"Nun erzählen Sie mal, warum Sie eigentlich zu mir wollten", meinte Moeller. Er sprach dabei etwas abgehackt, weil er zwischendurch immer wieder in den Zähnen herumbohrte.

Barbara Wolf wartete ersteinmal, bis Moeller mit dieser Prozedur fertig war.

"Ich weiß nicht, vielleicht... Haben Sie schon was herausgefunden?"

Moeller sah sie mit großen Augen an. Das durfte doch nicht wahr sein? Deswegen stahl sie ihm den Feierabend? Um ihn das zu fragen! Womit habe ich das verdient, dachte Moeller.

Vielleicht damit, daß ich meine Heimat verate und weder wo'

noch woll sage?

"Wie lange kennen Sie Martin Feller schon?"

"Ja, ich weiß nicht, ich..."

Wenn ich das schon höre! ging es Moeller bei diesem Gestotter ärgerlich durch den Kopf. 'Ich weiß nicht...' Mein Gott, was weiß sie denn überhaupt?

Innerlich kochte Moeller. Er haßte Menschen, die ihm die Zeit stahlen, selbst wenn es bedauernswerte Witwen von Mordopfern waren. Aber äußerlich zwang er sich zur Gelassenheit.

"Hat Feller Sie vielleicht schon angerufen?"

"Weshalb?"

"Weil heute auf ihn geschossen wurde. Und zwar vermutlich von demselben Schützen, der Ihren Mann auf dem Gewissen hat."

Sie wurde blaß.

Gut so, dachte Moeller. Er hatte seine Injektion gesetzt und sah nun zufrieden zu, wie zu wirken begann und ihr die Zunge lockerte.

Rede! dachte er. Quatsch dich endlich aus! Stumme Fische gibt's genug in der Listertalsperre und dein Mann war einer von ihnen! Also, worauf wartest du?

"Also das mit Feller ist so: Ich kenne ihn gar nicht so gut. Wir haben zwar einen Urlaub mit den Fellers verbracht, aber das war's auch. Gut, wir haben uns hin und wieder gegenseitig eingeladen und Carola ist ja auch ganz nett...

Norbert kannte Martin schon sehr lange. Woher genau, weiß ich nicht. Norbert hat auch nie viel darüber gesagt..."

"Wieso haben Sie Feller angerufen, als Ihr Mann verschwunden war?"

"Seit einiger Zeit bekamen wir seltsame Anrufe. Am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand. Und dann die Briefe..."

"Briefe?" echote Moeller.

Barbara Wolf nickte.

"Ja. Zusammengeklebte Todesdrohungen, wie man das aus dem Fernsehen kennt."

"Können Sie mir einen dieser Briefe zeigen?"

"Mein Mann hat sie alle vernichtet. Er wandte sich an Martin Feller, aber die beiden haben immer dafür gesorgt, daß ich nicht mithören konnte."

"Wußten die beiden, wer hinter den Anrufen steckte?"

"Ich weiß es nicht. Mir haben sie gesagt, daß sei ein Witzbold. Ich solle das alles nicht so ernst nehmen. Aber jetzt habe ich fast den Eindruck, daß die beiden zumindest ahnten, wer es auf sie abgesehen hatte."

"Warum haben Sie mir das alles nicht schon früher gesagt?"

"Martin meinte, daß das nicht günstig sei."

"Was?" Moeller glaubte, sich verhört zu haben. Die Leute vom Nachbartisch schauten schon herüber. Ein Kind sagte:

"Guck mal, Mama, eine Frau mit Stoppelbart!" und zeigte dabei auf Moeller mit seinem Zopf. "Das kommt doch von einer Krankheit, woll?"

Moeller lehnte sich zurück.

Sein Blick fixierte Barbara Wolf.

"Das müssen Sie mir erklären!"

"Meine Güte, ich habe mir nichts dabei gedacht. Er meinte, daß Norbert vielleicht irgendwie in den Dörner-Betrug verwickelt sei. Und bevor wir das nicht genau wüßten, sollte ich mich zurückhalten."

"Wann hat er Ihnen das gesagt?"

"Kurz bevor Sie kamen. Ich hatte keine Zeit, ihn noch irgendwas zu fragen."

"Ich verstehe", sagte Moeller und kaute dabei auf einer letzten, schon kalten Pommes frites herum. "Und hinterher?"

"Er mußte gleich weg."

"Wußte Feller bereits, daß Ihr Mann tot war, bevor ich es Ihnen sagte?"

"Nein, das glaube ich nicht. Obwohl, wenn Sie das jetzt so sagen." Sie nahm ihre Handtasche und kramte darin etwas hervor. Eine Mappe mit Kontoauszügen. "Das hier habe ich heute gefunden", sagte sie dann. "Norbert hat mich an diese Dinge nie herangelassen. Ich wußte niemals, wie es finanziell um uns stand. Ich meine, die anderen, die bei Dörner gearbeitet haben, hatten in letzter Zeit Schwierigkeiten, aber wir..."

"Sie nicht?"

"Nein. Und ich kann mir wohl ausrechnen, was ein Abteilungsleiter in einem Baumarkt verdient. Mir kam das immer schon seltsam vor, wieviel wir uns leisten konnten...

Jetzt weiß ich, was dahintersteckte!"

Sie zeigte es Moeller.

Moeller blies die Luft aus seinem Mund heraus. Es gab einen schnarrenden Ton. Nicht ganz Coltrane, sondern eben Moeller. Auf den Auszügen war eindeutig zu sehen, daß Feller Norbert Wolf regelmäßig finanziell unterstützt hatte.

Mannomann, das muß ja eine Männerfreundschaft gewesen sein!

ging es Moeller durch den Kopf.

Oder das Ergebnis einer Erpressung!

*

Als Feller nach Hause kam, begrüßte Carola ihn genau so, wie er es befürchtet hatte.

"Wir müssen jetzt reden, Martin!" sagte sie mit allem Nachdruck, zu dem sie fähig war. Und das war eine ganze Menge.

"Hör mal, Schatz", begann er, aber sie schnitt ihm einfach das Wort ab.

"Ich will jetzt wissen, was hier gespielt wird!" forderte sie.

"Ja, sicher..."

"Du druckst nur herum und versucht mich mit irgendwelchen billigen Geschichten abzuspeisen, die so dämlich sind, daß du sie nicht einmal mir zumuten solltest!"

Er nahm sich eine von den Bierflaschen, ging in die Küche, um sie zu öffnen und ließ sich dann im Wohnzimmer in einen der Sessel fallen.

"Was willst du denn hören?" fragte er nach dem ersten Schluck.

Sie stand inzwischen an der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt.

"Wie wär's mit der Wahrheit?"

"Welche Wahrheit?"

"Du kennst den Kerl, der auf dich geschossen hat. Sonst wäre dein Verhalten nicht erklärbar!"

"Nein, ich kenne ihn nicht!"

"Martin!"

"Nicht persönlich jedenfalls." Er nahm einen Schluck aus der Flasche. "Aber ich kann mir vorstellen, aus welcher Ecke das kommt!"

Carola schien wie vor den Kopf geschlagen. Sie schüttelte stumm den Kopf und brauchte eine ganze Weile, bis sie etwas sagen konnte. Unruhig lief sie zweimal auf und ab.

Dann fragte sie: "Und warum hast du dem Kripo-Mann davon nichts gesagt? Ich meine..."

"Das ging nicht!" rief Feller, viel heftiger, als er es beabsichtigt hatte.

Carola blieb stehen und musterte ihn kühl.

"Du hast irgendwie selber Dreck am Stecken?"

Es war keine Frage, eher eine Feststellung.

Feller nickte kurz.

"Ja, so ähnlich."

Als er das sagte, sah er Carola nicht an.

"Was hast du gemacht?" flüsterte sie und schüttelte dabei verständnislos den Kopf.

"Halb so wild", sagte Feller. "Das ist auch schon lange her. Lange bevor wir uns kennenlernten... Norbert und ich haben damals einige Aufträge ausgeführt für einen Mann, der sich Otto nannte. Einfach Otto. Natürlich war das nicht sein richtiger Name."

Carola stand da wie versteinert.

"Was waren das für Aufträge?" fragte sie tonlos. Sie spürte, daß sie jetzt nahe dran war. An der Wahrheit.

Feller machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Ach, harmlose Sachen", behauptete er.

"Na, so harmlos kann's ja nicht gewesen sein, wenn dich jetzt deswegen jemand umbringen will!" versetzte Carola ätzend. "Verdammt mochmal, dein Freund Norbert liegt schon im Leichenschauhaus und du..."

Jetzt endlich sah er sie an.

"Hör mir doch einfach mal zu!"

"Na, gut."

"Der springende Punkt ist etwas anderes."

"Und was?"

"Dieser Otto arbeitete für einen östlichen Geheimdienst."

Carola sah ihn an, als wäre er ein Fremder.

"Was?" fragte sie tonlos.

Feller zuckte mit den Schultern. Der Blick war starr auf den beigen Teppichboden gerichtet.

"Ich war jung und brauchte Geld!" murmelte er wie zur Entschuldigung.

Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, diesen fassungslosen Blick. Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, wie ihr Gesicht jetzt aussah.

Carola atmete tief durch, dann umrundete sie einen der schweren, für die Größe des Wohnzimmers etwas zu klobigen Sessel und ließ sich hineinfallen.

"Mein Mann ein ehemaliger Landesverräter, wer hätte das gedacht!" stieß sie dann nicht ohne Bitterkeit hervor. Er schwieg. Seine Hände bedeckten jetzt das Gesicht, so als wollte er sich verstecken.

Carola hakte nach.

"Meine Güte!" stieß sie hervor und blies sich eine Strähne aus den Augen. "Wieviel war's denn? Hat es sich wenigstens gelohnt?"

"Es war das Startkapital für das Geschäft", flüsterte Feller.

"Puh!"

"Verstehst du jetzt, warum ich das diesem Kriminalkommissar nicht auf die Nase binden konnte?"

"Nee, das verstehe ich immer noch nicht."

Er rang mit den Armen.

"Kannst du wirklich nicht zwei und zwei zusammenzählen?"

fauchte er.

Aber Carola schien das richtig einschätzen zu können. Sehr ruhig erklärte er: "Es ist doch gar nicht gesagt, daß DIE

dahinterstecken."

Schulterzucken.

"Wer sonst?" fragte Feller und fuhr dann nach kurzer Pause fort: "Überleg doch mal, Carola, wer sonst sollte so etwas veranstalten?

Carola hob die Augenbrauen. "Und aus welchem Grund?" In ihrer Stimme war Skepsis.

"Was weiß ich? Drüben ist doch alles zusammengebrochen und vielleicht glaubt jemand, daß ich ihm gefährlich werden könnte."

"Wieso gefährlich?"

Feller hob die Schultern. "Na, bei dem Start in ein neues, demokratisches Leben."

"Was war das denn für ein Geheimdienst, für den dieser Otto tätig war? KGB?"

"So genau wollte ich das damals gar nicht wissen."

Carola schien ihm das nicht so einfach abzukaufen.

"Na, du wirst dir doch deine Gedanken gemacht haben!" vermutete sie.

Feller wurde immer nervöser. Er fuhr sich mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht, kratzte sich dann an der Nase. "Mein Gott, natürlich!" rief er ziemlich unwirsch.

"Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht! Für wen hälst du mich denn!"

"Schrei mich nicht so an!" erwiderte Carola.

"Entschuldigung."

"Ach, vergiß es!"

"Es ist nur so... Meine Nerven - ich bin völlig überreizt."

Sie nickte.

"Das verstehe ich. Aber du solltest jetzt alles auf den Tisch legen. Gemeinsam stehen wir die Sache schon irgendwie durch. Wie auch immer!"

Er sah sie kurz an und die Entschlossenheit, die aus ihren Worten sprach, überraschte ihn ein wenig.

Schließlich sagte er: "Die Sache ist schon so lang her, ich hatte sie schon fast vergessen. Verstehst du, was ich meine?"

"Keine Ausflüchte mehr!"

Feller hob beschwichtigend die Hände. Sie waren schweißnaß.

"Also, ich persönlich glaube, daß dieser Otto für den Staatssicherheitsdienst der DDR gearbeitet hat und nicht für die Russen."

Auf ihrer Stirn erschienen ein paar Falten.

"Und wieso glaubst du das?"

"Das hängt mit den Aufträgen zusammen, die ich auszuführen hatte... Da kann man ja Rückschlüsse ziehen, oder?

Doof bin ich schließlich nicht! Mein Gott, ich habe einfach keine Lust, dir jetzt jedes Detail zu erklären! Reicht das denn nicht?"

"Ist ja gut! Du brauchst dich doch nicht so aufzuregen! Oder willst du, daß sogar die Kirchbaums von Gegenüber noch alles mitkriegen!"

"Begreifst du nun?"

"So richtig noch immer nicht!" schüttelte Carola den Kopf.

"Du meinst, daß dieser Otto etwas mit der Schießerei zu tun hat?"

"Otto... Otto ist tot."

Carola beugte sich jetzt vor.

"Das wird ja immer doller!" stellte sie fest. "Ich bin wirklich gespannt, was du mir heute noch alles auf den Tisch legst!"

"Es war so: Wir hatten eine Weile in Kontakt gestanden, Otto, Norbert und ich. Dann kam ich eines Tages zu einer Verabredung ein bißchen zu spät. Er kam nicht. Wir warteten, aber von Otto war nichts zu sehen. Ich war gerade wieder zu Hause, da schrillte das Telefon. Es war Otto. Er war ziemlich aufgeregt und bestellte mich in ein Appartement im Hotel STADT LÜDENSCHEID. Ich kam hin, aber Otto war tot.

Genickbruch."

"Mein Gott!" machte Carola.

"In dem Appartement war noch jemand. Ein Mann."

"Der Mörder?"

"Ich weiß es nicht."

Bilder tauchten jetzt in Fellers Bewußtsein auf. Bilder, aus der Vergangenheit. Er hatte lange gebraucht, um sie zu verdrängen, aber seit einiger Zeit waren sie wieder präsent.

*

Martin Feller erinnerte sich.

"Lassen Sie ihn so liegen!" sagte die kühle Männerstimme, die Martin Feller herumfahren ließ. Er sah in ein eckiges, grobgeschnittenes Gesicht, dessen markantester Punkt die hervorspringende Nase war.

Feller hatte den Kerl noch nie zuvor gesehen.

"Wer... wer sind Sie?" fragte Feller schluckend.

"Unwichtig", kam die kühle Erwiderung. Das Gesicht des Mannes blieb dabei regungslos.

"Haben Sie Otto..."

"Sie müssen Martin Feller sein."

Feller nickte. Und gleichzeitig ging ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Er hatte das untrügliche Gefühl, unvermittelt in etwas hineingeschliddert zu sein, das entschieden zu groß für ein kleines Licht wie ihn war.

Aber jetzt gab es keine Wahl mehr. Nun konnte er nur noch hoffen, so schnell und mit so wenig Schaden wie irgend möglich wieder aus diesem Schlamassel herauszukommen.

"Woher wissen Sie meinen Namen?" fragte Martin Feller, weil ihm nichts besseres einfiel.

"Von Otto."

"Ach, ja?"

"So hat er sich Ihnen gegenüber genannt."

"Arbeiten Sie für dieselben Leute wie Otto?"

Der Mann nickte. Ganz langsam.

"Ja."

Feller zuckte die Schultern und wußte nicht so recht, ob er darüber nun erleichtert sein sollte.

"Dann verstehe ich nicht, wieso..."

Der Mann unterbrach ihn: "Seien Sie jetzt besser still und hören Sie mir genau zu!"

Feller schluckte, während er dem toten Otto noch einen kurzen Blick zukommen ließ.

"Ich höre."

Als Feller dann die Stimme seines Gegenübers hörte, dachte er an klirrendes Eis.

"Sie haben unsere Aufträge immer zu unserer Zufriedenheit durchgeführt. Sie bekommen jetzt einen letzten."

"Und der wäre?"

"Sorgen Sie dafür, daß Otto verschwindet. Für immer."

"Wie soll ich das machen?"

Schulterzucken.

"Ihr Problem. Ich will auch gar nicht wissen, was Sie tun, aber ich nehme an, daß Ihre Fantasie ausreicht, um die Sache über die Bühne zu bringen. Die Zahlung erfolgt auf dem üblichen Weg."

Dann näherte sich der Mann, sah Feller einen Augenblick lang nachdenklich an und wandte sich schließlich der Leiche zu. Er beugte sich über den Toten und suchte in dessen Jackentaschen herum.

"Was machen Sie da?" fragte Feller dämlicherweise.

"Ich nehme Otto die Papiere ab - und was er sonst noch so in den Taschen hat. Er braucht das Zeug ja jetzt nicht mehr."

*

"Und dann?" drang Carolas glaskare Stimme in Fellers Bewußtsein.

Er zuckte die Achseln.

"Na, ich habe gemacht, was der Kerl gesagt hat."

"Du hast..."

"...eine Leiche verschwinden lassen, ja. Norbert hat mir geholfen. Was weiß ich, warum Otto sterben mußte? Vielleicht hat er doppeltes Spiel gespielt oder so etwas. Oder er ist irgendeiner internen Intrige zum Opfer gefallen. Ich konnte ihn jedenfalls nicht wieder lebendig machen."

"Was hast du mit ihm gemacht?"

"Verbuddelt."

"Einfach vergraben?"

Feller haßte es über diese Sache zu sprechen. Aber besonders haßte er es, nach Details gefragt zu werden. Er antwortete aber trotzdem. "Vorher habe ich ihn noch ein bißchen mit Säure behandelt. Wegen den Fingerabdrücken und so. Das Gesicht habe ich auch unkenntlich gemacht."

Carola seufzte.

"Wo liegt Otto?"

"Spielt doch keine Rolle!" grunzte er.

"Doch, das spielt eine Rolle", sagte sie. "Ich muß dir glauben können, verstehst du?"

Feller seufzte.

"Damals wurden im Brighouse-Park gerade die Wege gemacht.

Norbert und ich sind in der Nacht dorthin gefahren und haben ihn da vergraben. Heute gehen Spaziergänger darüber. Kein Mensch wird da auf absehbare Zeit nochmal graben..."

"Und jetzt hast du den Kerl in Verdacht, den du in der Wohnung getroffen hast?" schloß Carola messerscharf. "Du denkst, daß er etwas mit dem Anschlag zu tun hat!"

"Natürlich!"

"Wie sah er aus, wie alt war er?"

"Etwas älter als ich", sagte Feller.

"Dann glaube ich nicht, daß er es war, der auf dem Motorrad saß."

"Bist du dir da wirklich sicher?" Fellers Tonfall hatte einen Anflug von Sarkasmus.

"Naja...", meinte sie und hob hilflos die Hände.

"Der Mann war sehr hager und sehr gut durchtrainiert, so jedenfalls mein Eindruck. Und wenn er das Gewicht gehalten hat... Der Motorradfahrer hatte immerhin einen Helm auf! Was willst du da schon erkannt haben!"

Carola atmete tief durch, erhob sich und ging dann unruhig vor dem Fenster auf und ab. "Vielleicht hast du recht", murmelte sie.

Feller nickte.

"Sicher habe ich recht!"

"Und was sollen wir jetzt machen? Rumsitzen und Däumchen drehen, bis er dich erwischt hat? Auf diesen Killer warten wie ein Kaninchen vor der Schlange? Nee, du, dazu habe ich keine Lust!"

Feller lachte heiser und mit einem Anflug von Verzweiflung. "Und was schlägst du vor?" fragte er dann.

"Und wenn du doch zur Polizei...?"

"Meinst du, ich habe Lust, in den Knast zu wandern?"

Indessen ging die Haustür auf. Jemand kam ins Haus.

"Das wird Sven sein!" vermutete Carola.

Feller nickte leicht. "Möchte wissen, wo der Junge sich den ganzen Tag herumtreibt! Für sein Abi macht er jedenfalls nichts!"

Carola konnte da nur die Augen verdrehen.

"Das ist doch jetzt wohl völlig unwichtig!" behauptete sie.

Mit schlurfenden Schritten kam ein hochgewachsener, schlaksiger Lockenkopf durch die Tür. Das war Sven, der Sohn des Hauses, auf dem alle Hoffnungen ruhten und der so wenig davon erfüllen konnte.

"Hallo", nuschelte er so nachlässig, wie er in allem anderen auch war.

"Hallo", erwiderte Feller, ohne seinen Sohn anzusehen.

Feller nahm einen Schluck aus der Bierflache. Dann blickte er auf und fragte: "Ist was?"

Sven hatte die Hände in den Taschen seiner überweiten und megacoolen Jeans vergraben und zuckte die schmalen Schultern.

"Mama hat mir gesagt, du wolltest noch ein Hühnchen mit mir rupfen."

Martin Feller machte eine wegwerfende Handbewegung.

"Ein andernmal", murmelte er.

"Mir auch recht.

"Gut."

"Noch was anderes."

Feller sah seinen Sohn erstaunt an.

"Was denn?"

Sven fingerte einen Umschlag aus der Jackentasche heraus und legte ihn auf den niedrigen Wohnzimmertisch.

"Hier, das klemmte im Briefschlitz!" sagte er dazu.

"Ein Umschlag?"

Feller nahm ihn an sich. Keine Adresse, nichts. Aber zugeklebt war er.

"Was ist drin! Nun mach doch schon auf!" forderte Carola.

"Nein...", murmelte Feller. "Jetzt nicht." Und dabei fühlte er, wie seine Hände zitterten, als er den Umschlag in die Hemdtasche steckte.

*

Feller öffnete den Umschlag später, im Schlafzimmer. Ein Foto, mehr war nicht darin. An der linken Ecke oben hatte es ein Eselsohr.

Auf dem Bild war das Gesicht eines Mannes zu sehen. Die Augen waren weit aufgerissen und starr. Aus dem Mund sickerte Blut. Man hatte ihm die Zähne eingeschlagen und auf seiner Stirn war ein kleines, rotes Einschußloch.

Feller lief es eiskalt über den Rücken, und das nicht nur wegen des Zustandes, in dem sich der Abgebildete befand.

Carola kam herein.

Sie sah Feller auf der Bettkante sitzen, das Gesicht farblos, der Blick leer und ins Nichts gerichtet. Sie setzte sich neben ihn, legte die Hand auf seine Schulter. Er ließ zu, daß sie ihm das Bild aus der Hand nahm.

"Das war alles?" fragte sie.

"Ja. Ich wollte es nicht aufmachen, solange der Junge dabei war." Er zuckte die Achseln.

Carola verengte ein wenig die Augen, als sie das Foto betrachtete.

Dann sagte sie: "Der Mann auf dem Foto sieht aus, als ob..." Sie brach ab.

Feller nickte.

"Als ob er tot ist. Ja. Du kannst dich drauf verlassen: er IST tot."

"Wer ist es?"

"Es ist der Mann, den ich damals in Ottos Wohnung getroffen habe."

"Bist du sicher?"

"Hundertprozentig. Er ist zwar ein paar Jahre älter geworden, aber das Gesicht habe ich nicht vergessen. All die Jahre nicht! Nein, ich bin mir absolut sicher. Da gibt es keinen Zweifel."

"Er sieht schlimm aus..."

Feller lächelte matt.

"Nicht so schlimm, wie manches, was man im Fernsehen sieht!" meinte er schnoddrig.

Carola verzog das Gesicht.

"Dumme Sprüche kannst du dir jetzt wirklich sparen, Martin! Jetzt geht es um dein Leben! Hast du das immer noch nicht begriffen?"

"Reg dich ab!"

"Reg dich ab! Reg dich ab!" äffte Carola ihn nach und fuhr sich mit Linken durch die Haare. "Ich will mich aber nicht abregen!" Sie atmete tief durch und forderte dann nach kurzer Pause: "Nun sag doch schon was! Kannst du dir irgendwie zu-sammenreimen, was das zu bedeuten hat?

Feller sah kreidebleich aus. "Schatz! Ich habe keine Ahnung! Dieser Mann... Ich weiß ja nicht einmal seinen Namen!

Jemand hat ihn umgebracht und zwar auf ziemlich bestialische Weise. Aber warum? Keine Ahnung!"

"Und warum schickt man dir das Foto?"

"Wenn ich's wüßte, würde ich es dir sagen!"

Carola hob die Augenbrauen.

"Nein, würdest du nicht."

*

Irgendwer war auf die Idee gekommen, es wäre doch mal ganz lustig, im Knast ein Bier zu trinken. Vor allem für Polizisten. Und so waren sie schließlich nach Dienstschluß losgezogen. Moeller war dabei, nachdem man längere Zeit auf ihn eingeredet hatte.

Und so fuhren sie zum Biergarten am Buckesfeld.

Simitsch entschuldigte sich und später meinte einer der anderen: "Der muß sicher früh ins Bett, damit er morgen auch wieder hundertfünfzig Prozent Dienstbereitschaft zeigen kann."

Der Biergarten lag in einem ehemaligen belgischen Militärgefängnis, das nach Ende des kalten Krieges einer zivilen Nutzung zugeführt worden war. Lüdenscheids erste gastronomische Vollzugsanstalt. Die Betreiber hatten sich große Mühe gegeben, den groben Charme dieser Lokalität zu erhalten. Durch den Putz konnte man hier und da auf das kahle Mauerwerk sehen. Laufgänge und Zellentüren vermittelten einem ein pittoreskes Knast-Ambiente.

Da war nur ein unwesentlicher Unterschied.

Hier wurde niemand eingeschlossen.

Moeller langweilte sich. Es waren immer dieselben Witze, die bei solchen Gelegenheiten gemacht wurden. Und als Hauptkommissar Brinkhoff vom Einbruch dann auch noch lang und breit über den Überfall auf den Supermarkt an der Knapper Straße schwadronierte, der sich am heutigen Tag ereignet hatte, schaltete Moeller vollends ab. Er hörte Jazz-Melodien und begann im Rhythmus mit dem Kopf zu nicken.

"Ey, Moeller, hast du Zuckungen oder was?" fragte einer.

"Oder schlägt dir die Atmosphäre hier aufs Gemüt?"

Das allgemeine Gelächter ließ Moeller kalt.

*

Carola trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch, während im Hintergrund die Kaffeemaschine brodelte und dabei fast den Nachrichtensprecher im Radio übertönte.

Feller brauchte heute anscheinend länger als sonst, um sich fertig zu machen.

Als er dann endlich kam, hatte er etwas Schweres in der Hand, das er dann neben seinem Teller auf den Tisch legte.

Es war eine Pistole.

"Meine Güte, woher hast du denn die?" fragte Carola erstaunt.

"Die alte Sportpistole von deinem Vater", murmelte Feller und zuckte dabei die Achseln. "War gar nicht so einfach, das Ding wiederzufinden."

Carola zählte schnell zwei und zwei zusammen. Und ganz gleich, wie man die Sache auch betrachtete: Es gefiel ihr nicht.

"Meinst du...", begann sie, aber sie wurde von ihm unterbrochen.

"Na, jedenfalls will ich mich nicht einfach so abknallen lassen, wenn der Kerl hier auftaucht", meinte er und versuchte ein Lächeln, das sie nicht erwiderte. "Ich habe sogar etwas Munition gefunden. Hoffentlich funktioniert das alte Ding auch noch und fliegt mir nicht beim ersten Schuß um die Ohren!"

"Kannst du denn damit umgehen?" fragte Carola dann ganz pragmatisch.

"Ich denke schon. Schließlich war ich ja auch mal bei der Bundeswehr."

"Ich hoffe, du machst nicht nur noch alles schlimmer - mit dem Ding da!"

"Was soll denn schlimmer werden?"

"Ja, willst du ihn vielleicht einfach über den Haufen knallen, den Kerl?"

Feller schüttelte den Kopf.

"Nicht einfach so. In Notwehr. Verstehst du? Darauf hat jeder ein Recht, ich auch."

Feller nahm sich ein Brötchen und griff nach dem Marmeladenglas.

"Haben wir eigentlich keine Himbeerkonfitüre mehr?"

"Nein. Nur noch Ananas. Morgen gehe ich einkaufen."

Carola nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Dann sagte sie plötzlich: "Ich habe nocheinmal über alles nachgedacht."

"Es ist schon spät!" gab Feller mit vollem Mund zurück.

"Ich muß in die Firma."

Carola musterte ihn. "Wenn das wirklich ehemalige Stasi-Leute sind, die dich da jetzt auf dem Kieker haben, dann frage ich mich, weshalb die dich verfehlt haben!"

Feller runzelte die Stirn und hörte einen Moment zu kauen auf.

"Na, weil ich mich schnell genug geduckt habe, deswegen", meinte er dann und lachte dabei verlegen. "Du hättest es wohl lieber, wenn es anders gekommen wäre, was?

"Quatsch!"

"Naja..."

"Über so etwas macht man keine Scherze, Martin!" Sie verschränkte die Arme vor der Brust und beugte sich dann nach vorn über den Tisch. "Überleg doch mal! Wenn das Profis waren, wieso dann eine solche Stümperei? Vielleicht vermutest du den Killer in einer ganz falschen Ecke und es hat am Ende gar nichts mit diesem Stasi-Zeug zu tun! Kann doch auch sein, oder?"

"Aus welcher Ecke soll's denn sonst kommen, Carola?"

"Keine Ahnung!"

"Na siehst du, dir fällt sonst auch keine Adresse ein, von der das kommen kann."

Feller steckte den Rest des Brötchens in den Mund und stand auf.

"Das haben wir doch alles schon hundertmal durchgekaut!"

murmelte er.

"Und was soll dieses Foto?" fragte Carola. "Darüber habe ich mir auch den Kopf zerbrochen!"

"Mein Gott, ich weiß es nicht!"

"Und wenn das eine Art Warnung ist? So nach der Art: Der hier ist schon tot und du bist der nächste?"

Schulterzucken.

"Warum sollten sie so etwas tun? Das ergibt nur einen Sinn, wenn..."

Carola nickte.

"Wenn sie dich gar nicht um jeden Preis töten wollen, Martin!" vollendete sie. "Vielleicht kannst du dich mit ihnen... einigen..."

Er lachte heiser und schüttelte dabei den Kopf.

"Nein", murmelte er.

"Und warum nicht? Man könnte es versuchen!"

"Wie stellst du dir das vor? Den einzigen, den ich von dieser Bande etwas besser kannte war dieser Otto. Aber auch von dem wußte ich so gut wie nichts. Nichts, hörst du? Nur seinen falschen Namen und sein Gesicht. Und die Tatsache, daß er tot ist."

"Du vergißt den Mann auf dem Foto", gab Carola zu bedenken.

"Von dem weiß ich noch weniger."

Carola stand jetzt auch auf.

"Herrgott, du bist doch früher auch mit diesen Leuten in Kontakt gekommen, wenn's nötig war - irgendwie!"

"Nein."

Sie verstand nicht.

"Was heißt nein?"

"Es war immer umgekehrt. Sie haben mit mir Kontakt aufgenommen. Es war eine Einbahnstraße. Sie wußten alles über mich und ich nichts über sie. Das waren nun mal die Spielre-geln, und ich hatte weder die Lust noch überhaupt die Möglichkeit, daran etwas zu ändern." Er sah sie an. "Aber mir wird schon was einfallen!", meinte er. "Ich hoffe, du hälst zu mir!"

Ihre Züge wurden etwas sanfter. Sie kam näher, umrundete den Tisch und nestelte an seinem Hemdkragen.

"Sicher tu ich das!"

"Wirklich?"

"Es hängt alles davon ab."

"Ich weiß."

Er nahm sie in den Arm. Etwas hölzern zwar, aber er tat es. Er roch ihr Haar, während er ihre Stimme hörte: "Was immer gewesen ist, es ist lange her und es war eine andere Zeit."

Feller strich ihr über den Kopf.

"Ja", sagte er. "Jeder hat das Recht auf einen Fehler, oder?"

"Sicher."

Er löste sich von ihr.

Sie brachte ihn noch zur Tür.

"Hast du unseren Herrn Sohn eigentlich schon geweckt?"

erkundigte er sich noch.

Sie nickte.

"Schon dreimal!"

"Der schafft doch nicht mehr pünktlich zu sein!" Und dabei lag das Geschwister Scholl Gymnasium schon mehr oder weniger um die Ecke.

"Ich werde etwas früher zum Dienst fahren, dann kann ich ihn mitnehmen."

Feller schüttelte den Kopf.

"Einen verwöhnten Pimpel haben wir da großgezogen! Die paar Meter laß ihn ruhig zu Fuß laufen. Den Ärger muß er dann selber durchstehen!"

"Wie du schon sagtest: Jeder hat das Recht auf Fehler."

"Ja, und unser gemeinsamer Fehler wird hoffentlich bald ein Stück erwachsener!"

*

"Dein Freund hat wieder angerufen!" begrüßte Charly seinen Chef, als der gerade aus dem Wagen gestiegen war. Martin Fellers Gesicht verfinsterte sich leicht.

"Was?" fragte er überflüssigerweise. Er wirkte ziemlich unwirsch.

"Na, du weißt schon, der eine da... Sag mal, was steckt da eigentlich hinter? Was will der Kerl von dir?

"Ich weiß es nicht", erklärte Feller. Er wollte an Charly vorbei, aber der faßte ihn leicht an der Schulter.

"Brauchst du irgendwie Hilfe, Chef?"

"Quatsch!"

"Ach komm schon! Ich kenn dich doch! Das sieht doch ein Blinder, daß mit dir was nicht in Ordnung ist!"

Feller versuchte ein milderes Gesicht aufzusetzen.

"Es ist alles okay", behauptete er und seufzte. "Jedenfalls gibt es keine Probleme, die ich nicht selber lösen könnte..."

In Charlys Gesicht stand der blanke Zweifel.

"Du weißt, ich bin dein Freund", sagte er dann gedämpft.

"Du kannst auf mich zählen, woll!"

Feller nickte.

"Danke, Charly. Wirklich vielen Dank."

"Ich habe das nicht nur einfach so dahingesagt!"

Fellers Lächeln war noch dünner als der Kaffee, den seine Frau ihm morgens machte.

Er sagte nocheinmal, fast so, als müßte er es sich selbst erst einreden: "Das weiß ich, aber ich komme gut klar. Es ist alles in Ordnung."

Charly schüttelte den Kopf und nahm die Hand von Feller Schulter.

"Entschuldigung, aber das glaube ich nicht!"

"Weißt du was? Kümmer dich um deine Sachen, ja?" fauchte Feller. Charly zuckte die Achseln und sah seinen Chef nachdenklich an.

"Wie du meinst!"

Feller ging auf das gläserne Büro zu. Das Motorengeräusch eines Wagens ließ ihn herumfahren. Ein rostiger Omega fuhr die steile Einfahrt hinauf.

"Der hat mir noch gefehlt!" knurrte Feller vor sich hin, als er Moellers Gesicht sah. Dann zwang Feller sich zu einem Lächeln, das dementsprechend aussah.

Moeller stieg aus.

"Meinen Sie, nur weil Sie bei der Kripo sind, können Sie hier mitten im Weg stehen?" knurrte Feller.

"Es dauert nicht lange", sagte Moeller.

"Ach, was! Ich bin Unternehmer! Ich muß sehen, daß die Kunden hier freie Fahrt haben! Mein Gott, geht das nicht in Ihren Beamtenschädel hinein?"

Moeller trug eine Baseballmütze aus Kunstleder mit der Aufschrift SAN JOSE SHARKS. Darunter war ein Hai zu sehen, der einen Eishockeyschläger auffraß. Durch die hintere Öffnung der Mütze hatte Moeller sorgfältig seinen Zopf hindurchpraktiziert.

Und so einen bezahle ich von meinen Steuergeldern! ging es Feller ärgerlich durch den Kopf.

"Sie sollten sich über ganz andere Dinge Sorgen machen", meinte Moeller. "Aber sollen wir nicht besser in Ihr Büro gehen? Ich würde das gerne in Ruhe mit Ihnen besprechen."

"Sagen Sie hier und jetzt, was Sie zu sagen haben. Ich habe keine Zeit für ein fruchtloses Kaffeekränzchen."

"Wie Sie meinen. Unsere Leute haben Ihren Wagen untersucht und ein Projektil gefunden. Das und die Patronenhülse, die ich vor ihrem Haus aufgesammelt habe, wurden vom Labor untersucht und - was soll ich Ihnen sagen?

- es steht jetzt fest, daß gestern mit derselben Waffe auf Sie geschossen wurde, mit der Ihr Freund Norbert Wolf umgebracht worden ist!"

Fellers Gesicht blieb unbewegt.

"Tja, schön daß Sie einen Schritt weiter sind", murmelte er.

"Das scheint Sie weder zu überraschen noch zu beunruhigen."

"Erwarten Sie, daß ich das kommentiere? Ich bin kein Kriminalist."

"Sagen Sie, weshalb haben Sie eigentlich Norbert Wolf so stark finanziell unterstützt?"

Ein Ruck ging durch Feller.

"Er war mein Freund."

"Finden Sie nicht, daß das über eine normale Freundschaft etwas hinausgeht?"

"Worauf wollen Sie hinaus?"

Moeller zuckte die Achseln. "Da Sie mir nicht besonders dabei behilflich sind, Ihr Leben zu retten, mache ich mir eben meine eigenen Gedanken, Herr Feller. Das können Sie mir nicht verübeln."

"Die Art und Weise, in der Sie mir hier kommen, gefällt mir nicht, Herr Moeller!" knurrte Feller. "Vielleicht sollte ich mich mal an Ihre Vorgesetzten wenden. Schließlich war ich fast zehn Jahre kommunalpolitisch tätig. Da hat man doch gewisse Drähte, die sich vielleicht reaktivieren lassen, woll?"

"Soll das eine Drohung sein?"

"Fassen Sie das auf, wie Sie wollen, Moeller!" Feller blickte auf die Uhr. "Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich habe zu tun. Und Sie sicher auch, wie ich annehme!"

Feller ging davon. Er lief auf das Glasbüro zu, riß die Tür auf und setzte sich auf den Drehstuhl. Das Telefon klingelte. Feller nahm ab. Moeller beobachtete ihn dabei. Das Gesicht des Gebrauchtwagenhändlers sah aus wie eine Totenmaske. Sein Mund war ein dünner Strich geworden.

Charly Wallmeyer stand mit einem Öllappen in der Hand herum und ließ Moeller nicht aus dem Blick.

Moeller machte ein paar Schritte auf ihn zu.

Er warf einen kurzen Blick auf das Namensschild, das Charly am Kittel trug.

"Ihr Chef hat zur Zeit ziemlich großen Streß, was?" meinte der Kommisar dann.

"Kann man wohl sagen. Seit diese komischen Anrufe kommen, ist er nicht mehr derselbe!"

"Was für Anrufe?"

"Hat er Ihnen das nicht gesagt? Sieht ihm ähnlich. Er will immer alles alleine regeln..."

Feller kam aus dem Büro heraus. Er hatte einen Wagenschlüssel in den Händen. "Halten Sie meine Leute nicht von der Arbeit ab!" rief er Moeller zu. Dann stieg er in einen Wagen mit rotem Nummernschild und brauste los. Einen halben Meter vor Moellers Omega stoppte er, so daß die Reifen quieschten. Das Seitenfenster glitt hinunter. Feller gestikulierte ausholend und zeigte auf Moellers Wagen.

"Wären Sie vielleicht so freundlich?" rief Feller dann.

"Bin ich!" murmelte Moeller nachdenklich.

*

Feller war auf dem Weg zum Kreishaus, um den roten Alpha Romeo für einen Kunden beim Straßenverkehrsamt anzumelden.

Gehörte zum Service beim Autohaus Feller. Man mußte schließlich schon einiges bieten, um die Kundschaft einigermaßen bei Laune zu halten. Rauf und runter ging es durch die Straßen von San Francisco-scheid. Feller fuhr zu schnell. Eine innere Unruhe erfüllte ihm. Es gefiel ihm nicht, mit welcher Hartnäckigkeit Moeller in der Sache herumwühlte. Wie ein Nagetier fraß er sich immer weiter vor.

Zentimeter für Zentimeter.

Abwarten! sagte Feller sich. Selten wurde so heiß gegessen wie gekocht wurde.

Das Kreishaus lag wie ein großer, erhabener Klotz auf einer Anhöhe. Von hier aus wurde der Märkische Kreis verwaltet und außerdem konnte man die begehrten Nummernschilder mit den Buchstaben MK ergattern.

Feller befand sich sozusagen auf der Zielgerade einer breiten Schnellstraße.

Das Autoradio lief. Feller summte den Oldie halblaut mit, der da gerade geträllert wurde. Eine sentimentale Schnulze, aber gut um sich jetzt etwas abzulenken.

Mit einem Seitenblick nahm er das große Plakat auf der Rechten wahr. COUNTRY-MUSIC IM KULTURHAUS! TOM

ASTOR KOMMT

NACH LÜDENSCHEID!

Und während er noch dachte, daß die strahlendweißen Zähne des Sauerland-Cowboys bestimmt nicht echt waren, hörte er hinter sich einen Motor aufheulen.

"Blöder Spinner, hast wohl den Führerschein im Lotto gewonnen, was?"

Ein rostiger, ziemlich zerbeulter Ford zog an ihm vorbei und begann, Fellers Alpha abzudrängen. Mit einem kräftigen Ruck kam der Ford gegen die Fahrertür des Alphas.

"Verdammt!"

Feller sah die Leitplanke auf sich zu rasen. Knackend bog sich das Metall. Der Kotflügel des Alpha rammte sich in die Leitplanke.

*

"Martin! Was ist passiert?" fragte Carola Feller zwei Stunden später, als sie ihren Mann im Krankenhaus Hellersen abholen wollte.

"Halb so schlimm, Schatz. Aber es ist schön, daß du gekommen bist, um mich mitzunehmen!"

Carola wandte sich an den Mann im weißen Kittel, der sie stirnrunzelnd gemustert hatte, als sie hereingekommen war.

"Doktor, was ist los?" fragte sie.

"Ein paar Kratzer, Stauchungen, Prellungen. Aber es hätte viel schlimmer kommen können, Frau..."

"Feller."

"Sie können Ihren Mann gleich mitnehmen."

"Gott sei Dank."

Der Arzt nickte und setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. Dann wandte er sich zum Gehen.

"Auf Wiedersehen!"

"Auf Wiedersehen!" gab Carola zurück, ohne den Arzt dabei anzusehen. Ihr Blick hing an Feller. Aber ehe sie etwas sagte, wartete sie, bis der Arzt das Zimmer verlassen hatte.

"Am Telefon hast du etwas von einem Unfall gesagt!"

Feller nickte.

"Ja, der Wagen ist hin!"

"Ach, was interessiert denn der Wagen? Was ist passiert?"

"So ein Idiot hat mich mit seinem Ford von der Straße gedrängt und ist dann abgehauen! Ich hatte wirklich Glück! Wenn ich gegen einen der Bäume geknallt wäre, dann könntest du jetzt schon mal den Kuchen für die Beerdigung bestellen!"

Carola schluckte.

"Meinst du..."

Er nickte heftig. "Ja, genau das meine ich. Das war kein Unfall! Das war ein gezielter Anschlag!" Er schüttelte langsam und sehr nachdenklich den Kopf und rieb sich die Augen.

Carola holte einen Umschlag aus der Handtasche und reichte ihn ihrem Mann.

"Das hier war heute im Briefkasten!" erklärte sie dazu.

"Ein Umschlag ohne Adresse", murmelte Feller gedehnt. "Hast du..."

"Ich habe hineingesehen, ja. Wieder ein Foto."

Der Umschlag war nicht zugeklebt worden. Feller öffnete ihn und holte das Foto heraus.

"Ja...", murmelte Feller, als ginge ihm ein Licht auf. Sein Gesicht verlor dabei den letzten Rest frischer Farbe.

Carola fragte: "Kennst du den Mann?"

"Warum meinst du, daß ich den auch kennen sollte?"

"Du bist ganz blaß geworden!"

"Quatsch!"

"Das Foto ist schon älter. Schwarz-weiß und schlechte Qualität... Fällt dir der schwarze Rand auf? Den hat jemand mit Filzstift draufgemalt... Wie ein Trauerrand bei Todesanzeigen!"

"Sicher fällt mir der auf!" gab Feller schulterzuckend zu-rück. Nach kurzer Pause fuhr er dann nachdenklicher fort:

"Das heißt nichts anderes, als daß der Kerl auf dem Bild auch tot ist..."

"Und daß er irgendwann auch dich erwischen wird!

Martin, das scheint ein Serientäter zu sein! Fragt sich nur, warum du auf seiner Liste stehst! Du mußt etwas mit diesen beiden Männern gemeinsam haben."

Er sah auf.

"Und was sollte das sein?"

"Ich weiß nicht."

"Wenn wir wüßten, um wen es sich handelt, wären wir vielleicht ein bißchen schlauer!"

"Du hast für die Stasi gearbeitet..."

"Na, und?"

"... und dasselbe gilt auch für den Mann auf dem ersten Foto."

"Ich nehme an, ja", bestätigte Feller.

"Und für Norbert! Er war doch dein Partner!"

"Ja."

"Und wenn der hier ebenfalls zu dem Verein gehörte?" Carola deutete auf das Bild.

"Sind wir dadurch weiter?"

"Ich weiß nicht", seufzte Carola.

"Na, siehst du!"

"Denk doch auch mal nach!"

Feller zog sich seine Jacke an und verzog dabei ein bißchen das Gesicht vor Schmerzen.

"Was meinst du wohl, was mir die ganze Zeit im Kopf herumgeht, häh?" knurrte er.

"Schon gut."

"Gehen wir!"

"Meinetwegen!"

Er stand auf.

"Ah, das tut noch ganz schön weh!"

"Geht es?"

Er nickte mit verkniffenem Gesicht.

"Einigermaßen."

"Komm, ich helf dir!"

"Danke. Aber ich bin kein Krüppel!"

*

Draußen goß es Bindfäden, und obwohl sie sich ziemlich beeilten, in den Wagen zu kommen, bekamen sie eine kräftige Dusche mit.

"Scheißwetter!" schimpfte Feller, als er endlich auf dem Beifahrersitz saß.

Carola ließ den Wagen an und fuhr los. Das Krankenhaus Hellersen war Teil eines riesigen Klinik-Komplexes, zu dem auch noch ein Sportkrankenhaus gehörte. Die umliegenden Straßen trugen passende Namen: Röntgenweg, Robert-Koch-Weg und Paracelsus-Straße.

Ein Notarztwagen brauste um die Ecke. Carola lenkte den Wagen zur Seite.

"Ich habe eine Menge Glück gehabt, glaube ich", murmelte Feller.

"Ja, und das sollte man nicht überstrapazieren, Martin!"

Sie schwiegen eine Weile. Inzwischen hatten sie die Herscheider Landstraße erreicht, den breit ausgebauten Zubringer zur A45.

"Wie wär's, wenn wir mal wieder essen gehen würden", sagte Feller dann plötzlich.

"Wie kommst du jetzt plötzlich darauf?"

"Nur so. Das haben wir lange nicht mehr gemacht."

"Ja, leider."

"Das AKROPOLIS - der neue Grieche - soll gut sein."

"Martin, du weißt doch, daß ich das exotische Zeug nicht vertrage. Laß uns zu Kattenbusch fahren."

*

Das Restaurant Kattenbusch lag auf einer Anhöhe, die von größeren Waldstücken umgeben war. Ein Ort, an dem man keineswegs sofort das Gefühl hatte, daß er Teil einer 80.000-Seelen-Stadt war.

Das Hotel und Restaurant Kattenbusch war ein langgestrecktes Gebäude und sah aus, als hätte man von Zeit zu Zeit immer wieder ein Stück angebaut. Der letzte Umbau war gerade erst beendet worden und so standen die Fellers etwas desorientiert da, als sie merkten, daß an jener Stelle, an der sich früher der Eingang befunden hatte, jetzt kein Durchgang mehr war. Sie sahen sich etwas um, bis schließlich die Wirtin auftauchte. "Sie müssen hinten herum gehen", sagte sie.

Die Fellers folgten der Wirtin.

"Wie geht das Geschäft, Herr Feller?" fragte sie, um etwas Small Talk zu machen.

"Könnte besser sein", knurrte Feller. Er humpelte etwas.

"Haben Sie es auch so mit der Bandscheibe, woll?" meinte die Wirtin.

Sie nahmen einen Tisch in der Ecke und bestellten etwas ganz Konventionelles. Ein Lüdenscheider Krüstchen.

Im Hintergrund liefen Schlager aus den Siebzigern.

Feller sah seine Frau an und und dachte: Was würde ich nur machen, wenn Sie anfinge durchzudrehen? Wenn ihr plötzlich einfallen würde, alles über meine Vergangenheit auszuplaudern?

Carolas Stimme drang in seine Gedanken.

"Martin, ich hab mir überlegt, daß es nicht schlecht wäre, wenn wir eine Weile verreisen bis Gras über die Sache gewachsen ist oder... ich weiß auch nicht!"

GRIECHISCHER WEIN sang Udo Jürgens und Feller meinte: "Die bringen auch nur noch Mist!"

Jetzt wurde Carola zornig.

"Sag mal, hörst du mir eigentlich zu?"

"Natürlich höre ich dir zu! Du willst mit mir verreisen.

Aber wie stellst du dir das überhaupt vor? Soll ich das Geschäft vielleicht sich selbst überlassen? Die Konkurrenz ist hart, da ist man ganz schnell weg vom Fenster, kaum das man sich versieht!"

"Der Charly...."

"Ach, der Charly!"

"Der Charly ist doch dein Freund! Dem kannst du doch trauen! Und den Laden schmeißt der auch alleine.

Wenigstens für eine Weile!"

Er sah zu ihr hinüber.

"So, meinst du?"

"Ja, meine ich!" äffte Carola ihn nach.

Es entstand eine unbehagliche Pause.

"Kommt nicht in Frage!" sagte Feller plötzlich sehr bestimmt.

"Wie bitte?"

"Ich sagte: Das kommt nicht in Frage! Einfach alles stehen und liegen zu lassen , das... Nein! Dafür habe ich nicht all die Jahre gearbeitet, daß nun alles den Bach runtergeht!"

"Wer sagt denn, daß es den Bach runtergeht?"

"Ich sage das!"

"Martin..."

"Der Charly ist ein netter Kerl und ein guter Kfz-Mechaniker. Aber nur ein mittelmäßiger Geschäftsmann. Mit seinem eigenen Geld kann er auch nicht umgehen, warum sollte es ihm mit meinem Geld da besser gehen... Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich werde nicht einfach so den Schwanz einkneifen!"

"Ach! Aber dich abknallen lassen, das findest du nicht so schlimm! Was glaubst du, wie lang er das nächste Mal warten wird? Und was er sich dann ausgedacht hat, um dich zur Stecke zu bringen?"

"Totgesagte leben länger, wußtest du das nicht?" sagte Feller sarkastisch.

"Quatschkopf!"

*

Feller ging unruhig vor dem Küchenfenster auf und ab. In unregelmäßigen Abständen zog er die Gardine ein Stück zur Seite und schaute hinaus auf die Straße. Carola kam herein und nippte an ihrer Kaffeetasse.

"Du schleichst hier herum, wie... wie ein Raubtier in seinem Käfig."

"Hm."

Eine Pause entstand. Er blickte hinaus und schien völig abwesend. Der Regen pladderte gegen die Scheibe.

Carola fragte: "Meinst du, das bringt was, dauernd aus dem Fenster zu starren?"

"Er wird kommen...", murmelte Feller.

"Und darauf wartest du jetzt?"

Er zuckte mit den Achseln.

"Was soll ich machen?"

"Vielleicht überlegst du das mit der Reise nochmal!"

"Und was kommt danach?" Feller schüttelte den Kopf. "Das bringt doch alles nichts!"

Carola stellte die Kaffeetasse ab. Der Löffel, der darinsteckte, machte dabei ein schepperndes Geräusch.

Zweimal holte sie Luft und setzte an. Aber erst beim drittenmal hörte sie sich selbst sagen: "Ich habe übrigens die Sportpistole von Vater gefunden."

Er wirbelte herum.

"Was?"

"Ja, beim Aufräumen. Ganz zufällig. Sie lag noch bei dem anderen Zeug, das wir vor zwei Jahren geerbt haben."

Feller schluckte und kratzte sich hinter dem Ohr.

"Na, und?" knurrte er.

Carola trat nahe an ihn heran.

"Ich frage mich, warum du mich anlügst! Woher kommt die Waffe, die du jetzt bei dir trägst?"

Feller hob die Hände und blickte zur Seite.

"Ich habe sie mir halt besorgt." Seine Hände wanderten jetzt in die Hosentaschen und beulten sie aus. "Was ich brauche ist kein Spielzeug, sondern etwas, das mannstoppend wirkt, wie es so schön heißt!" rechtfertigte er sich dann ein bißchen zu schroff.

Carola dachte nicht daran, sich mit irgend etwas abspeisen zu lassen.

"Und warum hast du mir erst was anderes erzählt?" fragte sie kühl.

"Herrgott, ist das jetzt wichtig?"

"Was weiß ich!" Sie sah ihn an. "Warum vertraust du mir nicht?"

Er legte den Arm um sie. Aber sie blieb steif und etwas abweisend. "Ich vertraue dir doch!" behauptete er ohne Überzeugungskraft. "Wie kannst du so was nur sagen! Du bist die einzige, der ich bisher erzählt habe, was ich früher so... gemacht habe."

Er zog die Hand wieder von ihrer Schulter.

"Ich habe das Gefühl, daß da noch etwas ist!" sagte sie bestimmt.

Ein Geräusch, das halb Lachen halb verlegenes Husten war drang über Fellers Lippen. "Und was sollte das zum Beispiel sein?" fragte er.

Ihre Augen musterten ihn kühl.

"Du kennst den Mann auf dem zweiten Foto, nicht wahr?"

"Wie kommst du denn darauf?"

"Ich hab's dir angesehen."

"Ach, ja?"

Sie nickte bekräftigend.

"Schon im ersten Moment, als ich es dir gezeigt habe... Ist

- ich meine war - er auch einer von diesen Stasi-Leuten?"

Feller seufzte.

"Wir wissen nicht mit Sicherheit, daß er tot ist.

Bei dem ersten schon, das war deutlich zu sehen... Aber bei dem anderen..."

"Also gehörte er auch dazu!"

"Ja."

"Und warum muß man dir das so aus der Nase ziehen?"

"Ist doch meine Nase, oder? Und es ist doch wohl verflixt noch mal auch mein Kopf, um den es hier geht, nicht wahr?"

Es entstand eine unbehagliche Pause. Feller blickte zum Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust. Carola trat an ihn heran umnd berührte ihn leicht am Unterarm. Er reagierte nicht.

"Du bist wohl ziemlich mit den Nerven am Ende, was?" sagte sie tonlos.

Er drehte leicht den Kopf in ihre Richtung.

"Du etwa nicht?"

"Doch, sicher."

"Das ist ja auch verdammt noch mal kein Wunder!" Seine Stimme wurde versöhnlicher. "Komm her!" sagte er und nahm sie in den Arm. Diesmal schmiegte sie sich an ihn und erklärte:

"Wir werden das schon durchstehen. So oder so."

Er strich ihr über das Haar und nickte leicht.

"Sicher werden wir das!"

"Ich habe versucht, ein paar Tage Urlaub zu kriegen, aber das ist unmöglich. Bei uns sind drei Leute krank..."

Feller lächelte.

"Macht doch nichts! Carola, wir sollten versuchen, unser Leben so weiterzuleben, wie wir es sonst auch getan hätten!"

"Viel verlangt!" meinte Carola dazu.

"Zuviel?"

"Ich weiß nicht..."

*

Am Abend regnete es. Moeller versuchte noch einmal Martin Feller zu erreichen. Aber der war nicht zu Hause. Von seiner Frau erfuhr Moeller, daß ihr Mann vermutlich zum Kegeln in der Stadt sei.

"Ich muß schon sagen, er nimmt das alles äußerst gelassen", stellte Moeller nachdenklich fest.

"Wenn Sie meinen..."

Ihre Erwiderung war ziemlich kühl.

"Wo ist Ihr Mann hin zum Kegeln?"

"Ins Alte Gasthaus Pretz in der Herzogstraße. Kennen Sie das?"

Moeller nickte. "Wer nicht?"

Also fuhr Moeller zurück in die Stadt. Das 'Alte Gasthaus' lag in der zentralen Altstadt, ganz in der Nähe der Erlöserkirche. Von außen war es ein weißes, blumengeschmücktes Haus mit Holzgiebeln und dunkelbraunen Fensterläden. Ein dritter, kleinerer Giebel zeigte zur Straße.

Moeller fand Feller nicht in der Kegelbahn, sondern in der sogenannten Jagdstube. Er saß nachdenklich mit einem leeren Glas da und starrte ins Nichts.

"Guten Abend, Herr Feller!" Moeller klopfte sein nasses Longjackett ab. Draußen goß es inzwischen wie aus Eimern. Der Wetterbericht verhieß Sturm. "Ihre Frau sagte mir, daß ich Sie hier finden würde."

Feller verzog das Gesicht.

"Guten Abend, Herr Kommissar!" sagte er reserviert. "Machen Sie bitte die Tür richtig zu. Es zieht!"

Moeller kümmerte sich nicht um die Anweisungen seines Gegenübers, sondern stand einfach da und blickte auf Feller herab.

"Ich habe von Ihrem... Unfall gehört", murmelte Moeller, dann, während er noch einen Schritt näher kam. Er sagte das mit einem ganz bestimmten Unterton, der Martin Feller nicht gefiel.

Feller zog die Augenbrauen hoch.

"Na, und?"

"Warum haben Sie sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt?" Moeller blickte Feller direkt an, aber dieser wich aus und schaute zur Seite.

"Warum hätte ich das tun sollen?" fragte der, wobei er ganz leicht mit den Schultern zuckte.

Moeller hob die Arme, bepladderte dabei mit seiner nassen Jacke den Tisch und schüttelte dann verständnislos den Kopf.

"Da will Sie offenbar einer umbringen und das gehört in mein Gebiet", erklärte er.

Feller lächelte dünn.

"Ich wäre sicher noch auf einen Sprung zu Ihnen gekommen."

"Nein, wären Sie nicht."

Der Ton, den Moeller jetzt anschlug, war eisig. Feller schluckte.

"Na, hören sie mal, was erlauben Sie sich!" rief er, wirkte aber schwach dabei.

Moeller blieb provozierend ruhig.

"Ich weiß nicht, was für Dreck Sie am Stecken haben, oder wer Sie unter Druck setzt...", begann er dann gedehnt. Weiter kam er nicht.

Feller ließ gereizt die flache Hand auf den Tisch donnern.

"Mich setzt niemand unter Druck! Niemand, haben Sie mich verstanden?"

Moeller seufzte.

"Zumindest laut genug war's ja", versetzte er.

Feller hob den Zeigefinger und richtete ihn auf sein Gegenüber, als wäre es der Lauf einer Pistole.

"Hören Sie", schimpfte er, "ich weiß Ihre Bemühungen ja zu schätzen..."

"Nein, Herr Feller. Das wissen Sie eben nicht!" unterbrach der Kommissar hart. "Sie spielen mit dem Feuer! Verbrennen Sie sich nicht!"

"Keine Sorge!" zischte Feller.

*

Barbara Wolf war etwas erstaunt, als Kommissar Moeller am nächsten Tag vor ihrer Wohnungstür stand. Moeller hatte heute seinen Tag des guten Benehmens. Er nahm die San Jose-Sharks-Mütze ab, was gar nicht so einfach war, weil er seinen Zopf nicht aus der hinteren Öffnung herausbekam. Ein paar Haare hatten sich irgendwie verheddert. Moeller stöhnte auf, als es ziepte.

Barbara Wolf lächelte freundlich, wenn auch etwas matt.

"Sind Sie schon weitergekommen?" fragte sie.

Moeller schüttelte den Kopf.

"Nee", meinte er. "Deswegen bin ich auch hier."

"Ich habe alles auf den Tisch gelegt, was ich..."

"Darf ich hereinkommen?" unterbrach er sie.

"Ja, sicher."

Moeller folgte ihr ins Wohnzimmer. "Haben Sie was dagegen, wenn ich mich in den Sachen Ihres Mannes ein bißchen umsehe?"

"Suchen Sie etwas bestimmtes?"

"Wenn ich es gefunden habe, weiß ich es!"

"Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?"

"Schwarz."

Sie nickte. "In Ordnung."

"Geht es hier zum Schlafzimmer?" fragte Moeller und deutete den Flur entlang. Barbara war etwas irritiert.

"Ja, schon, aber..."

"Ich will mir die Kleidung ihres Mannes ansehen."

"Die ist doch...", sie schluckte, "...bei Ihnen!"

"Ich meine nicht die Sachen, die er trug, als er ermordet wurde", erwiderte Moeller. "Ich meine alle seine Sachen!"

*

Moeller nahm sich den gesamten Kleiderschrank vor. Jedes Jackett, jede Hose, jeden Kittel. Er durchsuchte alle Taschen, eine nach der anderen. Leider kam nicht viel dabei heraus.

Moeller untersuchte auch den Nachttisch.

Irgendwann erschien Barbara in der Tür. "Kommen Sie, der Kaffee wird kalt."

Moeller seufzte.

"Etwas gefunden?" fragte Brabara.

"Nein." Er zuckte die Achseln. "Es war so eine Idee. Ich dachte, daß er vielleicht einen dieser Briefe, die er bekommen hat, in die Tasche gesteckt hat... Absurd!" Moeller kratzte sich am Kinn. "Sehen Sie, ich frage mich noch immer, warum Feller Ihrem Mann regelmäßig diese Summen gezahlt hat!"

"Und?" fragte Barbara. "Haben Sie schon mit Martin - Herrn Feller - darüber gesprochen?"

Moeller verzog das Gesicht. "Ich mit ihm schon - aber er nicht mit mir. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen."

"Ich?"

Sie drehte sich um. Moeller ging hinter ihr her. Im Wohnzimmer hatte sie den Kaffee auf den niedrigen Tisch gestellt. Moeller setzte sich und trank. Dann stöhnte er auf, weil er sich die Zunge verbrannt hatte. Nicht so gierig, Moeller! ermahnte er sich. Oder sei mit deinen Gedanken nicht dauernd woanders!

"Tut mir leid", sagte Barbara Wolf.

"Ja, man sollte Kaffee kalt kochen", erwiderte Moeller nachdenklich. "Ich habe dafür auch noch keine Methode gefunden." Er sah Barbara an. "Wissen Sie, was ich glaube?

Ihr Mann hatte Feller in der Hand. Er hat ihn erpreßt!"

"Sie werden lachen, aber der Gedanke ist mir auch gekommen! Leider habe ich nicht den geringsten Schimmer, worum es dabei gehen könnte..."

"Hat Ihr Mann nie irgendwelche Andeutungen gemacht?

Überlegen Sie!"

"Was glauben Sie, worüber ich mir die ganze Zeit den Kopf zerbreche!"

In diesem Moment klingelte Moellers Handy. Er kramte ihn aus der Jackentasche heraus, klappte den Apparat auf und nahm ins Ohr. Dreimal kurz hintereinander sagte er: "Ja."

Dann erhob er sich.

"Ich muß weg", sagte er.

*

Der Regen hatte aufgehört, aber der graue Himmel verhieß keine Besserung.

Carola setzte ihren Golf auf den Hof, stieg aus und ging eilig zur Haustür. Unter dem Arm trug sie eine Plastiktüte vom Supermarkt. Die Tragelaschen waren gerissen und unten hatte sich bereits die scharfe Kante eines Joghurtbechers durch das weiche Plastik geschnitten.

Carola fingerte mit einiger Mühe einhändig den Haustürschlüssel ins Schloß und bekam am Ende sogar die Tür auf, die man beim Aufschließen anziehen mußte.

Sie trat ein, trat mit der Hacke die Tür zu und hatte auf einmal das Gefühl, daß schon jemand in der Wohnung war.

Irgend ein Geräusch hatte sie stutzen lassen - nur einen Sekundenbruchteil lang, aber es reichte aus.

"Martin?" rief sie und blickte dabei auf den Fußabdruck auf dem Teppich. Ja, das sah ihm ähnlich! "Bist du schon zurück? Ich bin heute etwas früher!"

Sie bekam keine Antwort und ging in die Küche, wo sie die Tüte auf dem Tisch abstellte.

"Martin?" fragte sie noch einmal.

Sie hörte Schritte und wirbelte herum.

In der Küchentür stand eine Gestalt, deren Gesicht von einem Motoradhelm verdeckt wurde. Es mußte der Kerl sein, den Carola durch das Küchenfenster hatte davonfahren sehen, als auf Feller geschossen worden war.

"Keine Bewegung", zischte eine dumpfe, sonore Stimme und Carola blickte in den blanken Lauf einer Pistole. "Kommen Sie!" forderte er.

"Was haben Sie vor?"

"Tun Sie einfach, was ich sage! Kommen Sie mit ins Wohnzimmer! Gehen Sie langsam vor mir her!"

Carola gehorchte. Der Puls schlug ihr bis zum Hals. Sie schluckte und fühlte einen Kloß im Hals.

"Setzten Sie sich ganz ruhig in den Sessel dort!" wies der Mann sie an, als sie das Wohnzimmer betraten.

Sie setzten sich.

Der Mann legte einen Fuß auf den niedrigen Wohnzimmertisch, während Carola die schweißnassen Hände zwischen die Beine preßte.

Sie atmete einal heftig und hörte sich dann fragen: "Wer sind Sie?"

Sie blickte zu ihrem gesichtslosen Gegenüber auf.

"Was soll ich Ihnen darauf antworten? Auf jeden Fall ein recht guter Schütze - wenn auch vielleicht nicht ganz so gut, wie Ihr Mann! Aber ich kann mit diesem Ding hier umgehen, darauf können Sie sich verlassen!

Carolas Gedanken ordneten sich wieder einigermaßen. Den ersten Schock hatte sie hinter sich.

"Sie... wollen meinen Mann töten?" erkannte sie glasklar.

Sie rutschte auf dem Sessel nach vorn.

"Ich habe gesagt, Sie sollen sich setzen und mir nicht noch dumme Fragen stellen!"

Carola sah, daß er die Pistole angehoben hatte und lehnte sich wieder zurück. Er schien ziemlich nervös zu sein.

"Zufrieden?" fragte sie.

Er nickte.

"Ja, so ist es gut."

"Warum machen Sie das? Sie haben Norbert Wolf getötet, nicht wahr? Warum haben Sie auf meinen Mann geschossen und uns diese Fotos geschickt? Das waren doch Sie, oder?"

"Hat Ihr Mann Ihnen das nicht erklärt?"

"Ich... Ich weiß jetzt nicht so recht, was Sie meinen..."

Ein heiseres Lachen kam dumpf unter dem Helm hervor.

"Dachte ich es mir doch."

"Was dachten Sie sich?"

"Er ist ein feiger Hund."

"Martin?"

"Ja, Ihr Martin."

Es entstand eine Pause. Im Hintergrund tickte die Wohnzim-meruhr vor sich hin. Tick, tack... Carola machte das rasend.

Nur ruhig bleiben! sagte sie sich. Ruhig bleiben und nicht den Kopf verlieren.

Tick, tack...

Zeit gewinnen! Irgendwie mußte sie Zeit gewinnen. Er schien sich noch nicht im Klaren darüber zu sein, was er mit ihr anfangen sollte. Er hatte wohl nur mit ihrem Mann gerechnet und eigentlich wäre sie jetzt ja auch noch nicht zu Hause gewesen.

Wenn er Martin umbringt, dann wird er mich kaum am Leben lassen können! überlegte sie.

Sie fragte sich, warum er es dann noch nicht getan hatte.

Vielleicht wollte er einfach nicht, daß man jetzt schon ein Schußgeräusch hören konnte.

"Haben Sie die Männer auf den Fotos auch...

umgebracht?" fragte sie mit zitternder Stimme, die aber mit jedem Wort sicherer wurde.

"Halten Sie einfach den Mund, ja?"

"...und wenn Martin gleich zurückkommt, dann soll ich in aller Ruhe mit ansehen, wie er eine Kugel von Ihnen bekommt? Das haben Sie doch vor, oder?"

Er zuckte die Achseln.

Schließlich sagte er nach kurzer Pause: "Es tut mir leid, daß ich Sie da hineinziehen mußte. Es tut mir leid, aber ich kann nichts dafür. Normalerweise sind Sie um diese Zeit nicht zu Hause!"

"Ich weiß...Wie sind Sie überhaupt hier hereingekommen?"

"Durchs Klofenster. Es war abgeklappt."

"Ja, das war Sven. Er müßte eigentlich schon längst hier sein..."

"Ihr Sohn ist noch mindestens zwei Stunden weg.

Handballtraining..."

Carola atmete tief durch.

"Sie wissen sehr gut Bescheid..."

"Ja, ich habe mich informiert! Und Feller - also ich meine Ihr Mann - hat Ihnen bestimmt nichts gesagt? Über die Fotos zum Beispiel?"

"Er hat mir gesagt, daß er für die Stasi... Aufträge ausgeführt hat. Früher, meine ich. Schon lange her..."

Sie sah, wie der Motorradhelm sich hob und senkte.

"Ja, richtig."

"Hören Sie, mein Mann hat wirklich nicht vor, Ihnen irgendwie zu schaden! Ihnen oder Ihrem Auftraggeber!"

"Was Sie nicht sagen!"

"Für ihn sind die alten Zeiten vorbei - aus und vergessen.

Und er will nichts, als sein Geschäft betreiben und ein ganz normales Leben führen..."

"Ein ganz normales Leben", unterbrach er sie mit einem zynischen Unterton. "Schön haben Sie das gesagt! Wirklich schön!"

Carola hob die Arme und beugte sich erneut etwas vor, worauf der Mann mit dem Helm diesmal allerdings nicht weiter reagierte.

"Sie müssen mir glauben!" rief sie.

Wieder ein heiseres Lachen.

"Ich kann mir gut vorstellen, daß er die alten Zeiten gerne vergessen würde. Oder vielleicht sogar schon vergessen hat."

Carola begriff nicht.

"Na, dann ist doch alles in Ordnung oder?" meinte sie. "Er verlangt auch kein Geld oder so..."

Jetzt war er es, der sich vorbeugte. Er nahm den Fuß vom Tisch und auf einmal war ein seltsames Vibrieren in seiner Stimme.

"Hören Sie, Ihr Mann mag alles vergessen haben, aber ich, ich kann es nicht vergessen!" zischte er. "Niemals!"

"Ach, so ist das", murmelte Carola, so als ob sie verständen hätte, was er meinte.

Er nickte leicht.

"Ja, so ist das!" fauchte er.

Sie nahm einen erneuten Anlauf. Um keinen Preis wollte sie das Gespräch abreißen lassen. Aus den Augenwinkeln heraus blickte sie zur Uhr. Ihr Mann mußte jeden Moment kommen.

"Sie sind ein Ossi, nicht wahr?" fragte sie. "Ich meine, ich wollte sagen, also... Ein Bürger aus den fünf neuen Bun-desländern?"

Kopfschütteln.

"Nein. Ich war noch nie dort."

"Was?"

"Ihr Mann scheint Ihnen nicht alles gesagt zu haben."

"Sind Sie kein Ex-Stasi-Mann?"

"Ich?"

"Ja, sicher!"

Er lachte. "Nein, ich bestimmt nicht", murmelte er dann kopfschüttelnd.

Carola war wie vor den Kopf gestoßen.

"Aber..."

"Ich möchte, daß Sie sich folgendes vorstellen!" forderte er und wieder vibrierte seine Stimme. Er atmete schneller, als er leise fortfuhr: "Ein kleiner Junge, vielleicht vier Jahre alt, betritt die Wohnung seiner Eltern. Er kommt vom spielen, den Ball hat er noch unter dem Arm. Er ist hingefal-len und hat das Knie blutig und nur deshalb ist er jetzt hier." Er schnappte nach Luft und machte eine Pause. Dann schluckte er. "Können Sie mir folgen?"

"Ja", sagte Carola fast tonlos. "Erzählen Sie mir, wie es weitergeht..."

"Der Junge kommt in die Wohnung. Die Tür steht auf. Er sieht seine Eltern, beide liegen auf dem Boden -

tot. Und daneben steht ein großer Mann mit einer sehr langen Pistole. Er sieht den Jungen an und der Junge sieht ihn an.

Und dann ist da noch ein zweiter Mann, der gerade den Schreibtisch durchsucht. Er trägt Handschuhe. 'Komm!' sagt der Mann mit der Pistole. Dann gehen sie an dem Jungen vorbei, verlassen die Wohnung und verschwinden."

Das Schweigen, das dann den Raum erfüllte war unangenehm und drückend. Und im Hintergrund ging immer noch die Uhr.

Unablässig ging das Pendel hin und her. Carola dachte unwillkürlich an ein Fallbeil.

"Der Junge - das waren Sie?" fragte sie.

Er nickte.

"Sie dürfen dreimal raten, wer der Mann mit der Pistole war!"

Carola hob die Augenbrauen.

"Martin?

"Ja."

"Und der zweite Mann?"

"Norbert Wolf."

"Sie... Sie täuschen sich bestimmt!"

"Nein, ich täusche mich nicht", erklärte er. "Ich habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, was damals geschehen ist.

Aber seit es die Mauer nicht mehr gibt, ist alles etwas leichter geworden... Der Mann auf dem ersten Foto, das war der Stasi-Offizier, von dem Ihr Mann seine Aufträge erhielt!"

"Aufträge?" erkundigte sie sich, und ihre Augen wurden schmal dabei.

"Ja, insgesamt sieben", bestätigte er. "Sieben Menschen, die Ihr Mann und Norbert Wolf umgebracht haben. Politische Gegner, die in den Westen geflohen waren, Überläufer, was weiß ich... Mißliebige eben."

Carola hatte das Gefühl, einen Schlag vor den Kopf zu bekommen. Alles drehte sich vor ihren Augen. Ein Schwindel-gefühl erfaßte sie.

"Das wußte ich nicht."

"Sie haben geglaubt, daß Ihr Mann nur ein paar Panzer fotografiert hat, was? Nein, er hatte ganz spezielle Aufgaben. Aber er wird dafür bezahlen!"

"Mein Gott... Können wir uns nicht irgendwie einigen? Ich meine..."

Der Helm hob sich ein wenig. Carola blickte in ihr eigenes Spiegelbild.

"Einigen?" fragte er höhnisch.

"Geld, vielleicht. Unsere Firma geht gut, da..."

"Vergessen Sie's!"

"Wie, bitte?"

"So etwas läßt sich nicht mit Geld regeln. Das ist ausgeschlossen. Ich sehe jede Nacht diesen Mann vor mir, mit seiner Pistole... Können Sie sich vorstellen, wie das ist?

Können Sie das?"

"Wahrscheinlich nicht", gab Carola zu und dachte gleichzeitig fieberhaft nach. "Wenn Sie so sehr von der Schuld meines Mannes überzeugt sind - weshalb gehen Sie dann nicht zur Polizei, anstatt hier mit einer Pistole aufzutau-chen."

Er schüttelte den Kopf.

Sein Ton wurde bitter.

"Das ich nicht lache! Wissen Sie, wieviel man auf die Erinnerung eines Vierjährigen gibt? Nein, das würde nur im Sande verlaufen. Ihr Mann war Profi. Er hat seine Sache gut gemacht. Es dürfte schwer sein, heute noch Beweise beizubringen, die ein Gericht akzeptieren könnte!" Er machte eine Pause. Dann fragte er unvermittelt: "Ist Ihr Mann eigentlich bewaffnet?"

"Nein", sagte Carola.

"Soll ich das glauben?"

"Glauben Sie, was Sie wollen! Er hat eine Pistole.

Aber nicht bei sich. Soll ich sie Ihnen zeigen?"

Der Mann zögerte und schien einen Moment lang nachdenken zu müssen.

Dann nickte er schließlich langsam, aber bestimmt.

"Ja."

Er fuchtelte mit der Pistole hin und her. Carola erhob sich vorsichtig.

"Seien Sie ja vorsichtig mit dem Ding, hören Sie?"

murmelte sie.

"Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein! Wo ist die Waffe?"

"In der Küche."

"Versuchen Sie keine Tricks, ja? Es würde Ihnen schlecht bekommen!"

Er ließ Carola vor sich her gehen.

"Werden Sie mich nicht ohnehin töten?" fragte sie, als sie die Küche erreicht hatten.

"Warum sollte ich?"

Plötzlich klang Carolas Stimme sehr stark und bestimmt.

"Das sagen Sie nur, um mir Hoffnung zu machen!" stellte sie kühl fest.

"Ich sage es, weil es die Wahrheit ist. Außerdem habe ich einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Ihr Mann hat den Tod verdient, sogar mehr als das! Aber sie haben damit nichts zu tun."

"Aber ich wäre eine Zeugin."

"Wirklich?" Er lachte. "Was wissen Sie von mir? Nichts. Ihr Mann war Profi, aber ich werde nicht weniger geschickt vorgehen. Wo ist jetzt die verdammte Pistole?"

Carola öffnete eine Schublade. "Hier!" sagte sie.

"Finger weg!" fauchte er. "Das ist ein ziemlich altes Ding, was?"

Da klang so etwas wie Zweifel mit und deshalb beeilte sich Carola zu sagen: "Er hat sie auch ziemlich lange nicht mehr gebraucht!"

Er wandte den Kopf zu ihr. Vielleicht musterte er sie.

Carola sah den blicklosen Helm fest an und hoffte, daß man ihr glaubte.

"Sie wollen mich wohl für dumm verkaufen, was?" kam es ihr kalt entgegen.

"Das würde ich nie wagen!"

"Ach, nein?"

"Nicht solange Sie mit Ihrer Waffe vor meinem Gesicht herumfuchteln!"

Er nahm die Waffe in die Linke und hielt sie Carola entgegen.

"Das ist eine Sportpistole!" stellte er fest. "Ich will ja nicht bestreiten, daß man damit nicht auch jemanden umbringen kann, aber..."

Er richtete den Lauf auf Carola und bohrte ihn dann schmerzhaft in ihren Hals. Vielleicht fünf volle Sekunden lang machte er das. Carola wagte nicht einmal zu schlucken.

Dann nahm er das Eisen wieder weg und schüttelte den Kopf.

"Sie haben gefragt, ob mein Mann eine Waffe bei sich hat", sagte sie dann so ruhig sie eben konnte. "Und ich habe Sie Ihnen jetzt gezeigt. Mehr kann ich dazu nicht sagen."

"Ja, ja... Die Rolle des Unschuldslamms, die steht Ihnen prächtig!" versetzte er zynisch.

"Mein Gott, was erwarten Sie denn von mir?"

"Schon gut. Gehen wir wieder ins Wohnzimmer."

Er wandte ein wenig den Kopf und dann ging alles sehr schnell.

Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er wollte die Rechte hochreißen, aber es war zu spät.

Zwei Schüsse kurz hintereinander abgefeuert trafen ihn im Oberkörper, rissen ihn nach hinten und ließen ihn dann der Länge nach zu Boden schlagen. Blut sickerte auf den kalten Kachelboden in der Küche.

*

"Er ist tot...", flüsterte Carola.

Feller stand in der Tür und hielt in der Rechten immer noch die Pistole.

"Ja, wir haben Glück gehabt", meinte er dazu. Er wirkte kühl und beherrscht. "Ich bin ums Haus gegangen, weil ich meinen Hausschlüssel vergessen hatte. Du weißt, das passiert mir öfter. Deshalb habe ich ja auch den Ersatzschlüssel bei den Waschbetonsteinen. Tja, und dann habe ich Stimmen gehört!

Wie kommt es, daß du schon zu Hause bist? Überstunden?"

"Ist doch jetzt unwichtig!" zischte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie versuchte, die Leiche nicht anzusehen.

Wie durch einen Nebel hörte sie Martins Stimme. Es schien auf einmal die Stimme eines Fremden zu sein.

"Es war gut, daß du ihn hier her gelockt hast", sagte er.

"Warum auch immer."

"Wegen der Waffe", gab sie Auskunft. "Er fragte, ob du sie bei dir hättest und ich wollte ihm einreden, daß du unbewaffnet wärst. Deshalb habe ich ihm die Sportpistole gezeigt."

Ein mattes Lächeln ging über Martins Gesicht. Er schien erleichtert.

"Clever bist du jedenfalls!" meinte er.

Carola fühlte Panik in sich aufsteigen.

"Was machen wir jetzt! Wir haben einen Toten hier und die ganze Nachbarschaft hat die Schüsse bestimmt gehört."

"Die Kirchbaums sind jedenfalls einkaufen."

"Woher willst du das wissen?"

"Weil Donnerstag ist und der Wagen nicht dort steht, wo er hingehört."

"Trotzdem. Wir sollten..."

"Die Polizei rufen?"

Sie nickte.

"Ja."

Martin steckte die Pistole weg und näherte sich der Leiche.

Er blickte nachdenklich hinab.

"Ja, ich glaube auch", murmelte er dann. "Es war Notwehr.

Und dieser Kommissar Moeller weiß ja, daß es jemand auf mich abgesehen hat. Komm, pack mit an!"

"Was?"

Sie glaubte fast, sich verhört zu haben.

"Ja, nun tu nicht so, als wärst du schwer von Begriff! Wir müssen den Kerl noch etwas überzeugender drapieren, damit man uns unsere Story auch glaubt!"

Martin beugte sich über den Toten, aber Carola zögerte.

Und plötzlich begriff sie. "Dich interessiert gar nicht, wer er ist!" stellte sie fest.

Martin richtete sich wieder auf und musterte sie einen Moment lang. Dann zuckte er die Schultern.

"Doch, sicher interessiert mich das!"

Carola hatte unterdessen die Leiche umrundet und versuchte, den Helm zu lösen.

"Was machst du denn da?" rief Feller. "Nichts anfassen, du hinterläßt doch nur Spuren!"

"Hilf mir mal bei diesem verdammten Helmvisier!"

"Warte, ich hol dir die Spülhandschuhe aus der Küche."

Er brauchte nicht lange.

"Gib her!" forderte Carola, aber er gab ihr die Gummihandschuhe nicht, sondern zog sie sich selbst über.

"Laß mich das machen!" meinte er dazu.

Er öffnete das Visier.

"Kennst du ihn?" fragte Carola.

"Nein", behauptete er.

Sie begann jetzt, sich an den Kleidern des Toten zu schaffen zu machen.

"Was soll das?" rief Feller.

"Einen Paß hat er nicht bei sich!"

"Was hast du denn gedacht!"

"Warum sollte er keinen Paß bei sich haben! Er hat ja wohl nicht damit gerechnet, erschossen zu werden!"

Carola drehte den Toten halb herum und wurde in der Gesäßtasche fündig.

"Hier: der Führerschein. Kurt Erichsen. Sagt dir der Name was?"

Martin schüttelte den Kopf.

"Nein. Meine Güte, ich weiß gar nicht, was du jetzt so darin herumbohrst! Bei diesen Stasi-Schweinen ist doch der Name so falsch wie alles andere! Komm, jetzt laß uns mal überlegen, wie wir ihn hinlegen. Und unsere Aussagen, die müssen wir auch absprechen!"

"Ja, ja...", murmelte sie.

*

Als Moeller am Tatort eintraf, herrschte dort bereits reger Betrieb. Der Gerichtsmediziner, die Spurensicherung und sein Kollege Simitsch traten sich im Haus der Fellers mehr oder weniger auf die Füße. Bilder wurden gemacht, Spuren gesichert. Zwei Beamte trugen einen Zinksarg herein.

Simitsch gab Moeller schon einmal eine Zusammenfassung seiner Ermittlung - die sich wohl hauptsächlich auf die Aussagen des Ehepaars Feller stützte.

"Am Tathergang dürfte es wenig Grund zu zweifeln geben", meinte Simitsch. "Dieser Kerl ist in die Wohnung ein gedrungen, und Herr Feller hat ihn in Notwehr erschossen, bevor der Täter schießen konnte. Seinem Führerschein nach heißt der Mann Kurt Erichsen. Dem Kaliber seiner Waffe nach könnte er der Mörder von Norbert Wolf sein."

"Fragt sich nur, warum er das getan hat", meinte Moeller.

"Das muß ein Wahnsinniger gewesen sein!" meinte Feller, der in der Nähe stand und das Gespräch der beiden Beamten mitangehört hatte. Moeller drehte sich zu dem Gebrauchtwagenhändler herum.

"Sie haben diesen Mann nie gesehen?"

"Nein, nie."

"Und doch wollte er Sie umbringen?"

"Jedenfalls bin ich froh, daß dieser Spuk ein Ende hat!"

"Wir auch", sagte Simitsch.

Nur Moeller mochte irgendwie in diesen Freudenchor nicht mit einstimmen. Wie praktisch! dachte er. Wahrscheinlich wird man ihm am Ende zwei Morde, einen Mordversuch und Brandstiftung nachweisen. Ein Täter und gleich mehrere Fälle aufgeklärt...

Moeller hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Er sah zu, wie Erichsens Leiche in den Zinksarg gelegt wurde.

Jener Treffer,mit dem Feller ihn hingestreckt hatte, war sehr präzise. Moeller dachte einen Augenblick darüber nach, daß er kaum in der Lage gewesen wäre, so einen Schuß hinzubekommen.

Seine Ergebnisse am Schießstand waren seit Jahren gleichbleibend schlecht.

"Kann ich mal die Waffe sehen?" fragte Moeller dann.

"Hat der Brenner!" meinte Simitsch. Moeller sah sich nach Brenners Verbleib um. Er fand ihn schließlich im Wohnzimmer.

Drei Waffen lagen sorgfältig eingetütet auf dem niedrigen Tisch. Brenner saß in einem der Sessel und versuchte, sich die Latexhandschuhe von den Fingern zu ziehen.

"Drei Waffen?" fragte Moeller.

Brenner sah auf. "Mit der links hat Herr Feller geschossen, mit der mittleren dieser Erichsen..."

"Und die dritte Waffe?"

"Mit der ist überhaupt nicht geschossen worden. Das ist eine Sportpistole", erläuterte Brenner.

Moeller nahm sich Fellers Waffe und betrachtete sie eingehend. Die Seriennummer war abgefeilt. Vorne am Lauf war ein leichter Abrieb zu sehen. Vielleicht hatte mal jemand einen Schalldämpfer aufgeschraubt. Moeller spürte förmlich, wie Feller ihn mit wachsender Ungeduld musterte. Der Gebrauchtwagenhändler war nicht von seiner Seite gewichen, so als glaubte er, Moeller gewissermaßen überwachen zu müssen.

Moeller registrierte das. Er ist nervös! dachte er. Fragte sich nur, warum eigentlich.

"Woher haben Sie diese Waffe?" fragte Moeller schließlich.

"Ich sagte es schon ihrem Kollegen..."

"Dann sagen Sie es mir bitte nochmal!"

"Ich habe sie mir mal von einem dubios wirkenden Kerl besorgt, der wohl irgendwie Verbindungen ins Zuhälter-Milieu hatte. Natürlich kann ich Ihnen keinen Namen nennen. Ich weiß ihn ja selbst nicht. Und mir ist auch bewußt, daß ich durch den Besitz dieser Waffe gegen einige Gesetze verstoßen habe."

"Sie ist nicht registriert, und ich nehme an, daß Sie keinen Waffenschein haben", sagte Moeller kühl. Und dabei dachte er: Mein Gott, Moeller, du hörst dich fast so an wie Klaus Simitsch! Noch zehn Dienstjahre, und du trägst Krawatte oder gehst in die Konzerte von Tom Astor!

"Wenn ich diese Waffe nicht gehabt hätte, wäre ich jetzt wohl nicht mehr am Leben", erklärte Feller kühl. "Wie auch immer Sie es drehen und wenden wollen, Herr Moeller. Es war Notwehr."

Moeller nickte leicht. "Ja, ja", murmelte er. "Es sieht ganz so aus..."

Und warum habe ich dann so ein Bauchgrimmen dabei? fragte Moeller sich selbst.

Er sah es triumphierend in Martin Fellers Augen aufblitzen.

Nein, dachte Moeller. Das ist nicht nur einer, der froh ist, knapp einem Anschlag entgangen zu sein. Das ist einer, dem noch ganz andere Steine vom Herzen gefallen sind...

Aber das war kein Beweis.

Nicht einmal ein Indiz.

Vielleicht sogar nur Einbildung.

Verrenn' dich nicht, Moeller! sagte eine warnende Stimme in ihm. Sei ein Sportsmann! Erkenne, wann das Spiel aus ist! Du warst auf dem Holzweg!

Martin Feller redete wortreich auf Moeller ein, erläuterte ihm jedes Detail. Sein Mund bewegte sich unablässig und Moeller dachte genervt: Manche Leute trinken Quasselwasser oder Schnaps, um ihre Zunge zu lösen, und ein Martin Feller legt halt jemanden um...

Was will er damit nur überspielen? überlegte Moeller.

Der Kommissar hörte gar nicht mehr auf die einzelnen Worte.

Für ihn klang das Gerede in diesem Moment wie ein diffuser Tonbrei.

Wie sieht die Hölle aus? dachte er. Einen Tag lang dazu gezwungen zu sein, die Musik von Tom Astor oder Heino zu hören oder dieses Gesabbel?

Er mochte nicht entscheiden, was schlimmer war.

Statt dessen schaltete er einfach ab.

Moeller hörte im Kopf die fulminanten, geradezu wahnwitzigen Läufe aus Charlie 'Bird' Parkers Stück AH-LEU-CHA.

Markus 'Bird' Moeller. Klingt doch auch nicht schlecht, oder? ging es dem Kommissar durch den Kopf. Er dachte daran, den Song mal aufzunehmen, ließ den Plan in der nächsten Sekunde aber wieder fallen. Wahrscheinlich würde er beim Saxophonspielen nur einen Knoten in die Finger bekommen. Bei den Wahnsinnsläufen!

Martin Fellers Gerede wirkte auf Moeller wie Kaufhausmusik im Hintergrund. Man nahm sie erst war, wenn sie plötzlich nicht mehr lief und jemand sagte: "12 bitte 13!"

Moeller blickte quer durch den Raum.

Carola Feller stand am Fenster. Sie wirkt sehr nachdenklich und schaute hinaus. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt. Ihre Augen waren rot umrandet.

Moeller ließ den Gebrauchtwagenhändler einfach stehen und trat neben sie.

"Muß ein Schock für Sie gewesen sein", sagte er, um Verständnis zu signalisieren.

Sie sah Moeller kurz an, antwortete aber nicht.

"Ich denke, daß Sie jetzt aufatmen können, Frau Feller."

Ihr Lächeln war dünn. "Sicher", murmelte sie.

Moeller hörte einen klagenden Saxophonton in seinem Kopf.

*

Moeller stand am Fenster seiner Wohnung und beobachtete, wie die Sonne als verwaschener Lichtfleck im grauen, dunstigen Himmel hinter der nächsten Anhöhe verank.

"Na, wat macht die Kunst?" rief der Mann im Unterhemd zu ihm herauf. Es war lausig kalt an diesem Abend, aber das schien der Kerl gar nicht zu registrieren.

Moeller blickte hinab.

"Häh?" meinte er.

"Na, kein Gedudel heute, woll? Ich habe mich schon gewundert! Unsere alte Mutter meinte schon, als sie Ihre Rostlaube auf dem Parkplatz gesehen hat: Dat wird 'ne unruhige Nacht! Aber bis jetzt habe ich noch keinen Laut gehört!"

"Künstlerische Krise!" knurrte Moeller.

Aber das war nicht die Wahrheit.

Die Krise hatte nichts mit dem Saxophon zu tun, sondern mit dem kleinen Nebenjob, den er zu verrichten hatte.

Dies war einer jener Augenblicke, in denen Moeller sich wünschte, er wäre doch Musiker geworden und nicht Polizist.

Selbst, wenn man miserabel spielte und das Publikum mit Tomaten nach einem warf - Moeller glaubte einfach nicht, daß man sich dann unzufriedener mit sich und seiner Arbeit fühlen konnte, als ein Kriminalkommissar, der einen Fall zu den Akten legen mußte, von dem er glaubte, daß allenfalls die Oberfläche aufgeklärt war. Und genau das würde passieren.

Moeller sah es auf sich zukommen.

So ein Mist! durchfuhr es ihn.

Und dabei sah er das triumphierende Gesicht von Martin Feller vor seinem inneren Auge.

Wer mochte da noch an die göttliche Musik eines John Coltrane denken?

Alles paßte viel zu gut zusammen.

Kurt Erichsen, wohnhaft in Essen, hatte die letzten Wochen auf einem Campingplatz in Windebruch an der Listertalsperre verbracht. In seinem Iglu-Zelt hatte man einiges an Belastungsmaterial gefunden. Insbesondere Fotos von Feller und Wolf, sowie einige zusammengeklebte Drohbriefe, die offenbar noch nicht abgeschickt worden waren.

Es sprach alles dafür, daß er Norbert Wolf am Abend seines Todes angerufen und unter irgendeinem Vorwand ans Ufer der Talsperre gelockt hatte, um ihn dort zu ermorden.

Seine Versuche, Feller umzubringen, waren jedoch gescheitert.

Aber was das Motiv war, das diesen jungen Mann dazu getrieben hatte, blieb nach wie vor im Dunkeln.

Es ist wie mit den Eisbergen! dachte Moeller. Neun Zehntel sind unter der Oberfläche.

"Sind Sie heute abend eigentlich auch im Brauhaus?" drang jetzt wieder die Stimme des Mannes im Unterhemd an Moellers Ohr und riß ihn aus seiner inneren Welt heraus.

"Wieso?" fragte er. "Ist da heute was besonderes?"

"Der WDR macht da 'ne Fernsehsendung. 'Pro und Contra Sperrstunde' heißt dat Thema. Dat mußte auch endlich mal diskutiert werden, woll?"

"Ja, ja", murmelte Moeller.

"Aber eigentlich gehört erstmal wat ganz anderes auf den Tisch!"

"So?"

"Nämlich dat unsere Stadt pleite ist."

"Welche Stadt ist das nicht?" meinte Moeller und überlegte sich dabei, ob es unhöflich war, wenn er einfach das Fenster schloß. Er hatte jetzt nämlich nicht die Nerven, sich einen Monolog über Kommunalpolitik anzuhören, dessen Essenz am Ende doch nur darin bestand, das alle Politiker entweder Schweine oder unfähig waren.

"Mein Zahnarzt hat mir erzählt, dat es jetzt in Werdohl eine Regenwassersteuer gibt! Ja echt, auf solche Gedanken kommen die, wenn die Kasse leer ist, woll?"

"Schlimm, schlimm", meinte Moeller und rang noch mit sich und der Frage, wie unhöflich man zu seinen Nachbarn sein durfte. Bei den Zeugen Jehovas kannte Moeller da weniger Erbarmen.

Der Mann im Unterhemd redete sich warm. "Ja, diese Regenwassersteuer, die wird nach der Dachfläche berechnet, woll! Habe ich jedenfalls gehört. Mannomann, da kann man ja von Glück sagen, daß das Sonnenlicht noch umsonst ist!"

"Da würde sich eine Besteuerung in dieser Gegend wohl kaum lohnen", meinte Moeller.

Der Mann in Unterhemd sah ihn groß an.

"Ja, dat ist ein wahres Wort!"

*

Zwei Tage später saßen Fellers in Moellers und Simitschs Büro auf dem Polizeipräsidium.

Martin Feller tickte mit den Finger nervös auf der Stuhllehne herum. Carola hingegen saß stocksteif da und bewegte nicht einmal die Augenbrauen.

Mit einer schwungvollen Bewegung zog Moeller das Protokoll aus der Schreibmaschine, wobei er eine Ecke abriß.

"So, das wär's, denke ich", meinte er, als er Martin das Papier hinlegte. "Ich bräuchte hier noch eine Unterschrift von Ihnen."

Feller atmete tief durch.

"Natürlich!" beeilte er sich, beugte sich vor und ließ sich von Moeller dann einen Kugelschreiber geben, der allerdings nicht funktionierte.

Moeller wühlte in der Schreibtischschublade herum und fand schließlich einen gelben Filzstift. "Man sieht es auf dem weißen Papier zwar nicht besonders deutlich, aber rechts-gültig ist es", murmelte er dazu.

Feller schrieb.

Er krakelte ziemlich.

"Blöder Stift!" knurrte er und reichte dann beides - Stift und Protokoll - an Carola weiter.

"Haben Sie inzwischen schon etwas über diesen...

Verrückten herausgefunden?" fragte sie, während sie ihren Namen schrieb.

"Ja", nickte Moeller.

Sie blickte auf.

"Und?"

Moeller lehnte sich zurück.

"Eine ziemlich traurige Geschichte. Ein Heimkind. Erst Erziehungsheim, dann Jugendpsychiatrie, galt immer als schwierig und unzugänglich. Ein verschlossener Junge, der unter einem frühkindlichen Trauma litt."

"Was für ein Trauma?" fragte Carola.

Feller war bereits im Begriff, sich zu erheben.

Seine Fingerkuppen tickten wieder unruhig auf der Stuhllehne herum.

"Carola..."

"Ja, es interessiert mich eben!" rechtfertigte sie sich, wobei ihr Blick auf Moeller gerichtet blieb.

"Seine Eltern sind einem Mordanschlag zum Opfer gefallen", fuhr Moeller fort. "Wahrscheinlich ein Raubüberfall. Ich habe mir mal die Akte kommen lassen, weil ich wissen wollte, was der reale Hintergrund war..."

"Und?" hakte Carola nach.

"Es steht nicht viel drin in der Akte. Ein ungeklärter Fall. Ein alter Bekannter wurde festgenommen, mußte dann aber wieder freigelassen werden, weil die Beweise nicht ausreichten." Moeller wandte den Kopf und sah Feller an. "Naja, ich begreife übrigens immer noch nicht, warum Sie sich anfangs so angestellt haben!"

Feller machte eine verlegene Geste.

"Sie wissen doch...", meinte er und stockte.

"Was?"

"Die Öffentlichkeit."

"Wieso?"

"Ich bin Geschäftsmann, und da ist es wichtig darauf zu achten, wie man in der Öffentlichkeit so dasteht..."

Moeller zuckte die Achseln.

"Ist denn etwas Ehrenrühriges dabei, wenn ein Verrückter versucht, einen umzubringen?"

"Das nicht. Aber würden Sie sich gerne danebenstellen, um von ihm ein Auto zu kaufen und dabei die Kugel abbekommen, die eigentlich für ihn bestimmt war?"

Moeller mußte unwillkürlich lachen.

"Nun, so kann man die Sache natürlich auch sehen."

"Na, sehen Sie!" Feller atmete tief durch. "Tja, wenn wir hier nicht mehr gebraucht werden..."

"Sie können gehen, wenn Sie wollen."

"Auf Wiedersehen. Oder vielleicht besser: nicht auf Wiedersehen."

*

"Du warst großartig, Schatz!" sagte Martin Feller während der Fahrt nach Hause.

Er hatte das Radio angestellt und trommelte zum Rhythmus der Musik auf dem Steuerrad herum.

Carola schwieg.

Er sagte: "Die haben uns aus der Hand gefressen wie zahme Tauben, was?"

"Hm", machte sie abweisend.

"Du sagst ja gar nichts!"

"Es hat mir auch im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen, Martin."

"Was? Wovon sprichst du, bitte schön?"

Sie wandte den Kopf und musterte ihn kühl von der Seite.

"Von deiner Kaltblütigkeit. Das bringst du mit einer... ja, Routine. Routine, das ist das richtige Wort!"

"Nun mach aber mal halblang..."

"Der Mann auf dem zweiten Foto! Das war einer deiner Opfer, nicht wahr? Ein 'Auftrag', wie du das so blumig ausgedrückt hast!"

"Hör, mal, Carola, müssen wir denn wirklich jetzt darüber reden. Ich meine..."

"Und ich meine, daß ich ein Recht habe, jetzt von dir die Wahrheit zu hören! Ich habe für dich geschwiegen, ich habe ein falsches Protokoll unterschrieben..." Und dann brachte Carola alles auf den Punkt. "Du warst kein Spion, Martin. Du warst ein Killer."

"Carola..."

"Du brauchst es nicht abzustreiten. Der Mann mit dem Motorradhelm hat es mir gesagt. Erichsen. Du hast seine Eltern umgebracht."

"Herrgott, nochmal!" schimpfte Martin und schlug die Handballen gegen das Lenkrad.

Carola war unerbittlich.

"Erinnerst du dich an einen vierjährigen Jungen, der euch beobachtet hat, kurz nachdem du seine Eltern über den Jordan geschickt hast? Und Norbert war wohl auch dabei..."

Eisige Stille.

Carola fuhr fort: "Ich wette das Schießeisen, das du da mit dir herumträgst ist noch die Tatwaffe von damals. Ordentlich bist du ja! Alles hebst du auf!"

Eine Pause entstand. Das Schweigen wirkte drückend. Martin holte zweimal Luft, um etwas zu sagen.

"Gut", brachte er schließlich heraus. "Du weißt es also."

"Es ist also wirklich wahr?"

Er lachte verzweifelt.

"Hast du daran denn noch gezweifelt?"

"Nein. Nicht wirklich."

"Na, also!"

"Vielleicht habe ich gehofft, daß es nicht wahr ist."

Er zuckte die Schultern.

"Was gibt's dazu noch zu sagen?" meinte er resignierend.

"Ich weiß auch nicht!" murmelte sie und sah dabei aus dem Seitenfenster.

Er spürte in seinem Innersten, daß er sie verloren hatte.

Jetzt, genau in diesem Augenblick.

Er mußte schlucken.

Und dann fing er an zu reden. Gedämpft, tonlos und fast verzweifelt.

"Wenn ich's ungeschehen machen könnte, würde ich es tun. Bestimmt! Aber das geht nunmal nicht! Und damals brauchte ich Geld, saß auch sonst ziemlich tief in der Schei-

ße! Und bevor DU jetzt hier jetzt deine moralisch saubere, makellos weiße Weste zum Fenster hinaushängst, solltest du dir vielleicht mal eins vor Augen führen: Es hat dir all die Jahre nichts ausgemacht, von den Erträgen dieser 'Aufträge'

zu leben."

"Ich habe es bis jetzt ja auch nicht gewußt", erwiderte sie. "Aber jetzt, jetzt weiß ich bescheid. Und das ändert alles!"

"Was meinst du damit?"

Er fragte, obwohl er die Antwort im Grunde schon wußte.

"Das... muß ich mir noch überlegen", log sie.

"Überlegen? Willst du mich etwa nach all den Jahren hochgehen lassen?"

Carola schüttelte den Kopf.

"Keine Sorge! Ich habe ja schließlich für dich die Ahnungslose gespielt und diesem Moeller eine überzeugende Show geliefert. Das hast du selbst gesagt!"

"Ja..."

"Über diesen Punkt brauchst du dir also keine Sorgen machen."

"Und warum geht es dann?"

"Ob ich mit dir zusammen bleiben kann!"

Endlich war es also heraus.

"Verstehe...", murmelte er, obwohl das nicht stimmte. Er verstand kein bißchen, sondern war nur traurig und wütend.

Der Motor heulte auf. Carola klammerte sich unwillkürlich an ihren Sitz, als Martin die Kurve so rasant nahm, daß er auf die andere Straßenseite kam.

Ein entgegenkommender Mercedes antwortete mit der Lichthupe.

"Paß doch auf!" rief sie. "Wie fährst du denn! Willst du mich umbringen?

*

Moeller und Simitsch fuhren nach Essen, um sich mit einem dortigen Kollegen zu treffen, der ihnen die Wohnung von Kurt Erichsen zeigen sollte.

Simitsch fädelte sich ganz vorschriftsmäßig in den Verkehr gen Norden auf der A 45 ein.

Vor seinem Volvo befand sich ein lahmer Lkw und so dachte Simitsch an ein Überholmanöver. Er scherte nach links aus. Gleichzeitig kam ein Mercedes mit atemberaubender Geschwindigkeit heran und mußte ziemlich abbremsen. Als er dann wenig später an Simitsch und Moeller vorbeizog, war ein wild gestikulierender, vogelzeigender Mann mit durchgeschwitztem Pilotenhemd und korrekt sitzender Krawatte zu sehen.

"Man kann es nicht jedem recht machen", tröstete Moeller.

Simitsch knurrte nur etwas Unverständliches vor sich hin.

Er drehte das Autoradio an. Die Bee Gees trällerten mit ihren hohen Stimmen einen ihrer Hits. Nein, das darf doch nicht wahr sein! dachte Moeller. Das ist ja Ohrenfolter!

Er stellte sich vor, wie Coltrane den Gesang überspielt hätte. Atemlose Läufe, Tonkaskaden ohne die geringste Pause... Moeller nickte mit dem Kopf dazu.

Simitsch hatte sich auf die Fahrt gut vorbereitet und sich den Weg anhand einer detaillierten Straßenkarte präzise eingeprägt. Und so hatten sie keine Probleme, Erichsens Wohnung zu finden.

Es war eine schmucklose Wohnung in einem trostlosen Betonblock. Sie enthielt kaum Möbel, dafür einige Kisten mit Zeitungsausschnitten und Papieren.

Dazu Berge von Superhelden-Comics.

Die Durchsuchung war ziemlich gründlich, aber zunächst auch nicht sehr erfolgreich. Nichts, was irgendwie auf das Motiv hindeuten konnte, daß diesen Erichsen dazu getrieben hatte, einen Mord zu begehen und einen weiteren zu versuchen.

Dann fand Moeller einen Schlüssel, der hinter den Badezimmerschrank geklebt war.

"Sieht aus wie ein Schlüssel zu einem Bankschließfach oder so etwas ähnlichem", kommentierte Simitsch.

Moeller nickte.

"Wird sich ja wohl herausfinden lassen, wo dieses Ding

'reinpaßt!"

*

Als Carola Feller an diesem Tag das Hauptpostamt verließ, schien die Sonne. Sie hatte Feierabend, aber sie wollte noch nicht nach Hause.

Sie ließ ihren Wagen auf dem Parkplatz am Hauptpostamt stehen und ging den schmalen Fußweg entlang, der zwischen Rathaus und Musikschule auf die Altenaer Straße führte, die bereits zur Fußgängerzone in der Innenstadt gehörte. Es war viel los. Das gute Wetter hatte die Leute aus den Häusern geholt. Cafes hatten Stühle und Sonnenschirme aufgestellt.

Ein Straßenkünstler brachte ein Abbild der Lüdenscheider Erlöser-Kirche auf das Pflaster, das er von einer Postkarte herunterkopierte.

Carola ließ sich von der Menge treiben, bis sie den Sternplatz erreichte. Links war etwas grün, ansonsten herrschten Stahl, Beton und Glas vor.

"Heh, warte mal!" rief eine Frauenstimme hinter ihr und riß sie aus ihren Gedanken.

Carola drehte sich um.

Ihre Kollegin Ingrid kam ihr entgegen.

"Hör mal, Carola, du läßt dich in letzter Zeit nirgends mehr sehen..."

"Naja..."

"Ist irgend etwas?"

"Nein."

"Hör mal, ich habe ein bißchen Zeit. Kommst du mit auf einen Capucchino oder ein Eis?"

Carola sagte nicht nein.

Im nahen Stern-Center gab es eine Eisdiele. Gleich nebenan war ein Schwimmbad, nur durch eine Glaswand getrennt. Das sorgte für eine Art Urlaubsatmosphäre. Der leichte Chlorgeruch war ein Teil davon.

Carola hörte Ingrids Erzählungen kaum zu. Wie durch Watte hörte sie die neuesten Scheidungsgerüchte aus dem Kollegenkreis, die immer wieder durch kreischende Kinder aus dem Schwimmbad unterbrochen wurden, die sich todesmutig vom Einmeterbrett stürzten.

"Erzähl du doch mal was", forderte Ingrid dann. "Du bist so schweigsam. Ist was?"

Carola sah Ingrid an und fragte dann: "Sag mal, kennst du einen zuverlässigen Anwalt und Notar?"

"Oh", machte Ingrid. "So schlimm ist es schon mit euch. Das überrascht mich aber!"

*

Martin Feller saß in sich gekehrt vor einer Tasse Kaffee.

Er blickte nicht auf, als Sven in die Küche kam und sich einen Teller Cornflakes auffüllte, wobei er mindestens eine Handvoll auf dem Boden verstreute.

"Wo ist Mama?" fragte Sven.

"Schläft noch", murmelte Feller.

Sven zuckte die Schultern und schüttete Milch und Zucker über die Flocken.

"Macht sie doch sonst nie", meinte er dann mit vollem Mund.

"Macht sie heute aber. Sie hat erst später Dienst."

"Was ist eigentlich los mit euch? Ihr redet kaum noch miteinander, ihr scheint euch so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen..."

Feller blickte auf. Sein Blick war leer.

"Wir werden uns trennen", kündigte er dann an.

"Aber... Warum?"

Schulterzucken.

"Es geht halt nicht mehr."

Sven hörte zu kauen auf.

"Einfach so?" fragte er dann.

Feller schüttelte den Kopf.

"Nein, nicht einfach so."

"Und wann?"

"Sie sucht eine Wohnung, aber das ist nicht so einfach. Das weißt du ja."

Das Telefon klingelte. Feller stand auf und schlurfte in den Flur. Sven hörte, wie er abhob und sich meldete.

"Ja?"

"Hier ist Charly."

Feller atmete tief durch. Das konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten.

"Charly! Was gibt's!"

Es redete nicht lange drum herum.

"Du, wir haben hier Schwierigkeiten mit einem ungedeckten Scheck! Am besten, du kümmerst dich selbst um die Sache!"

"Mein Gott, Walter!" brummte Feller und grunzte dann eine Sekunde später: "Ja, ich bin gleich da!"

Er knallte den Hörer auf die Gabel und kam zurück in die Küche geschlurft.

Er wandte sich an seinen Sohn, der gerade dabei war, ausgiebig in der Nase zu bohren.

"Sagst du deiner Mutter, daß ich mit der Reparatur von ihrem Golf noch nicht fertig bin?"

"Warum steht er dann noch immer bei uns auf dem Hof, anstatt in der Werkstatt?"

"Charly holt ihn nachher ab. Also, du sagst es deiner Mutter, woll?"

"Ja, wenn ich sie noch sehe!" murmelte Sven undeutlich und ohne aufzublicken.

"Versprichst du es mir?"

"Ja."

"Sag ihr, sie soll meinen Wagen nehmen. Und ich nehme den Bulli."

Sven atmete tief durch und sah seinen Vater ziemlich genervt an.

"Ich sag's ihr."

"Bestimmt?"

"Bestimmt."

"Bis nachher, Junge."

Als Feller hinausging, kam ihm eine äußerst bieder gekleidete Dame entgegen. Sie trug einen dunklen Faltenrock, obwohl sie dafür vermutlich dreißig Jahre zu jung war. Die dunklen Bügel ihrer Brille verstärkten den strengen Zug ihres Gesichts.

"Darf ich Sie einen Moment stören?" Es war nur eine rhetorische Frage. Sie wartete Fellers Erwiderung gar nicht ab. "Ich komme von der Freien Kirche des christlichen Fundamentes. Vielleicht haben Sie schon davon gehört, daß..."

"Hören Sie, ich habe keine Zeit", knurrte Feller.

"In der Presse werden Sie sicher gelesen haben, daß eine Filiale von Beate Uhse nach Lüdenscheid kommen soll.

Vermutlich in der Hochstraße. In der Nähe befinden sich zwei Schulen und unsere jungen Menschen sind auf diese Weise schutzlos der Unmoral ausgeliefert. Jesus sagt: 'Laßt die Kinder zu mir kommen!' Sie sind das Wichtigste! Wir müssen vor allem sie vor dem Einfluß Satans schützen..."

"Entschuldigen Sie, ich habe andere Probleme", erwiderte Feller schroff. Er ging einfach an ihr vorbei.

"Möchten Sie vielleicht ein klärendes, seelsorgerisches Gespräch?"

Feller drehte sich noch einmal kurz um. "Nein, danke!" Und mit bissigem Unterton fügte er dann hinzu: "Und im übrigen werde ich diesen Laden sicher häufiger betreten, als Ihr Gemeindezentrum!"

*

Dreieinhalb Stunden später saß Feller in seinem gläsernen Werkstattbüro und kaute auf einem Bleistift herum, als der Azubi Jürgen hereinkam.

"Chef, die Polizei!"

Feller blickte auf. Er sah durch das Fenster, wie ein grünweißer Dienstwagen auf dem Firmenhof parkte. Ein Uniformierter stieg aus und setzte sich die Mütze mit viel Sorgfalt auf.

"Schon gut, Jürgen", murmelte Feller stirnrunzelnd. "Geh jetzt wieder an deine Arbeit."

"Okay."

Der Polizist kam zur Tür herein. Jürgen zwängte sich gleichzeitig an ihm vorbei. Der Azubi blieb noch einen Moment stehen und blickte neugierig zurück, aber der Polizist wartete, bis Jürgen endgültig gegangen war.

"Herr Feller?" fragte er.

Feller stand auf.

"Ja?"

"Ich muß Ihnen leider eine sehr betrübliche Nachricht überbringen."

"Wie bitte?"

Der Uniformierte versuchte Fellers Blick nicht zu begegnen.

"Ihre Frau... Sie ist mit dem Wagen verunglückt.

Die Bremsen haben offensichtlich versagt."

*

Am Bräucken-Kreuz herrschte das pure Chaos. Einsatzwagen von Polizei, Notarzt und Feuerwehr blockierten den Verkehr.

Moeller stellte seinen rostigen Omega irgendwo an der Seite ab und ging die letzten fünfhundert Meter zu Fuß.

Ein Uniformierter begrüßte Moeller.

"Was ist passiert?" fragte Moeller.

"Die Fahrerin des Pkw ist ohne zu bremsen in die Kreuzung hineingefahren und mit einem Sattelschlepper zusammengeprallt. Sie hatte keine Chance..."

Moeller nickte düster.

Er ging auf die Unfallstelle zu. Männer der Feuerwehr hatten die Leiche aus dem zerquetschten Innenraum des Pkw herausgeschnitten. Jetzt lag sie regungslos und blutüberströmt auf einer Bahre.

Der Fahrer des Sattelschleppers war kreidebleich und stand offensichtlich unter Schock.

"Ich hatte doch grün!" stammelte er. "Die Frau hat mich angesehen und den Mund aufgerissen... Als ob sie geschrien hätte!"

"Was machen Sie denn hier, Moeller?" fragte den Kommissar einer der unformierten Kollegen von der Seite. Moeller kannte ihn. Der Mann hieß Kroneck und war mit Moeller zusammen in die achte und neunte Klasse des Geschwister Scholl-Gymnasiums gegangen, bevor Moeller dann eine Ehrenrunde absolviert hatte.

"Ich habe die Meldung über Funk gehört", sagte Moeller.

"Gibt's bei euch Kriminalern nicht genug Leichen, die ihr euch ansehen könnt!"

"Doch, doch", erwiderte Moeller.

Er warf noch einen kurzen Blick auf Carola Feller, die nun für immer nicht nur ihre Augen, sondern auch ihren Mund geschlossen hatte.

*

Zwei Tage später klingelte es nachmittags an der Haustür.

Feller war vor fünf Minuten von der Werkstatt gekommen und hatte sich gerade ein paar Eier in die Pfanne hauen wollen.

Vor der Tür stand Moeller, zusammen mit einem Kollegen.

"Guten Tag, Herr Feller."

"Sie?"

"Ja, ich."

"Was wollen Sie?"

"Darf ich hereinkommen?"

Feller zuckte die Achseln.

"Würde es etwas nützen, wenn ich nein sagen würde?"

Moeller verzog das Gesicht: "Warum so kratzbürstig?" Er deutete auf den Mann neben sich. "Meinen Kollegen Simitsch kennen Sie ja."

"Guten Tag". murmelte Simitsch ziemlich unbeteiligt.

Feller verengte die Augen.

"Dann kommen Sie schon!" knurrte er. Er wandte sich herum und ging voran, ohne darauf zu achten, ob die beiden Polizisten ihm folgten oder nicht. "Allein trauen Sie sich wohl nicht mehr her, was?"

Die beiden folgten Feller ins Wohnzimmer.

"Setzen Sie sich!" sagte Feller.

"Danke", sagte Moeller, setzte sich aber keineswegs. Nur sein Kollege Simitsch setzte sich in einen der Sessel.

Der Kommissar bedachte Feller mit einem sehr ernsten Blick.

"Es wird nicht lange dauern", versprach er mit großer Bestimmtheit.

Feller zuckte die Achseln.

"Nur zu! Dann mal heraus damit!" forderte er ungeduldig.

"Es geht um den Tod Ihrer Frau..."

In Fellers Gesicht ging eine Veränderung vor sich.

"Ich dachte, Sie sind von der Mordkommission?"

"Bin ich auch."

"Dann verstehe ich nicht, wieso..."

Moeller schnitt Feller einfach das Wort ab und erklärte sachlich: "Bevor Ihre Frau... verunglückte, hat sie bei einem Notar ein Schreiben hinterlassen, daß für den Fall ihres Ab-lebens den Behörden zugeleitet werden sollte."

"Ach, ja?"

Feller verzog das Gesicht.

"Es ist darin von Mord die Rede..." Moellers Worte klirrten wie Eis und Feller brauchte mehr, als nur eine Schrecksekunde, um das zu verdauen.

Er schluckte.

"Sie meinen..."

Moeller hob unmißverständlich die Hand.

"Bevor Sie weitersprechen, muß ich Sie darauf hinweisen, daß alles, was Sie von jetzt an sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden kann... Dies ist jetzt eine offizielle Vernehmung, wenn Sie verstehen, was ich meine."

Feller schüttelte fassungslos den Kopf.

"Aber, es war ein Unfall! Mein Sohn kann das bestätigen! Er hat doch zu Protokoll gegeben, daß er..."

"...daß er vergessen hat, Ihrer Frau zu sagen, daß Sie den Wagen mit den kaputten Bremsen nicht nehmen soll, ich weiß", vollendete Moeller. "Der Staatsanwalt wird das als Schutzbehauptung interpretieren. Außerdem geht es nicht nur um den Tod Ihrer Frau, sondern auch um ein paar, lange Jahre zurückliegende Fälle..."

Feller fühlte den Schweiß in seinen Handflächen und wischte sie schließlich mit nervöser Geste an der Hose ab.

"Wovon sprechen Sie eigentlich?" hörte er sich selbst überflüssigerweise fragen.

Moeller zögerte nicht, es ihm zu sagen.

"Ihre Frau hat von Ihrer Tätigkeit als Lohnkiller erfahren, wollte sich von Ihnen trennen und hat Ihnen offenbar zuge-traut, daß Sie vielleicht versuchen würden, auch sie - als unliebsame Mitwisserin - umzubringen."

"Das... das kann doch nicht wahr sein!"

"Ich hatte gleich das Gefühl, das irgend etwas an der Sache mit diesem Erichsen faul war!"

Feller hob die Schultern.

"Ein Verrückter!"

"Ein Mann, der sich von einem Trauma befreien wollte."

Moeller machte eine kurze Pause.

Feller schüttelte den Kopf. "Sie sind doch nicht bei Trost! Mich verhaften - wegen den Hirngespinsten, die meine Frau zu Papier gebracht hat? Das darf doch nicht wahr sein.

Ich werde meinen Anwalt anrufen"!"

"Tun Sie das."

"Der Spuk ist schneller zu Ende, als Ihnen lieb ist, Herr Moeller!" Fellers Gesicht verzog sich zu einer Maske. "Ich hatte Sie bereits einmal eindringlich gewarnt..."

"Sie können Ihren Anwalt gerne anrufen", sagte Moeller.

"Vielleicht ist das ganz sinnvoll. Denn der Haftbefehl gegen Sie beruht natürlich nicht nur auf dem, was Ihre Frau zu Papier gebracht hat. Wir haben die Angaben, die sie gemacht hat, genauestens überprüft. Und erstaunlicherweise paßt jedes Detail..."

"Ach, ja? Sie haben nichts! Gar nichts!"

"Da wäre zum Beispiel die Waffe, mit der Sie Erichsen -

in Notwehr - erschossen haben. Sie wurde bereits zuvor mehrfach benutzt. Bei Verbrechen, die seit vielen Jahren als ungelöste Fälle in den Aktenschränken schmoren!"

"Vermutlich Taten des Vorbesitzers!" erwiderte Feller.

"Diese Waffe kann zuvor von Hunderten benutzt worden sein!"

"Nein, das ist nicht anzunehmen", sagte Moeller. "Ihre Frau beschuldigt Sie, ein Lohnkiller gewesen zu sein, der für die Stasi Auftragsmorde ausgeführt hat. Norbert Wolf war Ihr Komplize. Irgendwann haben Sie diese Sache dann an den Nagel gehängt. Sie wurden ein erfolgreicher Geschäftsmann.

Ihr Freund Norbert hatte nicht soviel Glück. Sie mußten ihn finanziell unterstützen, nicht wahr? Sonst hätte immer die Gefahr bestanden, daß er Details Ihrer schillernden Vergangenheit ausplaudern würde..."

"Das können Sie nicht beweisen!"

"Das vielleicht nicht, aber das ist auch nur ein kleiner Mosaikstein in diesem Puzzle ", sagte Moeller. "Doch was die Morde angeht, die mit Ihre Waffe begangen wurden, werden Sie es schwer haben. Erichsen hat sehr umfangreich recherchiert, bevor er Sie und Wolf als Mörder seiner Eltern identifiziert hat. Das ganze Material lagerte in einem Schließfach."

Moeller holte ein Foto aus seiner Jackentasche.

Er legte es Feller auf den Tisch.

Dieser zuckte unwillkürlich zusammen.

"Sie kennen diesen Mann? Das dachte ich mir. Wie Sie auf dem Bild sehen können, ist er tot. Er war Mitarbeiter des Staatsicherheitsdienstes der DDR. Erichsen hat auch ihn getötet, dazu noch einen weiteren ehemaligen Stasi-Offizier. Ich nehme an, daß er aus ihnen noch einiges an Informationen herausgepreßt hat, bevor er sie tötete..."

"Hören Sie auf!" murmelte Feller.

Er saß in sich zusammengesunken da und atmete schwer.

"Ich hasse das mit den Handschellen", meinte Moeller.

"Außerdem habe ich meine sowieso verbummelt. Aber Sie werden doch auch sicher keine Schwierigkeiten machen, wenn wir Sie jetzt mitnehmen, oder?"

*

Moeller hatte die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt, kaute auf einem Brötchenrest herum und klappte die Lüdenscheider Nachrichten zu. Er faltete sie sehr sorgfältig. Schließlich war es Simitschs Exemplar und Moeller hatte es nur ausgeliehen. Zwar konnte Moeller sich nicht vorstellen, was sein Kollege noch mit einer Zeitung anfangen wollte, die er schon gelesen hatte, aber das war nicht seine Sache.

Simitsch ging auf und ab, die Hände in den Taschen seiner Hose aus reiner Schurwolle. In ungewohnter Lässigkeit hatte er heute sogar das Jackett ausgezogen und über seinen Stuhl gehängt.

Es geschahen noch Zeichen und Wunder.

"Die Dörner-Brüder sind zurückgekehrt und warten jetzt darauf, daß die Gläubiger ihnen das letzte Hemd ausziehen!" meinte Simitsch.

"Ich glaube, die haben vorgesorgt", meinte Moeller.

Simitsch drehte sich herum.

Sein Blick fixierte Moeller. Er nahm ihm die Zeitung ab.

"Ordentlich genug gefaltet?"

"Es geht."

"Ich nehme an, du wirst sie dir aufheben und in dein Familienalbum kleben, Klaus! Schließlich wirst du dreimal in dem Artikel über den Feller-Fall erwähnt!"

"Naja..."

"Hängt das vielleicht damit zusammen, daß der Schreiber dein Vetter ist?"

Jetzt wurde Simitsch ärgerlich.

"Ich kann doch nichts dafür, daß er dich nicht erwähnt hat, Moeller!"

"Jetzt müßtest du 'woll' sagen!"

"Wieso?"

"Weil du das immer dann tust, wenn du im Streß oder im Unrecht bist!"

"Moeller, du spinnst!" Simitsch atmete tief durch. "Aber eins würde mich doch noch interessieren an der Sache... Ich meine, Feller hat in seiner Zeit als Lohn-Killer genug Morde begangen, die ihm dank Erichsens akribischer Recherche auch eindeutig nachzuweisen sind. Aber das mit seiner Frau... War es nun ein Unfall oder Mord?"

"Du bist doch der große Kriminalist von uns beiden!"

meinte Moeller. Er stand auf und ging zum Fenster. Und in seinem Kopf erklangen weiche, sanfte und etwas melancholische Saxophontöne.

ENDE

© 1998 Alfred Bekker;

www.AlfredBekker.de