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Der Verletzte
Die Krankenpfleger gingen erst fort, nachdem Frau Maigret sie mit einem Glas Schlehenlikör bewirtet hatte, den sie jedesmal, wenn sie ihren Sommerurlaub in ihrem elsässischen Heimatdorf verbrachte, selbst ansetzte.
Als die Tür sich geschlossen hatte und die Schritte sich auf der Treppe entfernten, trat sie ins Schlafzimmer mit den rosengemusterten Tapeten an den Wänden.
Maigret lag etwas abgespannt, mit leichten Ringen unter den Augen in dem großen Bett, über das eine rotseidene dicke Daunendecke gebreitet war.
»Haben sie dir weh getan?« fragte sie und räumte das Zimmer wieder auf.
»Nicht sehr …«
»Kannst du was essen?«
»Ein bißchen.«
»Wenn man bedenkt, daß du von demselben Chirurgen operiert worden bist wie die Könige und Leute wie Clemenceau oder Courteline!«
Sie öffnete das Fenster, um einen Vorleger auszuschütteln, auf dem ein Krankenpfleger Schmutzspuren hinterlassen hatte. Dann ging sie in die Küche, schob einen Topf zur Seite, hob den Deckel hoch und legte ihn ein wenig schräg zurück.
»Sag, Maigret …«, begann sie, als sie zurückkam.
»Was?« fragte er.
»Glaubst du an diese Geschichte vom Verbrechen aus Leidenschaft?«
»Von wem redest du?«
»Von der Jüdin, Anna Gorskin, die heute vormittag vors Schwurgericht kommt. Eine Frau aus der Rue du Roi de Sicile, die behauptet, daß sie Mortimer geliebt und aus Eifersucht getötet hat …«
»Ach, das ist heute?«
»Da stimmt doch was nicht.«
»Unsinn! Das Leben ist so kompliziert, weißt du … Kannst du mir mein Kopfkissen zurechtrücken …«
»Ob sie wohl freigesprochen wird?«
»Da sind ganz andere freigesprochen worden!«
»Das sag ich ja … War sie nicht in deinen Fall verwickelt?«
»Am Rande …«, seufzte er.
Frau Maigret zuckte mit den Schultern.
»Es lohnt sich wirklich nicht, die Frau eines Kriminalkommissars zu sein!« Doch sie sagte das lächelnd.
»Wenn irgend etwas geschieht«, fügte sie hinzu, »dann erfahre ich es von der Concierge … Sie hat einen Neffen, der Journalist ist! …« Maigret lächelte ebenfalls.
Vor seiner Operation hatte er Anna zweimal im Gefängnis Saint-Lazare besucht. Das erste Mal hatte sie ihm das Gesicht zerkratzt. Beim zweiten Mal hatte sie ihm Hinweise gegeben, die es am Tag darauf ermöglichten, Pepito Moretto, den Mörder von Torrence und José Latourie, in einem möblierten Zimmer in Bagnolet zu verhaften.
Tagelang keine Neuigkeiten! Hin und wieder ein kaum beruhigender Anruf vom anderen Ende der Welt, dann, eines schönen Morgens, konnte Maigret sich des Eindrucks nicht länger erwehren, daß er am Ende seiner Kräfte war. Er ließ sich in einen Sessel fallen und sagte zaghaft:
»Hol mir den Doktor …«
Sie ging geschäftig in der Wohnung umher, war zufrieden, tat so, als ob sie schimpfe, rührte das Essen um, das auf dem Herd schmorte, hantierte mit Wassereimern, öffnete und schloß die Fenster und fragte ab und zu:
»Eine Pfeife?«
Beim letzten Mal gab er keine Antwort mehr.
Maigret schlief, die Hälfte des Körpers unter der roten Daunendecke vergraben, den Kopf in das dicke Federkissen gedrückt, während um sein ruhiges Gesicht all die vertrauten Geräusche schwirrten.
Im Justizpalast verteidigte Anna Gorskin ihre Haut.
In der Santé war sich Pepito Moretto in seiner strengbewachten Zelle bewußt, welches Schicksal auf ihn wartete. Unter dem finsteren Blick des Gefängniswärters, dessen Gesicht das Gitter der Schalterklappe in Würfel zerlegte, ging er im Kreis umher.
In Pleskau dürfte sich eine alte Frau mit weit auf die Wangen hinabreichender Trachtenhaube in ihrem Schlitten zur Kirche begeben, der über den Schnee dahinglitt und dessen betrunkener Kutscher mit der Peitsche auf das Pony einschlug, das wie ein Spielzeug dahertrabte.
Delfzijl (Holland), an Bord der »Ostrogoth«
September 1929.