
24
Gabriel wollte unbedingt, dass ich die (relative) Sicherheit der Schattenwelt verließ. »Ich werde hierbleiben, um festzustellen, wo der Drache ist. Wenn Bael dich findet, sag ihm, er soll Kontakt wegen Lösegeld mit mir aufnehmen.«
»Gabriel...«
»Bitte, mein Vögelchen. Tu, was ich sage.«
Zögernd verließ ich die Schattenwelt... allerdings erst, nachdem ich an dem Zorndämon vor der Tür vorbeigehuscht war.
»Oh Mann, du bist tatsächlich zurückgekommen? Ich habe schon gedacht, du lässt mich im Stich. Ich muss schon sagen, May, an deiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich sitzen lassen«, sagte Jim, als ich zu ihm in den Wäscheschrank schlüpfte. Er klang ausgesprochen erleichtert und drückte mir dankbar seinen Kopf ans Knie.
»Ich will ja nicht behaupten, dass ich nicht kurz darüber nachgedacht hätte«, antwortete ich und tätschelte ihm den Kopf, »aber eigentlich versuche ich meine Versprechen immer zu halten. Jetzt müssen wir hier aber heraus.«
»Ich dachte, du würdest einen Weg heraus über das Jenseits finden und mich von Aisling rufen lassen«, sagte er.
»Das war auch ursprünglich der Plan, aber wir mussten ihn ändern, weil ein unbekannter Drache seinen Weg in die Schattenwelt gefunden hat.« Ich öffnete die Tür und spähte hinaus. Mir war zwar auf dem Weg hierhin niemand begegnet, aber jetzt hörte man um uns herum geschäftiges Treiben.
Jim stieß einen Pfiff aus. »Ein Drache? Bist du sicher?«
»Ja.«
» Ah. Baltic «, sagte Jim und nickte.
Ich blickte den Dämon an. »Wie kommst du darauf?«
»Er hat bei einer berühmten Erzmagierin namens von Endres studiert. Antonia von Endres, glaube ich. Jeder weiß doch, dass Erzmagier mit den meisten Magie-Typen umgehen können«, erklärte Jim mir geduldig. »Wenn es im Jenseits einen Drachen gibt, muss es Baltic sein. Er ist der Einzige, der die Fähigkeit besitzt, hineingehen zu können. Was... Oh Mann, das bedeutet, dass er wahrscheinlich hinter dir her ist.«
»Hinter mir? Ich wüsste nicht warum, außer vielleicht wegen des Stücks Drachenherz, und wenn es wirklich Baltic ist, macht das nicht viel Sinn, denn schließlich hat er das blöde Ding in Kostyas Lager versteckt.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Jim.
»Na, irgendjemand muss es ja getan haben, und wer sonst hätte das Stück Drachenherz Kostya abnehmen sollen, nur um es wieder zurückzugeben?«
»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht, dass derjenige, der es hatte, so wichtig ist wie der, der es jetzt wiederbekommen will.«
»Das stimmt. Und je eher wir hier herauskommen, desto sicherer ist das Stück Drachenherz. Weißt du, ob Baels Palast in unserer Welt eine physische Manifestation hat?«
»Ja, in England. Aisling ist einmal dort gewesen. Ich glaube, er hat auch ein Haus in London.«
»Was bedeutet, dass in Paris wohl ebenfalls eins ist, falls er mehrere Eingänge von der realen Welt nach Abbadon hat. Hoffentlich finden wir ihn, bevor man uns sieht.«
Es dauerte eine Zeit lang, aber wir schafften es bis zu einer Ebene, die Zugang zur sterblichen Welt zu haben schien. Eine Tür wurde von weiblichen Dämonen mit Schwertern bewacht, und eine andere war mit Flüchen und Zaubern versiegelt, die das Portal schwarz schimmern ließen.
»Bei der dritten Tür haben wir Glück«, sagte ich leise, als wir durch einen leeren Flur auf eine viel versprechende Tür zuschlichen.
»Glück hat in Abbadon nur der Meister«, sagte eine Frauenstimme hinter uns.
Ich fuhr herum und stand einem weiteren Zorndämon gegenüber, der im Körper einer hübschen, wenngleich muskulösen, dunkelhaarigen Frau steckte. Lässig schlenderte er auf uns zu, aber es war nicht zu übersehen, dass er Jim und mich ohne Weiteres in zwei Hälften zerbrechen konnte, wenn er wollte, wahrscheinlich sogar gleichzeitig. Ich widerstand dem Instinkt, in die Schatten zu entweichen, und blickte dem Dämon entgegen. Geistesabwesend registrierte ich, dass er ein riesiges Schwert umgeschnallt hatte.
»Iiihh«, sagte Jim und drängte sich an mich. »Zornie auf zwölf Uhr.«
»Das sehe ich auch so. Guten Tag. Ich nehme an, ich habe das zweifelhafte Vergnügen, die Bekanntschaft mit einem Mitglied von Baels Elite-Wache zu machen?«, fragte ich in dem formellen Ton, der in Abbadon anscheinend so geschätzt wurde.
»Ich bin Jecha. Lord Bael lässt Euch mitteilen, dass Ihr jetzt seine Gefangene seid. Euer Versuch, seinen Preis zu befreien, ist nicht unbemerkt geblieben, und Ihr werdet für Eure Tat bezahlen.« Ein hässliches Lächeln glitt über das Gesicht des Dämons.
»Ich habe noch nie zuvor einen Doppelgänger gefoltert. Das ist bestimmt ein Vergnügen der ganz besonderen Art.«
Ich blickte ihn ungerührt von oben herab an, was nicht gerade einfach war, da der Dämon mich um einiges überragte. »Weißt du überhaupt, mit wem du sprichst, Dämon? Ich bin May, Gemahlin von Lord Magoth, dem sechsten Fürsten von Abbadon. Du solltest eigentlich vor mir niederknien, aber ich will gnädig sein und dir erlauben, stehen zu bleiben.«
»Zehn Punkte für Stil«, sagte Jim leise und rieb seinen Kopf an meinem Bein. »Aber irgendetwas sagt mir, dass du zuerst noch die Bikini-Parade gewinnen musst, bevor du den Hauptpreis bekommst.«
Das Lächeln des Dämons wurde breiter, und in meiner Wange begann ein Muskel zu zucken. »Effrijim, Dämon sechster Klasse, spricht die Wahrheit. Du jedoch nicht, Doppelgängerin.“
»Wie meinst du das?«, fragte ich stirnrunzelnd. »Ich bin Magoths Gemahlin. Bael kann nicht befehlen, mich foltern zu lassen, ohne die Gesetze, die er selbst geschaffen hat, zu verletzen.«
»Du warst Magoths Gemahlin... aber Magoth ist aus Abbadon verstoßen worden, als du dich gegen Bael aufgelehnt hast.«
Die Augen des Dämons blitzten vor boshaftem Vergnügen.
»Und das bedeutet, dass du nicht mehr die Gemahlin eines Dämonenfürsten bist, sondern nur ein Eindringling und ein Dieb. Weißt du, wie Lord Bael mit solchen Leuten umgeht?«
Angst stieg in mir auf. Die Art von Angst, die einen vor Entsetzen erstarren lässt. Bael hatte Magoth aus Abbadon hinausgeworfen?
»Jim?«, sagte ich und tastete blindlings nach seinem Kopf.
»Hier.«
»Weißt du noch, was Aisling gesagt hat?«
»Ja.«
Vermutlich hatte er tatsächlich nicht vergessen, dass Aisling ihm befohlen hatte, allen meinen Befehlen ausnahmslos zu gehorchen.
»Hervorragend.« So langsam setzte mein Gehirn sich wieder in Gang. »Vernichten!«
Ein großer schwarzer, pelziger Schatten stürzte an mir vorbei auf den Dämon zu, der mit einem Angriff nicht gerechnet hatte. Er fiel nach hinten, zog aber dabei sofort sein Schwert aus der Scheide. Ich trat ihm so fest auf die Hand, dass er vor Schmerz aufschrie, und Jim nutzte die Gelegenheit und biss ihn in den anderen Arm. Ich ergriff das Schwert und wollte in die Schattenwelt fliehen, aber Zorndämonen sind nicht so leicht zu überwältigen. Er stieß ein paar Worte hervor, und schon wimmelte es am Boden von hässlichen Wut-Imps, deren Körper von ätzender Säure überzogen waren.
»Geh!«, brüllte Jim und stürzte sich erneut auf den Dämon und die Kobolde.
Ich erwiderte nichts, sondern wirbelte herum und verließ diese Welt, um mitsamt dem Schwert in die Schattenwelt zu fliehen. Dort rannte ich so lange, bis ich sicher war, dass er mich nicht mehr sehen konnte.
Sofort fielen mir zwei Dinge auf: Gabriel war da, und er hatte vollkommen recht gehabt - es war noch ein anderer Drache da.
Der Mann, den ich mittlerweile ebenfalls für Baltic hielt, stand am Ende des verzerrten Schattenbilds von Baels Palastgang. Er drehte sich um, als ich die Schattenwelt betrat, und Gier und Ungläubigkeit zeichneten sich bei meinem Anblick auf seinem Gesicht ab.
»Du!«, sagte er und schnüffelte. »Du trägst das Stück Drachenherz?«
Er kam durch den Gang auf mich zu.
»May!«, schrie Gabriel; ich sah ihn zwar nicht, fühlte aber, dass er da war. »Was tust du da? Geh sofort wieder!«
Ich drehte mich auf dem Absatz um und rannte davon, ohne abzuwarten, was Baltic vorhatte. »Ich kann nicht!«, schrie ich Gabriel zu, während ich mir durch Trümmer und Schutt einen Weg suchte. Dieser Teil von Baels Palast schien in der Schattenwelt eine Ruine zu sein, was es besonders schwierig machte, sich zurechtzufinden. »Bael weiß von dem Rückruf. Er hat Magoth hinausgeworfen, was bedeutet, dass ich keinen Status mehr habe.«
Gabriel fluchte und wütete, weil er mir nicht helfen konnte. Ich sprang über eine umgestürzte Säule und kauerte mich in die tintenschwarze Finsternis dahinter. Ich hielt den Atem an, als ein Schatten vorbei rannte und mich dabei kurz berührte.
»May? May!«
Ich wartete, bis der Drache ein ganzes Stück weitergelaufen war, bevor ich aus meinem Versteck auftauchte und leise dorthin zurückeilte, wo ich hergekommen war. Ich vermutete, dass er es zwar hören konnte, wenn Gabriel und ich miteinander redeten, aber es hallte so, dass es schwer war, den Standort des Sprechenden zu lokalisieren.
»May, antworte mir!«, brüllte Gabriel wütend.
»Ich bin hier. Ich suche einen Weg hinaus«, antwortete ich.
»Mach dir keine Sorgen um mich, Gabriel. Das ist meine Welt. Ich kenne mich hier aus.«
»Gabriel«, rief eine Männerstimme, bedrohlich nahe. Ich wirbelte herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung.
»Gabriel... Tauhou? Wyvern der silbernen Drachen.«
Gabriel stieß etwas in der Sprache hervor, die ich als Zilant erkannte, die Sprache, in der sich die Drachen lange vor dem Englischen verständigt hatten.
Die Stimme lachte leise. Sie schien von überall her zu kommen. » Und das ist deine Gefährtin? Wie hast du den Fluch denn umgangen? Aber es spielt auch keine Rolle. Sie gehört sowieso nicht mehr dir.«
Ein wortloses Brüllen war die Antwort, nicht aus Schmerz, sondern aus reiner Wut. Ich hielt eine Sekunde lang inne, erschreckt über die Tiefe seiner Emotionen.
»Such dir ein anderes Versteck«, schrie Gabriel plötzlich. »Ich werde dich finden, mein kleiner Vogel. Versteck dich und warte auf mich.«
Ich hätte ihn am liebsten darauf hingewiesen, dass er nicht viel für mich tun konnte, da er in dieser Welt keine physische Präsenz besaß, aber es hatte keinen Sinn. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung und rannte in der Schattenversion von Baels Palast hin und her, um einen Ort zu suchen, an dem ich mich vor dem mysteriösen Drachen verstecken oder einen Durchgang zur realen Welt finden konnte.
Die Zeit verschwamm um mich herum. Es war schon schwer genug, im realen Palast einen Ausgang zu finden, aber hier in der Schattenwelt, wo der Stoff des Seins verzerrt war, war es ein einziger Albtraum von endlosen dunklen Gängen, die nirgendwohin führten, Gräben, die sich plötzlich öffneten, zerborstenen Säulen und verbogenem schwarzem Metall, das mich zum Stolpern brachte. Schließlich verkündete ein schwaches Licht in der Ferne, dass dort wohl ein Gang aus Abbadon herausführte. Einen Moment lang blieb ich stehen, um nach Luft zu ringen, dann lief ich darauf zu. Die Hand, mit der ich das Dämonenschwert umfasst hielt, war steif und schmerzte. Ich bewegte die Finger, damit sie wieder durchblutet wurden, und lauschte aufmerksam in die Dunkelheit. In der letzten Viertelstunde hatte ich nichts von dem geheimnisvollen Drachen gehört. Vielleicht war ich ihm ja entwischt. Ich blickte auf das verheißungsvolle Licht und überlegte, ob ich hinlaufen oder mich lieber verstecken und auf Gabriel warten sollte. Aber dann schüttelte ich entschlossen den Kopf.
»Ich habe keine Zeit«, sagte ich mir. »Selbst wenn jemand in die Schattenwelt gelangen würde, um mir zu helfen, würde derjenige viel zu lange brauchen, um mich zu finden. Ich muss aus Abbadon heraus.«
»Da stimme ich dir zu. Abbadon ist kein Ort für dich«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich packte das Schwert fester und wirbelte herum. Der Mann tauchte aus dem Schatten einer halb eingestürzten Mauer auf. Er blickte auf die Waffe und zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Du hast nichts von mir zu befürchten, Gefährtin.«
»Ich werde nicht auf diese lächerliche Erklärung eingehen«, sagte ich. Ich hielt das Schwert mit beiden Händen, sodass die Spitze genau auf sein Herz zielte. Drachen mögen schwer zu töten sein, deswegen laufen sie aber noch lange nicht geradewegs in gezückte Schwerter. »Ich warne dich, ich lasse mich Gabriel nicht einfach so wegnehmen. Und ich lasse auch nicht zu, dass du das Stück Drachenherz entwendest.«
Der Drache ignorierte meine Worte und umkreiste mich, wobei er mich von Kopf bis Fuß musterte. Ich vollzog die Drehung mit. »Du bist nicht so elegant, wie meine Gefährtin es war.« Ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
»Andererseits würde es sicher Spaß machen, erneut die Gefährtin eines silbernen Drachen zu nehmen.«
»Ich bin nicht Ysolde«, erwiderte ich. » Und Gabriel ist nicht Constantine Norka.«
Er sprang auf mich zu und knurrte etwas, das ich nicht verstand. Ich schlug mit dem Schwert nach ihm. Überrascht stellte ich fest, dass sich in der Luft ein Schwert aus blauem Licht bildete. »Glaub bloß nicht, dass du mehr bist als nur ein jämmerlicher Abklatsch von ihr, auch wenn ich dich zur Gefährtin nehme. Du bist nur ein Weibchen, Mittel zum Zweck, ein niederer Drache.«
»Ich bin kein Drache«, grollte ich.
Er blickte auf meine Hände. Meine Finger waren lang, bedeckt mit silbernen Schuppen und mit roten Krallen versehen.
»Normalerweise nicht«, fügte ich hinzu und bewegte mich leicht zur Seite. Wenn ich an ihm vorbeikäme, könnte ich zu der Stelle rennen, die wahrscheinlich ein Ausgang war.
Das Lichtschwert blitzte direkt vor mir auf, und ich durchschlug den Lichtbogen mit meinem Schwert, wobei ich mich für den unvermeidlichen Gegenschlag wappnete. Ich beherrschte den Schwertkampf, da ich auf Magoths Anordnung Fechtstunden genommen hatte, aber es war natürlich etwas ganz anderes, gegen einen irren Drachen zu kämpfen, der allem Anschein nach magische Kräfte besaß. Als mein Schwert gegen seines schlug, sank ich auf die Knie, und Funken sprühten von den Klingen. Ich wehrte mich nach Kräften, aber Baltic - und ich hatte keinen Zweifel, dass der Drache vor mir selbiger war - stand über mir und blickte mich aus dunklen, unergründlichen Augen an.
»Wenn du mich tötest, zerstörst du das Stück Drachenherz«, sagte ich ihm zur Warnung. Meine Muskeln brannten, als ich mich gegen das Lichtschwert wehrte.
»Niemand wird mich davon abhalten, es aus deiner Leiche herauszuholen«, erwiderte er. Sein Schwert tanzte in der Luft und senkte sich auf mich herab.
Ich rollte mich weg und wollte aufspringen, aber in diesem Moment schlug mir Baltics Schwert mein eigenes aus den Händen. Entsetzt sah ich zu, wie es durch die Luft flog. Einen Moment lang schwebte es über mir, und dann begann es in einem anmutigen Bogen herabzusinken. Meine Hoffnung schwand. Was blieb, war nur noch dumpfe Verzweiflung. Kurz bevor mein Schwert auf die Erde aufschlug, zerriss ein Schatten das Gewebe zwischen den beiden Welten. Eine Frau erschien. Sie hielt einen Stab aus reinem Gold in der Hand. Als sie damit auf den Boden stieß, flog das Schwert des Dämons wieder zurück, und ich prallte gegen die Wand.
Die Frau blickte mich einen Moment lang stumm an. Sie sah prächtig aus, umgeben von einer Corona aus goldenem Licht.
Dann löste sie sich in nichts auf. Durch den goldenen Staub, den sie hinterließ, blitzte eine Gestalt auf. Sie flog durch die Luft und fiel zu Boden, nur um mit dem Schwert des Dämons in der Hand wieder aufzuspringen.
»Gabriel«, sagte ich erstaunt.
Baltic erstarrte einen Moment lang, seinen Blick fest auf mich gerichtet, und eine Sekunde lang fürchtete ich, er würde mich töten. Aber dann wandte er sich von mir ab und begrüßte Gabriel mit einem kleinen Schwertsalut.
»Ich vergaß, dass deine Mutter Schamanin ist«, sagte Baltic und blickte zu der Stelle, wo Kaawa gestanden hatte. »Es muss sie einiges gekostet haben, dich hierherzubringen.«
»Nicht so viel, wie es dich kosten wird«, sagte Gabriel und antwortete ebenfalls mit einem Salut. »Ich habe Gemälde von Baltic gesehen. Du siehst ihm nicht ähnlich.«
Der Drache lächelte nur. »Die äußere Erscheinung kann täuschen. Du hast vor, um deine Gefährtin zu kämpfen.«
Das war eine Feststellung, keine Frage.
»Sie gehört mir. Ich werde sie nicht gehen lassen«, erwiderte Gabriel.
Mein Herz war voll von Liebe und Angst. Nach dem Drachendogma konnte die Gefährtin eines Wyvern den Verlust ihres Drachen überleben, aber nicht umgekehrt. Wenn Baltic Gabriel tötete, würde ich den Schmerz nicht ertragen können. Ich würde zwar überleben, aber ich würde in der Schattenwelt bleiben, gebunden an eine Liebe, die ewig andauern würde. Das Drachenherz wehrte sich gegen eine so defätistische Einstellung, und dieses Mal begrüßte ich die Emotionen, mit denen es mich erfüllte. Ich zog meinen Dolch aus seiner Scheide an meinem Fußknöchel und schlich leise hinter Baltic.
»Du machst es mir so leicht«, sagte Baltic und schüttelte den Kopf. Dann schwang er sein Schwert in einem Bogen aus blauem Licht gegen Gabriel und zog ein kompliziertes Muster durch die Luft.
Meine Bewunderung für Gabriel wuchs, als er jeden Schlag von Baltics Lichtschwert parierte. Die beiden Männer bewegten sich in den Schatten in einem kraftvollen Tanz aus Licht und Dunkelheit. Baltics Schwert durchschnitt elegant die Luft, während das Dämonenschwert schwerfälliger und langsamer wirkte, aber nicht weniger tödlich war.
Ich suchte nach einer Lücke, in der ich angreifen konnte, aber dann sprang Baltic um einen geborstenen Marmorpfeiler herum und schlug mit dem Schwert nach Gabriel. Eine Blutfontäne spritzte auf, und Gabriel fiel ächzend zu Boden. Als er sich erhob, war sein Hemd blutdurchtränkt, und sein linker Arm hing kraftlos herab. Einen Moment lang sah ich nur den blanken Knochen und die Sehnen, die freilagen, weil Baltic Gabriel fast den Arm abgeschlagen hatte, und dann nahm mir der rote Sprühregen die Sicht.
»May!«, schrie Gabriel. »Lauf weg! Bring dich in Sicherheit!«
Ein schrecklicher Laut erfüllte die Schattenwelt, halb Brüllen, halb Schlachtruf. Feuer stieg in meinem Körper auf, und ich registrierte geistesabwesend, dass der Wutschrei aus mir gekommen war. Mein Körper verwandelte sich, und feine Silberschuppen zogen sich über meine Gliedmaßen. Ich konnte Gabriels Blut schmecken, hörte sein keuchendes Atmen, als er Baltics Attacken abwehrte und dabei versuchte, ihn langsam von mir wegzulocken, um mich zu retten.
»May, du musst weglaufen!«, schrie Gabriel erneut. »Wenn du dich komplett verwandelst, weiß ich nicht, ob du zurückkommen kannst.«
Niemand überlebt es, wenn er meinem Gefährten etwas zuleide tut. Ich stürzte mich auf Baltic, mit meinen blutroten Krallen und dem rasiermesserscharfen Schwanz, nur von dem einen Gedanken beherrscht, den Drachen zu vernichten, der meinen Gefährten verletzt hatte. Der Boden begann zu brennen. Baltic schrie vor Schmerz, und sein Körper verwandelte sich sofort in einen Drachen... aber er war weiß, nicht schwarz.
Seine Augen jedoch waren dunkel und bedrohlich, erfüllt von einem Wissen, das älter war als dieser älteste aller Drachen selbst. Sein Körper zuckte, und dann flog ich durch die Luft und krachte mit dem Rücken gegen einen halb eingestürzten Bogen.
Benommen blieb ich einen Moment lang liegen und beobachtete, wie auch Gabriel Drachengestalt annahm. Die Drachen kämpften immer noch mit Schwertern. Gabriels linker Arm hing nutzlos herab, aber aus seiner Kehle drang ein Brüllen, das mehr als Rache versprach. Er trieb das Schwert des Dämons tief in die Brust des weißen Drachen, sodass Baltic wieder menschliche Gestalt annehmen musste. Er taumelte ein paar Schritte zurück, beide Hände auf dem Knauf des Dämonenschwertes. Auf seinem Gesicht lag ein erstaunter Ausdruck. »Ein Schattenschwert?«
Auch Gabriel wirkte einen Moment lang überrascht, aber als er wieder menschliche Gestalt angenommen hatte, griff er sofort nach dem Dolch, den ich fallen gelassen hatte und stürmte auf Baltic zu. Seine Augen brannten von einem Feuer so hell wie Quecksilber. »Sie... gehört... mir«, grollte er, und Baltic schüttelte verwundert den Kopf.
»Wie willst du das wissen? Es kann nicht sein, und doch ist dieses Schattenschwert real. Es ist noch nicht vorbei.«
Gabriel brüllte so laut, dass die Schattenwelt erschüttert wurde: »Sie gehört mir!«
Baltic schwieg, wich einfach zurück in die Schatten und verschwand. Gabriel stand einen Moment keuchend da. Es musste ihn ungeheure Anstrengung kosten, bei Bewusstsein zu bleiben. Dann wandte er sich mir zu.
»Mein Vögelchen«, sagte er und sank auf die Knie.
Ich kroch zu ihm, wobei mir auffiel, dass meine Hände keine silbernen Klauen mehr waren.
»Er wird zurückkommen«, keuchte Gabriel. »Wir müssen hier heraus.«
Er hielt sein linkes Handgelenk mit der rechten Hand fest und zog es dicht an seinen Körper, damit es nicht ganz abfiel. Ich biss die Zähne zusammen, als ich die tiefe Wunde an seiner Schulter sah, und riss meine Bluse in Streifen, um seinen Arm an seinem Oberkörper festzubinden. Ein Schmerzenslaut entwich seiner Kehle. »Wir müssen aufbrechen, Gefährtin.«
»Ja, das tun wir«, sagte ich und hielt ihn in meinen Armen, als er vom Blutverlust bewusstlos wurde. Ich zog ihn fest an mich und weinte heiße, stumme Tränen.