Molinaseca

 

„Es gibt ein ehernes Gesetz für alle Hospitaleros — männlich wie weiblich — und das lautet: sich niemals mit Pilgern einlassen“, sagte Alfredo eines Tages streng. Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt schon eine Weile in Molinaseca und kannte ihn längst gut genug, um trotz der ernsten Miene das Zwinkern in seinen Augenwinkeln zu bemerken. Wir waren gerade dabei, die Albergue sauber zu machen, eine Aufgabe, bei der Alfredo unbedingt auf Arbeitsteilung bestand.

„Die freiwilligen Hospitaleros dürfen nicht als billige Putzkräfte missbraucht werden“, lautete seine Maxime, die er mir gleich zu Beginn meines Einsatzes mitgeteilt hatte. „Nach meinem Verständnis sind auch sie Pilger, obschon auf eine andere Art. Deshalb sollten sie in ihrer Hospitalero-Zeit mehr vom Camino haben als nur sauber machen.“

Eine sympathische Einstellung, fand ich, und so erledigten wir die Arbeit gemeinsam, wobei Alfredo netterweise den unangenehmsten Job, das Putzen der Toiletten und Duschen, für sich beanspruchte. Der Schlafsaal im Obergeschoss war mein Bereich, den Aufenthaltsraum unten teilten wir uns, und während wir aufeinander zuputzten, nutzten wir gern die Gelegenheit, dies und das zu besprechen.

Der Anlass für Alfredos Verweis auf das so genannte eherne Gesetz für Hospitaleros hieß Ricardo.

Ich hatte ihn bereits in Azofra kennen gelernt, wo er eines Abends im Türrahmen stand: ein überaus gut aussehender Mann mit attraktiven Silberfäden in den langen dunklen Locken, richtige Größe, richtiges Alter und dazu auch noch Brasilianer. Damit es nicht zu viel des Guten wurde, war er allerdings kein Großgrundbesitzer, aber darüber ließ sich ja großzügig hinwegsehen. Vom brasilianischen Hospitalero der Albergue in Ventosa war uns telefonisch ein Landsmann angekündigt und beschrieben worden, weshalb ich ihn „Hallo, du musst Ricardo sein.“ begrüßte.

„Wie kommst du denn darauf?“, wunderte er sich.

„Du siehst einfach so aus.“

Er lachte, ich auch, wir sahen uns an und wussten, dass jeder dem anderen mehr als sympathisch war. Später lud Ricardo mich zum Essen bei Begoña ein und beschied Rolands obligatorische Frage „Hast du Latifundien in Brasilien?“ schlagfertig mit „Aber selbstverständlich.“

Bis weit nach Mitternacht hatten wir zusammengesessen, erzählt und eine Reihe von Gemeinsamkeiten entdeckt. Ricardo war Journalist wie ich, aß ebenfalls vegetarisch, und interessierte sich, genau wie ich, sehr für Spiritualität, hatte eine Menge Bücher gelesen, die ich zum Teil auch kannte. Allerdings — und das war der springende Punkt — er war nicht wie mein brasilianischer Phantasie-Latifundista verwitwet, sondern überaus verheiratet und zwar glücklich. Sagte er zumindest — was ihn aber keineswegs daran hinderte, mir Avancen zu machen.

Wie auch immer, in Azofra war es jedenfalls bei einem heftigen, jugendfreien Flirt geblieben, mit Küsschen rechts und links zum Abschied — und der Perspektive, dass wir uns vielleicht in Molinaseca wiedersähen.

Seine Ankunft dort gestaltete er wie einen Bühnenauftritt. Schon Tage vorher ließ er mir von anderen Pilgern Grüße ausrichten und sagen, dass er bald käme. Als er dann eines Abends vor mir stand — sonnenbrauner als vorher, ein bisschen verwilderter, was ihm gut stand — tat er allerdings, als müsse sein Erscheinen etwas unglaublich Überraschendes für mich sein und als sei er seinerseits völlig unschlüssig, ob er diese Nacht überhaupt in Molinaseca bleiben wollte. Alles pures Theater, natürlich blieb er da. Wir gingen zusammen essen und nachdem der letzte Teller abgetragen war, senkte Ricardo seine Hand in mein Haar, zog meinen Kopf zu sich und küsste mich, dass mir hören und sehen verging. „Ich möchte Liebe mit dir machen“, murmelte er zwischen zwei atemlosen Küssen.

„Aber nicht in diesem Restaurant!“, suchte ich Zeit zu gewinnen.

„Unter dem Tisch vielleicht?“, spielte er amüsiert den Ball zurück.

Er küsste mich weiter und wilder — wahrscheinlich würde ich mich in diesem Lokal nie mehr blicken lassen können. Irgendwie schafften wir es, einigermaßen gesetzt auf die Straße zu gelangen und auf dem durch leidenschaftliche Küsse in endlose Länge gezogenen Heimweg, eröffnete ich ihm, dass er sich das Liebe machen aus dem Kopf schlagen könne.

„Es gibt zwei Möglichkeiten, wie das Ganze sein könnte“, setzte ich ihm unglaublich vernünftig auseinander. „Entweder wäre es ganz toll und dann würde ich furchtbar leiden und an unerfüllter Sehnsucht ersticken, wenn du zu deiner Frau nach Brasilien zurückgehst. Und dass du das tust, ist ja wohl klar. Die andere Möglichkeit ist, dass es überhaupt nicht toll wäre — und dann können wir es von vorneherein sein lassen.“

„Also, nach meiner Meinung wäre es ganz toll“, meinte Ricardo, konsterniert von so viel deutsch-nüchterner Negativ-Logik. „Eben“, setzte ich noch eines drauf, „und darum machen wir es auch nicht.“

Um ehrlich zu sein, bin ich keine dermaßen fromme Helene, dass mich allein Ricardos Familienstand von einer Liebesnacht abgehalten hätte. Es kam aber noch das schwerwiegende Problem hinzu, wo sie denn stattfinden sollte — diese Nacht.

In Molinaseca hatte ich, anders als in Azofra, kein eigenes Hospitalera-Zimmer, sondern schlief in einem Stockbett im Pilgerschlafsaal. Sollten wir uns etwa allen Ernstes in meinem oder seinem knarzenden Bett einander widmen, umgeben von schnarchenden Pilgern, und unsererseits bemüht, niemanden durch Lustseufzer zu wecken? Als Alternative hätten wir in eines der zugigen, schmuddeligen Zelte neben der Herberge ausweichen können, die als Notquartiere dienten und die in dieser kalten, regnerischen Nacht wohlweislich leer geblieben waren.

Auf die Idee, ein Pensionszimmer im Ort zu nehmen, kam Ricardo nicht — ganz abgesehen davon, dass wir zu dieser späten Stunde vermutlich ohnehin keines mehr gefunden hätten. Also begab sich nach einem kleinen Geplänkel vor der Herberge jeder in sein eigenes Bett — ich mit Überzeugung, er mit Frust und am nächsten Morgen verabschiedete sich Ricardo nicht gerade herzlich von mir.

Verdrießlich schloss ich, nachdem alle Pilger weg waren, die Herberge zu und ging einen Kaffee trinken. Das hatte ich jetzt davon und eigentlich geschah es mir ganz recht. Ich war ja nicht Hospitalera geworden, um einen passenden Mann zu treffen, sondern um den Camino von anderer Warte aus kennen zu lernen und seine Magie näher zu ergründen. Aber wenn ich trotzdem im Vorfeld meines Einsatzes alberne Szenarien entwarf, wie ich einem tollen Brasilianer begegnete, dann brauchte ich mich nicht zu wundern, wenn ich das tatsächlich tat. Auf dem Camino passieren seltsame Dinge und ein guter Freund mit großem spirituellem Wissen hatte mich schon vor Jahren gewarnt: „Sei vorsichtig mit dem, was du dir vorstellst — es könnte wahr werden.“

Bloß dass in diesem speziellen Fall die Rahmenbedingungen halt keineswegs so toll waren wie in meiner Phantasie. Zu allem Überfluss bemerkte die Kellnerin in der Cafeteria nun auch noch spitz: „Na, der Junge gestern Abend war ja wohl schwer verliebt, was?“

In diesem Ort blieb wirklich nichts verborgen.

„Stimmt“, bestätigte Alfredo, nachdem ich ihn vage über meine unvollendete Ricardo-Affäre inklusive Reaktion der Kellnerin in Kenntnis gesetzt hatte, bevor er das Ganze von anderer Seite erfuhr.

Er hatte daraufhin wie gesagt das eherne Hospitalero-Gesetz zitiert und, als er mein geknicktes Gesicht sah, mit einem Seufzer begütigend hinzugefügt: „Die Brasilianer sind eine Gefahr für den Camino.“

„Warum das denn?“

„Sie sind so heiter und liebenswert, aber sie leben vollkommen im Heute und machen sich keine Gedanken darüber, welche Folgen ihre Handlungen für das Morgen haben könnten.“

In Bezug auf Ricardo stimmte das sicher und Alfredo hatte ebenfalls entsprechende Erfahrungen. So habe einmal eine bildschöne Brasilianerin, eine echte Versuchung, wie er sagte, unbedingt etwas mit ihm anfangen wollen.

„Ich erklärte ihr, das ginge nicht, schließlich sei ich verheiratet, hätte Verantwortung, müsste an die Zukunft denken und lebte in diesem kleinen Ort, wo alles sofort öffentlich würde.“ Alfredo zuckte die Achseln. „Sie verstand das nicht. Aber jetzt könnten wir doch Spaß haben, hat sie immer wieder gesagt.“ Ich konnte das Ansinnen jener Brasilianerin durchaus nachvollziehen. Alfredo war ein gut aussehender Mann um vierzig, groß, dunkelhaarig mit gepflegtem kurzem Bart, ein lässiger humorvoller Typ — kein Wunder, dass die Camino-Tratsch-Trommeln postulierten, er sei kein Kostverächter, wofür ich allerdings während meiner Zeit in Molinaseca keinerlei Bestätigung fand.

„Natürlich kann es vorkommen, dass man sich in einen Pilger in der Herberge verliebt“, befand Alfredo abschließend zu potentiellen Versuchungen, denen ich noch ausgesetzt sein könnte. „Du bist eine erwachsene Frau und ich mache dir selbstverständlich keine Vorschriften. Aber als Hospitalero oder Hospitalera muss man, bei allem was man tut, immer auch den Ruf der Herberge im Auge haben. Und wie gesagt — Molina ist klein.“

Mit rund 700 Einwohnern ist Molinaseca oder Molina, wie es die Einheimischen nennen, zwar gut doppelt so groß wie Azofra. Aber hier wie dort kennt jeder jeden und fast alle im Ort sind verwandt oder verschwägert. Spätestens nach drei Tragen war ich ebenfalls bekannt wie ein bunter Hund im Ort, was auch daran lag, dass Alfredo mich an meinem ersten Abend auf einen Zug durch die Gemeinde mitgenommen und überall vorgestellt hatte. Bei dieser Gelegenheit hatte er mir gleich gezeigt, wo ich frühstücken, mittag- und abendessen könnte.

Ich würde für die nächsten vierzehn Tage als Hospitalera in der Herberge arbeiten, erklärte er in den jeweiligen Lokalen. Deshalb bräuchte ich für meine Verköstigung nichts zu bezahlen, die Rechnung solle an ihn gehen und er würde das über die Gemeinde ausgleichen.

Diese Regelung fand ich sehr praktisch, ließ sie mir doch die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann, wo und was — und mit wem ich essen wollte.

Molinaseca liegt im Bierzo, einer für ihren Weinbau und ihre Agrarprodukte bekannten Region im Westen der Provinz Kastilien-León. Die Pilger erreichen den Ort nach einer anstrengenden, langen Wanderung über die einsamen Montes de León, die Leóneser Berge, eine Etappe, die mit einem steilen Abstieg endet, sodass viele keine Lust mehr haben, noch weiter zu gehen. Außerdem lohnt es sich, in Molinaseca zu bleiben, einem Bilderbuchörtchen mit schönen alten Herrenhäusern und romantischem Flair, malerisch am Fluss Meruelo gelegen, der im Sommer zu einem Naturschwimmbad aufgestaut wird — eine Art spanisches Rothenburg ob der Tauber. Doch der verträumte Eindruck, den man beim Betreten des Ortes über die romanische Steinbrücke haben mag, täuscht, in Molina kann es sehr lebhaft zugehen.

Wie in Azofra gab es hier zwei Tante-Emma-Läden und eine Apotheke, dazu aber etwa ein halbes Dutzend Gasthöfe und Casas Rurales, ländliche Frühstückspensionen, ein halbes Dutzend Restaurants — und vor allem rund dreißig Bars. Letztere waren oft nicht mehr als ein Kellergewölbe mit einfachem Tresen, an dem Bierzo-Wein ausgeschenkt wird, und sie hatten nur am Wochenende geöffnet. Aber gerade dann war Molina ein bevorzugtes Ausflugsziel vor allem von jungen Leuten aus der näheren und weiteren Umgebung — ab Freitagabend steppte in den engen Gassen von Molina sozusagen der Bär.

Etwa einen halben Kilometer außerhalb des Ortes an der Straße nach Ponferrada lag Molinasecas Pilgerherberge, eingerichtet in einer ehemaligen Eremitage, einer Wallfahrtskirche. Der Umbau für die neue Nutzung wurde seinerzeit recht geschickt vorgenommen, sodass der Charakter des Gebäudes erhalten blieb.

Breite Steinstufen, auf denen früher die Gläubigen während der Messe saßen, führten hinab in den Aufenthaltsraum der Herberge mit Kochstelle, Esstischen und einem großen Kamin in der Mitte. Am Ende des Raumes lagen die Duschen und Toiletten, jeweils separat für Männer und Frauen, im Gang dazwischen befanden sich Münzwaschmaschine und — trockner.

Der Schlafsaal auf einer eigens dafür eingezogenen hölzernen Zwischendecke wurde über zwei Treppen erreicht und hatte Betten für 26 Pilger. Weitere vier konnten bequem auf Matratzen unten im Aufenthaltsraum schlafen. In Notfällen wurden dort zuweilen noch mehr Matratzen ausgelegt, was dann aber ausgesprochen eng und unbequem für alle Beteiligten war.

Türen gab es in dieser Albergue nur vor den Waschräumen — ansonsten war alles offen. Das bewirkte einerseits eine besondere Atmosphäre von Gemeinschaftlichkeit, bot andererseits aber keinerlei Möglichkeit zum Rückzug. Ein Mangel an Intimsphäre, der mir als Hospitalera bald schwer zu schaffen machte, denn ich hatte wie gesagt kein eigenes Zimmer. „Ach, das geht schon in Ordnung“, meinte ich blauäugig, als Alfredo mich bei meinem Vorstellungstelefonat auf diese Besonderheit der Herberge hinwies. Schließlich hatte ich während meiner Pilgerreise fast ausnahmslos in Herbergsschlafsälen übernachtet und war gut damit klargekommen. Doch es macht einen großen Unterschied, ob man unterwegs ist oder fest an einem Ort bleibt. Als Pilgerin ging ich tagsüber weite Strecken allein und hatte abends Lust auf Gesellschaft. Außerdem war ich vom Wandern so müde, dass es mir wenig ausmachte, wenn andere im Schlafsaal schnarchten. Als Hospitalera hingegen war ich den lieben langen Tag so gut wie nie allein, immer ansprechbar, immer verfügbar, und eben davon müde — was etwas anderes ist als die Erschöpfung durch körperliche Anstrengung. Es ging mir bald an die Substanz, dass ich keine Möglichkeit hatte, am Ende des Tages eine Türe hinter mir zu schließen und alles draußen zu lassen. Außerdem störte es mich, dass ich — obwohl nicht unterwegs — aus dem Rucksack leben musste, meine Sachen nicht auspacken und ausbreiten konnte.

Vor allem wurde ich zunehmend empfindlicher gegen die diversen Geräusche im Schlafsaal. Schon in meiner ersten Nacht in Molina bekam ich einen Vorgeschmack auf das, womit ich in den beiden Wochen dort würde klarkommen müssen.

Ein Trupp Franzosen schaltete noch vor vier Uhr morgens sämtliche Lichter an, marschierte in Wanderstiefeln mit festen Tritten hin und her, diskutierte und packte zusammen. Besonders nervig fand ich dabei dieses typische Herbergsgeräusch — das raschelnde Knistern von Plastiktüten, mit denen Pilger den Inhalt ihrer Rucksäcke übersichtlicher zu gestalten suchen. Als die Franzosen endlich loszogen, waren alle übrigen wach und machten sich ihrererseits fertig. Ich zog mir die Decke über den Kopf — sinnlos, es nützte nichts. Generell war morgens spätestens ab sechs Uhr an schlafen nicht mehr zu denken. Also stand ich früher auf, als ich eigentlich wollte, begab mich zerknittert und zerschlagen nach unten. Dort wurde ich für gewöhnlich nicht mit „Guten Morgen“, sondern mit dem in mehreren Sprachen hervorgebrachten Vorwurf: „Es ist kein Klopapier mehr da“, begrüßt. Das waren die Momente, in denen ich sie alle hätte erschlagen können, aber zum Glück ging es nach diesem Tiefpunkt des Tages meist nur noch aufwärts.

Franzosen scheinen übrigens eine besondere Vorliebe dafür zu haben, sich schon vor dem Morgengrauen auf den Camino zu begeben.

„Hay Franceses — sind Franzosen da?“, fragte Alfredo deshalb gern, wenn er später wieder kam. „Nein? Glück für dich, dann hast du eine ruhige Nacht.“

Sofern nicht irgendwelche ehrgeizigen Spanier, Deutsche, manchmal auch Italiener und Brasilianer auf die Idee kamen, ganz früh aufzustehen. Nach einer Woche verstand ich jedenfalls, wieso permanenter Schlafentzug als Foltermethode gilt, und als der erste Pilger, den ich aus Azofra kannte, vorbeikam, meinte er: „Du siehst aber müde aus.“

Ach je, dachte ich, wo ich mich schon in Azofra oft ziemlich erschöpft gefühlt habe, sehe ich jetzt vermutlich aus wie ein Wrack.

Dennoch habe ich es keinen Tag bereut, nach Molinaseca gegangen zu sein — im Gegenteil, es war eine Erfahrung, die ich auf keinen Fall missen möchte.

Meine Arbeit als Hospitalera dort unterschied sich deutlich von der in Rolands „Fuente“ und das lag nur zum Teil daran, dass die Herberge kommunal und nicht privat und außerdem größer war. Es lag vor allem an Alfredo und daran, wie er mir viel Eigeninitiative und Verantwortung ließ. Seit Jahren war er neben seiner Arbeit in der Gemeindeverwaltung als hauptamtlicher Hospitalero für die Herberge zuständig und hatte in dieser Zeit unzählige Pilger betreut und viele freiwillige Helfer eingewiesen, dadurch genaue Menschenkenntnis und große Gelassenheit gewonnen. Er sah die Dinge mit Abstand und nahm es locker, wenn Pilger — was bemerkenswert sehen vorkam — sich unbotmäßig benahmen. Anders als Roland, der verständlicherweise, denn schließlich war seine Herberge zugleich sein Heim, alles genau unter Kontrolle haben wollte, führte Alfredo die Albergue und die wechselnden Gast-Hospitaleros sozusagen am langen Zügel. Er hatte nichts dagegen, dass ich der Herberge während meiner Hospitalera-Zeit meinen persönlichen Stempel aufdrückte, zunächst vor allem mit Kleinigkeiten. Ich stellte Blumen von den nahen Wiesen im Aufenthaltsraum auf, aromatisierte den Schlafsaal nach dem Putzen mit Räucherstäbchen und hielt frisches Wasser für besonders erschöpfte Pilger bereit.

Meine tägliche Routine verlief ebenfalls anders als in Azofra. Dort hatte ich gemütlich bis halb acht schlafen können, hatte in aller Ruhe gefrühstückt und war dann gemächlich mein Tagwerk angegangen.

Hier war nichts mit gemütlich und gemächlich. Fast immer sehr früh geweckt, braute ich mir einen Pulverkaffee, um wenigstens halbwegs wach zu werden, und sah zu, dass möglichst bis acht Uhr alle Pilger draußen waren. Dann begann ich, den Schafsaal herzurichten. Von Azofra auf deutsche Pingeligkeit getrimmt, musste ich mich erst daran gewöhnen, dass die Laken hier nur in größeren Zeitabständen gewechselt wurden.

„Das machen wir insgesamt, wenn wir einen besonders sonnigen Tag haben. Dann können wir sie alle waschen und sie sind trocken, bis die Pilger kommen“, dämpfte Alfredo gleich zu Anfang meinen diesbezüglichen Eifer.

Also — Laken nur glatt ziehen, Kissen aufschütteln, trotzdem fanden die Pilger die Albergue sauber und gepflegt, was meine Theorie vom „Auswildern“ wieder einmal bestätigte. Molinaseca liegt im letzten Drittel des Jakobsweges. Wer hier ankommt, hat — sofern er nicht später in den Camino eingestiegen ist — bereits rund 500 Kilometer und an die zwei Dutzend Herbergen hinter sich, da nimmt man die Dinge nicht mehr so genau.

Nach dem Saubermachen, wobei Alfredo wie gesagt einen Gutteil übernahm, fuhren wir entweder zusammen nach Ponferrada, um das stets rasend schnell aufgebrauchte Toilettenpapier und andere Dinge für die Herberge einzukaufen — oder ich hatte frei. Meist war es dann schon gegen elf Uhr und damit blieben mir genau zwei Stunden als die einzige Zeit am Tag, die mir ganz allein gehörte. Für gewöhnlich setzte ich mich während dieser kostbaren zwei Stunden stillschweigend in eine Cafeteria und war für niemanden ansprechbar. Oder ich zog mich in die Herberge zurück, las, schrieb Tagebuch, hörte Musik aus dem Walkman und genoss es einfach nur, allein zu sein.

Um eins schloss ich die Herberge auf, stellte meinen kleinen Tisch mit dem Buch, in das ich — wesentlich genauer als in Azofra — die Daten der Pilger eintrug, vor die Tür und harrte der Menschen, die da kommen sollten. Meist brauchte ich nicht lange zu warten. Ich konnte die Pilger schon die Straße vom Ort herunter kommen sehen, entweder munter forschen Schritts oder schleppend mit letzter Kraft, und schätze danach im Voraus ein, ob sie lediglich einen Stempel haben und ins sechs Kilometer entfernte Ponferrada weitermarschieren wollten oder ob sie bleiben würden.

„Hola, que lengua hablasespañol, francés, inglés, alemán? Hallo, was sprichst du — spanisch, französisch, englisch, deutsch?“, lautete stets meine Begrüßungsfrage, um je nach Antwort in der entsprechenden Sprache weiterzureden. In der Regel bekam ich dafür sofort Sympathiepunkte von den Pilgern.

„Das ist ja wundervoll, hier können wir mit jemand in der Sprache unserer Vorfahren sprechen“, freute sich ein deutschbrasilianisches Ehepaar. Nils und Adriana wollten sich in der Heimat ihrer Väter, in Deutschland, eine Zukunft aufbauen und sahen den Camino als guten Auftakt, um im wahrsten Sinne des Wortes in Europa Fuß zu fassen. Außerdem waren sie noch nicht lange verheiratet, die Pilgerreise quasi ihre zweiten Flitterwochen.

„Warum sind eigentlich so viele Brasilianer auf dem Jakobsweg?“, wollte ich von den beiden wissen.

„Och, wir Brasilianer pilgern einfach gern“, erklärte Nils. „Man könnte es geradezu einen Volkssport nennen. Manchmal werden sogar ganze Autobahnteilstücke für Wallfahrten gesperrt.“

„Und wegen Paulo Coelho natürlich“, ergänzte Adriana, „sein Pilgertagebuch ist in Brasilien ein Bestseller.“

Nicht nur dort. Ich hatte das Buch ebenfalls gelesen als Einstimmung für meinen eigenen Pilgerweg und es anfangs als mystizistischen Quark abgetan. Nach meinem Camino las ich es noch einmal und sah es nun wesentlich differenzierter. Schließlich hatte ich selbst erfahren, wie der Jakobsweg den Blickwinkel auf das Leben und das eigene Bewusstsein ändern kann. Allerdings machte ich in Coelhos Buch beim zweiten Lesen eine Reihe geografischer Ungereimtheiten aus. Ohnehin herrschen bei altgedienten Hospitaleros Zweifel, ob der Autor den Camino tatsächlich selbst gegangen sei, bevor er sein so genanntes Pilgertagebuch schrieb.

„Keiner hat ihn je unterwegs gesehen“, meinte Alfredo dazu. „Shirley MacLaine schon, die ist hier vorbei gekommen.“ Nach dem Erfolg seines Buches war Paulo Coelho allerdings öfters am Camino erschienen — für Fernsehaufnahmen und Interviews.

Ob er den Weg wirklich gegangen ist oder nicht — im Grunde spielt es gar keine Rolle, denn der Wert von Coelhos Buch liegt nicht darin, ein routengenauer Wanderführer zu sein. Der Verdienst dieses angeblichen oder tatsächlichen Pilgertagebuches ist es vielmehr, zahllose Menschen dazu angeregt zu haben, sich selbst auf den „Weg der Erkenntnis“ zu machen. Es hat sie dazu inspiriert, in diesen Konsum- und Karriere-betonten Zeiten für ein paar Wochen all das hinter sich zu lassen, was angeblich so wichtig für unseren Alltag ist — um das Wesentliche zu suchen und den eigenen spirituellen Horizont zu erweitern.

 

Alfredo schätzte es sehr, dass ich in vier Sprachen kommunizieren konnte und holte mich gelegentlich, wenn er Pilger verarztete, zum Übersetzen hinzu. Für gewöhnlich kam er irgendwann im Laufe des Nachmittages wieder in die Albergue, um nach dem Rechten zu sehen und mich später an meinem Tischchen am Eingang abzulösen, damit ich essen gehen konnte.

Vor allem aber öffnete er die Bar, die in einem Anbau hinter der Herberge eingerichtet war. Dort gab es Bier vom Fass und andere Getränke, Eis und Tiefkühlpizza, was alles sehr guten Zuspruch bei den Pilgern fand, sparten sie sich damit doch den halben Kilometer zurück ins Dorf, um etwas zu essen und zu trinken zu bekommen.

Um die Albergue herum lief an drei Seiten ein breites Vordach. Auf der einen Seite standen darunter die schon erwähnten Notquartier-Zelte, auf der anderen kleine Tische mit Stühlen, an denen die Pilger gern saßen, lasen, Tagebuch schrieben, sich unterhielten, Brotzeit machten, frisch gezapftes Bier tranken oder ihre Füße in Essig-Salzwasser-Bädern kühlten. Die Etappe übers Gebirge, an deren Ende Molinaseca lag, hatte es in sich. Viele kamen mit dicken Blasen an den Füßen, Muskelkrämpfen oder, was am schlimmsten war, Sehnenentzündung in der Herberge an.

Das Behandeln dieser Patienten war Alfredos Beritt, obwohl ich ihm dabei so oft und so genau über die Schulter sah, dass ich es durchaus selbst hätte machen können — aber er war der Profi. Er hatte eine besondere Technik, die Flüssigkeit aus Blasen herauszuholen und diese anschließend zu desinfizieren, damit am nächsten Tag ein wenigstens halbwegs schmerzfreies Weitergehen möglich war. Außerdem hatte er in verschiedenen Kursen Spezialmassagen gelernt, konnte damit Muskeln lockern und sogar Sehnenentzündungen im Anfangsstadium lindern. Er leistete all diese Dienste wie selbstverständlich und ohne Aufhebens darum zu machen und ich bewunderte ihn dafür.

Ich bewunderte auch, dass er nie den Überblick verlor, egal was passierte, und ich mochte sein tranquila — bleib du mal ganz ruhig“, wenn ich in Hektik abzugleiten drohte, etwa weil jemand die Waschmaschine falsch bediente und dabei war, den halben Aufenthaltsraum unter Wasser zu setzen. Alfredo blieb auch gelassen, wenn zehn Pilger ungeduldig am Eingang scharrten und sämtliche Betten belegt schienen, obwohl das laut den fortlaufenden Nummern in unserem Datenbuch eigentlich nicht sein konnte. Er stieg dann in den Schlafsaal hinauf, zählte die Rucksäcke und fand schnell heraus, welche Betten nur scheinbar belegt waren, um sie für Nachzügler zu reservieren, was ja nicht zulässig war.

Alfredo kannte sämtliche Tricks der Pilger, wusste um alle Probleme, die sie haben könnten — schließlich ging er den Jakobsweg selbst jedes Jahr, wenn schon nicht in gesamter Länge, so doch in Teilstücken. Der Camino war seine Leidenschaft und deshalb hatte er in jenem Jahr eine private Albergue in Vega de Valcarce, etwa 50 Kilometer von Molina entfernt, eingerichtet. Dieses Dörfchen liegt in einem idyllischen Tal nahe dem Aufstieg zum Gebirgsort O Cebreiro, der letzten großen Steigung, die auf dem Weg nach Santiago zu überwinden ist.

Diese Herberge führte Alfredos Frau Christina, unterstützt von der deutschen Hospitalera Margit und im Sommer zusätzlich von los dos Micheles, Christinas Schwester und deren Mann, die lustigerweise beide Michel hießen.

„Margit ist klasse“, schwärmte Alfredo. „Sie hat das Ganze von Anfang an mit aufgebaut und ist sehr tüchtig. Zunächst konnte sie kaum spanisch, hat das aber in wenigen Wochen hervorragend gelernt. Sie spricht jetzt fließend und sie ist wirklich eine Super-Hospitalera, allerdings sehr deutsch“, fügte er mit einem Zwinkern hinzu, una cabeza cuadrada — ein Quadratkopf halt.“

Ich zwinkerte zurück, wohl wissend, dass er auch mich gelegentlich für quadratköpfig hielt, für zu genau und überkorrekt. Wenig später hatten die beiden cabezas cuadradas Gelegenheit, sich kennen zu lernen. Weil Christina einen Termin in Molinaseca wahrnehmen musste, wurde ich für einen Tag nach Vega ausgeliehen, fuhr mit Schwager Michel hinaus. Die Herberge lag am Eingang des Dorfes direkt neben dem Camino. Sie war in einem ehemaligen bäuerlichen Anwesen eingerichtet worden, im Erdgeschoss befand sich ein großer Ess- und Aufenthaltsraum mit offenem Kamin und einer Cafeteria-Theke. Oben gab es einen großen Schlafsaal, dazu einige kleine Mehrbettzimmer — und einen separaten Raum für die Hospitalera — beneidenswert. Ansonsten brauchte ich Margit allerdings nicht zu beneiden, denn es gab in dieser Albergue ungeheuer viel zu tun. Neben den üblichen Hospitalera-Arbeiten war hier zusätzlich die Cafeteria zu betreuen, in der viele Pilger gern eine Marschpause einlegten, um sich mit Café con leche, Milchkaffee, belegten Broten, Salat oder Omelett für den Weiterweg zu stärken. Michel stand in der Küche, wir hinterm Tresen und bedienten, nahmen nebenbei noch die Daten derjenigen Pilger, die bleiben wollten, auf und wiesen sie in ihre Zimmer ein.

Margit, eine hübsche Brünette in den Zwanzigern, ließ sich von alledem aber nicht stressen. Sie nahm sich die Zeit, auch mal länger mit Pilgern zu plaudern, wenn ihr das angebracht schien, schuf mit ihrer Freundlichkeit und Ruhe eine angenehme Atmosphäre um sich herum.

Am Spätnachmittag reisten Christina und Schwester Michel an — zur „Fütterung der Raubtiere“. Jeden Abend kochte Schwager Michel für die Pilger ein Menü, wir anderen deckten den Tisch, servierten, räumten hinterher alles wieder auf. Während rund dreißig Pilger an der langen Tafel saßen und aßen und dabei alle irgendwie mit ihren Tischnachbarn ins Gespräch kamen, hatten Margit und ich endlich Zeit zum Verschnaufen. Schwager Michel hatte uns eine besonders gute Flasche Rotwein zugesteckt, die genehmigten wir uns jetzt. „Auf uns freiwillige Hospitaleras und Hospitaleros“, hob Margit ihr Glas, „ohne uns würde auf dem Camino eine ganze Menge nicht funktionieren.“

„Ich finde es toll, wie du das hier machst“, prostete ich zurück, „mit der Cafeteria hast du zusätzlich noch den ganzen Durchgangsverkehr zu betreuen. Trotzdem schaffst du es, auf jeden einzugehen.“

„Man kriegt unheimlich viel zurück“, sagte Margit versonnen. „Deshalb macht man dann auch gerne weiter. Oft denke ich, ich bekomme mehr zurück, als ich gebe. Da kriegt man manchmal richtig Tränen in die Augen.“

Ich nickte und dachte an einen Vortrag des Dalai Lama, den ich vor längerer Zeit gehört hatte. „Wenn ihr schon selbstsüchtig sein wollt, dann seid es auf weise Art“, hatte der Dalai Lama gesagt und erläutert, dass man, wenn man sich um andere mit liebevoller Hinwendung kümmere, dadurch sehr viel mehr Glück erlangen würde, als man es je erfahren habe.

Wer also den (selbstsüchtigen) Wunsch habe, so glücklich wie möglich zu sein, müsse sich mit ganzem Herzen dem Wohlergehen von anderen widmen.

Na, na, da übertreibt er aber, hatte ich damals gedacht. Inzwischen wusste ich, dass Skepsis gegenüber der Weisheit des Dalai Lama völlig fehl am Platz ist, schließlich erfuhr ich das, was er theoretisch erläutert hatte, hier nun tagtäglich in meiner praktischen Arbeit.

„Warum bist du eigentlich Hospitalera?“, wurde ich gelegentlich gefragt. Vielleicht sollte ich, anstatt etwas von „den Camino von anderer Warte aus kennen lernen“ zu faseln, künftig antworten: „Aus Selbstsucht.“ Aber das würde vermutlich kaum jemand verstehen und außerdem wäre es mir ziemlich schwer gefallen zu erklären, warum es mir einfach ungeheuren Spaß machte, mich um alle zu kümmern. Ich verstand das ja selbst kaum.

Der Mangel an Privatsphäre in der Herberge von Molina hatte bei mir etwas Merkwürdiges bewirkt. Da ich mich nicht zurückziehen, nichts hinter mir zumachen konnte, begann ich, mich immer mehr zu öffnen — in einem Maße, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.

Zwar sah ich mich generell als freundlichen, umgänglichen Menschen, aber Zuhause in Deutschland wahrte ich stets einen gewissen Abstand. Das hing unter anderem wohl mit meinem Beruf zusammen; Journalisten sollten zu den Menschen und Fakten, über die sie berichteten, grundsätzlich nicht die innere Distanz verlieren, um objektiv bleiben zu können. Obwohl jeder ehrliche Journalist sich irgendwann eingestehen muss, dass es keine absolute Objektivität gibt, dass jede Betrachtung stets subjektiv gefärbt ist.

Hier nun aber wahrte ich keinerlei Distanz, hielt keinen Abstand, ging aus mir heraus und auf andere zu.

Was mache ich da? — dachte ich anfangs ein wenig über mich selbst erschrocken, wenn ich unter dem Vordach von Pilgertisch zu Pilgertisch schlenderte, allen freundlich zunickte, hier einen Arm drückte, dort die Hand auf eine Schulter legte wie weiland der Bürgermeister-Hospitalero in Larrasoaña — vermutlich ohnehin mein unbewusstes Vorbild — und fragte: „Na, alles in Ordnung?“

In Deutschland hätte ich nie wildfremde Menschen einfach angelangt und wenn, dann wären sie vermutlich etwas konsterniert gewesen. Hier hingegen lächelten die Pilger zurück, freuten sich über meine Zuwendung inklusive Körperkontakt, fühlten sich dadurch in der Herberge willkommen. Sie mochten es, wenn ich mich um sie kümmerte, fragten mich um Rat und Tipps für den weiteren Camino oder erzählten mir, was sie besonders beeindruckt hatte.

„Ich bin Floristin und freue mich natürlich sehr an den Pflanzen, die es hier gibt“, sagte mir eine Südafrikanerin, „und gerade jetzt diese Etappe übers Gebirge — da hatte ich das Gefühl, ich ginge durch einen magischen Garten.“

„Wie hast du eigentlich als Südafrikanerin vom Camino gehört?“, wollte ich wissen.

„Oh, durch das Buch von Shirley MacLaine. Ich hab es geradezu verschlungen und mir gesagt — den Weg muss ich auch mal gehen.“

Allmählich wunderte ich mich nicht mehr, von wie weither die Menschen zum Camino fanden, und auch nicht darüber, wie selbstverständlich manche das nahmen, was ihnen dort widerfuhr.

So legte eine ältere Amerikanerin, die aussah, als würde sie für gewöhnlich mindestens in Vier-Sterne-Hotels absteigen, ihrerseits liebevoll die Hand auf meinen Arm, als ich mich entschuldigte, nur noch eine Notmatratze für sie zu haben. „Das ist völlig in Ordnung. Ich hatte auf meinem Weg durch die Berge solch wundervolle Visionen, der Camino hat mir bereits mehr gegeben, als ich je zu hoffen wagte — da ist es völlig egal, wo ich schlafe.“

Manchmal dachte ich mit einer gewissen Selbstironie: Nun bin ich doch fast eine Herbergs-„Mutter“ dabei wollte ich das gar nicht sein, sah mich lieber als Gastgeberin.

Wie wäre es, wenn ich daheim eine eigene Familie hätte, überlegte ich in diesem Zusammenhang — würde es mir dann auch so viel Freude machen, mich um Pilger zu kümmern? Na, wahrscheinlich wäre ich in dem Falle wohl kaum hier, denn Mann und Kinder hätten sicher Einspruch dagegen erhoben, dass Mütterchen im fernen Spanien als Hospitalera wildfremde Menschen umsorgt, während sie in Deutschland allein den Laden schmeißen müssten.

So allerdings genoss ich es, meinen mangels eigener Familie lange unbeansprucht verkümmerten Fürsorgetrieb voll auszuleben. Hätte das bei einem ehrenamtlichen Engagement in Deutschland ebenso funktioniert? Vermutlich nicht — ich brauchte wohl die ganz andere Umgebung oder vielleicht die viel beschworene Magie des Camino, um ohne Hemmungen Herzlichkeit und Gefühl zeigen zu können.

Und ich bekam viel dafür zurück. An meinem Empfangstischchen an der Herbergstür saß ich selten lange allein. Immer wieder kamen Pilger auf einen kleinen Plausch zu mir oder jemand stellte unaufgefordert ein Bier vor mich hin: „Damit du da nicht so trocken sitzen musst.“

Abends im „Palacio“, meinem Stammlokal, winkten mich Pilger aus unserer Herberge grundsätzlich an ihren Tisch, schlossen mich in ihre Runde ein.

Ein deutsches Ehepaar, Fahrradpilger, das abends sehr spät angekommen war und dankbar und klaglos mit den Matratzen vorlieb nahm, die ich gerade noch hinter die Eingangstüre quetschen konnte, lud mich dafür am anderen Morgen ein, ihr Frühstück mit ihnen zu teilen. Altbackenes Brot, ein bisschen Käse, ein paar Oliven — es war die Geste, die zählte. Die beiden hatten die „Losungen“ dabei, das kleine Büchlein mit einem Bibelspruch für jeden Tag, das meine Mutter auch immer gelesen hatte, und holten es nach dem Frühstück hervor. Ich erinnere mich nicht mehr, wie der Spruch für jenen Tag genau lautete, weiß aber noch, dass es darin ums Miteinander-Teilen ging.

„Wie passend“, meinte ich.

Die beiden lächelten. „Das ist es immer.“

„Das nächste Mal machen wir den Camino zu Fuß“, erklärten sie später, als sie sich auf ihre Räder schwangen, „das ist doch irgendwie intensiver.“

Diesen Satz sollte ich noch öfters hören. Wenn tatsächlich am Camino besondere Energiebahnen verlaufen, dann spürt man die zu Fuß sicher besser. Es gibt sogar einzelne Pilger, die den Weg deshalb barfuß gehen.

 

Zu wahrer Höchstform in Sachen Gastfreundschaft liefen Alfredo und ich auf, als mitten im Juni der Winter zurückkehrte. Es hatte schon eine Weile geregnet, aber dann wurde es immer kälter und was im Tal als Regen fiel, kam im Gebirge als Schnee herunter. Dazu wehte ein eisiger Wind. Nass und durchgefroren bis auf die Knochen liefen die Pilger in der Herberge ein, nur die wenigsten waren für diesen Temperatursturz ausgerüstet. Ich übrigens auch nicht und ich dankte im Stillen der unbekannten Pilgerin, deren warmen Fleece-Pulli ich in der Kiste mit den vergessenen Gegenständen fand. Damit rettete ich mich über die kalten Tage.

„Ein merkwürdiges Jahr ist das heuer“, sagte Alfredo. „Ich kann mich nicht erinnern, wann es das letzte Mal im Juni dermaßen kalt war.“

„Wir sollten den Pilgern etwas Heißes zu trinken geben, wenn sie ankommen“, schlug ich vor.

Alfredo war sofort einverstanden. „Aber sicher. Was brauchst du?“

Tee, Milch, Zucker und Kekse wurden gekauft und jeder Pilger, der zähneklappernd durch die Herbergstür trat, bekam als erstes eine dampfende Tasse in die Hand gedrückt. Genauso wie die Fahrradfahrer, die wir zwar vor dem Abend nicht aufnehmen durften, die sich aber aufwärmen und, wenn sie wollten, heiß duschen konnten, bevor sie sich auf das letzte Wegstück nach Ponferrada machten. Die Herberge dort war sehr groß und nahm Radler deshalb ohne Einschränkungen auf.

Während der eisigen Tage kam Alfredo nachmittags früher als sonst, brachte Holz und zündete den Kamin an. Wenn das Feuer prasselte, wurde es richtig gemütlich in der Herberge. Wir saßen eng aneinander um den Kamin, starrten in die lodernden Flammen und aus der körperlichen Nähe erwuchs schnell große Zutraulichkeit. Gespräche entwickelten sich quasi von selbst.

Während dieser kalten Nächte schlief ich übrigens wesentlich besser als sonst und das lang nicht nur daran, dass die Pilger wegen des schlechten Wetters morgens später aufbrachen. Der klatschende Regen und heulende Wind draußen schufen drinnen eine Art Bärenhöhlen-Atmosphäre, Schutz und Geborgenheit vor den Elementen — da machte es auch nichts, wenn einige der Bären schnarchten.

Durch das verkrampfte Gehen in Kälte und Wind hatten mehr Pilger als sonst Probleme mit Muskeln und Sehnen. Oft bis zehn, elf Uhr abends musste Alfredo entsprechende Massagen verabreichen, wobei er den letzten Patienten genauso geduldig und sorgfältig behandelte wie den ersten. Die Ausweichquartiere in den Zelten draußen konnten während des eisigen Wetters natürlich nicht genutzt werden, also hieß es, drinnen enger zusammen zu rücken, was allerdings nicht unbegrenzt möglich war — irgendwann gab es beim besten Willen keinen Raum in der Herberge mehr. Oft hängte ich mich abends ans Telefon, um für Spätankömmlinge ein Taxi nach Ponferrada zu bestellen oder, wenn sie das wollten, Zimmer in einer Casa Rural in Molina. Einige der solchermaßen Untergebrachten klopften morgens noch mal an die Herbergstüre.

„Wir wollten nur sagen, die Zimmer waren gut und das Frühstück auch. Danke nochmals, dass du das für uns arrangiert hast.“ So was freut dann doch. Auch im Gästebuch bekamen wir in jener Zeit geradezu hymnische Kritiken.

„Obwohl alles voll war, wurde in diesem einzigartigen Refugio noch Platz für uns geschaffen, dafür danken wir Gott und den Hospitaleros“, schrieb ein brasilianisches Ehepaar, das wir zusammen auf einer Matratze unter der Treppe untergebracht hatten.

„Diese Herberge war eine Wohltat nach dem Wetter gestern. Ein so herzlicher Empfang ließ meine Unentschlossenheit, ob ich überhaupt weitergehen oder den Camino sofort abbrechen sollte, vergehen — und ich bin dankbar dafür“, hieß es seitens einer deutschen Pilgerin. Sie war besonders übellaunig angekommen und brauchte mehr als eine Tasse Tee, viele Kekse und guten Zuspruch, um ihren Frust abzuschütteln. „Elisabeth, du gibst dieser Albergue deine ganz persönliche, gute Wärme“, würdigte mich ein Robert aus Wien im Gästebuch.

Damit ich bei so viel Lob nicht überschnappte und mich irgendwann mit Hospitalera-Heiligenschein im Spiegel sah, bekam ich einige Tage später einen Dämpfer.

„Sind hier keine Pfannen?“, fragte eine junge Australierin missmutig, nachdem sie den Küchenschrank durchforstet hatte.

„Nein, die haben wir nicht“, sagte ich. Wohlweislich gab es keine Pfannen in dieser Albergue, in der sich mangels Türen die Kochdünste ungehindert bis in den Schlafsaal ausbreiten konnten. Deshalb war es nicht erlaubt, etwas zu braten — vor allem keine stark riechenden Dinge wie Fisch, Zwiebeln oder Knoblauch. Diese Regelung, die ich jedem Neuankömmling mitteilte, hatten bisher alle eingesehen und eingehalten Die Australierin allerdings schickte sich nun an, einen Topf mit Öl zu füllen und Zwiebeln zu schneiden.

„Wenn du vorhast, das zu braten, dann muss ich dir leider sagen, dass das in dieser Herberge nicht geht“, schritt ich ein. „Es ist hier generell verboten, stark riechende Sachen zu braten, weil hier alles offen ist und der Geruch wer weiß wie lange im Schlafsaal hängen bliebe.“

Das Mädchen warf mir einen giftigen Blick zu. „Ich hab bisher in jeder Herberge meine Zwiebeln gebraten.“

„Tut mir Leid, aber in dieser hier geht das nicht.“

„Dann muss ich eben ohne Frühstück weggehen“, fauchte sie, „und du bist die unangenehmste Person, die mir auf dem ganzen Camino begegnet ist.“

Ich war so verblüfft über diesen Ausbruch, dass mir keine passende Antwort einfiel. Später ärgerte ich mich, ihr nicht entsprechend Contra gegeben zu haben.

„Vergiss es“, meinte Alfredo, als ich ihm davon erzählte. „Habe ich dir nicht gestern Abend schon gesagt, dieses Mädchen würde Probleme machen?“

Hatte er, aber ich hatte es nicht recht geglaubt. In Zukunft sollte ich mich wirklich auf seine Menschenkenntnis verlassen.

 

„Hallo, da sehen wir uns wieder“, sagte eine fröhliche Stimme und eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich drehte mich und hinter mir stand Anne, die Psychologin aus Ostdeutschland, braungebrannt und gut gelaunt.

„Was war das für ein herrlicher Weg über’s Gebirge, schwärmte sie, indem sie ihren Rucksack auf den Boden gleiten ließ und mir ihr Credencial zum Abstempeln gab.

„Du hast Glück, dass du diese Etappe jetzt gegangen bist. Ein paar Tage vorher hatten wir hier Eiszeit — da wäre der Weg nicht so herrlich gewesen. Wo ist übrigens Alexandra? Anne verzog bedauernd das Gesicht. „Heimgefahren. Sie hatte doch schon in Azofra Probleme mit ihren Füßen. Das ist immer schlimmer geworden und sie hat den Weg abgebrochen.“

Somit war Anne lange Strecken des Camino allein gegangen. „Und das war gut so“, meinte sie später bei einer großen Schüssel Spaghetti, die ich für uns gekocht hatte. „Weißt du, bei uns früher in der DDR, da war alles so eng, so engstirnig und eingekastelt. Das wirkt sich auch auf dein Inneres aus. Wenn man dann den Camino geht, durch diese unendliche Weite, weitet man sich plötzlich irgendwie selber. Gerade heute habe ich gedacht, wie herrlich ist es doch, sich zu öffnen.“

Ich konnte das sehr gut nachvollziehen, machte ich hier schließlich meine eigenen Erfahrungen mit dem Sich-Öffnen. Außer Anne begegnete ich nur wenigen Pilgern, die in Rolands Herberge abgestiegen waren, wieder. Weil der Weg über die Bergkette lang ist, übernachteten viele in den Gebirgsdörfern El Acebo oder Riego de Ambros und passierten Molinaseca morgens früh, wenn die Herberge zum Saubermachen geschlossen war. Außerdem hatten sicherlich einige wie Alexandra aufgeben müssen. Den sympathischen Guiseppe sah ich leider nicht mehr wieder, genauso wenig wie die beiden kleinen Österreicherinnen, die in meinem Bett geschlafen hatten, oder den netten Tom Cruise — die Großväter-Truppe zum Glück aber auch nicht.

Waren mir in Azofra die zahlreichen Ersatz-Eltern-Kind-Kombinationen aufgefallen, schienen inzwischen besonders viele Paare unterwegs zu sein, solche, die bereits zusammen auf den Camino gegangen waren und solche, die sich dort erst gefunden hatten.

Generell ist der Camino für jedes Paar eine Prüfung — egal ob es sich um Freunde, frisch Verliebte oder langjährige Ehepaare handelt. Alles, was in der jeweiligen Beziehung bereits angelegt ist — an positiven wie negativen Gefühlen, an Frustrationen und an Hinwendung — wird durch den langen, harten Weg verstärkt. Auch oder gerade in dieser Hinsicht ist der Camino ein „Weg der Erkenntnis“. Die einen merken, wie sehr sie sich auf ihren Gefährten verlassen können; andere müssen feststellen, dass sie genau das nicht können.

„Ich gehe jetzt ohne Herbert. Der erste Tag war hart, aber es ist gut so. — Marion“, las ich in einem Herbergsgästebuch während meiner Pilgerreise. Was für ein Drama wohl hinter diesem knappen Eintrag steckte?

Später sowie als Hospitalera sah ich noch viele Herberts und Marions, die sich vermutlich bald trennen würden — oder für die es besser wäre, wenn sie es endlich täten.

Da gab es Männer, die den Weg in ihrem Tempo durchzogen, ohne Rücksicht auf die Partnerin, die Mühe hatte hinterherzuhecheln — Frauen, die nette Gesten ihres Partners absichtlich übersahen — Paare, die muffelig ankamen, ohne sich gemeinsam über das Ende der Etappe zu freuen. Statt „Schatz, jetzt eine Dusche und dann gönnen wir uns ein schönes Bier“, raunzten sie „kommst du endlich?“, stiegen übellaunig in den Schlafsaal hinauf. Später saßen sie griesgrämig unter dem Vordach oder im Restaurant, ohne sich anzusehen, und wenn sie sich unterhielten, dann nicht miteinander.

Dem gegenüber traf ich aber auch viele Paare, deren Beziehung — wie bei Castor und Pollux in Azofra — durch den gemeinsamen Jakobsweg, die zusammen durchgestandenen Strapazen und die miteinander erlebten Freuden noch inniger wurde. Solche Paare massierten sich abends liebevoll gegenseitig die müden Beine, steckten gemeinsam die Füße in ein Essig-Salzwasser-Bad und wenn sie von ihren Erlebnissen erzählten, taten sie das mit strahlenden Augen und indem sie dabei einander ergänzten.

Nie vergessen werde ich jenes ältere belgische Ehepaar, das bestimmt schon mindestens sechzig Jahre alt war. Als ich eines Spätnachmittags etwas im Schafsaal suchte, sah ich sie Siesta halten — Arm in Arm lagen sie in einem Bett, die Köpfe im Schlaf einander zugewandt und auf ihren Gesichtern lag so viel friedvolle Zärtlichkeit, dass es mich zutiefst rührte. Auf Zehenspitzen schlich ich nach unten, um sie ja nicht zu stören. Sollte ich je wieder einen Mann treffen, mit dem ich mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen kann, gehe ich erst mit ihm auf den Camino, schwor ich mir angesichts meiner Paar-Beobachtungen. Danach weiß ich dann, was ich wirklich von ihm zu halten habe.

Eine ganze Reihe von denen, die sehr vertraut miteinander schienen, waren das erst auf dem Camino geworden. An meinem Empfangstischchen, wo ich die Pilgerdaten aufnahm, saß ich sozusagen an der Quelle. Zwei Menschen, die aus unterschiedlichen Ländern stammten und den Camino an verschiedenen Ausgangsorten begonnen hatten, konnten schwerlich von Anfang an ein Paar sein. Die lange, oft einsame Wanderung macht anlehnungsbedürftig, und da der Camino wie gesagt jedem das gibt, was er braucht, bekommen diejenigen, die das nötig haben, eben eine Liebesaffäre. Wobei sich beim besten Willen nicht sagen lässt, wie viele dieser Camino-Liebesgeschichten den Jakobsweg überdauern, selbst wenn sie so romantisch sind wie die von Celine und Roy.

Celine, eine Französin Ende zwanzig mit blonden Zöpfen, eine frische, natürliche Frau, die ich mir gut als Sennerin oder Hauptdarstellerin im Märchen von der Gänseliesel hätte vorstellen können, kam gegen Ende der Eiszeit mit Fieber und Sehnenentzündung in der Herberge an. Sie fühlte sich derart elend, dass sie um eine weitere Übernachtung am Ort bat, was unter diesen Umständen mehr als gerechtfertigt war. Am Nachmittag ihres zweiten Tages erschien Roy, ein junger Holländer, und fragte, ob eine Celine hier abgestiegen sei.

„Sie liegt oben im Bett und ist ziemlich schlecht beieinander.“

„Es wird ihr bald besser gehen“, meinte er lächelnd, „wenn man einen Menschen, den man liebt, bei sich hat, ist das die beste Medizin.“

Am Abend sah Celine bereits wieder viel wohler aus, am anderen Morgen würden sie gemeinsam weitergehen können. Vorher wollte Roy ihr allerdings noch eine Reiki-Behandlung geben, jene Energieübertragung, die oft Wunder wirkt, und deshalb baten die beiden darum, nach Abmarsch der Pilger noch ein, zwei Stunden in der Herberge bleiben zu dürfen. „Kein Problem, ich komme dann etwas später zum Saubermachen — oder was meinst du, Elisabeth?“, sagte Alfredo. Mir war es recht, und ich bemühte mich anderntags, beim Putzen im Schlafsaal möglichst leise zu sein, damit die beiden unten bei der Reiki-Behandlung ungestört waren. Später saßen wir bei Kaffee und Keksen noch eine Weile zusammen und Celine und Roy erzählten mir ihre Geschichte.

Sie waren sich bereits in Südfrankreich auf dem Jakobsweg begegnet und hatten sich ineinander verliebt. Aber Celine war noch nicht bereit für eine Beziehung, sie war darauf fixiert den Camino zu gehen und zwar allein, und so trennten sie sich nach ein paar Tagen wieder. Jeder wanderte für sich weiter — Roy schweren Herzens und Celine mit nach und nach immer größer werdenden Zweifeln. Da hatte sie einen derart netten Mann getroffen und schickte ihn weg, bloß weil er ihr momentan nicht ins Konzept passte! Reumütig begann sie, in den Herbergsgästebüchern Botschaften für ihn zu hinterlassen: „Roy, ich gehe ganz langsam, damit du mich einholen kannst. Ich möchte dich gerne wiedersehen.“

Irgendwann stieß Roy, der aus lauter Kummer Umwege gemacht hatte, um Celine nicht wieder zu begegnen, auf diese Botschaften und beeilte sich, sie einzuholen. Nun würden sie gemeinsam nach Santiago gehen.

„Und danach?“, fragte ich.

„Wir werden sehen“, die beiden lächelten sich zu. „Das Leben steckt voller Überraschungen.“

Roy holte ein kleines Päckchen aus seinem Rucksack hervor. „Engelskarten“, erklärte er, „die habe ich immer dabei und ziehe jeden Tag eine. Das ist weniger dafür gedacht, die Zukunft vorauszusagen. Die Engel geben uns vielmehr eine Botschaft zum Nachdenken. Willst du auch mal eine Karte ziehen?“

Ich nickte — warum nicht?

Roy mischte die Karten und meinte: „Du kannst die Karte als Botschaft für den heutigen Tag nehmen — oder für die gesamte Zeit, die du Hospitalera bist. Ganz wie du willst.“ Die Karte, die ich zog, hatte die Botschaft „Erziehung“. Bemerkenswert — als genau das empfand ich meine Hospitalera-Zeit, als eine Periode in meinem Leben, in der ich viel über mich und andere lernte, manche Lektion erteilt bekam, sozusagen erzogen wurde.

Dazu passte der Abschied von Roy und Celine — wieder einer dieser bittersüßen Hospitalera-Momente: Menschen, die man lieb gewonnen hat, loslassen müssen.

 

Eines Abends, es war inzwischen wieder schönes Wetter und die Zelte konnten genutzt werden, kamen zwei bildhübsche junge Schwedinnen und ein ebenso junger Brasilianer an. Die beiden Mädchen waren offenbar im Laufe des Weges zu Camino-Lieblingen avanciert, denn sie wurden vielstimmig mit begeistertem Hallo begrüßt. Ich verstand bald, warum alle sie mochten — sie waren fröhlich, hilfsbereit und bei aller Schönheit natürlich und bescheiden.

Wir hatten an jenem Abend gerade noch drei Plätze frei. „Zwei Matratzen in einem Zelt und eine im Aufenthaltsraum“, erklärte ich, „überlegt euch, wie ihr das aufteilt.“

„Oh, die Matratze im Aufenthaltsraum kannst du jemand anderem geben“, winkte der Brasilianer ab, „wir teilen uns zu dritt das Zelt.“

Ich verzog keine Miene und meinte später zu Alfredo: „Das muss doch der Traum eines jeden Brasilianers sein — gleich mit zwei blonden Schwedinnen auf der Matratze. Die anderen Jungs werden ihn schwer beneiden.“

Alfredo zog amüsiert die Brauen hoch. „Ja, ja“, sinnierte er, „und im Juli beginnt er dann richtig — der Camino del Sexo, der Sex-Camino.“

Diese Formulierung hatte ich zwar noch nicht gehört, fand sie aber sehr passend.

Ab Juli, wenn die Schul- und Semesterferien begonnen haben, begeben sich besonders viele junge Leute auf den Camino und die suchten dabei weniger den Blick ins eigene Selbst als den aufs andere Geschlecht. Schon während meines eigenen Pilgerweges im Hochsommer hatte ich oft das Gefühl gehabt, der Camino sei eine riesige wandernde Kontaktbörse. Heuer nun, in diesem merkwürdigen Jahr, wie es immer wieder von allen Seiten hieß, begann der Camino del Sexo also schon früher.

Ich fand es amüsant zu beobachten, wie sich unter dem Vordach bei Bier und Pizza manch zarte Bande knüpften und ich drückte beide Augen zu, wenn ein jung-verliebtes Pärchen morgens bei Auszug der Pilger so lange trödelte, dass es wenigstens noch fünf Minuten ungestört im Schlafsaal knutschen konnte.

Auch ich als Hospitalera war durchaus für den ein oder anderen allein wandernden Pilger ein Objekt der Begierde, aber ich blockte entsprechende Annäherungsversuche ab, tat, als bemerkte ich sie gar nicht. Eine Affäre à la Ricardo war im Grunde schon eine zu viel.

Erstaunt beobachtete ich, wie sorgfältig zurechtgemacht manche Pilgerinnen unterwegs waren. Ich hatte seinerzeit Lippenstift und Wimperntusche bereits in der zweiten Herberge als unnötigen Ballast weggeworfen — hier nun konnte ich morgens im Waschraum einen Blick auf ganze Paletten von Lidschatten, Kajal, Lipkonturstiften, Rouge und was sonst noch alles der Verschönerung dienen mag, werfen.

Eines Mittags, als ich vom Kaffee-Trinken aus dem Ort kam, um die Herberge aufzuschließen, saßen dort bereits zwei junge deutsche Frauen und machten Brotzeit. Sie waren beide sehr hübsch, was sie durch geschicktes Make-up betonten und ich fragte mich, ob sie das jetzt eben, während sie warteten, aufgetragen hatten oder ob sie tatsächlich in voller Kriegsbemalung übers Gebirge gewandert waren. Wahrscheinlich letzteres, denn nachdem sie geduscht hatten, tauchten sie noch sorgfältiger geschminkt wieder auf. Kurz nach ihnen war ein junger Amerikaner angekommen, Cody aus Idaho, vielleicht gerade mal zwanzig, groß und gut aussehend, mit verträumten blauen Augen hinter einer Intellektuellen-Hornbrille. Die beiden Deutschen gingen mit ihm zum Abendessen und beflirteten ihn heftig, worüber die Pilger, mit denen ich ein paar Tische weiter zusammensaß, gutmütige Witzchen rissen.

„Na, was meint ihr — welche von den beiden wird bei ihm das Rennen machen?“, fragte ich in die Runde. „Wahrscheinlich die Kleinere von beiden“, hieß es. „Die Größere ist nämlich in einer der letzten Herbergen mit einem heißen Italiener abgezogen.“

Aber Cody hatte sich bereits anders entschieden. Er ging nach dem Essen sofort schlafen und zwar allein und ließ die Mädchen am anderen Morgen ohne ihn weiter ziehen. Während alle Pilger bereits aufgebrochen waren, trödelte er im Aufenthaltsraum herum.

„Tut mir Leid, dass ich immer noch da bin“, sagte er mit einem unwiderstehlich schuldbewussten Blick, „aber morgens kann ich am besten Tagebuch schreiben.“

„Kein Problem“, meinte ich und gab ihm eine Tasse von meinem Pulverkaffee, „von mir aus kannst du gerne noch ein bisschen hier bleiben und schreiben. Ich sperr dann schon mal die Albergue zu und fange oben an zu putzen.

Er strahlte mich an, pustete in seinen Kaffee und zückte sein Schreibzeug. Als ich im Schlafsaal fertig war und wieder herunter kam, hatte Cody unterdessen die Kochstelle geputzt, die Tische abgewischt und war dabei, den Aufenthaltsraum zu kehren.

„Aber das musst du wirklich nicht machen, das ist doch meine Aufgabe“, suchte ich, ihn zu bremsen.

„Bitte lass mich“, insistierte er sanft.

Natürlich ließ ich ihn. Und als er ging, tat es mir Leid, dass er nicht zwanzig Jahre älter war — oder ich zwanzig Jahre jünger.

 

Kurz vor Ende meiner Dienstzeit in Molinaseca traf meine Nachfolgerin ein, Simone aus Brasilien, sehr jung, sehr fröhlich, mit ihr hielt der Samba Einzug in die Albergue. An mir nagte der Abschiedsschmerz. Noch zwei Tage und Nächte und ich würde diesen hübschen kleinen Ort verlassen, in dem ich mich — trotz Schlafdefizit und mangelnder Privatsphäre — ungeheuer wohl und glücklich gefühlt hatte. „Richtig schade, dass ich bald wegfahre“, sagte ich zu Alfredo. „Ach, weißt du, ich mache das jetzt schon so viele Jahre, habe zahllose Hospitaleros und Hospitaleras kommen und gehen sehen“, entgegnete er, „da weiß ich, dass vierzehn Tage eine gute Zeit ist für den Wechsel.“

Das hatte ich jetzt eigentlich nicht von ihm hören wollen. „Was mache ich nur ohne dich?“, sagte Simone dafür. Ich hatte sie eingewiesen und ihr alles erklärt; gemeinsam hatten wir noch mal sämtliche Laken abgezogen, gewaschen und sonnengetrocknet wieder aufgezogen. Ich konnte getrost abreisen, die Herberge war auf Vordermann gebracht. Typisch cabeza cuadrada, dachte ich, amüsiert über mich selbst.

Den Tag, bevor ich wegfuhr, hatte ich quasi frei. Gleich nach Aufbruch der Pilger brachten wir zu dritt die Herberge rasch in Ordnung, dann fuhr Alfredo mit Simone und mir die Passstraße hinauf nach Rabanal del Camino, einem Gebirgsdorf, das schon seit Jahrhunderten ein wichtiges Etappenziel am Jakobsweg ist.

Es war ein herrlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein. „Fast wie im Hochsommer“, meinte Alfredo, während er gemächlich den Wagen durch die Kurven lenkte. „Im Sommer, wenn es in der Herberge wie auf dem Jahrmarkt zugeht, wenn ich die Pilger alle irgendwann nicht mehr sehen kann, komme ich öfters hier herauf, fahre in einen Feldweg rein, stelle den Wagen ab und bleib drin sitzen und höre ganz laut südamerikanische Musik — und dann wird’s wieder.“

„Wie? Auch du kannst Pilger irgendwann nicht mehr sehen?“, staunte ich. „Und ich hab gemeint, bloß ich könnte sie gelegentlich alle an die Wand klatschen.“

Alfredo lachte herzlich. „Aber wo denkst du hin? Kein Mensch kann immer und in jeder Situation Engelsgeduld haben.“ In Rabanal gingen wir in die „Posada“, einem sehr stilvoll in einem alten Haus eingerichteten Hotel-Restaurant, das Alfredos Freund Gaspar gehörte. Der ließ es sich nicht nehmen, uns ein üppiges Frühstück mit allen erdenklichen Köstlichkeiten zu servieren. Alfredos Versuche, dafür zu bezahlen, tat Gaspar mit einer energischen Handbewegung ab. „Lass mir doch die Freude, euch einzuladen. Schließlich ist es, wie du gesagt hast, Elisabeths letzter Tag.“ Er schenkte mir ein zurückhaltendes Lächeln. „Ich habe sie neulich bei dir in der Herberge arbeiten sehen — sehr tüchtig. So jemanden hätte ich gerne, wenn ich mal eine Pilgerherberge aufmache.“ Nach dem Frühstück fuhren wir zurück Richtung Molina und bei den Ruinen von Foncebadón ließ Alfredo mich aussteigen. Ich trug dick Sonnencreme auf, schulterte meinen kleinen Rucksack und marschierte los — zwanzig wundervolle Kilometer Camino lagen vor mir, einer der schönsten und eindrucksvollsten Abschnitte des Jakobsweges.

Foncebadón war einmal ein wichtiger Ort an der Wallfahrtsroute gewesen mit Herberge, Kloster und Kirche, aber das ist sehr lange her. Inzwischen sind die meisten Häuser längst zerfallen, nur einige wenige noch bewohnt. Vor nicht allzu langer Zeit wurde hier jedoch wieder eine Pilgerunterkunft eingerichtet sowie ein Restaurant im mittelalterlichen Stil, beides ist aber nur im Sommer geöffnet. Je nach Tages- oder Jahreszeit kann Foncebadón mit seinen Ruinen recht unheimlich wirken, und sowohl Shirley MacLaine wie auch Paulo Coelho schreiben in ihren Pilgerbüchern von bedrohlichen Begebenheiten in diesem Ort.

Ich allerdings durchquerte ihn bei strahlendem Sonnenschein und ohne jedweder Bedrohung ausgesetzt zu sein, erreichte nach nicht einmal einer dreiviertel Stunde das Cruz de Ferro, jenes berühmte fünf Meter hohe Eisenkreuz, das für die Jakobspilger eine besondere Bedeutung hat. Seit undenklichen Zeiten legen sie bei diesem Kreuz einen von Zuhause mitgebrachten Stein ab, sinnbildlich für all die Lasten, derer sie sich mit der Pilgerfahrt entledigen wollen. Auf dem inzwischen gewaltigen Steinhaufen um das Kreuz liegen auch andere Dinge wie Passfotos und Bittzettelchen von Pilgern, Muschelkettchen und allerlei Schnickschnack, insgesamt hat sich jedenfalls die Tradition erhalten, etwas bei diesem Kreuz zurückzulassen. So legte auch ich meinen Stein, den ich diesmal zwar nur aus Molina mitgebracht hatte, zu den unzähligen anderen. Eine Gruppe von jungen Pilgern bat mich, sie vor dem Kreuz zu fotografieren — selbstverständlich, aber bitte auch ein Foto von mir mit meinem Apparat — dann ging ich weiter nach Manjarín.

Manjarín ist ebenfalls ein seit langem verlassenes Bergdorf, wo es aber eine sehr spezielle Herberge gibt, als „pittoresk“ bezeichnen sie manche Wanderbücher und umschreiben damit die Tatsache, dass es hier weder Duschen noch anständige Klos gibt. Doch jeder vorbeiziehende Pilger wird freundlich begrüßt, bekommt, wenn er will, Kaffee, Wein, ein Stück Brot oder Käse, wobei es jedem selbst überlassen wird, ob er dafür etwas bezahlt. Im Sommer kann man im Schatten der Loggia verschnaufen, im Winter brennt den ganzen Tag über ein Kaminfeuer zum Aufwärmen — diese Herberge soll ein Refugio im alten Sinne sein, ein Zufluchtsort in der Tradition des Templerordens, der sich zusammen mit dem Malteserorden seit dem Mittelalter um Schutz und Sicherheit der Pilger kümmert. So sieht es jedenfalls Tomás, der Hospitalero, der sich selbst als eine Art letzten Ritter betrachtet. Von ihm hatte ich schon viel gehört, altgediente Hospitaleros sprachen mit großer Sympathie und Respekt von ihm, deshalb wollte ich ihn nun kennen lernen.

„Ich habe zwei Wochen als freiwillige Hospitalera in Molinaseca gearbeitet“, stellte ich mich vor, „heute ist mein letzter Tag, deshalb bin ich auf dem Camino und da wollte ich dich unbedingt besuchen.“

Tomás, ein mittelgroßer, etwas untersetzter Mann mit grauen Locken und Bart und einer dicken Brille, nahm mich in die Arme und begrüßte mich wie eine liebe alte Freundin, die endlich wieder hereinschaut. Wir tranken Wein zusammen und ich erzählte ihm ein bisschen von meinen Erfahrungen, wollte wissen, ob hier oben bei ihm auch so viel los sei.

„Oh ja — und jedes Jahr werden es mehr auf dem Camino.“ Er seufzte. „Der Jakobsweg ist dabei, zu einem riesigen Geschäft zu werden, zu einem Rummelplatz. Stell dir vor, inzwischen legen sogar Supermarktketten Zettel aus, welche Sehenswürdigkeiten es am Camino gibt und wo man entlang der Route am besten einkaufen kann. Was bleibt da noch übrig von der Idee des Pilgerns?“

„Aber es gibt doch wohl noch eine ganze Reihe Menschen, die wirklich auf dem Weg zu sich selbst finden wollen — oder?“

„Doch natürlich“, lenkte Tomás ein, „genau für die bin ich ja weiterhin hier.“

„Was meinst du, gibt es besondere Energiebahnen entlang des Camino?“ Warum ich ausgerechnet Tomás jetzt diese Frage stellte und nicht vorher schon Alfredo oder einem anderen erfahrenen Hospitalero, weiß ich selbst nicht. Vielleicht lag es daran, dass Manjarín etwas Verwunschenes an sich hat. „Selbstverständlich gibt es die.“ Tomás’ Brustton der Überzeugung ließ wenig Raum für Zweifel. „Allerdings kann man diese Energie nicht spüren, wenn man hier mal fünf und da mal zehn Kilometer auf dem Weg geht und ansonsten im Auto fährt. Da muss man schon die ganze lange Strecke auf sich nehmen.“

Während wir uns unterhielten, sah ich mich in dieser unordentlichen, aber dennoch irgendwie heimeligen Umgebung um. Dabei fiel mein Blick auf ein Kettchen mit einem Jadeanhänger — einer kleinen Jakobsmuschel, dem Symbol für die Jakobspilgerschaft. Die Kette hing neben anderen Souvenirs zum Verkauf aus, eine Jakobsmuschel hatte ich schon länger haben wollen, also fragte ich Tomás, was sie kosten solle.

Un besito, ein Küsschen“, schmunzelte er und forderte es gleich ein.

Die Kette gab er mir nicht einfach so, sondern im Rahmen einer regelrechten Zeremonie. Er hängte sich seinen Rittermantel um, läutete eine Glocke, nahm ein Schwert in die Hand, wies mit der Schwertspitze auf ein Mutter-Gottes-Bild, dann auf meine Jademuschel und beschwor dabei die Heilige Jungfrau, mich, die ich diese Kette nun tragen würde, immerdar zu beschützen.

Ich fand das Ganze ein wenig kurios, aber sehr anrührend — auf jeden Fall trage ich seither die Muschel auf jeder Reise und bis heute hat sie mich gut beschützt.

Etwa eine halbe Stunde hinter Manjarín schlug ich mich seitwärts vom Camino in die Büsche und kletterte zu einem Berg hinauf. Genau oben auf dem höchsten Punkt lag ein großer Steinbrocken mit einer Aushöhlung in der Mitte, wo man wie in einem Sessel sitzen konnte. Dort ließ ich mich nieder, blickte über das Gebirge und die Täler bis weit hinab nach Ponferrada in dunstiger Ferne, dachte gar nichts, atmete nur einfach Glück und Frieden.

Doch ich war nicht lange allein auf meinem Adlerhorst, ein Junge aus der Foto-Truppe beim Cruz de Ferro hatte sich ebenso von diesem Punkt angezogen gefühlt.

„Hast du Wasser dabei?“, fragte er, als er nahe heran gekommen war.

„Jede Menge.“

„Dann könnte ich uns ja einen Kaffee kochen“, meinte er, als sei das hier in der Mitte von Nirgendwo das Selbstverständlichste von der Welt.

Ich kletterte von meinem Sessel herunter, er packte einen kleinen Gaskocher aus seinem Rucksack, Topf und Tassen, dazu Kekse und Schokolade — und wenig später machten wir Picknick, und erzählten uns ein wenig voneinander.

Der Junge, ein Österreicher, noch keine zwanzig Jahre alt, machte sich viele Gedanken über sich selbst und seine Stellung in der Welt.

„Ich kann gut reden, weißt du“, erklärte er, „geb mich gern intellektuell und lass kluge Sprüche ab. Damit mache ich Eindruck. Und all die Gedanken, die ich mir auf dem Camino gemacht habe, hab ich auch sehr klug in meinem Tagebuch formuliert.“

Er machte eine Pause und ich spürte, dass er mir etwas mitteilen wollte, das ihm nahe ging.

„Am Cruz de Ferro soll man doch etwas niederlegen, was einem wichtig ist — oder?“, fragte er. Ich nickte — er ebenfalls. „Genau, es sollte eigentlich ein richtiges Opfer sein. Das Wichtigste, was ich bei mir hatte, war mein Tagebuch. Das habe ich dort hingelegt — ist mir nicht leicht gefallen, da hatte ich schließlich all diese klugen Gedanken drin festgehalten. Aber habe ich mir gedacht, genau deshalb sollte ich es dalassen — schließlich bin ich selbst doch mehr als nur kluge Gedanken.“

Erstaunlich, dieser Junge — ich meinerseits hätte mit knapp zwanzig Jahren solche Überlegungen kaum angestellt. Aber gut, ich war ja auch in vieler Hinsicht ein Spätzünder. Nachdem wir unseren Kaffee ausgetrunken hatten, packten wir zusammen und gingen jeder für sich ins Tal hinab.

In der völlig überfüllten Herberge sahen wir uns wieder. Sämtliche Zelte waren besetzt, sogar unter dem Vordach hatten Simone und Alfredo Matratzen ausgelegt, eine davon hatte der junge Österreicher ergattert, und — obwohl schon Abend — trafen immer noch vereinzelt Pilger ein.

Alfredo nahm es locker. „Wer jetzt noch ankommt, soll selbst sehen, wo er sich einen Platz sucht. Es ist dein letzter Abend, Elisabeth, lasst uns essen gehen.“

Da saßen wir dann — Alfredo und seine beiden Hospitaleras, die alte und die neue — auf der Terrasse eines Restaurants unten am Fluss, aßen viele Tapas, kleine leckere Häppchen und tranken noch viel mehr leckeren Bierzo-Wein, philosophierten über das Leben, den Camino, unsere jeweilige Vergangenheit und das, was die Zukunft uns noch bringen könnte — und irgendwann sagte Alfredo endlich doch den Satz, auf den ich die ganze Zeit insgeheim gehofft hatte: „Du warst eine sehr gute Hospitalera, Elisabeth. Wenn du willst, kannst du jederzeit wieder kommen.“

 

Bevor ich nach Deutschland zurückflog, machte ich einen Abstecher nach Mansilla. Das war zwar ein erheblicher Umweg, aber wer weiß, wann ich wieder nach Spanien käme, und ich wollte unbedingt Wolf und Laura wiedersehen. Wolf hatte ich wie gesagt ein paar Mal in seinem Dorf in der Nähe der Stadt, wo ich wohnte, besucht. Einmal hatte ich dabei auch Laura getroffen, die bei seiner Familie Urlaub machte. Wir hatten uns gut verstanden, als würden wir uns schon lange kennen.

„Komm uns in Mansilla besuchen“, forderten sie mich damals auf.

Also brachte Alfredo mich in der Früh zum Busbahnhof in Ponferrada, ich nahm den Bus nach León, stieg dort um und war mittags in Mansilla.

Für eine ausführliche Begrüßung hatten Laura und Wolf keine Zeit, am Empfangstisch drängelten sich zahllose Pilger. „Wir kommen hier erstmal nicht weg“, meinte Wolf. „Du siehst müde aus. Magst du dich ein bisschen hinlegen?“ Kein Widerspruch meinerseits. Er brachte mich in sein Hospitalero-Zimmer, dort sackte ich auf das zweite Bett und fiel in todähnlichen Tiefschlaf — ungestört von Schnarchern, knisternden Plastiktüten oder dem Trampeln schwerer Wanderstiefel.

Es war draußen bereits dunkel, als Wolf mich sanft wachrüttelte.

„Was ist denn mit dir los?“

„Totales Schlafdefizit“, ächzte ich, „ich sage nur: vierzehn Tage Pilgerschlafsaal.“

„Ja, ja, das ist der großer Nachteil in Molina“, meinte Wolf. „Und sonst? Wie hat es dir gefallen?“

„Ich fand es einfach wunderbar. Tierisch anstrengend, aber zugleich unglaublich befriedigend. Jetzt kann ich verstehen, warum du jedes Jahr ein paar Monate als freiwilliger Hospitalero hierher kommst.“

Wir gingen essen — Laura, Wolf und ich — in eines der gemütlichsten Lokale von Mansilla, erzählten uns drollige und anrührende Geschichten von „unseren“ Pilgern, tauschten Hospitalero-Erfahrungen aus.

Es erschien mir völlig absurd, dass ich am nächsten Tag nach Deutschland zurückreisen sollte — in mein so genanntes normales Leben, eigentlich empfand ich das Leben hier als viel normaler.

„Wenn du Lust hast, kannst du irgendwann nach Mansilla kommen und in der Herberge mitarbeiten“, lud Laura mich ein. Hatte sie meine Gedanken gelesen?

„Aber ihr seid doch schon zu zweit und außerdem hilft euch, wenn ich mich recht entsinne, die Freundin deines Bruders.“

„Ach“, winkte Laura ab, „hier ist genug zu tun. Da könnten wir dich auf jeden Fall gut brauchen.“

Als sie mich am nächsten Mittag zum Bus brachten und mir hinterher winkten, ahnten wir nicht, wie schnell wir uns wiedersehen würden.