26

 

Claire trocknete sich die Hände an einem braunen Papierhandtuch ab und verließ die Toiletten einer kleinen Tankstelle, die an einer ländlichen zweispurigen Asphaltstraße irgendwo in der Nähe der Nordwestgrenze von Connecticut lag. Hier begann sich die Sonne schon am Nachmittag über die Wipfel der buschigen Kiefern und unbelaubten Eichen zu senken, die diese hügelige, waldreiche Region bedeckten. Sie blinzelte, schirmte die Augen gegen die blendenden orangefarbenen Strahlen ab und wünschte, sie hätten noch ein paar Stunden mehr für ihre Suche.

Sie waren so nah dran. Das spürte sie genau. Die letzten Stunden hatten Renata, Dylan und sie das Gebiet umfahren, wo sich Claires Blutsverbindung, die sie inzwischen hasste, zu einem starken Hämmern ausgewachsen hatte. Sie zogen die Schlinge um Roth immer enger, näherten sich systematisch dem Ort, wo der Orden ihn finden würde. Wenn sie die Gegend nur noch ein paar Stunden länger absuchen könnten, hätten sie seinen Standort bis auf knapp eine Quadratmeile eingekreist. Davon war Claire überzeugt.

Wenn es im Spätherbst doch nur etwas länger hell bleiben würde, dachte sie ungeduldig, warf das Papierhandtuch in einen Abfalleimer und ging die kurze Strecke zu dem schwarzen Range Rover des Ordens zurück, der bei den Zapfsäulen stand. Renata tankte für die Rückfahrt nach Boston, sie lehnte lässig, aber wachsam am Wagen und beobachtete die Digitalanzeige der Säule. Claire entging nicht, dass ihr rechter Arm quer über dem Körper in den Falten ihres Trenchcoats verschwand. Zweifellos ruhte ihre Hand auf dem Griff einer Pistole oder umschloss eines ihrer Messer. Sie war ebenso wachsam wie jeder der Krieger und, wie Claire annahm, genauso tödlich, wenn die Situation es erforderte.

Sie nickte Renata beim Näherkommen zu, stieg in den Geländewagen und zog die Beifahrertür behutsam hinter sich zu, um Dylan nicht zu wecken, die auf dem Rücksitz eben ein Nickerchen hielt. Es war ein langer Tag gewesen, und keine von ihnen hatte viel Schlaf bekommen, bevor sie das Hauptquartier verlassen hatten. Claire war erschöpft, fand den Gedanken aber unerträglich, aufzugeben, bevor sie nicht etwas Konkretes über Roth in der Hand hatten. Sie griff neben ihrem Sitz nach der Karte, mit der sie gearbeitet hatten. Inzwischen war sie bedeckt mit gelben, grünen und orangefarbenen Markierungen, die die Gebiete bezeichneten, wo sie Roth am stärksten gespürt hatte.

„Wo zum Teufel bist du?“, flüsterte sie halblaut vor sich hin und blendete das helle Klingeln der Tankstellenklingel aus, als ein Wagen neben ihnen an die Zapfsäule mit Bedienung rollte. Sie konzentrierte sich völlig auf den dunklen, instinktiven Rhythmus der Wahrnehmungssignale, die in ihrem Puls tickten, und versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass Roth sie in gleicherweise spüren musste.

Wusste er, wie nah sie in diesem Augenblick daran war, ihn aufzuspüren? Musste er wohl. Nur die simple Tatsache, dass die Sonne erst noch untergehen musste, tröstete sie ein wenig, wenn sie daran dachte, welchem Zorn sie begegnen würde, wenn sie ihm jemals wieder in die Hände fiel. Er würde sie töten. Aber erst, nachdem er seine Wut an ihr ausgelassen und sie dazu gebracht hatte, sich zu wünschen, sie wäre tot.

Vom Gedanken an ihn ganz durcheinander, drehte sich Claire wieder in ihrem Sitz herum, um die Karte zu verstauen.

In diesem Moment bemerkte sie die beiden Männer, die neben ihr aus dem Wagen stiegen. Sie waren groß gewachsen und ganz in Schwarz gekleidet, von den Lederjacken mit hochgezogenen Reißverschlüssen bis zu den Militärhosen, die in ihren Kampfstiefeln steckten. Sie sahen eben in ihre Richtung, und sie überkam ein Frösteln. Ihre Augen blickten grausam und seltsam leer.

Außerdem sah sie diese beiden Männer heute nicht zum ersten Mal.

Claire hatte sie erst vor ein paar Stunden bemerkt, als Renata, Dylan und sie in einem billigen kleinen Diner im angrenzenden Städtchen Mittagspause gemacht hatten. Diese schwarzen Klamotten und die kaum verhohlene Drohgebärde waren kaum zu übersehen. Genauso wenig, wie die Männer sie jetzt musterten und einen wortlosen Blick tauschten. Der eine ging zum Fond ihres Wagens und holte etwas aus dem Kofferraum.

Sie zuckte zusammen, als Renata die Fahrertür öffnete. „Wir werden beschattet.“

„Ich weiß“, sagte Claire, als Renata sich auf den Sitz fallen ließ, mit einer Hand die Tür zuzog und mit der anderen den Schlüssel im Anlasser drehte. „Ich hab die vorhin schon mal gesehen. Da haben sie uns auch schon so angestarrt. Irgendwas stimmt nicht mit denen - mit ihrem Blick. Der macht mir Gänsehaut.“

„Es sind Lakaien“, bemerkte Renata sachlich und legte den Gang ein.

Auf dem Rücksitz richtete Dylan sich auf und sog scharf den Atem ein. „Oh, Scheiße. Mädels, wir haben Gesellschaft.“

„Wissen wir“, erwiderte Renata mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel. „Anschnallen.“

Dylan wollte noch etwas sagen, aber Renata trat das Gaspedal durch, sodass der Range Rover beim Anfahren eine Gummispur auf dem Asphalt hinterließ. Mit quietschenden Reifen rasten sie von der Tankstelle auf die kurvenreiche zweispurige Straße.

In Sekundenschnelle waren die Lakaien hinter ihnen her.

Claire sah nach hinten, um ihre Entfernung abzuschätzen. „Die holen schnell auf. Oh, mein Gott, die rammen uns...“

Der plötzliche Ruck beim Aufprall ließ den Rover über die Straße schlingern. Man musste Renata hoch anrechnen, dass sie den Wagen nicht verzog und das Fahrzeug wieder ausrichtete, als es auf die Gegenfahrbahn auszuscheren drohte. Sie beschleunigte und gewann ein paar Wagenlängen, bevor die Limousine wieder angedröhnt kam und versuchte, sie von der Straße zu drängen.

„Da vorne rechts kommt eine kleine Ausfahrt“, sagte Dylan laut, um gegen das Motorgeheul und die hektische Stimmung im Wageninneren anzukommen.

„Bieg dort ab, Renata. Gleich hinter dem toten Baumstumpf, siehst dus?“

„Seh' ich“, antwortete Renata, „aber ich will nicht riskieren, hier abzubiegen, damit sie uns dann mitten im Wald schnappen. Wart's ab, ich denke, ich kann diese Schweinehunde abhängen.“

„Die schnappen uns nicht!“, insistierte Dylan. „Los, mach schon! Jetzt!“

Claire warf einen Blick auf die hinter ihr sitzende Stammesgefährtin mit dem roten Haar und sah Gewissheit in ihrem Blick. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“

„Weil hier hinten neben mir der Geist einer toten Stammesgefährtin sitzt, und die sagt mir eben, dass es unsere beste Chance ist, das hier zu überleben.“

Claire riss die Augen auf.

„Sags doch gleich.“ Renata ging nur so viel vom Gas, dass sie von der Straße auf den holperigen Waldweg abbiegen konnte, den Dylan angekündigt hatte.

„Fahr weiter“, wies Dylan sie an. „Einfach geradeaus, bis ich dir sage, dass du anhalten sollst.“

„Okay.“ Renata jagte den Motor hoch, hinter ihnen wirbelten Staubwolken und Kieselsteinchen auf.

Die Lakaien in der Limousine mussten scharf abbremsen und schleuderten beim Abbiegen in die Ausfahrt. Doch sie schafften es, und ihr schlingernder Wagen schoss wie eine Pistolenkugel vorwärts und ihnen hinterher. Durch die Staubwolke zwischen den beiden Fahrzeugen konnte Claire lediglich die gefletschten Zähne und die dunklen haifischartigen Augen der beiden menschlichen Bewusstseinssklaven erkennen.

Waren das Roths Lakaien oder gehörten sie jemand noch Gefährlicherem? Dragos? Sie wollte es gar nicht wissen. Sie hoffte nur, dass Renatas Fahrkünste und Dylans Gabe ausreichten, dass sie verschont blieben. Wenn nicht...

Wenn nicht, dann war dieses Stück Wald voller Unterholz und Gestrüpp wohl das Letzte, was sie und die anderen in diesem Leben sahen.

„Schneller, Renata!“, drängte Dylan. „Fahr weiterso schnell du kannst!“

Der Range Rover schaukelte und hüpfte über den Weg, Äste kratzten an seinen Seiten entlang und schlugen gegen die Windschutzscheibe wie stachelige Tentakel.

Und die Lakaien holten immer weiter auf. „Links rein!“, schrie Dylan. „So scharf du kannst, Renata. Links rein und dann gib Gas!“

Claire klammert sich ans Armaturenbrett, als das Fahrzeug eine jähe, schaukelnde Drehung auf den Vorderrädern machte. Wie in Zeitlupe und anmutig wie eine Ballerina schwenkte das Heck des Geländewagens aus. Claire sah aus dem Seitenfenster, gerade noch rechtzeitig, um zu erkennen, dass sie haarscharf an der Kante eines steilen Abhangs entlangschlitterten. Etliche Meter unter ihnen raste ein Fluss dahin und brach sich an Felsblöcken von der Größe eines Kleinwagens.

Sie konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken und sah fassungslos zu, wie die Limousine der Lakaien im gleichen Augenblick von hinten auf sie zugerast kam.

Mit einem widerwärtigen Knirschen von protestierendem Metall krachte sie ihnen hinten in die Stoßstange, schob ihren Rover beiseite, wurde über die Kante katapultiert, stürzte abwärts und landete Schnauze voran im Wasser.

„Wow, Scheiße!“, schrie Dylan. „Es hat funktioniert!

Habt ihr das gesehen?“

Renata war nicht nach Jubeln zumute, denn der Range Rover war außer Kontrolle geraten und kam erst zum Stehen, als die vordere Stoßstange gegen einen Baumstumpf krachte. Mit Wucht explodierten Airbags aus dem Armaturenbrett und produzierten beim Entfalten ein dünnes Pfeifgeräusch und Rauch.

Benommen und durchgerüttelt brauchte Claire einige Sekunden, um sich zu orientieren, während der Airbag langsam in sich zusammenfiel.

In der Zwischenzeit fegte Renata das Hindernis kurzerhand beiseite und kletterte aus dem Fahrzeug.

Sie schlich um den Geländewagen herum und griff nach der ungemütlich aussehenden Waffe, die Nikolai ihr gegeben hatte. Dann eilte sie zügig, aber ruhig über die Böschungskante.

Claire und Dylan stiegen aus dem zerbeulten Rover und folgten ihr. Im Laufschritt erreichten sie die Stammesgefährtin, als diese gerade auf die Lakaien anlegte, die eben versuchten, aus dem Wagen zu klettern, bevor der Fluss sie mit sich riss. Renata gab nur zwei kurze Schüsse ab - jeder traf sein Ziel mit unfehlbarer Genauigkeit.

Die Lakaien trieben mit klaffenden, blutenden Kopfwunden leblos in der rasenden Strömung.

„Alles in Ordnung mit euch?“, fragte sie und sah sich nach ihnen um, ungerührt und aufreizend ruhig.

„Alles bestens“, antwortete Claire, noch immer erstaunt darüber, was sie gerade erlebt hatte - und besonders über Renatas Kaltblütigkeit, mit der sie die beiden tödlichen Angreifer erschossen hatte.

Als die Frauen sich von der Böschung entfernten, blieb Dylan plötzlich wie angewurzelt stehen. „Ahm ...

Mädels? Wir hatten doch gehofft, dass, wenn wir Roth aufspüren, wir ihn dazu benutzen können, eine verlässliche Spur zu Dragos' Versteck zu linden.“ Sie sah Claire und Renata an. „Ich glaube, wir kommen näher.“

„Sagt dir das gerade die tote Stammesgefährtin?“, fragte Claire.

„Mhm.“ Dylan hob langsam die Hand und deutete auf das Waldstück, das sie umgab. „Sie und noch ungefähr zwanzig andere. Sie kommen eine nach der anderen aus dem Wald und stehen direkt vor uns.“

Claire schluckte schwer, während sie in den leeren Wald starrte, den die letzten Sonnenstrahlen in rostrotes Licht tauchten. Sie konnte nicht sehen, was Dylan ihnen beschrieb, doch trotzdem sträubten sich ihr die feinen Nackenhärchen.

„Wir rufen besser im Hauptquartier an“, meinte Renata.

„Mhm“, murmelte Dylan. „Gute Idee. Denn wisst ihr was? Ich glaube, wir stehen fast auf dem Dach von Dragos' Schlupfwinkel.“

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