Alfred Bekker

Da Vincis Fälle

Leonardo und die Verschwörer von Florenz

Teil 1 von 3

 

Die deutschsprachigen Printausgaben der Reihe „Da Vincis Fälle“(6 Bände) erschienen 2008/2009 im Arena Taschenbuchverlag; Übersetzungen liegen auf Türkisch, Indonesisch, Dänisch und Bulgarisch vor.

 

Die Einzeltitel der Serie:

 

Leonardo und das Geheimnis der Villa Medici

Leonardo und die Verschwörer von Florenz

Leonardo und das Rätsel des Alchimisten

Leonardo und das Verlies der schwarzen Reiter

Leonardo und der Fluch des schwarzen Todes

Leonardo und die Bruderschaft des heiligen Schwerts

 

Ferner liegen Sammelbände und Teilausgaben vor.

 

 

© 2008, 2009 by Alfred Bekker

© 2010,2012 der Digitalausgabe AlfredBekker/CassiopeiaPress

Ein CassiopeiaPress E-Book

www.AlfredBekker.de

 

 

Leonardo und die Verschwörer von Florenz

 

Im Jahr 1462…

 

1.Kapitel

Maskierte Banditen

„Lassen wir es besser bleiben, Leonardo!“

„Aber warum denn?“

„Weißt du nicht mehr, was beim letzten Mal passiert ist, als du ein Experiment durchgeführt hast, das mit Feuer zu tun hatte?“

Leonardo wusste es noch sehr gut. Das Haus seines Großvaters war um ein Haar abgebrannt und ihm war daraufhin strengstens verboten worden, so etwas zu wiederholen.

Leonardo und sein Freund Carlo befanden sich auf einer Anhöhe in der Nähe des Dorfes Vinci, in dem sie beide wohnten. Man konnte von hier aus die Häuser sogar sehen: Die Kirche, das Gasthaus, den Dorfplatz, das Haus des Großvaters und das Haus von Carlos Familie, den Maldinis. Auch die Reste einer Schutzmauer konnte man erkennen, die früher einmal das ganze Dorf umgab, weil sich dort mehr als tausend Jahre zuvor ein römisches Kastell befunden hatte. Aber im Laufe der Zeit war diese Mauer immer niedriger geworden, weil die Bewohner sie als Steinbruch für Häuser benutzt hatten.

Jetzt konnte man eigentlich nur noch von oben sehen, dass es sie mal gegeben hatte. Hier und da standen noch ein paar längere Stücke. Leonardo schätzte diese Mauerstücke, weil in den Fugen viele seltsame Käfer lebten, die man untersuchen und beobachten konnte. Aber im Moment beschäftigte ihn etwas anderes.

Es war die Kraft der Sonne, die ihn interessierte. Was eigentlich das Feuer in diesem riesigen Glutball am Himmel am Leben hielt, hatte ihm bisher noch niemand beantworten können. Leonardo hatte einen kleinen Haufen aus Holz und trockenem Gras aufgeschichtet.

Es war ein heißer Spätsommertag und seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet, sodass die Pflanzen in der Umgebung längst verdorrt waren.

Leonardo holte die Brille hervor. Sie war vollkommen verkratzt und daher als Sehhilfe nicht mehr zu benutzen.

Leonardo hatte die Brille vor kurzem von einem fahrenden Händler bekommen, der mit seinem Eselskarren auf dem Weg nach Florenz gewesen war und in der Nähe von Vinci ein Wagenrad verloren hatte. Leonardo und Carlo hatten dem Händler dabei geholfen, das Rad zu reparieren und sich dafür etwas aussuchen dürfen. Leonardo hatte die Brille gewählt, weil er gesehen hatte, wie gerade in diesem Augenblick die Sonnenstrahlen durch ihre Linse auf einen Punkt konzentriert wurden. Dieser Sache wollte der Zehnjährige näher auf den Grund gehen.

Der Händler war natürlich froh gewesen, dass Leonardo die Brille gewählt hatte, denn die wäre ohnehin kaum noch zu verkaufen gewesen.

Allenfalls die Fassung ließ sich noch verwenden, wenn man andere Gläser einsetzte.

Leonardo hielt eines der Gläser so in die Sonne, dass die Lichtstrahlen sich bündelten und auf das trockene Gras auftrafen. Es dauerte nicht lange und es begann zu knistern. Das Gras verfärbte sich und wurde schwarz. Rauch stieg auf und dann züngelte eine Flamme empor. Im Nu hatte auch das trockene Holz Feuer gefangen.

„Es funktioniert!“, rief Leonardo aufgeregt. „Stell dir vor, man könnte eine riesige Linse auf ein Kriegsschiff befestigen und damit die gegnerischen Schiffe anzünden!“ Er hob die Brille empor.

„Woran liegt es, dass die Strahlen der Sonne soviel mehr Kraft haben, wenn sie durch dieses Glas fallen?“, fragte er. Seine Worte waren mehr an sich selbst als an Carlo gerichtet. In diesem Moment fraßen sich die Flammen voran. Sie breiteten sich auf einer Länge von einem Meter aus. Innerhalb von Augenblicken hatte das trockene Gras Feuer gefangen und eine immer größer werdende Fläche stand in Flammen.

„Leonardo!“, rief Carlo und wich zurück. Er hatte versucht, die Flammen auszutreten, aber er hatte nur zwei Füße und die waren noch nicht einmal besonders groß.

Auch Leonardo war jetzt auf die Gefahr aufmerksam geworden. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus.

Die beiden Jungen standen nach kurzer Zeit vor einer hüfthohen Wand aus Feuer. Eine Rauchsäule stieg auf.

Die beiden Jungen wichen vor den Flammen zurück und näherten sich dem Waldrand.

„Nicht in den Wald!“, meinte Leonardo. „Wenn die Bäume an zu brennen fangen und ein Waldbrand ausgelöst wird, dann haben wir keine Chance mehr!“

Aber es blieb ihnen keine andere Möglichkeit. Das Feuer schnitt ihnen den Weg ab. Der Wald lag etwas höher. Sie stiegen die steinige, rutschige Böschung empor und blieben dann am Waldrand stehen.

Leonardo war blass. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich das Feuer so schnell ausbreiten würde. Dass man im Wald selbst kein Feuer machen durfte, war ihm bekannt. Aber bei seinem Experiment mit der Brille hatte er geglaubt, weit genug entfernt zu sein. Offenbar war das ein Irrtum gewesen.

Das Feuer fraß sich über die Grasfläche.

Ein Bach bildete eine natürliche Grenze, die die Flammen zunächst nicht überwinden konnten. Dahinter war ein felsiger Abhang. Inzwischen war man auch bereits weiter unten im Dorf Vinci auf das Feuer aufmerksam geworden. Leonardo beobachtete, wie die Menschen aus den Häusern herauskamen und in Richtung der Rauchsäule blickten. Natürlich hatten sie Sorge, dass der Brand den Bach doch noch überschreiten und sich weiter in Richtung ihrer Häuser ausbreiten konnte.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Carlo.

Leonardo sah zu den Flammen hinüber. Der Wind trieb das Feuer auf den Bach zu. Es breitete sich nicht weiter in Richtung des Waldrandes aus. Die Felsenkante, die Leonardo und Carlo hinaufgeklettert waren, konnte es nicht überwinden.

„Ich glaube, hier sind wir sicher“, sagte Leonardo. Er steckte die Brille, die der Auslöser dieses Brandes war, in die Tasche seiner Weste, die er über seinem Hemd trug.

„Wir sollten in einem weiten Bogen nach Vinci zurückkehren“, schlug Carlo vor.

Aber Leonardo schüttelte den Kopf. „Nein, wir sollten zunächst beobachten, wie sich das Feuer verhält und wohin es sich wendet. Ich glaube nämlich, dass der Brand bald zu Ende ist!“

„Wie kommst du darauf? Für mich sieht das eher umgekehrt aus!“

„Der Brand kann nicht über den Bach und auch nicht über die Felsenkante. Irgendwann sind das Gras und die Sträucher in dem Bereich verbrannt und wenn der Wind die Flammen nicht in Richtung des Waldrandes treibt, stirbt das Feuer vielleicht.“

Sie saßen da und warteten ab. Tatsächlich war das Gras schnell niedergebrannt. Hier und da glühte es noch, aber der Brand begann zu verlöschen. Ein Strauch brannte noch lichterloh. Aber auch dort gingen die Flammen langsam zurück und ließen ein paar verkohlte Stängel übrig.

Ein Rascheln im nahen Wald ließ die beiden Jungen dann zusammenfahren. Sie blickten sich um. Äste knickten. Schatten waren im Unterholz zu sehen und Vögel wurden aufgeschreckt. An mehreren Stellen brachen Reiter aus dem dichten Gestrüpp hervor. Die Reiter waren mit Halstüchern maskiert. Nur die Augen waren zu sehen. Zumeist trugen sie ihre Hüte und Mützen tief ins Gesicht gezogen. Manche von ihnen hatten Schwerter gezogen. Davon abgesehen waren einige der Männer mit Armbrüsten ausgerüstet.

Banditen!, dachte Leonardo sofort.

Auf dem Weg zwischen der Hafenstadt Pisa und Florenz lagen sie immer öfter auf der Lauer nach reichen Reisenden, die man entweder bestehlen oder für man Lösegeld verlangen konnte. Acht Reiter waren es insgesamt.

Einige von ihnen sprangen von den Pferden und nahmen ihre Umhänge von den Schultern. Damit schlugen sie auf die verbliebenen Flammen ein und versuchten sie zu löschen. An den meisten Brandherden hatten die Flammen ohnehin schon stark nachgelassen. Jetzt wurden auch die letzten Stellen, an denen noch Glut zu finden war, ausgetreten und die brennenden Sträucher gelöscht.

Leonardo ahnte, was ihnen blühte, wenn sie diesen Männern in die Hände fielen. Dass man ihnen alles wegnahm, was irgendeinen Wert besaß, war dabei noch nicht einmal das Schlimmste. Schließlich war das Wertvollste, was sie bei sich hatten, Carlos Schuhe. Leonardo lief barfuß.

Noch war es schließlich nicht Herbst.

„Komm!“, sagte Leonardo und Carlo folgte ihm ein paar Schritte in den Wald hinein. Sie hetzten durch das Unterholz, aber es war schon bald klar, dass sie nicht weit kommen konnten. Aus dem Unterholz kamen weitere Reiter und stellten sich ihnen in den Weg.

„Keinen Schritt mehr!“, sagte einer von ihnen. Auch er hatte sein Gesicht zum größten Teil mit einem schwarzen Tuch verdeckt. Da er außerdem noch eine modische, schräg sitzende Kappe trug, waren nur seine Augen zu sehen. Über dem linken Auge zog sich eine Narbe über die Stirn. Leonardo nahm an, dass sie wahrscheinlich von einem Schwertduell herrührte.

Die Augen selbst waren dunkelbraun und sie musterten Leonardo auf eine Weise, die dieser als unangenehm empfand. Er stieg vom Pferd und einer seiner Männer richtete eine Armbrust auf die beiden Jungen. „Keine Bewegung oder ihr werdet durchbohrt!“, knurrte der Armbrustschütze.

Leonardo und Carlo erstarrten zu Salzsäulen. Der Puls schlug ihnen bis zum Hals.

Währenddessen bemühten sich einige der Reiter nach wie vor, die letzten, noch vorhandenen Brandherde zu löschen.

„Was machen wir mit den Jungs?“, fragte einer der Maskierten an den Mann mit der Narbe gerichtet. Er schien der Anführer dieser Bande zu sein. „Kurzer Prozess?“

„Sie sind lästige Zeugen!“, mischte sich ein Dritter ein. „Ich bin dafür, kein Risiko einzugehen.“ Er zog sein Schwert und richtete es auf Leonardos Brust. Dann berührte die Spitze der Klinge sein Kinn und hob es etwas hoch.

Leonardo wagte es nicht, sich zu rühren.

Er hielt den Atem an.

„Wir nehmen sie mit“, entschied der Narbige.

Leonardo und Carlo wurden gepackt und jeweils zu einem der Reiter in den Sattel gehievt.

„Vom Dorf aus kommen Leute!“, rief einer der Maskierten.

„Nichts wie weg!“, befahl der Mann mit der Narbe über dem Auge. Sie gaben ihren Pferden die Sporen, sodass sie davon preschten. Rücksichtslos brachen sie durch das Unterholz. Leonardo bekam mehrere Äste ab, die ihm schmerzhaft ins Gesicht und den Oberkörper schlugen. Holz knackte. Die Reiter nahmen den Weg mitten durch den Wald. Das Gelände war unwegsam. Es ging steile, rutschige Hänge hinauf und anschließend wieder hinunter. Leonardo versuchte, sich bestimmte Punkte in der Umgebung zu merken. Besondere Kennzeichen von Bäumen zum Beispiel oder Felsbrocken mit einer Form, die leicht wieder zu erkennen war. Aber trotzdem hatte er schon nach kurzer Zeit nahezu völlig die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo er sich befand. Er hoffte nur, dass Carlo sich den Weg etwas besser merken konnte. Schließlich war sein Vater Händler und fuhr regelmäßig in das nahe Florenz und in die anderen Orte der Umgebung. Hin und wieder begleitete Carlo seinen Vater dabei und so war Carlo sehr viel weiter herumgekommen als Leonardo. Vor allem war er mehr daran gewöhnt, sich Wege zu merken.

Doch dann rief der Narbige einen Befehl, mit dem er die ganze Gruppe dazu aufforderte anzuhalten.

„Verbindet ihnen die Augen!“, befahl er.

Leonardo und Carlo bekamen Tücher stramm um die Augen gewickelt, sodass sie nichts mehr sehen konnten. Offenbar wollte der Narbige nicht, dass sich die beiden daran erinnerten, welchen Weg der Reitertrupp nahm.

Vor Leonardos Augen war jetzt nur noch Dunkelheit. Der Stoff des Tuches, das man ihm um den Kopf gebunden hatte, bestand aus dicht gewebtem Filz, der keinerlei Licht durchließ. Er spürte, wie sich das Pferd unter ihm vorwärts bewegte, aber schon nach wenigen Momenten wusste Leonardo nicht einmal mehr die Richtung, in die sie gebracht wurden.

Schließlich stoppte die Truppe. Leonardo wurde gepackt und grob auf den Boden gestellt. Er konnte sich nicht halten und taumelte. Der Untergrund, auf den er aufkam, war kalt und hart.

„Wir hätten die beiden gar nicht mitnehmen sollen“, meinte eine Stimme. „Glaub mir, die machen doch nur Ärger!“

„Wenn sie Ärger machen, schneiden wir ihnen die Kehle durch. Aber ich könnte mir denken, dass sie uns noch ein zusätzliches Lösegeld einbringen!“, erwiderte eine andere Stimme. „Wer weiß, vielleicht finden wir ein paar einigermaßen reiche Verwandte, die bereit sind, für die zwei ein paar Florin springen zu lassen! Und wenn nicht, können wir sie immer noch umbringen.“

„Ich habe dich gewarnt!“

„Aber ich bin es, der hier die Entscheidungen trifft!“

Leonardo wagte es nicht, die Maske abzunehmen. Aber sie war etwas verrutscht, sodass er unter dem Stoff hersehen konnte. Er erkannte Pferdehufe, Stiefel und einem steinigen, ausgetrockneten Boden. Er schwenkte den Kopf. Rechts hörte er das Prasseln eines Feuers. Auf dem Boden lagen Decken und Waffen. Offenbar war der Trupp, der sie gefangen genommen hatte, nur ein Teil der Bande. Ein anderer Teil hatte hier kampiert. Vielleicht hatten sie hier ihr Hauptlager.

„Carlo?“, fragte er.

„Ich bin hier!“, hörte er die Stimme seines Freundes von hinten links.

„Mund halten!“, fuhr ihn einer der Banditen an und gab Leonardo einen Stoß in den Rücken, der ihn beinahe zu Boden stürzen ließ.

„Bringt sie in die Höhle!“, rief jemand anderes. Leonardo glaubte, dass es die Stimme des Narbigen war – aber da war er sich nicht vollkommen sicher.

Jemand packte ihn von hinten am Kragen und schob ihn vorwärts. Wenig später befand er sich in einem Raum, in dem es feucht und kühl war. Wie in einer Gruft. Durch den kleinen Schlitz unter seiner Binde konnte er jetzt gar nichts mehr sehen. Es war wohl recht dunkel hier.

Dann wurde er zurückgehalten.

Jemand riss ihm das Tuch vom Kopf.

Im ersten Moment konnte er nichts erkennen. Seine Augen mussten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen, das hier herrschte. Sie befanden sich tatsächlich in einer Höhle. Nur durch den Eingang drang etwas Licht herein.

Carlo befand sich nur wenige Schritte von ihm entfernt. Zwei Maskierte bewachten sie.

„Vorsicht, keinen Schritt weiter“, warnte einer der Maskierten. Leonardo schreckte zurück. Erst jetzt begriff er, dass er am Rand einer tiefen Grube stand. Irgendetwas bewegte sich dort unten. Ein Schatten. Auf jeden Fall war es etwas, das lebte und atmete. Leonardo erkannte die dunklen Umrisse einer Gestalt. Einer der Maskierten griff nach einer Strickleiter und warf sie hinab. Am oberen Ende war sie an einer Tropfsteinsäule festgebunden.

Sie reichte fast bis zum Boden der Grube.

„Wer steigt zuerst hinab?“, knurrte der Maskierte und packte dann Leonardo bei der Schulter. „Du!“

Vorsichtig kletterte der hinunter. Die Leiter war auf jeden Fall gut festgemacht und hielt sein Gewicht problemlos aus. Carlo war als nächster dran.

„Ich will nicht!“, rief er.

Ein raues, heiseres Lachen antwortete ihm. „Glaubst du, du wirst danach gefragt?“

Ihm blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls die Strickleiter hinabzusteigen. Wenige Augenblicke stand er neben Leonardo. Er versuchte sein Zittern zu unterdrücken und presste die Lippen aufeinander.

Leonardo hatte sich inzwischen etwas besser an die Dunkelheit gewöhnt. Aber kalt war es hier. Leonardo spürte, wie eine Gänsehaut seinen gesamten Körper überzog.

Die Maskierten zogen die Leiter wieder hinauf.

„Macht keine Dummheiten! Dann gibt es regelmäßig was zu essen und wir behandeln euch gut!“, rief einer der Männer von oben. „Aber wenn ihr uns Schwierigkeiten macht, dann geht es euch schlecht.“

Leonardo hörte noch, wie die Schritte der beiden zwischen den Höhlenwänden widerhallten.

 

 

2.Kapitel

Der Schatten in der Grube

Der Schatten blieb zunächst in der Ecke. Dort war es so dunkel, dass man beim besten Willen keine Einzelheiten erkennen konnte. Dann bewegte er sich etwas nach vorn.

Durch das Licht, das vom Eingang hereinfiel, bildete sich in der Mitte der Grube einen kleinen Kegel, in dem es etwas heller war. Ein Fuß wurde sichtbar. Er war mit einem Filzschuh bedeckt.

„Wer ist da?“, fragte eine Stimme.

Die Gestalt trat noch einen weiteren Schritt vor, sodass Leonardo und Carlo nun erkennen konnten, dass es sich um einen Jungen handelte. Er war etwas größer als sie.

„Ich bin Leonardo da Vinci.“

„Ist da Vinci der Name deiner Familie oder nur Bezeichnung für das Dorf, aus dem du kommst?“

„Ich komme tatsächlich aus Vinci“, gab Leonardo zu.

„Das ist schade für dich.“

„Warum?“

„Weil du dann wahrscheinlich keine reiche Familie hast.“

„Woher willst du das wissen?“

„Wenn deine Familie reich wäre, würdest ihren Namen tragen und dich nicht nach deinem Heimatort benennen. Da machen nur arme Leute aus unbedeutenden Häusern – oder solche von zweifelhafter Herkunft. Wenn zum Beispiel ein Herr aus hohem Hause ein Kind mit einer einfachen Magd hat.“

Leonardo starrte den fremden Jungen, der da so geschraubt daherredete, fassungslos an. „Was willst du eigentlich? Mich beleidigen? So wie ich das sehe, wirst du hier auch nicht gerade gut behandelt – oder willst du mir etwa erzählen, dass du freiwillig in dieser kalten Grube hockst, die so feucht ist, dass sich hier wahrscheinlich nur Frösche wohlfühlen!“

„Nein, ich will dich nicht beleidigen“, antwortete er. Er sprach jetzt in gedämpften Tonfall. „Ich will dir nur dein Leben retten!“

„Ach, ja?“

Die Stimme des Jungen wurde jetzt zu einem leisen Flüstern. Bevor er zu sprechen begann, blickte er erst angstvoll hinauf zum Rand der Grube. Offenbar wollte er nicht, dass einer der Maskierten zuhörte. „Haben die dich schon gefragt, wer du bist?“

„Nein.“

„Dann werden sie das noch tun. Und zwar bald. Sag ihnen dann, dass du aus einer reichen Familie kommst, gleichgültig, ob es stimmt oder nicht. Nenn deinen Vater meinetwegen den Grafen da Vinci! Die müssen den Eindruck haben, dass man für dich ein hohes Lösegeld bekommen kann! Wenn sie nämlich glauben, dass deine Eltern arme Schlucker sind, die sowie nichts zahlen können, machen sie kurzen Prozess mit dir. Dich am Leben zu lassen wäre viel zu gefährlich, weil du ein Zeuge wärst!“

Leonardo atmete tief durch.

„Danke für den Rat“, sagte er.

„Gern geschehen. Wir sind ja hier schließlich alle drei in derselben Lage – gefangenen genommen, um Lösegeld zu erpressen.“ Er wandte sich an Carlo. „Und wer bist du?“

„Carlo Maldini. Mein Vater ist Händler und dürfte der reichste Mann in Vinci sein.“

„Der reichste Mann in irgendeinem Kuhdorf ist vermutlich nicht reich genug für diese Banditen. Also wirst du in dieser Hinsicht stark übertreiben müssen, sonst geht es auch dir an den Kragen.“

Leonardo hatte sich inzwischen etwas besser an das schwache Licht gewöhnt und konnte nun etwas mehr erkennen. Der Junge strich sich das Haar zurück und musterte die beiden anderen eingehend. Dann schüttelte er den Kopf. „Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wie die Banditen so dumm sein konnten, zwei Dorfjungen wie euch gefangen zu nehmen. Das lohnt sich für die doch nie im Leben!“

„Wir haben aus Versehen einen Brand ausgelöst und ich denke, die Banditen sind deswegen auf uns aufmerksam geworden“, erklärte Leonardo. „Aber genau weiß ich das natürlich nicht. Sie haben unterwegs nicht viel gesprochen.“

„Kann ich mir denken“, sagte der Junge.

„Darf ich mal fragen, mit welch hochwohlgeborenen Prinzensohn wir es bei dir zu tun haben, dass diese Männer dich entführt haben?“

„Naja, Prinzensohn ist etwas übertrieben“, gab er zu. „Mein Name ist Luca di Gioia. Mein Vater ist Emanuele di Gioia, ein Handelsherr aus Florenz. Vielleicht hat du schon von ihm gehört…“

„Nein“, sagte Leonardo.

„Ich aber!“, mischte sich Carlo ein. „Mein Vater bezieht verschiedene Waren bei ihm.“

„Reich ist er jedenfalls“, fuhr Luca fort. „Er wird eine ziemlich große Summe für mich zahlen müssen.“

„Wie lange bist du schon hier?“, wollte Leonardo wissen. Luca zuckte mit den Schultern.

„Genau kann ich das nicht sagen. Einige Tage. Ich habe ein bisschen den Überblick verloren.“

„Und warum ist das Lösegeld nicht schon längst bezahlt worden?“

„Keine Ahnung. Die Maskierten haben mir auch nichts gesagt. Aber ich nehme an, die wollen meine Eltern erst mal ein bisschen schmoren lassen, damit sie sich richtig Sorgen machen und hinterher mehr zahlen!“

Er hob die Schultern, musterte Carlo und Leonardo noch einmal kurz und meinte dann: „Tja, ich hoffe für euch, dass eure Eltern die nötigen Summen zusammenbekommen. Sonst sieht es schlecht für euch aus.“

Sie schwiegen eine Weile. Luca zeigte den beiden neuen Gefangenen einen Bereich in der Grube, wo der Boden einigermaßen trocken war und man sich hinsetzen konnte.

Dort ließen sie sich nieder.

„Wir sollten darüber nachdenken, wie wir hier so schnell wie möglich wieder herauskommen“, flüsterte Leonardo. Luca konnte da nur lachen. „Was glaubst du, worüber ich die ganze Zeit gegrübelt habe?“, gab er zurück. „Während ich in diesem Loch saß, hatte ich ja nun wirklich Zeit genug dazu, etwas zu überlegen. Aber die Böschung der Grube ist zu steil und rutschig, um ohne Hilfe hinaufzugelangen. Und außerdem lassen die Banditen auch immer ein paar ihrer Leute hier an der Höhle zurück.“

„Die anderen reiten dann weg?“, hakte Leonardo nach.

„Ja. Zumindest nehme ich das an. Ich kann das immer nur danach beurteilen, wie viele Stimmen ich höre und ob ich irgendwo den Hufschlag von Pferden ausmachen kann. Manchmal täuscht man sich aber auch.“

Carlo rieb sich erst die Hände, dann die Oberarme. „Es ist wirklich verflucht kalt hier! Wie hast du das nur die ganze Zeit über ausgehalten?“

„Ich stelle mir ganz intensiv ein Lagerfeuer vor. Manchmal wirkt das für eine Weile. Außerdem bewege ich mich dauernd, sonst spürt man nach einer Weile nämlich seine Hände und Füße nicht mehr.“

Leonardo fühlte nach der Brille, die noch immer in der Tasche seiner Weste steckte. Leider konnte er damit an diesem Ort, an den kein Sonnenstrahl gelangte auch nicht Feuer machen. Er blickte die Böschung empor. Sie war wirklich sehr steil und vor allem schien sie ihm leicht abzubröckeln. Dort ohne eine Strickleiter hinaufzugelangen war wohl so gut wie unmöglich. In seinem Hirn rasten die Gedanken nur so. Er wollte sich einfach nicht damit abfinden, hier womöglich für längere Zeit fest zu sitzen und am Ende von den Maskierten auch noch umgebracht zu werden, weil sein Vater und sein Großvater nicht in der Lage waren, ein Lösegeld aufzubringen, das den Maskierten hoch genug war. Er stand wieder auf und lief unruhig hin und her. Aber so sehr er auch darüber nachdachte, er fand einfach keine Lösung für das Problem. Vielleicht konnte man Stufen in die Böschung hineingraben! Mit den Fingern betastete er das Erdreich. Sofort bröckelte getrockneter Lehm hervor. Ob man hier wirklich Vertiefungen graben konnte, in denen es möglich war, Tritt zu fassen und empor zu klettern, war zweifelhaft.

Stimmen ließen Leonardo aufhorchen.

Sie kamen von draußen.

Unter den maskierten Banditen schien Streit aufgekommen zu sein. Sie schimpften sich gegenseitig an. Leonardo konnte nicht jedes Wort verstehen, aber es reichte, um zu erkennen, dass die Stimmung unter ihnen ziemlich gereizt war.

„Vielleicht geht es da gerade um unser Schicksal“, glaubte Carlo. Leonardo nickte. Daran hatte er auch schon gedacht. Er lauschte, konnte nicht wirklich verstehen, worum es ging. Dann verstummten die Stimmen. Stattdessen hörte er Schritte, die sich der Grube näherten. Ein Schatten hob sich am Rand der Grube ab. Die Strickleiter wurde hinuntergelassen.

Der Maskierte, der am Rand der Grube stand, streckte die Hand aus und deutete auf Leonardo. „Du! Komm rauf!“

Leonardo wechselte einen kurzen Blick mit Carlo. Dieser zuckte die Schultern.

„Na, los, worauf wartest du?“, herrschte ihn der Maskierte an. Mit weichen Knien stieg Leonardo die Strickleiter hinauf und hatte wenig später den Rand der Grube erreicht. Der Maskierte packte ihn am Oberarm und half ihm auf dem letzten Stück.

Sein Griff war so fest wie bei einem Schraubstock. Er ließ nicht locker und führte Leonardo neben sich her.

„Trag ihr alle eure Masken?“, rief der Mann.

„Ja!“, kam es aus mehreren Kehlen.

Sie erreichten den Platz vor der Höhle. Die Männer, die um das Lagerfeuer herum saßen, waren alle maskiert. Leonardo schaute sich nach dem Kerl mit der Narbe um und fand ihn etwas abseits. Er lehnte mit der Hüfte gegen einen Felsen und vertrieb sich die Zeit damit, Dolche so zu schleudern, dass sie möglichst nahe an einem bestimmten Stein im Boden stecken blieben.

Drei Dolche hielt er noch in der Rechten. Mit der Linken warf er die Dolche.

„Hier ist der Junge!“, rief der Maskierte, der Leonardo hinausgeführt hatte. Offenbar waren diese Worte an den Narbigen gerichtet, aber dieser ließ sich in seiner Konzentration auf die Dolche nicht stören. Er schleuderte eine Klinge nach der anderen und war erstaunlich treffsicher dabei.

„Bravo!“, sagte einer der anderen Männer, nachdem der Narbige fertig war.

Dieser wandte sich um.

Er zog die Dolche aus dem Boden und gab sie einem der anderen.

„Du bist gleich dran!“, erklärte er, bevor er auf Leonardo zuging. In einer Entfernung von drei Schritten blieb er stehen. Sein Blick blieb an den bloßen Füßen haften.

„Wer bist du?“, fragte er.

„Leonardo da Vinci, Sohn des Grafen da Vinci!“

Die Männer lachten.

„Was gibt’s da zu lachen?“, fragte Leonardo.

„Man sieht dir doch schon an, dass du ein Bauerntölpel bist! Wenn dein Vater ein Graf wäre, würdest du im Sommer Schuhe tragen!“, meldete sich einer der Maskierten amüsiert zu Wort. Vielleicht war der Rat, den Luca mir gegeben hat, doch nicht gerade das Gelbe vom Ei!, ging es dem Jungen durch den Kopf.

„Das sagst du nicht zufällig deshalb, weil du glaubst, dass wir dich eher am Leben lassen, wenn du reiche Eltern hast?“, fragte der Narbige. „Vinci ist ein kleines Dorf bei Empoli und es gibt meines Wissens keine Grafen, die so heißen!“ Er schnippste mit den Fingern und ließ sich seine Dolche zurückgeben. „Ich will jetzt die Wahrheit wissen, oder ich probiere meine Treffersicherheit mal an dir aus!“

Leonardo sah ein, dass er den Narbigen offenbar unterschätzt hatte. Es hatte wohl keinen Sinn, ihm noch mehr Märchen aufbinden zu wollen - es sei den, diese Märchen enthielten wenigstens ein Stück Wahrheit, dass überprüft werden konnte. Leonardo schluckte.

„Wenn du hier brav mitspielst, bekommen deine Eltern von uns Besuch, sie bezahlen ein paar Florin und du kannst wieder gehen. Das ist alles. Aber wenn du uns hier Schwierigkeiten machst, geht es dir schlecht!“

„Eigentlich hat er schon den Tod verdient, weil er das Feuer gelegt hat!“, meldete sich einer der anderen Männer zu Wort. Und ein anderer ergänzte: „Gut, dass wir das so schnell bemerkt haben und der Wind günstig stand. Sonst hätte im nu der ganze Wald in Flammen gestanden und dann… wäre es auch für uns brenzlig geworden“

„Halt den Mund“, fuhr der Narbige ihm dazwischen. Seine Stimme hatte den frostigen Klang von klirrendem Eis.

„Also gut“, sagte Leonardo. „Mein Vater ist kein Graf.“

„Sondern? Nenn mir seinen Namen.“

„Er heißt Ser Piero D’Antonio. Er ist Notar in Vinci!“

„Und du bist dann wohl ein uneheliches Kind!“, stellte der Narbige fest.

„Fragt sich, ob dieser Ser Piero bereit ist, dann für ihn Lösegeld zu zahlen!“, ergänzte ein anderer.

„Und außerdem ist ein Notar nicht unbedingt ein reicher Mann!“, meinte der Narbige. „Jedenfalls nicht, wenn seine Kundschaft aus Bauern und Dorfgastwirten besteht, für die er Verträge und Urkunden aufschreibt. Von denen kann er ja nicht viel Honorar verlangen.“

„Mein Vater arbeitet für Cosimo de’ Medici!“, erklärte Leonardo.

„Für den Stadtherrn von Florenz?“, wunderte sich der Narbige. „Ein Notar vom Land? Hat der nicht genug Schreiber, um sich seine Verträge aufsetzen zu können? Junge, du erzählst doch nur wieder eine Geschichte! Wahrscheinlich kann sich dein Vater kaum das Papier leisten, dass er für seinen Beruf braucht!“

„So wahr ich hier stehe, ist mein Vater für die Familie Medici tätig!“, beharrte Leonardo.

Das entsprach zwar den Tatsachen, aber Leonardo übertrieb dabei etwas. Ser Piero hatte vor einigen Wochen bei einem Grundstücksgeschäft in Empoli für Cosimo de’ Medici gearbeitet und hoffte nun natürlich regelmäßig für den Stadtherrn von Florenz und seine Familie tätig sein zu dürfen. Noch war es so, dass er manchmal von einem Bauern, der einen Antrag auf Befreiung von der Steuer aufgeschrieben haben wollte, weil die Ernte schlecht war, nur einen Korb mit Äpfeln als Honorar erhielt, weil der Bauer selbst nichts hatte.

Nicht ohne Grund ließ Ser Piero seinen Sohn Leonardo von dessen Großvater aufziehen.

Aber wenn herauskam, dass Ser Piero sogar zu arm gewesen war, Leonardo eine Lateinschule besuchen zu lassen, machten die Maskierten wahrscheinlich ihre Drohung wahr. Leonardo vermochte auch schlecht einzuschätzen, wie hoch die Summe wohl sein mochte, die sich die Banditen als Lösegeld vorstellten.

„Wir können ja mal jemanden zu diesem Ser Piero hinschicken“, meinte der Narbige. „Vielleicht ist ja doch etwas dran an der Geschichte.“

„Verschwendete Zeit“, lautete die Auffassung eines der anderen Männer. „Aber du musst es ja wissen.“

Der Narbige wandte sich noch mal an Leonardo. „Was ist mit deinem Freund?“, fragte er.

„Er heißt Carlo Maldini und ist der Sohn eines Händlers.“

„Eines kleinen Trödlers wahrscheinlich.“

„Herr Maldini ist der reichste Mann in Vinci – und Carlo trägt im Sommer Schuhe. Daran kann man das schon sehen!“

„Noch eine Frage.“

„Bitte!“

Der Blick des Narbigen bohrte sich förmlich in Leonardos Augen.

„Was habt ihr am Waldrand zu suchen gehabt?“

„Wir haben ein Experiment durchgeführt, für das ich weit genug von Vinci entfernt sein wollte, sodass keine Gefahr für das Dorf besteht.“

Leonardo konnte sehen, wie sich bei dem Anführer der Maskierten die Stirn in Falten zog. Die Augenbrauen bildeten eine Schlangenlinie und die Narbe über dem linken Auge veränderte ihre Form.

„Was soll das für ein Experiment gewesen sein?“

„Es hatte etwas mit der gebündelten Kraft der Sonne zu tun!“, erklärte Leonardo.

„Wovon redet der Junge?“, meldete sich einer der Männer.

„Mach es vor!“, befahl der Mann mit der Narbe.

„Dazu brauche etwas trockenes Gras oder trockene Zweige!“

„Na los, worauf wartet ihr!“, fuhr der Narbige seine Leute an, woraufhin für Leonardo ein paar Zweige und Gras aufgesammelt wurden. Leonardo schichtete es sorgfältig auf. Dann nahm er die Brille hervor und hielt sie so in die Sonne, dass sich die Strahlen auf dem trockenen Brennmaterial bündelten. Wenig später stieg Rauch auf. Es brannte.

Da sich auf dem steinigen Boden aber ansonsten kaum Pflanzen oder anderes brennbares Material befanden, konnte sich das Feuer auch nicht ausbreiten, so wie es bei dem Experiment am Waldrand geschehen war. Nachdem alles verbrannt war, verlöschte das Feuer.

„Alle Achtung!“, meinte der Mann mit der Narbe. Er wandte sich an die anderen. „Wenn ihr ungeschickten Trottel es mal wieder nicht hinbekommt, ein Lagerfeuer anzuzünden, dann fragt einfach unseren kleinen Alchimisten hier!“

„Sollen wir ihm nicht besser dieses Glasding wegnehmen?“, fragte einer der Männer.

„Nicht nötig. Feuermachen kann er damit nur, wenn die Sonne scheint“, erwiderte der Narbige.

 

 

3.Kapitel

Fluchtpläne

Leonardo wurde zu den beiden anderen zurück in die Grube geschickt. Stattdessen musste nun Carlo den Maskierten Rede und Antwort stehen. Durch eine unabhängige Befragung der beiden Jungen wollten die Banditen wohl sicher gehen, dass sie die Wahrheit zu hören bekamen.

Vollkommen verschreckt kehrte Carlo zurück. Von der Unterhaltung zwischen ihm und den Maskierten hatte Leonardo etwas mitbekommen.

„Ich glaube, das geht noch übel für uns aus!“, meinte Carlo angstvoll. „Einige der Männer meinte, dass sich der ganze Aufwand und das Risiko bei so kleinen Fischen wie mir und dir wohl gar nicht lohnen würden!“

„Kleine Fische – das sind für diese Banditen wohl Gefangene, für die sich nicht so viel Lösegeld erwarten.“

„Tja, ich hätte euch ja gerne als meine Brüder ausgegeben!“, mischte sich Luca di Gioia in die Unterhaltung ein. „Nur leider wäre das nicht sehr überzeugend gewesen!“

„Genauso wenig wie das Märchen vom Grafen da Vinci, dass du mir empfohlen hast“, erwiderte Leonardo mit leicht vorwurfsvollem Unterton.

„Tut mir leid, ich konnte ja nicht vorhersehen, dass diese Banditen doch etwas cleverer sind, als es auf mich zunächst den Anschein hatte!“

„Die hätten mich beinahe deswegen als Zielobjekt für ihre Zielübungen mit dem Dolch verwendet.“

„Ist ja schon gut“, erwiderte Luca etwas beleidigt. „Ich habe schon gesagt, dass es mir Leid tut. Es war gut gemeint.“

Leonardo atmete tief durch.

„Wir sollten uns nicht untereinander streiten“, fand Carlo. „Wir sind alle in derselben Lage und müssen daher zusammenhalten.“

„Aber ganz gleich ist unsere Lage nicht“, gab Leonardo zu bedenken und deutete auf Luca. „Er hat Eltern, die mit Sicherheit genug Lösegeld zahlen werden – und ich nehme an, da schläft man selbst in diesem feuchten Loch doch sehr viel ruhiger, wenn man das weiß.“

„Wen willst du denn dafür jetzt anklagen?“, fragte Luca schulterzuckend. „So ist nun mal die Welt. Gott hat es so gewollt und jeden an seinen Platz gestellt. Den Adeligen, den reichen Kaufmann, den einfachen Bauer und die Tagelöhner oder den Bettler, wie man sie auf den Straßen von Florenz finden kann. Jeder hat seinen Platz. Da kann man nichts machen!“

„Das klingt für mich nicht so, als wäre es ein Gesetz der Natur“, meinte Leonardo.

„Ein Gesetz der Natur nicht – aber dafür ein Gesetz Gottes. Das sagt zumindest unser Kaplan in Florenz.“

„Und woher weiß der das?“

„Er sagt, dass es in der Bibel steht.“

„Hast du es selbst dort gelesen, Luca?“

„Nein, die Bibel ist in Latein geschrieben und das lerne ich erst noch. Mein Vater will, dass ich eines Tages, an die Universität von Bologna gehe und Rechtswissenschaft studiere – und dazu braucht man Latein. Er sagt immer, es sei gut für unser Handelshaus, wenn ich genau über die Gesetze Bescheid weiß.“

Leonardo bedauerte es, dass er nicht auf eine Lateinschule gehen konnte und daher auch nie die Chance haben würde, auf eine Universität zu gehen. Rechtswissenschaft hätte ihn da zwar nicht so besonders interessiert – dafür aber fast jedes andere Fach. Die besten Gelehrten unterrichteten dort. Magister nannte man sie. Es ärgerte Leonardo ein wenig, dass er wohl gezwungen war, sich alles selbst beizubringen, was er für seine Forschungen brauchte. Das war natürlich viel schwieriger und anstrengender, als wenn es einem durch einen Magister erklärt wurde. Nicht einmal die Bücher dieser Gelehrten konnte Leonardo lesen, denn auch sie waren fast ausschließlich in Latein verfasst.

Schritte ließen die Jungen aufhorchen. Einer der Maskierten erschien am Rand der Grube und ließ einen Korb herunter.

„Hier, eure Eltern sollen euch ja nicht mager zurückbekommen und uns für Unmenschen halten!“, meinte der Mann dazu. Der Korb befand sich an einem Haken. Luca kannte bereits den Ablauf, der sich offenbar bei jeder Mahlzeit wiederholte. Er löste das Seil vom Korb und der Maskierte zog es wieder zurück.

„Guten Appetit!“, lachte der Maskierte und ging wieder. Ein Krug mit Wasser und trockenes Brot befanden sich in dem Korb. Außerdem ein Stück Käse und ein paar Weintrauben.

„Na ja, ich habe schon ein reichhaltigeres Bankett gesehen!“, sagte Luca auf seine etwas hochnäsig wirkende Art, die Leonardo nicht ausstehen konnte. „Und Käse dieser minderen Qualität würde ich normalerweise nicht einmal ansehen, geschweige denn essen… Ich glaube, meine Eltern würden ihren Küchenmeister sofort entlassen, wenn so etwas bei ihnen auf dem Tisch landen würde.“

„Du brauchst nichts davon zu nehmen, wenn es dir nicht gut genug ist!“, erwiderte Leonardo.

Das Wasser schmeckte abgestanden. Der Käse war an den Seiten schon hart und das Brot war auch ein paar Tage alt. Aber Leonardo und Carlo hatten Hunger und griffen daher zu. Luca hingegen nahm nur wenig.

„Ich will mir nicht den Magen mit dem Zeug verderben“, meinte er und dabei hob sich sein Kinn ein ganzes Stück an.

„Dafür, dass du schon ein paar Tage in diesem Loch steckst, bist du aber immer noch ganz schön eingebildet“, erwiderte Leonardo. Daraufhin schwieg Luca.

Nachdem Carlo seine Mahlzeit beendet hatte, ging er unruhig hin und her, um sich etwas aufzuwärmen. Das ohnehin schon spärliche Licht war noch schwächer geworden. „Wenn ich daran denke, die Nacht in diesem Loch verbringen zu müssen!“, murmelte er und rieb sich die Arme.

„Du gewöhnst dich daran“, glaubte Luca.

„Kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen“, murmelte Carlo.

„Die erste Nacht ist die Schlimmste. Danach geht es eigentlich.“

Es wurde immer dunkler. Schließlich konnte man kaum noch die Hand vor Augen sehen.

Geräusche ließen Leonardo aufhorchen. Ein Rascheln war zu hören.

„Das sind die Fledermäuse“, meinte Luca. „Du kannst sie kaum sehen, aber es gibt Tausende in diese Höhle. Und sie werden immer erst in der Nacht aktiv.“

Hin und wieder sah Leonardo einen dunklen Schatten über sich. Er setzte sich in eine Ecke und lehnte sich gegen die kalte Grubenwand.

Carlo war ganz in seiner Nähe und auch Luca war nicht weit entfernt.

So sehr Leonardo die überhebliche Art von Luca auch störte – auf der anderen Seite begann er den Jungen langsam auch zu bewundern. Schließlich hatte er es schon mehrere Tage hier an diesem ungastlichen Ort ausgehalten.

Und zwar allein!

Eine ganze Weile herrschte Schweigen. Sie versuchten zu schlafen, aber das stellte sich zunächst als unmöglich heraus. Dann ließ ein weiteres Geräusch die Jungen aufhorchen.

„Hufschlag!“, stellte Leonardo fest.

„Ja, es bleibt normalerweise nur ein kleiner Teil der Bande hier. Ich kann natürlich nicht abschätzen wie viele – aber es sind garantiert nicht mehr als zwei bis drei Mann. Der Rest verschwindet zwischendurch. Vielleicht bis sie die nächsten Gefangenen herbringen, so wie es bei euch der Fall war.“

„Wo reiten sie hin?“, fragte Leonardo.

„Meine Güte, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du einem Löcher in den Bauch fragst?“

„Ja, mein Großvater zum Beispiel, bei dem ich wohne. Aber er ist nicht der einzige.“

„Gewöhn dir das ab! Das ist ja furchtbar! Ich hoffe, auf dem Land sind nicht alle so!“

„Du hast mir noch keine Antwort gegeben!“

„Meine Güte, woher soll ich das wissen? Vermutlich brechen sie auf, um unsere Eltern zu verständigen oder ihnen noch ein bisschen mehr Angst zu machen, damit sie mehr Lösegeld zahlen.“

„Ist dir eigentlich aufgefallen, dass der Anführer der Bande eine Narbe über dem linken Auge hat. Außerdem habe ich gesehen, dass er den Dolch mit der linken Hand wirft.“

„Ein Linkshänder!“

„Richtig. Und die sind doch nicht so häufig. Wenn das alles hier vorbei ist, kann man ihn vielleicht dadurch erkennen…“

„Es ist unwahrscheinlich, dass du ihm noch mal begegnest, Leonardo“, erklärte Luca. „Abgesehen davon, scheint mir unsere Zeit in diesem Loch noch nicht allzu schnell vorbei zu sein…“ Eine Pause folgte. Leonardo wollte zunächst etwas erwidern, aber dann sprach Luca weiter und zwar im Flüsterton. „Sag das ja nicht zu laut, dass du einen der Kerle wieder erkennen könntest!“, meinte er. „Das wäre ein Grund für die, dich umzubringen. Ich habe auch einen von ihnen gesehen. Eine Narbe hatte er nicht, dafür habe ich richtig sein Gesicht sehen können, weil er die Maske abgenommen hatte. Meine Binde war etwas verrutscht. Aber ich würde den Kerlen das um keinen Preis sagen, denn ich weiß genau, dass ich dann geliefert bin.“

Leonardo atmete tief durch. „Verstehe“, murmelte er. Zum hundersten Mal verwünschte er sich, dass er unbedingt darauf gedrängt hatte, das Experiment mit der Brille durchzuführen. Großvater hatte ihm jegliche Feuer-Experimente innerhalb des Hauses verboten, nachdem er dadurch schon einmal fast einen verheerenden Brand ausgelöst hätte.

Diesmal hatte er es richtig machen wollen.

Aber offenbar waren er und Carlo einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und geradewegs dieser Bande von Entführern in die Hände gelaufen.

In seiner Vorstellung sah Leonardo jetzt das warme Kaminfeuer im Haus seines Großvaters vor sich, das er in den bereits kühler werdenden Nächten des Spätsommers hin und wieder entzündete. Bestimmt wird er jetzt auch davor sitzen!, dachte Leonardo. Feuerholz hatte Großvater zur Zeit genug.

Leonardo stellte sich vor, wie Großvater vor dem Kamin saß und sich wahrscheinlich große Sorgen um seinen Enkel machte. Einmal war Leonardo über Nacht weggewesen. Vor ein paar Wochen war er zusammen mit Carlo auf der Stute Marcella nach Florenz geritten und erst am späten Abend des nächsten Tages zurückgekehrt. Ein Riesenärger war die Folge gewesen und Leonardo hatte Großvater versprechen müssen, so etwas nie wieder zu tun.

Wahrscheinlich wird er denken, dass er gar nicht nach mir suchen braucht, weil ich nicht in Not bin, sondern nur wieder irgendeinen Unfug mache!, ging es Leonardo dann durch den Kopf. Ein Gedanke, der ihn traurig machte.

Auch wenn es ihm zunächst völlig unmöglich erschien, zu schlafen, so nickte Leonardo schließlich doch vor lauter Erschöpfung ein.

Selbst das unheimliche Rascheln der Fledermäuse, das durch den Schlag von unzähligen Flügeln entstand, und ihn eigentlich sehr gruselte, hinderte ihn schließlich nicht mehr daran, die Augen zu schließen.

Wirre Träume suchten ihn in der Nacht heim.

Träume, an die er sich nicht mehr erinnern konnte, als er aufwachte und von denen er dann nur noch wusste, dass sie schrecklich gewesen waren. In dem Moment, da er die Augen wieder öffnete, vergaß er sie bereits und konnte sich kaum noch an Einzelheiten erinnern.

Ist vielleicht auch besser so!, überlegte er.

Es war die Helligkeit, die ihn weckte.

So empfand er jetzt bereits das wenige Licht, das am Tag durch den Höhleneingang bis in die Grube drang.

Die beiden anderen Jungen schliefen noch und Leonardo hatte auch nicht vor, sie zu wecken.

Er stand auf, rieb sich die Hände und Arme und bewegte sich etwas. Seine Arme und Beine waren durch die Kälte steifgefroren. Dann lauschte Leonardo.

Von den Fledermäusen war jetzt weder etwas zu hören noch zu sehen. Sie hatten sich in die zahllosen kleinen Nischen und Winkel in dieser Höhle zurückgezogen, um vermutlich am nächsten Abend nach Einbruch der Dunkelheit wieder hervorzukommen und auf ihre nächtliche Jagd nach Kleintieren zu gehen.

Unter anderen Umständen hätten ihn diese so eigenartig aussehenden Wesen sehr interessiert. Im Dachboden seines Großvaters nisteten einige Abendsegler, die er hin und wieder zu beobachten versuchte, was gar nicht so einfach war, denn sie scheuten die Helligkeit, während Leonardo genau darauf angewiesen war, um überhaupt etwas sehen zu können. Wie die Fledermäuse es schafften, bei Dunkelheit zu fliegen und offenbar dabei doch nicht dauernd gegen irgendwelche Hindernisse zu prallen, hatte er sich schon immer gefragt und kein Erwachsener, bei dem er sich danach erkundigt hatte, war in der Lage gewesen, ihm darauf eine Antwort zu geben, mit der er zufrieden gewesen wäre.

Davon abgesehen interessierten ihn auch die lederhäutigen Flügel dieser Geschöpfe, die ganz anders aussahen als die gefiederten Flügel von Vögeln. Leonardo fragte sich, welche Art von Flügeln besser war, um sie bei der Konstruktion einer Flugmaschine möglichst naturgetreu nachzubauen: Die Flügel von Vögeln, die von Fledermäusen oder vielleicht doch besser die von Insekten, die sich leider so schnell bewegten, dass man sie eigentlich gar nicht richtig in Aktion sehen konnte.

Einer Weile lauschte Leonardo den Vogelstimmen, die von draußen in die Höhle drangen.

Er hörte allerdings, so sehr er sich auch anstrengte, keine Männerstimmen sprechen. Vermutlich schliefen die Banditen noch, die als Wächter zurückgelassen worden waren.

Es dauerte eine Weile, bis Carlo und Luca ebenfalls erwachten.

„Ist die ganze Bande verschwunden und hat uns hier allein zurückgelassen?“, wandte sich Leonardo an Luca.

Aber dieser schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Obwohl sie das natürlich tun könnten, schließlich haben wir keine Chance, aus diesem Loch herauszukommen. Aber in den letzten Tagen tauchte immer jemand auf, um mir etwas zu essen zu bringen. Und zwischendurch hörte man auch Stimmen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, vielleicht sind sie auch nur mal kurz zu einem Bach gegangen, um sich zu waschen und frisches Wasser zu holen.“

„Wie war das, als du entführt wurdest?“, erkundigte sich Leonardo.

„Erzähl mir davon.“

„Ich sollte mit einer Kutsche zu meinem Onkel Maurizio nach Pisa gebracht werden, um dort ein paar Wochen zu bleiben“, berichtete Luca. „Aber schon kurz nachdem wir die Mauern von Florenz nicht mehr sehen konnten, kam ein Trupp maskierter Reiter aus dem Wald und hat uns überfallen. Einer von ihnen hat eine Arkebuse abgefeuert, sodass die Pferde völlig von Sinnen waren.“

Was eine Arkebuse war, davon hatte Leonardo schon gehört. Mann nannte dieses Gewehr auch Hakenbüchse, weil ein Metallhaken eine brennende Lunte an das Pulver brachte, dass dann explodierte und die Kugel durch den Lauf schoss. Feuerwaffen fanden immer mehr Verbreitung – und das auch deshalb, weil sie relativ leicht zu bedienen waren und man nicht erst jahrelang üben musste wie bei Langbogen oder der Armbrust.

„Diese Männer scheinen ja so gut ausgerüstet zu sein wie die Soldaten der Stadtwache von Florenz!“, stellte Leonardo fest. „Auch ihre Schwerter und Armbrüste! Die Gesichter dieser Banditen konnte ich ja nicht sehen, aber von ihrer Ausrüstung her waren das nicht irgendwelche dahergelaufenen Lumpen!“

„Du hast recht“, gab Luca zu. „Und um ehrlich zu sein, ich vermute, dass hinter meiner Entführung irgendein geschäftlicher Konkurrent meines Vaters steht. Ein anderes Handelshaus vielleicht, dass die Familie di Gioia aus dem Geschäft drängen will!“

„Du meinst, diese Verbrecher haben im Auftrag gehandelt?“

„Ja. Sieh mal, mein Vater hätte das Lösegeld sofort bezahlt. Wenn das ein paar normale Wegelagerer wären, befände ich mich doch längst auf freiem Fuß und die Banditen über alle Berge. Aber diese Männer warten. Sie wollen den Preis in die Höhe treiben und meinen Vater damit ruinieren. Das denke ich jedenfalls.“

Carlo meldete sich nun zu Wort. „Macht sich hier eigentlich auch noch mal jemand Gedanken darüber, wie wir aus dem Loch kommen?“

„Wenn du eine gute Idee hast, Carlo – dann bitte!“, gab Leonardo zurück.

Es dauerte noch eine Weile, bis schließlich einer der Entführer am Rand der Grube auftauchte und etwas zu essen hinunterließ. Es war wieder Brot und Wasser und paar Weintrauben. Der Käse fehlte diesmal. Leonardo nahm an, dass einer der Kerle ihn für sich genommen hatte.

Aber da allen drei Jungen der Magen knurrte, teilten sie das Brot auf und aßen es bis zum letzten Bissen. Selbst Luca war diesmal nicht so wählerisch.

Das Wasser schmeckte frischer als am vorhergehenden Tag. Zeitweise hörten sie während des Tages ein paar Bruchstücke aus der Unterhaltung der Männer. Dann knallte etwas. Mehrere Schüsse donnerten.

„Die ballern jetzt aus purer Langeweile mit ihrer Arkebuse herum!“, meinte Luca. „Aber das bedeutet, dass ihr Anführer nicht da ist, denn vor zwei Tagen hat er sie deswegen schon mal angeschimpft.“

„Meinst du, das hört man in Vinci?“, fragte Carlo. Leonardo zuckte mit den Schultern. „Schon möglich, aber man wird wahrscheinlich wohl glauben, dass der Schuss von einem Jäger verursacht wurde!“, erwiderte Leonardo.

Die zweite Nacht kam Leonardo noch schrecklicher als die erste vor. Als das Rascheln der Fledermausflügel wieder begann, wusste er, dass er es einfach nicht länger hier aushalten konnte. Leise waren die Stimmen der Entführer zu hören, die offenbar am Lagerfeuer saßen und miteinander redeten.

„Hört zu, wir sollten nicht warten, bis die ganze Bande wieder vollzählig ist oder sich die Maskierten überlegt haben, dass sich zumindest das Lösegeld für Carlo und mich nicht lohnt!“

„Und was schlägst du vor?“, fragte Luca spöttisch. „Willst du dir Flügel wachsen lassen wie eine Fledermaus, um dann aus dieser Grube herauszuschweben.“

„Eines Tages werde ich eine Apparatur erfinden, die so etwas kann“, erwiderte Leonardo mit einem ärgerlichen Unterton. „Aber im Augenblick müssen wir uns wohl etwas einfacherer Mittel bedienen.“

„Und welcher? Ich sehe hier nichts, womit man diese rutschige Dreckwand empor klettern könnte. Meinst du, ich hätte mir nicht auch schon den Kopf darüber zerbrochen? Und wenn du jetzt damit ankommst, dass wir Stufen graben könnten oder so. Vergiss es! Das habe ich schon versucht, ohne, dass es irgendeinen Erfolg hatte außer Dreck an den Händen! Und ein paar Schrammen.“

„Ich brauche eure Hemden“, sagte Leonardo mit Bestimmtheit.

„Und einen Schuh – und zwar einen von deinen Carlo, denn die sind schwerer als diese zarten Mädchenschuhe, die unser Freund Luca so gerne trägt!“

„Haha, sehr witzig!“, erwiderte Luca beleidigt und Leonardo ärgerte sich darüber, dass er bei der Dunkelheit das Gesicht seines Gegenübers so gut wie überhaupt nicht sehen konnte.

„Was hast du vor?“, fragte Carlo.

„Ich will unsere drei Hemden zusammenbinden. Ans Ende kommt dann der Schuh als Gewicht.“

„Und dann?“

„Ich werfe den Schuh hoch und hoffe, dass er sich in der Strickleiter verhakt, die ich dann herunterziehen kann. Aber wir müssen damit warten, bis wir sicher sein können, das die Banditen schlafen.“

„Ich weiß nicht“, meinte Luca.

„Du kannst ja gerne hier bleiben“, meinte Leonardo.

„So war das nicht gemeint“, stellte Luca klar. „Es ist nur so, dass wir uns alles gut überlegen müssen.“

„Du musst für dich selbst entscheiden“, erwiderte Leonardo.

„Wenn du glaubst, dass du schneller aus diesem Loch herauskommst, wenn du darauf wartest, dass dein Vater das Lösegeld bezahlt hat, dann bleib hier. Aber für Carlo und mich war es jetzt schon brenzlig.“

„Einen Versuch ist es jedenfalls wert“, fand Carlo.

 

Leonardo und die Verschwoerer von Florenz Teil 1 von 3
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