dermaßen anders...”

„Kein Wunder, so mit all der Magie und dergleichen...”, sinnierte Jule. „Obwohl nicht alle magisch begabt sind.”

„Ganz im Gegenteil: Nur sehr wenige, Jule. Schau dich nur mal um. Keiner von der Besatzung hat eine Ahnung von Magie. Die erschreckt das höchstens. Wir beide sind denen im Grunde genommen genauso wenig geheuer wie dieser alte Knacker von Magier.”

„Genau! Dabei sind wir her gekommen, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren.”

„Zumindest, um das zu versuchen!”, schränkte Pet pessimistisch ein. Wenn er sich so umschaute und über ihre Situation nachdachte, konnte er gar nicht mehr anders als Pessimist werden.

Sie hatten sich ein wenig abgesondert. Jetzt gingen sie in die Nähe des Kapitäns, hoffend, dass der sie nicht gleich wieder weg sperren ließ. Im Moment wurden sie von ihm genauso ignoriert wie von dem Magier und der übrigen Besatzung. Die hatten nur Augen für den Hafen weit vor ihnen.

„Wir werden in Dahn-Al-Quaddisch anlanden müssen”, erklärte Barasch-Dorm gerade gegenüber Kapitän Koschna-Perdoschna Wolfsauge.

„Ich persönlich allerdings sehe keinen Grund dafür”, meinte Koschna.

„Das liegt daran, dass du die Gegebenheiten im Delta-Gebiet des Üruschil nicht kennst. Der Fluss verzweigt sich in Hunderte von kleinen Kanälen und Abflüssen. Jemand, der hier nicht zu Hause ist, sollte einen einheimischen Führer bemühen.”

Der Magier machte eine kurze Pause, ehe er schließlich fortfuhr:

„So ein Führer wird sein Geld wert sein, glaubt mir. Im Übrigen wäre zu überlegen, ob wir nicht an der Küste entlang weiter bis nach Schanni-Schann segeln.”

Schanni-Schann - der Name dieser Weltstadt war auch Koschna ein Begriff. Ihr Hafen im Westen des Üruschil-Deltas war einer der wichtigsten Handelsplätze an der Küste des Meeres der fünf Winde.

Vielleicht ist eher dieses Schanni-Schann das „hiesige Kairo”, überlegte Pet flüchtig, aber dann lauschte er weiter:

„Vor langen Jahren bin ich einmal in Schanni-Schann gewesen”, erklärte Koschna. „Es war in jener Zeit, als ich an Bord des Handelsschiffes diente, das mein Onkel befehligte. Es ist eine gewaltige Stadt, gewaltiger als alles, was ich zuvor gesehen hatte.”

Barasch-Dorm nickte. „Ja, das ist wahr. Eine der größten Städte der Welt und das seit langer Zeit.”

Ein verlorener, in sich gekehrter Blick stand jetzt in Barasch-Dorms Gesicht. Er wirkte fast ein wenig entrückt, gefangen von Erinnerungen. Ein eigenartiges Lächeln spielte um seine dünnen Lippen.

Barasch-Dorm schien seine ganz persönlichen Erinnerungen an Schanni-Schann zu haben.

„Aber die Reise nach Schanni-Schann wäre ein Umweg”, stellte Koschna fest.

„Das ist richtig”, bestätigte Barasch-Dorm. „Aber der Seitenarm des Üruschil, an dem Schanni-Schann liegt, erlaubt Schiffen einen wesentlich größeren Tiefgang.”

Koschna machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Die Schiffe der Darscha-Dosch sind für ihren geringen Tiefgang bekannt und wenn es sein muss, ziehen wir sie sogar an Seilen über Baumstämme, wenn es darum geht, eine Landenge zu überwinden.”

Barasch-Dorm hob die Augenbrauen.

„Wie auch immer. Du musst mit Untiefen rechnen, Kapitän, aber wenn wir einen guten Führer finden, wird das kein Problem sein, wie ich hoffe.”

Wenig später hatte die SEEWOLF an der Kaimauer des Hafens von Dahn-Al-Quaddisch festgemacht. Jule und Pet blieben an Bord und waren ganz aufgeregt. Einzige Auflage: Sie durften sich bloß nicht blicken lassen in ihrer fremdartigen Aufmachung, wie Koschna es einschätzte.

Allerdings waren nicht nur sie auffallend: Selbstverständlich erregte das Darscha-Dosch-Schiff sowieso hier wesentlich mehr Aufmerksamkeit, als es im weltläufigeren Schanni-Schann der Fall gewesen wäre.

„Ich schlage vor, du lässt deine Männer an Bord und erlaubst ihnen keinen Landgang”, erklärte Barasch-Dorm.

Koschna nickte. Er hatte von der Strenge gehört, mit der die Bewohner Kreitskas bisweilen ihren Glauben mit dem seltsam anmutenden Namen „HELL-DUNKEL” pflegten. Nach der Lehre, der sie folgten, stand dem Lichtgott HELL der Herr der Finsternis DUNKEL gegenüber. Auf Dunkelerde wusste niemand mehr, aus welcher Sprache die Worte Hell und Dunkel stammten - und wie treffend sie dabei waren! Wobei beide einander brauchten, sowohl Hell als auch Dunkel, um das Gleichgewicht der Welt aufrecht zu erhalten. Mit teilweise drakonischen Strafen mussten auch Ausländer rechnen, sofern sie die Gebote des Hell-Dunkel nicht beachteten.

Unwissenheit schützte hier vor Strafe nicht.

„Sag deinen Männern jetzt schon vorsorglich, dass sie niemals ein Herd- oder Lagerfeuer löschen sollen, vor allem, wenn wir später auf dem Festland unterwegs sind”, wandte sich Barasch-Dorm noch einmal an den Kapitän. „Der Lichtgott Hell ist auch der Gott des Herdfeuers und wer so etwas tut, begeht einen schweren Frevel, für den man sterben kann. Und auf die Spitzfindigkeit, ob diese Gesetze auch an Bord eines darscha-doschen Schiffes anzuwenden sind, wollen wir uns besser gar nicht erst einlassen.”

„Ich werde es den Männern sagen”, versprach Koschna ungerührt. Sein Blick suchte und fand Jule und Pet, aber die hatten sich in Deckung geduckt, um nicht von Einheimischen gesehen zu werden, obwohl ihnen ansonsten nichts entging.

Zufrieden wandte sich Koschna wieder von ihnen ab.

 

*

 

Nur einige kleine Schiffe aus Scho-Lahn, Valurema und den Küstenstaaten lagen in dem Hafen von Dahn-Al-Quaddisch.

Koschna begleitete Barasch-Dorm an Land.

Barasch-Dorm grinste.

„Du hast Angst, dass ich mich einfach aus dem Staub mache, Darscha-Dosch”, stellte er fest.

„Ist diese Angst denn unbegründet?”

„Ich bin froh, dass ich ein Schiff habe und sofern du mich bei dieser Unternehmung als Partner betrachtest und nicht länger als Gefangener, habe ich keinen Grund, dich zu betrügen.”

Koschna reichte dem Magier die Hand.

„Also gut”, sagte er, „wir sind Partner.”

„Aber mein Wort gilt trotzdem”, erwiderte Barasch-Dorm. „Du kannst das gesamte Gold haben, das wir finden. Ich bin nicht daran interessiert. Nur an jener gewissen Kleinigkeit, die ich für meine Studienzwecke brauche.”

„Ich hoffe, du erinnerst dich noch an dieses Wort, wenn wir die Schätze an Bord der SEEWOLF laden.”

„Ich vergesse nie etwas”, erwiderte Barasch-Dorm.

„Ich will es hoffen. Andernfalls...”

„Andernfalls wirst du mir drohen, mich zu töten, ich weiß”, sagte Barasch-Dorm. Ein zynisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich schätze den Optimismus bei euch Darscha-Dosch.”

„Optimismus?”, echote Koschna.

„Ja, in zweifacher Hinsicht: Erstens gehst du davon aus, dass du mich so einfach töten kannst - Dank dieser beiden Kinder.”

„Und zweitens?”

„Zweitens hast du Angst davor, dass ich, den du gefangen genommen hast, dir entfliehen könnte, aber vielleicht ist es auch genau umgekehrt und du bist mein Gefangener, ohne es zu merken und meine Magie hat dir die Sinne vernebelt - trotz dieser Kinder?”

„Ich schätze deinen Humor nicht, Magier. Allerdings hast du mich da auf eine gewisse Idee gebracht.” Koschna schürzte nachdenklich die Lippen. Dann warf er einen verstohlenen Blick in die Richtung, wo er Jule und Pet vermutete. Sie zeigten sich nicht.

„Was meinst du?”, fragte der Magier alarmiert. Als wüsste er es nicht längst schon.

„Nun, ich bin dir sozusagen ausgeliefert ohne die beiden Grünschnäbel. Nicht wahr, das schwebt dir vor? Also wäre es dumm von mir, sie zurück zu lassen, wenn wir gemeinsam an Land gehen.”

„Warum sollte ich was unterwegs gegen dich tun? Sind wir nicht Partner?”

„Ja, das sind wir, in der Tat: Zweckpartner! Aber ich traue dir genauso wenig wie du mir.”

„Das Risiko ist größer als der vermeintliche Vorteil, wenn du sie mit nimmst, Darscha-Dosch!”, gab der Magier zu bedenken.

Koschna nickte. „Also gut, überredet: Lassen wir sie hier, ehe wir noch mehr Aufsehen erregen als ohnehin schon...”

Der Magier zeigte sich nicht erleichtert, als hätte er sowieso nichts anderes erwartet.

Jule und Pet, die trotz der Entfernung alles sehr genau mit bekommen hatten, eilten indessen freiwillig in ihr Gefängnis, damit sie dort ungestört blieben. Denn sie waren von einer unbändigen Neugierde erfüllt: Was würde an Land passieren? Und sie brauchten volle Konzentration, damit ihnen das nicht entging. Jedenfalls würden sie mit von der Partie sein, wenn auch nur mit ihrer Magie. Allerdings so, dass es dem Magier nicht auffiel. Sie durften sich nur auf Koschna konzentrieren.

Kaum waren sie allein und hatten die Augen geschlossen, wussten sie: Tatsächlich, es klappte!

 

*

 

Koschna und der Magier gingen durch die engen Gassen zwischen den Sandsteinhäusern von Dahn-Al-Quaddisch. Die Stadt war voller Geschäfte und Händler. Die Geschäfte und Stände gehörten fast ausschließlich Einheimischen, was einfach damit zu tun hatte, dass Ausländern und Ungläubigen die Eröffnung eines Gewerbes nur dann erlaubt war, wenn sie zuvor die Einwilligung der örtlichen Würdenträger eingeholt hatten. Selbstverständlich ließen sich diese eine solche Erlaubnis teuer bezahlen, so dass sich die Aufnahme der Geschäftstätigkeit kaum lohnte.

Koschna fühlte die Blicke, die auf ihn gerichtet waren.

„Es gibt hier viele Vorurteile gegen euch Darscha-Dosch”, kommentierte Barasch-Dorm diese Situation. „Viele Bewohner Kreitskas sind der Meinung, dass Darscha-Dosch ihre erstgeborenen Kinder verspeisen.”

„Pah, sollen sie denken, was sie wollen”, erwiderte Koschna. „Hauptsache, keiner dieser Turbanträger kommt mir in die Quere.”

„Du glaubst vielleicht, dass du alle Probleme mit dem Schwert lösen kannst, Kapitän”, sagte Barasch-Dorm. „Aber in einer baschidischen Stadt solltest du das nicht versuchen. Die örtlichen Fürsten und Würdenträger sind auch gleichzeitig Richter und vor allem hier oben im Norden können sie bei der Rechtsfindung mehr oder weniger völlig frei entscheiden.”

„Ein angeblich so hoch zivilisiertes Volk kennt keine Gesetze?”, fragte Koschna verächtlich. Er schüttelte den Kopf. „Kaum zu fassen”, meinte er.

„Oh, es gibt schon Gesetze, wenn auch nicht so verfeinerte wie im alten Reich Parasch-Tschu-Dra, dessen Tage lange vorbei sind und dessen Ruinen du hier und da am Flussufer sehen wirst, Darscha-Dosch. Vor allem gibt es die Bestimmungen des Hell-Dunkel, der Religion der 'Zweiheit der Gegensätzlichkeiten'.”

„Du kennst dich gut in Kreitska aus”, stellte Koschna fest. „Ist dieses Land deine Heimat?”

„Nein”, erklärte Barasch-Dorm.

Immer wieder kam es vor, dass aufdringliche Händler sie in baschidischer Sprache - mehr ein verkauderwelschter Dialekt der Hauptsprache - anredeten und Barasch-Dorm antwortete ihnen dann. Er schien die Sprache Kreitskas ebenso gut zu beherrschen wie er reines Valuremisch sprach.

Auch Koschna konnte sich einigermaßen in ihr verständlich machen, wenn auch lange nicht so gut wie Barasch-Dorm.

Sie bogen in eine enge Gasse, kamen dann schließlich in die Altstadt von Dahn-Al-Quaddisch, die einem verwinkelten Sandsteinlabyrinth glich.

Handwerker und Händler residierten hier auf engstem Raum. Kaum irgendwo lebten die Menschen so gedrängt wie in einer baschidischen Kasbah. Die Häuser hatten oft mehrere Geschosse. Innenhöfe boten Schatten.

Hier und da sah man Männer mit Wasserpfeifen gemütlich beieinander sitzen. Natürlich handelte es sich um Wasserpfeifen, die Hell geweiht waren, ansonsten galt jegliche Form des Rauchens nämlich als Frevel gegen die Lehre des Hell-Dunkel.

Barasch-Dorm sprach einige der Männer an, unterhielt sich einige Augenblicke mit ihnen in baschidischer Sprache.

Koschna war natürlich von diesen Unterhaltungen ausgeschlossen.

Dem Darscha-Dosch begegneten misstrauische Blicke.

„Ich weiß jetzt, wo wir einen Lotsen finden, der uns durch das Delta des Üruschil bringt”, verkündete Barasch-Dorm schließlich.

Koschna folgte ihm in eine weitere Gasse. Es ging eine Treppe hinauf, dann durch einen dunklen Rundgang hindurch, an dessen Ein- und Ausgängen Bettler saßen und die Hand aufhielten. Abwechselnd in allen Hauptdialekten versuchten sie, an das Geld der Passanten zu kommen.

Barasch-Dorm beachtete sie nicht weiter.

Auf der anderen Seite des Rundganges führte eine Treppe wieder hinab. Frauen mit wallenden Gewändern und Gesichtsschleiern trugen Krüge auf den Köpfen.

Plötzlich bückte sich Barasch-Dorm. Er hob einen Stein vom Boden auf, einen unscheinbaren Kieselstein.

„Der bringt Glück”, sagte er.

„Gehört das auch zur Lehre des Hell-Dunkel?”, fragte Koschna-Perdoschna Wolfsauge und es klang leicht anzüglich.

Barasch-Dorm lachte. „Nein. Und ich bin im Übrigen auch kein Anhänger dieser Lehre, auch wenn sie in ihren Grundzügen einiges für sich hat. Was glaubst du wohl, wieso man unsere Welt 'Dunkelerde' nennt? Vielleicht gibt es ja sogar auch noch eine... Hellerde?” Nach diesen für Koschna geheimnisvollen Andeutungen ging er einfach weiter.

Koschna folgte dem Magier durch das Labyrinth der Kasbah von Dahn-Al-Quaddisch und hatte dabei einige Mühe, nicht den Anschluss zu verlieren. Deshalb fiel es ihm nicht ein, nach diesen Andeutungen nachzuhaken. Es kam ihm auch nicht besonders wichtig vor. War nicht schon die Rede davon gewesen, dass die beiden Grünschnäbel, wie er sie nannte, von Hellerde stammten - was immer damit auch gemeint war...?

Schließlich traten sie in eine dunkle Wohnung, die im dritten Geschoss eines Sandsteinhauses lag. Im Inneren herrschte ein Halbdunkel. Es drang kaum Licht herein. Die Fenster waren nur winzige Öffnungen. Es gab keine Tür, nur einen verblichenen Teppich, der vom Sturz der Tür herunter hing.

„Finde ich hier Der-Große-Helle?”, rief Barasch-Dorm in baschidischer Sprache. Nach allem, was Koschna über die Religion mit dem seltsamen Namen Hell-Dunkel wusste, kam ihm ein solcher Name fast schon wie Ketzerei vor, war doch der Name des Gottes Hell Bestandteil des Namens. Aber das schien außer ihm niemand so zu sehen. Und überhaupt: Welcher Sprache waren diese Worte entliehen? Es gab auf ganz Dunkelerde keinen Menschen, der eine solche Sprache sein Eigen nannte, außer vielleicht... Verblüfft hielt er inne: Die Darscha-Dosch, also sein eigenes Volk. Das Wort Hell war genauso wie das Wort Dunkel... Bestandteil der längst vergessenen Sprache seiner Vorväter!

Aber auch diesbezüglich hatte es doch schon einmal eine Andeutung gegeben. Die erste Begegnung mit den Grünschnäbeln, die Worte aus ihren Mündern, die wie Beschwörungen geklungen hatten aus der Sprache der Vorväter...

Verwirrt unterbrach Koschna an dieser Stelle seine Gedankengänge und konzentrierte sich wieder auf die Wirklichkeit.

Barasch-Dorm indessen wartete nämlich eine Antwort gar nicht erst ab. Mit einer kräftigen Armbewegung zog er den Teppich zur Seite und trat ein.

Koschna folgte ihm, blickte sich vorher noch einmal um. Ein Bettler beobachtete ihn, sprach ihn auf Scharidisch an, aber so undeutlich, dass der Darscha-Dosch kein Wort davon verstand.

Ein ziemlich schmutzig wirkender Junge - auch für ihre Begriffe schmutzig, die sie an unsäglichen Schmutz auf Dunkelerde längst gewöhnt waren - starrte die beiden Männer in dem Raum an, in den sie gelangten. Er rief etwas auf Scharidisch, genauso undeutlich, als hätte er keinen einzigen Zahn im Mund. Ein Mann trat aus einem Nebenraum, dessen Eingang ebenfalls durch einen Teppich verdeckt war.

Er bedachte Koschna und Barasch-Dorm mit einem misstrauischen Blick. Seine dunklen Augen lagen tief.

Das weite Gewand, das er trug, täuschte darüber hinweg, dass er ziemlich dürr war, aber seine knochige Hand ließ keinen Zweifel daran. Ein schwarzer Bart bedeckte den größten Teil des Gesichtes. Stirn, Ohren und Hinterkopf wurden von einem Turban bedeckt.

„Was wollt ihr?”, fragte der Mann ziemlich unwirsch.

„Du bist Der-Große-Helle, der Lotse”, stellte Barasch-Dorm fest - mit gedämpfter Stimme, weil er keinerlei Interesse daran hatte, dass Koschna irgend etwas von der Unterhaltung mitbekam. Aber Koschna war sowieso viel mehr damit beschäftigt, die für ihn anscheinend eher bedrohliche Umgebung im Auge zu behalten.

„Gelobt sei Hell, ja, der bin ich”, sagte der Mann.

„Ich habe einen Auftrag für dich. Im Hafen liegt eine darscha-dosche Fregatte. Du sollst sie durch das Delta führen und zwar so, dass wir möglichst weder von Straßenräubern noch von Untiefen in unserem Fortkommen gehindert werden.”

Der-Große-Helle wandte sich an den Jungen.

„Verschwinde!”, zischte er.

Der Junge sah ihn fragend an.

„Nun geh schon. Was hier gesprochen wird, ist nicht für deine Ohren”, wies Der-Große-Helle ihn zurecht. „Und nimm den Fremden hier gleich mit!”

Koschna merkte auf. War etwa er gemeint? Und schon nahm ihn der Junge bei der Hand und zerrte ihn hinaus. Er hätte dem Jungen weh tun müssen, um es zu verhindern und das traute er sich nun doch nicht in dieser Umgebung. Welche Chance hätte er hier gehabt - als ein Mann, dem jeder ansehen konnte, wie fremd er war? Beide verschwanden hinter einem Teppich. Der Junge blickte noch einmal herein.

„Du Geschöpf Dunkels, verschwinde!”, fauchte ihm der dürre Mann hinterher und erst jetzt verschwand er endgültig.

Für die unsichtbaren Beobachter dieser Szene, Jule und Pet, war das ziemlich ärgerlich, denn jetzt mussten sie ihre Aufmerksamkeit zwangsläufig auf den Magier ausdehnen, sonst bekamen sie nichts mehr mit.

Aber sie merkten, dass der Magier völlig abgelenkt war - und ahnungslos, was ihre Lauschaktion betraf. Also war das Risiko geringer als sie befürchtet hatten:

Der-Große-Helle hob gerade die Achseln.

„Ein Geschöpf der Straße, das ich bei mir aufgenommen habe. Barmherzigkeit ist schließlich auch ein Gebot des Hell-Dunkel.”

„Ja, ich weiß”, sagte Barasch-Dorm.

„Gewiss seid Ihr auch ein Rechtgläubiger?”

„So ist es.”

„Aber Eure Sprache ist eigenartig, Herr. Kommt Ihr möglicherweise aus Korraresch?”

„Meine Herkunft tut nichts zur Sache.”

„Da habt Ihr natürlich im Prinzip recht”, sagte der Lotse.

In diesem Augenblick kam Koschna wieder zurück. Der Junge hatte ihn letztlich doch nicht festhalten können.

Der Lotse musterte Koschna-Perdoschna Wolfsauge und dabei wurden seine Augen sehr schmal. Er hob die Augenbrauen. Ein abschätziger Zug stand jetzt in seinem Gesicht.

„Vermagst du das, was ich verlange?”, fragte Barasch-Dorm.

„Gewiss vermag ich das. Ich habe schon viele Schiffe durch das Delta geführt und noch keines davon ist in den Untiefen hängen geblieben.”

„Nun, so hast du jetzt Gelegenheit, deine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen”, unterbrach ihn Barasch-Dorm.

„Nicht so schnell, mein rechtgläubiger Anhänger Hells.” Er deutete auf Koschna. „Dieser Mann aus dem Norden ist wohl kaum ein rechtschaffener Anhänger des Hell-Dunkel. Und verzeiht mir, wenn ich es so offen ausspreche, aber ich glaube, dass es Unglück bringt, ein Schiff voller Ungläubiger den Üruschil hinaufzuführen. Man fordert den Fluch der Kreaturen Dunkels geradezu heraus, wenn Ihr versteht, was ich meine?”

Barasch-Dorm lächelte kalt.

„Du bist ein so ängstlicher Mann? Jemand, der Schiffe an Untiefen vorbeiführt?”

„Ich bin nur vorsichtig.”

„Und ich glaube, du bist habgierig.”

„Ein böses Wort, Fremder.”

„Ein wahres Wort”, widersprach Barasch-Dorm. „Was verlangst du? Denn ich wette, dass es darum und nur darum geht. Du willst den Preis erhöhen. Gut, das verstehe ich.”

„Ich verlange einen Schubitu”, sagte Der-Große-Helle. „Allerdings nur für die einfache Fahrt, wenn ihr eines Tages wieder aus dem Delta heraus wollt und meine Dienste wieder in Anspruch nehmen möchtet, so müsst ihr erneut bezahlen.”

„Nichts dagegen”, sagte Barasch-Dorm. „Deine Dienste sind uns so viel wert.”

Er hielt dem Lotsen seine Hand hin. Darin lag der Kieselstein.

Der-Große-Helle starrte wie gebannt auf diesen Kieselstein. „Ein Schubitu”, flüsterte er und nahm den Stein in die Hand, betrachtete ihn voller Unglauben.

Der Schubitu war eine in Kreitska gebräuchliche Goldmünze, die allerdings großen Seltenheitswert hatte. Wegen ihrer außergewöhnlichen Größe und Reinheit war der Schubitu fünfmal so viel wert wie Goldstücke beispielsweise aus Scho-Lah.

Der-Große-Helle steckte die angebliche Münze ein.

„Folge uns jetzt!”, forderte Barasch-Dorm.

Auf Der-Große-Helles Gesicht erschien ein seliger, etwas entrückter Gesichtsausdruck. „Ja, Herr”, flüsterte er.

Barasch-Dorm wandte sich an den etwas erstaunt dreinblickenden Koschna.

„Eine einzelne schwache Seele ist leicht zu kontrollieren”, sagte Barasch-Dorm so leise, dass nur Koschna es verstand.

„Du hast ihn betrogen”, stellte Koschna genauso leise fest.

Barasch-Dorm zuckte die Achseln. „Ich habe diesen Mann sehen lassen, was er sehen wollte. Das ist alles.”

Und Koschna-Perdoschna Wolfsauge fragte sich, ob dieser Mann vielleicht auch ihn nur das sehen ließ, was er insgeheim sehen wollte: Berge von Gold, die angeblich in irgendeiner Ruinenstadt verborgen waren.

 

*

 

Als Koschna und Barasch-Dorm zum Hafen zurückkehrten, hatte sich dort eine Menschentraube von Schaulustigen um den Liegeplatz der SEEWOLF herum gebildet. Aufgeregtes Stimmengewirr erfüllte die Luft.

Jule und Pet, die sich die ganze Zeit nur auf Koschna und dessen unmittelbare Umgebung konzentriert hatten, zuckten erschrocken zusammen, denn dass sich die Situation außerhalb des Schiffes so dramatisch verändert hatte inzwischen, war ihnen gar nicht aufgefallen.

Sie waren für einen Moment unschlüssig, aber dann konzentrierten sie sich wieder auf Koschna:

„Was will denn diese wilde Meute von Leuten?”, fragte dieser, an Barasch-Dorm gewandt und nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der Lotse weit genug von ihnen abgedrängt worden war, dass er seine Worte nicht mehr verstehen konnte.

„Sie zerreißen sich das Maul darüber, ob vielleicht noch die Aussicht besteht, dass sie Zeuge irgendeiner Menschenschlachtung werden. Verstehst du so wenig von ihrem Dialekt?”

„Diese Narren!”, sagte Koschna. „Ja, ich habe die Worte sehr wohl verstanden, aber ihr Sinn wollte mir nicht klar werden. Ist ja auch zu absurd...”

Barasch-Dorm zuckte die Achseln. „Die Bewohner Kreitskas sind genauso sensationsgierig wie Menschen überall und darscha-dosche Schiffe sind hier selten. Sie sind eher in Schanni-Schann anzutreffen. Aber je geringer die Kenntnis, desto mehr ist man gezwungen, die Lücke des Unwissens durch pure Einbildung zu füllen.”

„Sind die Geschichtenerzähler Kreitskas nicht über sie Landesgrenzen hinaus bekannt, um nicht zu sagen: berüchtigt?”, entgegnete Koschna.

„Du sagst es.”

Die drei Männer drängelten sich durch die Menge. Kurz bevor Koschna an Bord ging, wandte er sich noch einmal um. „Sag ihnen, dass wir Händler sind, Barasch-Dorm”, forderte er. „Friedliche, harmlose Händler.”

„Das ist nicht die Wahrheit, Koschna.”

„Kümmert Euch neuerdings die Wahrheit, Barasch-Dorm?” Koschna lachte rau. „Sag es ihnen und beruhige sie und sag ihnen außerdem, dass ihre perverse Sensationsgier heute nicht mehr befriedigt werden wird.”

„Ich werde das nicht tun”, sagte Barasch-Dorm. „Weder Ersteres noch Letzteres.”

„Wieso?”

„Sehr einfach: Wenn wir vorgeben, Händler zu sein, dann heißt das, dass du eine offizielle Genehmigung einholen müsstest, um ein Gewerbe anzumelden, Kapitän. Das ist für Ausländer in Kreitska eine komplizierte Sache und außerdem nicht billig.”

„Ein paar falsche Steine, die aussehen wie jene, von denen die Dummköpfe glauben, dass es sich um Goldstücke handelt, dürften dieses Problem aus der Welt schaffen”, erwiderte Koschna.

„Du überschätzt meine Kräfte, Kapitän.”

„Ach, ja?”

„Wie ich dir bereits in der Wohnung dieses Lotsen sagte”, und dabei deutete er auf Der-Große-Helle, „so ist der Geist eines einzelnen schwachen Menschen leicht zu kontrollieren, aber wenn ich dieses Kunststück mit einem lokalen Fürsten und Dutzenden von Angehörigen seiner Beamtenschaft durchführen müsste, würdest du in Kürze einen Greis vor dir sehen, der mehr einer Mumie ähneln würde als einem lebendem Menschen.”

„Also kostet die Anwendung der Magie Lebenskraft.”

„Die Anwendung jener besonderen Art von Magie, die ich verwende, ja, aber sie ist ebenso in der Lage, Lebenskraft zu schenken. Das ist eine komplizierte Angelegenheit und ich sehe keinen Grund, sie mit einem einfachen Barbaren wie dir zu besprechen, der kaum gut genug dafür sein dürfte, die Zusammenhänge zu begreifen.”

„Ein Barbar bin ich vielleicht”, sagte Koschna, „aber nicht einfältig.”

„Wie auch immer...”

„Und was ist der Grund dafür, dass Ihr diesem Menschenauflauf hier nicht sagen könnt, dass es keine Menschenopfer zu sehen gibt und wir keineswegs unsere erstgeborenen Söhne als Dörrfleisch mit uns führen, wenn wir auf große Fahrt gehen?”

Ein überlegenes Lächeln erschien in Barasch-Dorms Gesicht.

„Oh, das ist ganz einfach.”

„Ach, ja?”