Der Küchenmagd Elin ist es zu verdanken, dass ein verlorenes Medaillon wieder auftaucht. Königin Kristina nimmt das Mädchen fortan in den Kreis ihrer Vertrauten auf. Für Elin eröffnet sich eine Welt des Glanzes und der Intrigen, in der auch ihre große Liebe wartet ...

»Ich liebe den Sturm, ich fürchte die Stille.«

Königin Kristina von Schweden

(1626-1689)

TEIL I 

Ebba Sparres Medaillon

Ausgerechnet Ebba Sparres Medaillon! Das goldene Oval in Form einer blühenden Rose, auf das das Fräulein so stolz war. Denn obwohl es Winter war und der Wind so stark wehte, dass sich im Schloss von Uppsala selbst die Kaminfeuer unter seinem eisigen Hauch duckten, bedeckte die Kammerfrau der Königin ihr Dekolletee nicht, sondern trug das Schmuckstück gut sichtbar auf der hellen Haut. Nun aber war die Goldrose verschwunden und Fräulein Ebba erinnerte sich nicht daran, wo sie sie verloren haben könnte. Seit Stunden wurde im Schloss gesucht. Rufe ertönten in den Gängen, Lakaien liefen aufgeregt hin und her und sahen auf jedem Sekretär und in jeder Schublade nach. Ein Dienstmädchen drückte sich mit verweintem Gesicht an der Eingangstreppe herum. Selbst aus der Küche wurden zwei Frauen gerufen, um jeden einzelnen der verwinkelten Gänge abzugehen. Ein ausländischer Repetitor mit einer schlecht sitzenden Perücke scheuchte die Studenten auf, die heute Morgen eingeladen worden waren, um den königlichen Gästen aus Stockholm ihre Aufwartung zu machen.

»Das Medaillon ist ein Erbstück«, erklärte der Tischdiener Olof in der Küche. Seine Wangen glühten vor Aufregung und er zupfte ständig an den bestickten Ärmelaufschlägen seiner blauen Livree herum. »Es gehörte Fräulein Ebbas Vater. Das hat sie bei Tisch einem der Studenten erzählt. Beinahe geweint hat sie, als sie darüber sprach! Und die Königin hat befohlen, dass sogar der Sekretär des Bischofs beim Suchen helfen muss! Stellt euch vor – Kester Leven persönlich kriecht in den Ecken herum.« Die Hilfsköche grinsten.

Elin beugte sich noch tiefer über den kupfernen Topf, den sie gerade ausscheuerte. Eine weißblonde Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht und Elin schob sie mit ihren nassen Fingern zurück unter die Haube. Ihre Hände waren taub vor Kälte, denn das Waschwasser wurde nicht erhitzt. Nur am Ofenfeuer konnte sie sich ein wenig aufwärmen – vorausgesetzt, Greta, die Köchin, sah gerade nicht hin. Verstohlen musterte Elin den Diener. Olofs Hände waren fein und hell wie die einer Dame. Elin stellte sich vor, wie er geschickt die Silberplatten mit dem Pökelfleisch und dem gebeizten Lachs balancierte. Beim bloßen Gedanken daran, dass Kristina, die Königin von Schweden, nur wenige Hallen von dieser Küche entfernt an der prächtig gedeckten Tafel saß, bekam Elin heftiges Herzklopfen.

»Heute Morgen hat Fräulein Ebba das Schmuckstück angelegt«, erzählte Olof weiter. »Sie erinnerte sich auch daran, es noch getragen zu haben, bevor sie zur Kanzlei ging. Und plötzlich ist es weg!«

»Gib es zu, Ida, du hast es!«, rief der Hilfskoch. »Lass mich nachschauen – du hast es in deinem Mieder versteckt!«

Die Küchenmagd blickte verdutzt hoch. Bevor der unverschämte Kerl nach ihrem Hals greifen konnte, sprang sie zurück und schlug nach seiner Hand. Alle lachten.

Maditt zwinkerte Elin zu und goss neues Wasser nach. Mit einer nachlässigen Geste warf sie eine Hand voll Sand in den Topf, den sie gerade scheuerte.

»Sogar die Kleidertruhen der Diener haben sie durchwühlt!«, flüsterte sie Elin zu.

»Ich hab’s weiß Gott nicht nötig, Schmuck zu stehlen«, giftete Ida. Ihre Wangen bebten vor Wut. »Wenn du jemanden verdächtigen willst, schau doch bei Emilia nach! Die braucht jede Öre, um ihre Bälger über den Winter zu bringen!«

Elin blickte erschrocken auf.

»Reg dich nicht auf«, flüsterte Maditt. »Die machen doch nur Spaß.«

»Das ist ein verdammt schlechter Scherz«, erboste sich Elin.

Sie sah sich um, aber Emilia war nirgends zu sehen. Gut, dass sie Idas gemeine Unterstellung nicht gehört hatte. Emilia war der einzige Mensch, den Elin wirklich mochte. Sie kannte sie schon von Kind an – und seit vier Wochen arbeiteten sie beide in der Küche des Schlosses. Emilia teilte nachts ihr Strohbett mit Elin und tröstete sie, wenn sie wieder einmal Prügel von der Köchin bezogen hatte.

»Wer könnte so dumm sein und einen Gast vom Königshof bestehlen!«, plapperte Maditt weiter. »Glaubst du, Emilia würde so etwas tun?«

»Wenn du weiter solchen Unsinn redest, fault dir sicher noch die Zunge ab«, sagte Elin. Ihr war ganz flau vor Angst.

»Elin! Maditt!« Gretas energische Stimme ließ sie aufschrecken. Die Köchin wischte sich die vom Salzfisch verkrusteten Finger an der Schürze ab. »Gafft nicht herum! Los, an die Arbeit! Hol neues Wasser!«

Elin wusste, dass sie gemeint war. Auch ohne hinzusehen, konnte sie Gretas feindseligen Blick spüren. Immer wenn die Köchin Elin anschaute, bekam sie Augen wie ein Drache.

»Na, hat es dir die Sprache verschlagen?«

Elin presste die Lippen aufeinander und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Dann nahm sie ihr dickes Wolltuch, wickelte es sich um Hals und Schultern und griff nach zwei Eimern. Ohne zu antworten verließ sie die Küche. Es machte keinen Unterschied, ob sie höflich oder unhöflich war. Seit einer Woche hatte Elin kaum etwas anderes als Ja oder Nein gesagt, was Greta dazu veranlasste, überall herumzulamentieren, dass Elin nicht nur stur, sondern auch verstockt sei. Der Bluterguss, der seit einer Woche auf Elins Wange prangte und nur langsam verblasste, schien dagegen niemanden zu interessieren.

Es war eine undankbare Aufgabe, bei dem eisigen Wind hinausgehen zu müssen. Eine weitere von Gretas Gemeinheiten. Da der Hofbrunnen eingefroren war, würde Elin Schnee holen müssen. Das bedeutete allerdings, dass sie ein ganzes Stück vor die Burg laufen musste, denn der Schnee durfte nicht verschmutzt sein.

War es in der Küche noch verhältnismäßig warm, zitterte sie jetzt vor Kälte am ganzen Körper. Elin besaß keine Winterkleidung, sondern trug wie alle anderen Küchenmädchen eine geknöpfte Jacke, einen knöchellangen Rock mit einer Saumborte und eine Schürze.

Auf dem Hof herrschte ungewöhnliche Geschäftigkeit. Gerade war einer der königlichen Schlitten eingefahren. Schnee hing in den Mähnen der Pferde. Wer aus dem Schlitten stieg, konnte Elin nicht erkennen; hinter dem Vorhang aus fallenden Flocken sah sie nur einen dunkelroten Samtrock und einen Mantel, dessen Saum über die Treppe schleifte. Wenig später waren die adligen Gäste im Schloss verschwunden. Elin hob den Kopf und blinzelte sehnsuchtsvoll zu den Fenstern hinauf. Gegen das triste Grau des Himmels sah das Kerzenlicht, das durch das Glas leuchtete, noch viel wärmer und einladender aus. Für einen Augenblick zeigte sich eine Gestalt am Fenster. Durch den wirbelnden Schnee konnte Elin nur ein blaues Kleid erahnen. Vielleicht war es Ebba Sparre – Olof erzählte oft, wie gern die Kammerfrau der Königin diese Farbe trug, die ihre Augen betonte. So nah schien die Welt des Hofes zu sein – und doch war sie für Elin weiter entfernt als die Sterne.

Sie seufzte und betrat den Fußweg, der ein Stück abseits von den Spuren der Schlittenkufen und Pferdehufe lag. Erstaunlicherweise hatte ihn jemand sorgfältig vom Schnee befreit. Als die ersten unberührten Schneehügel in Sicht kamen, verlangsamte Elin ihren Schritt. Ein großer Mann stand mitten auf dem Weg. Behutsam, als würde er eine Schar Küken hin und her treiben, schob er mit einem Besen den Schnee beiseite, bückte sich nach jedem Schritt und strich mit den Fingern über den Boden. Dass er kein Bediensteter war, konnte Elin sofort an seinem Mantel erkennen, der teuer und sehr gut gearbeitet war. Seine Handschuhe waren aus hellgrauem, feinem Leder und hatten mit Goldstickerei verzierte Stulpen. Der junge Adlige bemerkte Elin und richtete sich auf. Sie sah in ein kantiges, gerötetes Gesicht ohne Bart und erkannte einen der Studenten. Soweit sie sich erinnerte, hieß er Erik und trieb sich gern in der Nähe der Küche herum. Ida und Maditt waren verliebt in ihn, weil er gerne scherzte und lachte. Auch jetzt grinste er und klopfte sich dabei den Schnee von den Handschuhen.

»Da siehst du mal!«, rief er ihr zu. »Die Hunde dürfen sich ihre Wänste schön gemütlich vor dem Kamin wärmen, uns aber jagt man vor die Tür, um Schmuck zu suchen. Und, was führt dich zu mir?«

Elin senkte den Blick.

»Nichts«, gab sie leise zurück. »Ich hole nur Schnee für die Küche.« Eriks Lächeln verschwand.

»Ich hatte gehofft, du bringst mir die Nachricht, dass sie das Medaillon endlich gefunden haben.«

»Ist es wieder da?« Ein zweiter Student tauchte auf, nicht ganz so gut gekleidet. In seinem hageren Gesicht leuchteten die Wangen vor Kälte. Rotbraunes Haar fiel ihm in die Stirn. Erik schüttelte den Kopf und brachte missmutig den Besen wieder in Position. Der zweite Student zögerte. Elin wusste, dass er ihre Wange betrachtete. Rasch zog sie ihre Haube noch ein Stück tiefer in die Stirn.

»Bist du die Treppe hinuntergefallen?«

Elin schüttelte den Kopf. Die Anteilnahme, die in seiner Stimme lag, machte sie verlegen. Flocken setzten sich an ihrem Schultertuch fest und schmolzen auf ihrer Haut.

»Warum sucht ihr hier draußen nach dem Medaillon?«, erwiderte sie statt einer Antwort. Er seufzte, hob die Schultern und deutete auf den verschneiten Schlossgarten.

»Weil Fräulein Ebba vor wenigen Stunden hier war. Vielleicht hast du gehört, dass Königin Kristina in diesem Winter Gäste aus Frankreich beherbergt. Der Sohn des Marquis hat darauf bestanden, den Schlossgarten zu sehen.«

»Einen Garten im Winter? Was gibt es denn da zu sehen?«

»Schnee, wie es ihn in Frankreich bestimmt nicht gibt«, antwortete der Student und lachte. »Wenn du mich fragst, wollte der junge Graf nur mit der schönen Ebba einen Spaziergang machen.« Er zwinkerte Elin zu. »Nun, jedenfalls sitzt er jetzt hübsch im warmen Kabinett und vertreibt sich die Zeit damit, Schach zu spielen. So ist das Leben – die einen am Feuer, die anderen im Schnee.«

Elin zog das Wolltuch fester um die Schultern. An der Stelle, an der die Schneeflocken geschmolzen waren, hatte sich ein nasser Rand gebildet. Der Stoff war durch den eisigen Wind bereits angefroren und schabte über ihren Hals. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete nachdenklich den Weg.

»Wie lange war Ebba Sparre hier draußen?«, fragte sie.

Der Student stützte sich auf seinen Besen.

»Genau weiß ich es nicht. Eine halbe Stunde vielleicht? Vor dem Mittagsmahl habe ich sie wieder die Treppe zum großen Kaminzimmer hinaufgehen sehen.«

Vor Aufregung wurden Elins Wangen ein wenig wärmer.

»Wenn sie so lange in der Kälte war, muss sie ein Nackentuch oder einen Pelzkragen getragen haben.«

»Natürlich, sie trug ein Tuch.«

»Wie sah es aus?«

»Soll das ein Verhör werden?«

Ertappt senkte Elin den Kopf.

»Entschuldigung«, murmelte sie.

Sie nahm die Eimer und wollte sich auf den Weg zu einem unberührten Schneehaufen machen.

»Warte doch!«, rief er ihr nach und rieb seine Hände. »Ein weißes Tuch war es. Mit aufgestickten Blüten.«

»Hampus!«, brüllte Erik. »Bist du da drüben etwa festgefroren?«

Der Student nahm seinen Besen, winkte Elin hastig zu und beeilte sich, zu Erik aufzuschließen. Elin stiefelte mit großen Schritten in den Schnee und begann damit, ihn in den Eimer zu schaufeln und festzuklopfen. Dabei vergaß sie die Kälte und folgte im Geiste Ebba Sparres Weg ins Schloss. Der französische Graf und das Fräulein hatten vermutlich einen Bogen beschrieben und waren durch den Haupteingang wieder ins Schloss gelangt. Die Gemächer der Gäste und das Kaminzimmer lagen im zweiten Stock. Für gewöhnlich legten die Herrschaften ihre Mäntel gleich in der ersten Vorhalle am Fuße der Treppe ab. Der alte Hausdiener Victor war dafür zuständig, die Kleidungsstücke in Empfang zu nehmen, sie in der Kammer neben der Treppe auszubürsten und so aufzubewahren, dass die teuren Stoffe nicht zerknitterten. Wie auf einer Stickerei entstanden in Elins Vorstellung Knoten und Schnüre, die sich überkreuzten und wieder trennten, bis ein Muster der Wege entstand, die Ebba Sparres Medaillon möglicherweise genommen hatte. Hastig klopfte sie sich die Schneeflocken von den Ärmeln und machte sich mit den schweren Eimern auf den Rückweg. Sie konnte es kaum erwarten, Emilia von ihrer Vermutung zu berichten.

»Na endlich!«, keifte Greta und deutete auf den großen Eisentopf über dem Feuer. »Los, los!« Das Gewicht der Eimer zog an Elins Schultern, als sie zu dem großen, gemauerten Ofen lief. In der Wärme, die das offene Feuer abstrahlte, begann der Bluterguss an ihrer Wange wieder schmerzhaft zu pochen. Sie stellte die Eimer neben dem Feuer ab und half dabei, den Topf herumzuschwenken. Während sie geschickt dem heißen Kupfer auswich und den Schnee zerkleinerte, hörte sie, wie hinter ihr gestritten wurde.

»Lasst mich endlich in Ruhe, statt Lügen zu erzählen!« Elin fuhr herum. Emilia! Mit Tränen in den Augen stand die Magd am Hackklotz, wo sie mit wütenden Bewegungen ein Stück Fleisch von Sehnen und Silberhaut befreite.

»Und du warst es doch«, ereiferte sich der Hilfskoch. »Heute Mittag bist du zu den Vorratsräumen gegangen – und man hat dich viel zu lange nicht gesehen. Kurz darauf war das Medaillon verschwunden.«

Ein unsichtbarer Graben teilte die Küche in zwei Hälften – auf der einen Seite die Hilfsköche, Greta und die Mägde – und ganz allein auf der anderen Seite: Emilia! Als sie Elin sah, lächelte sie gequält und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Noch nie hatte Emilia so erschöpft und müde ausgesehen. Sogar ihr leuchtend rotes Haar wirkte stumpf und zerzaust und die grauen Strähnen in dem dicken Zopf fielen noch mehr auf als sonst. Nur Elin wusste, warum sich die Magd so lange in der Vorratskammer aufhielt. In einer der Nächte hatte Emilia ihr anvertraut, dass sie manchmal nicht anders konnte, als sich an ein Fass zu lehnen und zwischen den Schinken und den Holzbehältern mit getrockneten und eingelegten Pilzen die Augen zu schließen, bis die Erschöpfung ein wenig nachließ.

»Mir reicht es jedenfalls mit dir«, meinte Greta. »Ich werde den Diebstahl melden.«

»Melde doch, was du willst!«, erboste sich Emilia. »Bei mir wird keiner Schmuck finden.«

»Das werden wir ja sehen! Verdammtes Finnenpack!«, giftete Ida.

»Pass auf, was du sagst!« Emilia hatte das Messer erhoben, an dem noch ein Stück Silberhaut klebte. Der Feuerschein spiegelte sich in der Klinge.

»Nimm das Messer herunter, du Hexe!«

Zischend schmolz der Schnee im Kupfertopf. Alle starrten Ida an. Sie wurde zwar rot, aber sie warf herausfordernd den Kopf zurück und stemmte die Hände in die Hüften. »Und wenn sie keine Hexe ist, dann ist sie doch eine Diebin«, sagte sie trotzig. Elin erwartete, dass Greta sie zur Rede stellen würde, aber die Köchin machte keine Anstalten, Emilia in Schutz zu nehmen.

»Hört auf mit dem Streit«, sagte sie nur. »Das werden andere entscheiden.« Emilia wurde so blass, dass die Sommersprossen in ihrem Gesicht leuchteten. Das Messer sank herunter und baumelte in ihrer Hand wie ein welkes Blatt an einem Ast. Elin wandte sich um und betrachtete die kupfernen Bettpfannen, die an ihren langen Stielen neben dem Ofen aufgehängt waren. Bevor die Herrschaften zu Bett gingen, wurden die flachen Behälter mit Glut gefüllt und unter die klammen Decken geschoben, bis das Bett warm und trocken war. Aber es gab nicht nur Bettpfannen, sondern auch kupferne Wärmflaschen, in denen ein erhitztes Eisenstück Platz fand. Die letzten Schneebrocken zerfielen in Elins Händen und lösten sich im Wasser auf. Es gab nur einen Weg, Emilia zu helfen. Er führte zu Victor.

Verstohlen griff sie zum Schürhaken und zog eines der heißen Eisenstücke, die am Rand des Feuers lagen, zu sich heran. Mit wenigen Handgriffen hatte sie es in ein Stück Küchenleder eingeschlagen, nahm die Wärmflasche und ließ das Eisen hineingleiten.

»Was machst du da?«, fragte der Suppenkoch.

»Ich soll Victor einen Beinwärmer bringen«, murmelte Elin. »Einer der Gäste hat darum gebeten.« Sie hoffte, der Koch würde nicht sehen, wie rot sie wurde. Aber der knurrte nur etwas und drängte sie beiseite. Elin drückte die Kapsel an sich und schob sich zur Tür.

»He!«, rief Greta. »Wo willst du hin?«

»Zu Victor!«, antwortete der Suppenkoch an Elins Stelle. »Er will die Wärmflasche für einen Gast haben.«

»Du gehst nicht!«, befahl Greta. »Maditt – bring du sie ihm! Das fehlt mir gerade noch, dass eine räudige Katze wie die da der Herrschaft vor den Füßen herumläuft.«

Alle Blicke richteten sich nun auf Elin. Das Kupfer der Wärmflasche hatte die Hitze des Eisens noch nicht angenommen, dennoch fühlte Elin sich, als würde Glut durch ihre Adern strömen, jeden Gedanken und jede Vernunft verzehrend. In diesem Augenblick hasste sie die Köchin aus vollem Herzen – mehr, als sie die Gudmunds je gehasst hatte.

Sie warf Greta einen herausfordernden Blick zu, drehte sich zur Tür und rannte los. Gretas empörter Aufschrei beflügelte ihre Schritte. »Dir gerbe ich das Fell!« Grimmiger Triumph wallte in Elin auf. Es würde Prügel setzen, ja, aber dafür musste Greta sie erst einmal erwischen! Bei jedem Schritt schlug das Eisen gegen die Wände seiner kupfernen Kammer.

»Haltet sie!«, zeterte Greta am Ende des Dienstbotengangs. Doch Elin hatte bereits die Treppe erreicht. Mit einer Hand raffte sie ihren Rock und nahm zwei Stufen auf einmal. Keuchend sprang sie weiter, die heiße Kapsel fest unter den Arm geklemmt. Schon war sie sicher, jeden Moment eine Hand auf ihrer Schulter zu spüren, als ihr plötzlich klar wurde, dass die Schritte, die sie hörte, nur ein Hall waren, der von den glatten Wänden zurückgeworfen wurde. Die Rufe waren verstummt. Elin erreichte die letzte Stufe, fegte um die Ecke und hielt keuchend inne. Sie drückte sich an das kalte Mauerwerk und lauschte den trommelnden Schlägen ihres Herzens. Tatsächlich, niemand folgte ihr! Zumindest ein wenig Zeit hatte sie gewonnen. Mit zitternden Fingern rückte sie ihre verrutschte Haube zurecht. Schließlich holte sie tief Luft und betrat den Seitengang, der zur großen Vorhalle führte.

Sie hatte Glück – in der Halle befanden sich keine Gäste, nur Victor saß auf einem Holzstuhl neben der Treppe und wartete geduldig wie immer darauf, dass jemand durch das Tor eintrat.

»Victor!«, rief sie ihm leise zu. Der Lakai schrak hoch und stand wenig später kerzengerade neben dem Stuhl. In seiner Jugend musste Victor ein schöner Mann gewesen sein, nun aber hingen die prächtig bestickten Schöße seiner Livree traurig herab und seine Beine in den Halbhosen und den hellen Strümpfen sahen mager aus. Als er erkannte, wer ihn gerufen hatte, verlor er seine gerade Haltung und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.

»Die Kleine von den Königshügeln«, brummte er. »Was bringst du?«

»Heute kein heißes Bier«, antwortete Elin. »Dafür aber etwas zum Aufwärmen.«

»Oh gut«, sagte er. »Meine alten Knochen sind heute aus Eis.« Sein hageres Gesicht verzog sich zu einem besorgten Lächeln. »Dein Gesicht glüht ja, Kind. Hast du Fieber?«

»Greta ist hinter mir her«, flüsterte Elin. »Ich brauche deine Hilfe!«

»Greta, hm. Da kann ich dir nicht helfen. Sie ist deine Herrin, ich bin nur für die Gewänder zuständig.«

»In der Küche verdächtigen sie Emilia, das Medaillon gestohlen zu haben!«, sprudelte es aus Elin heraus. »Ich will nicht, dass sie ihre Arbeit verliert.«

Victors Gesicht verdüsterte sich. Resigniert schüttelte er den Kopf.

»Diese Meute«, murmelte er. »Emilia würde nie stehlen. Aber ich fürchte, jemand wie du kann da nichts machen.«

»Vielleicht doch! Aber dazu muss ich etwas wissen – über Fräulein Sparre.«

»So? Was denn?«

»Ich habe gehört, dass sie heute im Park war.«

»Ja, natürlich. Ganz verfroren war sie, als sie vom Spaziergang zurückkehrte. Und unser französischer Gast auch …«

»Sie trug ein Tuch. Hat sie es bei dir abgelegt? Kann ich … es sehen? Bitte!« Victor runzelte die Stirn. »Es ist weiß«, drängte Elin. »Mit Blumenranken.«

»Ach das! In der Kleiderkammer ist es nicht. Als sie es abnahm, ist sie mit ihrem Ring daran hängen geblieben und aus der Stickerei haben sich Fäden gezogen. Deshalb habe ich das Tuch nach dem Spaziergang auf Fräulein Sparres Geheiß der Kammerfrau der französischen Gäste bringen lassen. Sie versteht sich auf diese Art der Stickerei und wird es ausbessern. Was hast du vor?«

Auf der Treppe zum Dienstbotengang wurden Schritte laut. Elin trat näher an Victor heran.

»Sie dürfen mich nicht finden«, flüsterte sie. »Ich kann Emilia vielleicht helfen. Aber dazu muss ich erst das Tuch sehen.« Der alte Diener war bleich geworden. Seine Unterlippe zitterte vor Anspannung. »Wo ist die Kammer, in der das Tuch liegt, Victor? Ich schwöre, ich mache dir keine Schwierigkeiten – wenn dich jemand fragt, sag einfach, du hast mich nie gesehen!«

Elin blickte sich um. Gleich würde die Tür auffliegen und Greta würde Elin in die Küche zurückschleppen. Und diesmal würde sie sicher nicht mit einem blauen Fleck davonkommen. Victor schien den gleichen Gedanken zu haben.

»Gut, Mädchen. Geh diese Treppe hier hinauf und nimm oben die Schürze ab, verstanden? Die Gardisten und die Diener sind heute nicht besonders aufmerksam – und wenn dich jemand fragt, sag, du bringst die bestellte Wärmflasche für Madame Joulain. So heißt die Kammerfrau der Marquise. Kannst du dir das merken?« Elin hielt die Luft an und nickte. In knappen Worten beschrieb der alte Diener den Weg.

»Danke!«, flüsterte sie und rannte los. Nur ganz am Rande vernahm sie, wie unten die Tür zum Dienstbotengang aufging. Victors unterwürfige Stimme klang zu ihr herauf. Völlig außer Atmen kam sie endlich bei der obersten Treppenstufe an und rannte zu einem der Fenster, durch die diffuses Schneelicht hereinfiel. Obwohl es erst Nachmittag war, senkte sich bereits die Dunkelheit über Uppsala. Elin zog die Schürze aus, knüllte sie zusammen und verbarg sie unter einem der Vorhänge. Sie drückte das beruhigend heiße Kupfer an ihre Brust und lief los.

Niemals zuvor war sie in diesem Teil des Schlosses gewesen. Einmal zog sie sich hinter einen Vorhang zurück, bis zwei Gardisten an ihr vorbeigegangen waren. Sie huschte an Türen vorbei und vernahm Gesprächsfetzen in fremden Sprachen. Unbehelligt kam sie am dritten Gang an und stand, wie Victor es ihr gesagt hatte, vor einer getäfelten Tür. Elin nahm ihren ganzen Mut zusammen und klopfte.

Das Gesicht einer Kammerfrau erschien. Sie war in ein schwarzes Kleid geschnürt und sah aus wie ein trauriger Schoßhund. Ihr weißes Haar war zu winzigen Löckchen gedreht, ein beinahe erschreckender Kontrast zu ihren tiefen Falten und ihrem zerknitterten Mund. Elin wurde sich bewusst, dass sie das groteske Gesicht anstarrte. Schnell machte sie einen Knicks.

»Der Beinwärmer für Madame Joulain«, sagte sie leise.

Die Frau runzelte die Stirn.

»Wir haben nicht danach rufen lassen.«

Elin tat so, als würde das große Gewicht der Kapsel sie nach unten ziehen.

»Davon weiß ich nichts«, sagte sie unterwürfig. »Mir wurde lediglich aufgetragen, Ihnen das hier zu bringen.«

»Seit wann verrichtet das Küchenpersonal die Arbeit der Diener?«

»Alle Diener sind auf der Suche nach dem Medaillon.«

Angewidert betrachtete die Frau Elins Rock, der am Saum noch durchnässt war. Elin verzog das Gesicht, als hätte sie sich an dem heißen Kupfer verbrannt, und schüttelte die Hand in gespieltem Schmerz.

»Nun gut, komm herein«, sagte die Kammerfrau endlich. Die Tür schwang auf. Ein rechteckiger Raum mit zwei Verbindungstüren zu den anderen Zimmern wurde sichtbar. Im Kamin flackerte ein träges Feuer vor sich hin. Vor dem Fenster, das halb hinter schweren Vorhängen verborgen war, trieb Schnee vorbei. Die alte Kammerfrau mit den Locken eines jungen Mädchens sagte etwas in französischer Sprache, das sich für Elin anhörte, als würde jemand mit einer Halsentzündung nuscheln.

Die angesprochene Dame, die in viel zu dünner Kleidung in einem Sessel saß, hatte Haut wie Milch und bläulich angelaufene Fingernägel. Ihre Dekolletage war so tief ausgeschnitten, dass es Elin schon beim Hinsehen fror. Die Dame hustete und blickte von ihrer Näharbeit auf. Elin war froh, sich an der Wärmflasche festhalten zu können. Ihre Hände zitterten vor Aufregung und das Herz pochte ihr bis zum Hals.

»Die Wärmflasche für Madame … Joulain«, sagte sie kaum hörbar.

Die Kammerfrau zog eine Augenbraue hoch und übersetzte Elins Worte. Die Dame antwortete etwas und schenkte Elin ein flüchtiges Lächeln.

»Na los, bring sie ihr!«, befahl der zerknitterte Mund. »Und hilf gleich dabei, den Sessel zum Feuer zu drehen.« Elin gehorchte. Ihre Knie waren weich, als sie näher trat, den Sessel wie befohlen verschob und die Wärmflasche auf die Stelle am Boden legte, auf die Madame Joulain deutete. Ein süßer Duft schlug ihr entgegen. Ein wenig roch es nach verbrannten Kräutern, aber auch nach Blüten – mitten im Winter. Die Hofdame duftete nach Rosen!

»Bien«, sagte Madame Joulain und hustete wieder. Dann nahm sie im Sessel Platz und lüpfte ihre Röcke. Ein Fuß in einem mit einer Schleife verzierten Schuh erschien. Mit einer anmutigen Bewegung schob die Dame die Wärmflasche unter die mit Spitzen besetzten Unterröcke und ließ den Stoff darüber fallen. Dann beugte sie sich über ihre Näharbeit und vergaß Elin auf der Stelle. Es war nicht Ebbas Tuch, das sie ausbesserte, sondern ein Stück mit Silber durchwirkter Brokat, in den die Dame eine Blume stickte. Langsam zog sich Elin in Richtung Tür zurück. Sie wusste nicht, ob sie sich umdrehen durfte, also schlurfte sie rückwärts zur Tür. Dabei sah sie sich in dem Raum um. In einem Korb auf einem Holzsekretär lag etwas, das an eine Wolke erinnerte – weißer Stoff bauschte sich dort. Eine rote Ranke lugte über den Korbrand. Fräulein Ebbas Tuch! Elin zögerte.

»Ist noch etwas?«, fragte die Kammerfrau.

»Nein.«

»Dann geh!«

Schon lag Elins Hand auf der Bronzeklinke. Fieberhaft überlegte sie, während sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Dann entdeckte sie etwas, das vor Madame Joulains Füßen lag. Das Garnknäuel war heruntergefallen und in die Nähe des Feuers gerollt. Irgendjemand musste Elins Stoßgebet erhört haben! Sie räusperte sich.

»Madame Joulain hat ihr Garn verloren.«

»Tatsächlich«, erwiderte der weißhaarige Drache trocken. »Danke. Und jetzt geh!«

Elin drückte die Klinke hinunter, aber sie öffnete die Tür noch nicht. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie die Kammerfrau Madame Joulain das Garnknäuel reichte. Elin nutzte diesen Augenblick der Unaufmerksamkeit, öffnete die Tür und schloss sie gleich darauf wieder etwas zu laut. Fast im selben Moment huschte sie zur großen Kleidertruhe, die neben der Tür stand, und versteckte sich dahinter. Der Duft von gewachstem Holz und parfümiertem Stoff drang ihr in die Nase. Ihre Wange streifte einen Samtrock, der über der Truhe ausgebreitet war. Elin zuckte zurück. Ein Lachen der Französin war vernehmbar, das in ein trockenes Husten überging. Elin hörte das Schleifen eines Rocks auf dem Holzboden und dann leise Stimmen im Nebenzimmer. Auf allen vieren kroch sie zum Rand der Truhe. Nur wenige Schritte entfernt befand sich der Korb mit dem Tuch. Noch einmal holte sie tief Luft, dann wagte sie einen Blick ins Zimmer. Madame Joulain saß halb von ihr abgewandt, ganz in ihre Stickerei vertieft. Elin konnte ihren Nacken sehen. In Gedanken zählte sie bis drei, dann huschte sie los.

Sie zögerte nur kurz, bevor sie den feinen Stoff befühlte. So musste sich das Feenhaar anfühlen, von dem Emilia so gern erzählte. Und inmitten dieser Weichheit ertastete sie einen kleinen, harten Gegenstand. Ein Lächeln breitete sich über Elins Gesicht. Am liebsten hätte sie einen Triumphschrei ausgestoßen. Das Medaillon war überraschend klein. Die Blütenblätter waren so filigran, dass Elin fürchtete, sie durch eine unachtsame Bewegung zu zerdrücken. Behutsam hakte sie den verbogenen Verschluss vom Stoff los, nahm das Schmuckstück an sich und schlich, so schnell und so leise sie konnte, aus dem Zimmer.

In ihrer heißen Hand pochte es, als hielte sie ein Herz aus Gold umschlossen. Ohne auf die verwunderten Blicke der Lakaien zu achten, rannte sie über die Flure. Nun musste sie so schnell wie möglich zu Victor! Endlich kam der dunkelgrüne Vorhang in Sicht. Schon von weitem erkannte Elin die Stelle, an der der Samt eine schräge Falte warf. Mit flinken Händen tastete sie unter den Saum und fand ihre Schürze. Der Vorhangstoff fiel schwer auf ihre Schulter. Sie versuchte ihn mit einer unwirschen Bewegung abzuschütteln, aber es wollte ihr nicht gelingen. Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und kippte in der Hocke um. Irritiert blickte sie auf zwei bestrumpfte Beine. Der Griff an ihrem Oberarm verstärkte sich, bis er schmerzte. Olofs Gesicht sah gar nicht mehr freundlich und hübsch aus.

»Was hast du hier verloren?«, zischte er sie an. »Na warte, wenn Greta dich in die Finger bekommt!« Elin stemmte sich gegen den harten Griff, zog das linke Knie an den Körper und trat Olof gegen das Schienbein. Sein Aufschrei gellte ihr noch im Ohr, als sie sich längst aufgerappelt hatte und zur Treppe floh. Aber sie hatte nicht mit seiner Schnelligkeit gerechnet. Kurz vor der Treppe erreichte er sie und packte sie am Kragen. Elin wirbelte herum. Der Stoff ihrer Jacke würgte sie, aber es gelang ihr, sich unter Olofs Arm umzudrehen und sich aus dem Griff zu winden. Wenn er sich nicht die Finger verrenken wollte, musste er sie loslassen. Plötzlich erstarrte der Tischdiener.

»Was hast du da?« Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die goldene Kette an, die zwischen ihren Fingern hervorbaumelte. »Das Medaillon! Du hast es also gestohlen!«

Elin riss sich mit aller Kraft los. Wie sie richtig vermutet hatte, war Olof viel zu besorgt um seine Finger und seine makellose Livree, als dass er sich auf ein ernsthaftes Gerangel eingelassen hätte. Im Laufen sah sie sich nach ihm um. Sie wunderte sich, dass er sie nicht verfolgte. Der Diener stand nur da, mit offenem Mund und einem törichten Gesichtsausdruck. Er sieht gar nicht mich an, schoss es Elin durch den Kopf. Im selben Moment prallte sie gegen eine Schulter. Ein schwerer Rock wickelte sich um ihre Beine und ließ sie straucheln. Mit einem Keuchen stürzte sie zu Boden. Der Duft von gewachstem Holz stieg ihr in die Nase. Elin stützte sich auf den Händen ab und schnellte hoch. Flüchtig blickte sie in zwei empörte blaue Augen, dann nagelte eine tiefe, ungehaltene Stimme sie fest.

»Haltet sie!« Elin wusste nicht, woher die zwei Gardisten plötzlich aufgetaucht waren. Grobe Hände packten sie. »Los, hierher zu mir!« Im schwachen Licht des Gangs glänzte unheilvoll das Eisen der Langwaffen. Die anderen Soldaten traten zur Seite und gaben den Blick frei auf eine zornige junge Frau. Sie war kaum größer als Elin, aber die Wut verlieh ihr eine Aura aus Blitz und Donner. Ihre Augen sprühten vor Wut. Der Griff um Elins Arm lockerte sich, dafür spürte sie jetzt einen groben Kniff in die Seite.

»Verbeuge dich vor der Königin«, raunte einer der Gardisten ihr zu. »Los, runter mit dir!«

Sie hatte Königin Kristina umgerannt? Mehr aus Schreck als aus Gehorsam klappte sie in einem tiefen Knicks zusammen. Sie war verloren. Dafür würde der Henker sie holen! Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Also?«, fuhr die Königin sie an. »Was zum Teufel treibst du hier?«

Elin brachte vor Schreck kein Wort heraus, dafür verbeugte sich Olof mit einem Lächeln und trat vor.

»Erlauben Sie mir, es zu erklären, Ihre Majestät. Diese Magd hat das Medaillon. Unter dem Vorhang dort hinten hatte sie es versteckt. Vermutlich wollte sie es holen, bevor ein Diener es findet.«

Ein Raunen und Flüstern schwoll um Elin herum an. Mit einem Mal schien sich das halbe Schloss auf dem Gang versammelt zu haben. Brokatgewänder raschelten, Degen klirrten. Goldschmuck und weiße Spitzenkragen leuchteten im flackernden Licht der Wandkerzen. Und mitten unter diesen Edelleuten stand wirklich und wahrhaftig die Königin! Das hellbraune, lockige Haar hatte sie eher nachlässig hochgesteckt, kein einziges Schmuckstück funkelte auf ihrer Haut. Sie war nicht einmal besonders hübsch. Dafür war ihre Nase zu lang und außerdem ein wenig gebogen und ihr Gesicht nicht weich genug.

»Hast du Ebbas Medaillon?«, richtete die Königin das Wort an Elin.

Zögernd streckte Elin die Hand aus. Es tat weh, die verkrampften Finger zu öffnen.

»Meine Rose!« Nachtblauer Brokat leuchtete auf. Wenn Madame Joulain Elin hübsch wie der Mond erschienen war, dann war Ebba Sparre die Sonne. Ihre Augen, die sanft und ein wenig traurig waren, leuchteten vor Freude auf, als sie das Medaillon behutsam an sich nahm. Auf Elins Handfläche blieb ein schwacher Abdruck der goldenen Rose zurück.

»Wo hast du sie her?«, fragte die junge Hofdame.

»Ich habe sie gefunden.«

»Wo?«

»Bei … Madame Joulain.«

Ein Lachen wurde laut, die Damen tuschelten. Ihre Majestät schien die Antwort allerdings nicht so lustig zu finden. Elin beobachtete sie wie ein zum Tode Verurteilter seinen Henker.

»Steht nicht herum«, sagte Königin Kristina. »Bringt sie in die Kanzlei!«

Der Gardist packte Elin wieder am Arm und zerrte sie den Gang entlang. Die Türen und Vorhänge flogen an Elin vorbei, ohne dass sie sie richtig wahrnahm. Über eine Treppe ging es hinauf, in einen viel prächtigeren Teil des Schlosses. Reich bestickte Wandteppiche zeigten Jagdszenen und sonnige Landschaften. Diener öffneten die Türen zu einem Raum, der so riesig war, dass Elin im ersten Augenblick vor Staunen ihre Angst fast vergaß. Bis zu den Decken erstreckten sich Regale mit Büchern, es roch nach Leder und Holz. Unter Elins Füßen knarrte Parkett, das sich durch die Kälte des Winters verzogen hatte. In der Mitte des Raumes befanden sich ein wuchtiger Schreibtisch und eine Reihe von Stühlen. Ein kleinerer Tisch, gerade groß genug für einen Schreiber, stand am Fenster. Mit wenigen Schritten war Königin Kristina hinter dem Schreibtisch und nahm Platz. Sie läuft nicht wie eine Königin, dachte Elin. Zwei Diener beeilten sich, den Lüster über eine Seilwinde von der Decke herunterzulassen und die Kerzen darauf zu entzünden. Leise schlugen die Kristalle gegeneinander und klingelten wie Glöckchen an einem Winterschlitten.

»Also«, sagte die Königin. »Ich höre. Wer bist du und was hast du mit dem Medaillon zu tun?« Hinter dem riesigen Tisch sah Königin Kristina eher wie ein unwilliges Mädchen aus. Sie wirkte viel jünger als die dreiundzwanzig Jahre, die sie zählte. Elin versuchte etwas zu sagen, aber die Worte blieben in ihrem Mund kleben wie mehliger Brei. Die Höflinge sahen sie erwartungsvoll an, aus ihren Blicken sprach Neugier, aber auch Verachtung und Mitleid. Hier, vor dieser Mauer aus schweigenden Gesichtern, spürte Elin ihre Armut wie einen nassen Mantel an sich kleben.

»Sie heißt Elin Ansgarsdotter Asenban und ist seit einigen Wochen Scheuermagd«, meldete sich Olof mit einem kriecherischen Lächeln zu Wort. »Heute ist sie aus der Küche weggelaufen und …«

Die Tür schwang auf und alle Blicke wandten sich dem Eintretenden zu. Elin biss sich auf die Lippe. Kester Leven, der Sekretär des Bischofs! Heute war die Zornesfalte, die seine Stirn furchte, noch tiefer als sonst.

»Ihre Majestät«, sagte er und verbeugte sich tief. »Ich hörte, Sie haben den Dieb aufgespürt.« Noch während er sich wieder aufrichtete, fand sein Blick Elin.

»Sieh an, Elin von den Gudmundshöfen.«

»Noch ist überhaupt kein Diebstahl geschehen«, entgegnete die Königin.

»Aber ich habe sie erwischt!« Rote Flecken leuchteten auf Olofs Wangen.

Die Königin hob die Hand. »Ich pflege mir immer alle Seiten anzuhören«, sagte sie. »Im Reichstag in Stockholm sprechen alle Stände, bevor ein Urteil gefällt wird. Zwei Leute glauben bereits, dass ein Diebstahl geschehen ist. Aber das Mädchen hat noch kein einziges Wort gesagt. Also, Elin Ansgarsdotter, hast du das Medaillon gestohlen?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Hast du deine Zunge verschluckt?«, fuhr Kester Leven sie an.

»Nein«, brachte Elin kaum hörbar hervor.

»Die Herren hier wirst du schwerlich nur mit einem Wort überzeugen«, sagte die Königin. »Verteidigen musst du dich schon selbst, wenn es kein anderer für dich tut. Also, erzähle uns die ganze Geschichte.«

Ebba Sparre, die schräg hinter der Königin stand, nickte und lächelte ihr aufmunternd zu. Vielleicht war es dieses Lächeln, das die Starre in Elins Kehle löste. Mit einem Mal war sie wütend auf all die Leute, die sie so unverhohlen anstarrten, als wären sie Jäger und Elin der Wolf, den sie in die Enge getrieben hatten. Sie hob den Kopf.

»Ich habe das Medaillon gesucht«, begann sie. »Fräulein Sparre trug kein Nackentuch im Schloss, obwohl es so kalt ist. Aber heute Mittag, als sie mit dem französischen Gast im Park spazieren ging, hatte sie sich eines umgelegt. Deshalb habe ich Victor gefragt, ob er das Tuch nach dem Spaziergang in die Kleiderkammer gebracht hat. Er sagte mir, dass Madame Joulain es ausbessert. Nun, dann bin ich eben zur ihr gegangen und habe ihr den Beinwärmer gebracht.« Ihre Hände zitterten, als sie in der Luft nachzeichnete, was sie gesehen hatte. »Dort lag das Tuch in einem Korb – und darin war, wie ich vermutet hatte, das Medaillon.«

»Jemand hat das Medaillon also im Korb versteckt?«, fragte Leven streng.

»Nein … ich denke, es ist versehentlich dort hineingeraten. Der Verschluss hatte sich schon während des Spaziergangs in einer der Stickereien verhakt. Das passiert sehr leicht. Und wenn es kalt ist, verliert man zudem das Gefühl auf der Haut und merkt nicht, wenn die Kette sich öffnet. Der Hakenverschluss war nur ein wenig verbogen, aber der Spalt war groß genug, um den Verschlussring hindurchgleiten zu lassen. Niemand hatte es bemerkt, auch Fräulein Ebba nicht, als sie das Tuch ablegte.«

»Woher wusstest du, dass es Ebbas Tuch war?«

»Ein Student hat es mir beschrieben.«

»Und woher weiß jemand wie du so viel über Ketten und Verschlüsse?«, insistierte der Sekretär mit scharfer Stimme.

»Frau Gudmund ist einmal etwas Ähnliches passiert.«

»Der Haken war tatsächlich bereits ein wenig verbogen«, sagte Ebba. »Ich wollte ihn längst wieder richten lassen.«

»Und warum hast du das Medaillon an dich genommen?«, bohrte Kester Leven weiter.

»Um es Victor zu bringen. Er sollte sagen, dass er es gefunden hat. Dann …«

»Was dann?«

Die Königin lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»Dann … wäre Emilia nicht mehr verdächtigt worden.«

»Emilia?«

»Die finnische Küchenmagd«, erklärte Kester Leven. »Sie stammt ebenfalls aus Gamla Uppsala und kannte die Tante des Mädchens, als diese noch lebte. Kürzlich ist sie Witwe geworden. Wir haben ihr Geld aus der Armenkasse gegeben.«

Elin holte tief Luft.

»Die in der Küche verdächtigen sie, das Medaillon gestohlen zu haben.«

»Und du dachtest, wenn du das Medaillon findest, kannst du diesen Vorwurf entkräften«, stellte die Königin fest.

Elin nickte.

»Ihr Mann ist vor ein paar Wochen auf einem deutschen Schlachtfeld erschossen worden«, sagte sie. »Sie hat alles verloren, was sie hatte. Ihre zwei jüngsten Kinder musste sie bei Nachbarn in Gamla Uppsala lassen. Emilia darf ihre Arbeit nicht verlieren, sonst …«

Sie verstummte und hob den Blick. Die Königin sah sie aufmerksam an. Im Raum war es so leise, dass Elin sich einbildete, die Schneeflocken zu hören, die gegen die Fenster geweht wurden.

»Ich verstehe«, sagte die Königin nach einer langen Pause. »Aber warum hast du denn nicht einem Lakaien erzählt, wo du das Medaillon vermutest, und ihn die Suche in die Wege leiten lassen? Es war sehr waghalsig, in Madame Joulains Gemach zu schleichen. Du hättest erwischt werden können, dann wärst du es, die jetzt keine Arbeit mehr hätte.«

Darauf fiel Elin keine Antwort ein. Kester Leven sah sie streng an, als hätte er das Urteil über sie bereits gesprochen. Olof trat vor.

»Ich weiß, warum sie es getan hat. Weil sie aus der Küche weglaufen wollte. Sie ist eine Unruhestifterin und sie drückt sich vor der Arbeit.«

»Bekommt sie deswegen Prügel?« Die Frage brachte den Diener sichtlich aus der Fassung.

»Sie ist gestolpert und in einen Stapel mit Holzscheiten gefallen«, antwortete er. »Sie ist … ungeschickt.« Er warf Elin einen warnenden Blick zu. Für einen Moment war es, als könne sie seine Gedanken lesen. Er würde alles tun, um Greta zu schützen. Elins Wort stand gegen seins.

Die Stimme der Königin war unerbittlich.

»Stimmt das, Elin?«

Elin ballte ihre Hände zu Fäusten und funkelte Olof an.

»Nein«, erwiderte sie laut und deutlich. »Greta, die Köchin, hat mich verprügelt.«

Die Königin zog eine Braue hoch und legte die Fingerspitzen aneinander.

»Was sagst du nun, Olof?«

Der Diener fletschte die Zähne zu einem misslungenen Lächeln.

»Mag sein, dass die Köchin ihr eins übergezogen hat«, räumte er ein. »Aber nicht zu Unrecht, das Mädchen ist verstockt und unverschämt.«

»Das stimmt nicht!«, sagte Elin. »Ich bin nicht unverschämter als Ida oder Maditt.«

»Und warum schlägt Greta dich dann?«, bohrte die Königin weiter. »Was hast du getan, Elin?«

»Nichts. Ich … bin nur nicht die richtige Person.«

»Und wer wäre die richtige Person?«

»Gretas Tochter. Greta hat fest damit gerechnet, dass sie für die Zeit des königlichen Besuchs in der Küche aushelfen kann, aber der Herr Sekretär hat stattdessen mich aus der Küche des Bischofs geholt.«

»Ich verstehe«, sagte die Königin. Ebba Sparre räusperte sich, beugte sich zu Königin Kristina und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Wie heißt Gretas Tochter?«, wandte sich die Königin an Olof.

Das Gesicht des Dieners war von einer flammenden Röte überzogen, auch wenn er immer noch das verzerrte Lächeln zur Schau trug.

»Annagrit Lund.«

Die Königin nahm ein Blatt, griff zur Schreibfeder und tauchte die Spitze in die Tinte. Gespannt verfolgten alle im Raum, wie sie schnell einige Worte schrieb, während sie weitersprach.

»Nun, nichts ist wichtiger, als die richtigen Personen an den richtigen Stellen zu wissen – das ist im Staatsdienst so und nicht anders in der Küche. Kannst du reiten, Elin?«

Elin glaubte, sich verhört zu haben, aber an den verblüfften Gesichtern der Anwesenden erkannte sie, dass die anderen dieselbe Frage vernommen hatten.

»Nein«, antwortete sie. »Aber auf Gudmunds Hof habe ich oft dabei geholfen, die Pferde anzuschirren.«

Die Königin lächelte und wandte sich an Kester Leven.

»Wenn der Herr Bischof nichts dagegen hat, wird ab jetzt Annagrit Elins Platz in seiner Küche einnehmen. Ich bin sicher, sie wird diese Stelle weitaus besser ausfüllen, denn wie Olof teile ich die Meinung, dass Elin in der Küche nicht an der richtigen Stelle ist.«

Elin schloss für einen Moment die Augen. Aus, vorbei. Sie hatte ihre Arbeit verloren. Man rannte nicht ungestraft die Königin um. Würden die Gardisten sie nun in den Kerker schleppen? Mit einer anmutigen Geste streute die Königin Sand auf das Papier, um die noch feuchte Tinte zu fixieren, stand schwungvoll auf und überreichte das Schreiben dem Sekretär. »Seien Sie so freundlich und überreichen Sie diese Bitte dem Bischof. Sagen Sie ihm, ich möchte diese Angelegenheit heute Abend mit ihm besprechen.«

Kester Leven nahm das Papier mit einer Verbeugung entgegen.

»Natürlich, Ihre Majestät«, murmelte er. »Sie haben eine gute Entscheidung getroffen. Ich selbst habe den Fehler gemacht, Elin aus Barmherzigkeit die Stelle zu geben, für die Annagrit viel besser geeignet ist. Ich werde sie heute noch in die Bischofsresidenz zurückschicken. Es ist sicher in Ihrem Sinne, wenn ein armes Christenkind …«

»Oh nein!«, rief Kristina. »Sie haben mich nicht richtig verstanden. Jemanden, der seinen Verstand so gut zu gebrauchen weiß und dabei auch noch so viel Wagemut zeigt, kann ich besser in Stockholm gebrauchen als hier in der Küche.«

Das Lächeln des Sekretärs gefror. Elin schlug die Hand vor den Mund und starrte die Königin an. Ebba Sparre lächelte. Kester Leven sah mit einem Mal so aus, als hätte er Honig erwartet und Essig bekommen.

»Aber Majestät«, wandte er zähneknirschend ein. »Sie wissen nichts über sie. Sie ist … ein Hurenkind. Ihr Vater war ein schwedischer Soldat und seine deutsche Buhle starb auf einem Schlachtfeld, noch bevor die Tochter zwei Jahre alt war. Er ließ den Bastard nach Schweden zu seiner Schwester bringen. Als diese starb, nahm die Familie Gudmund sie auf, bis ihr Vater heimkehren würde. Nur holte er sie dort nie ab, weil er ebenfalls starb. In ihrer Güte zogen die Gudmunds das Kind auf. Und als ihr Erbe als Unterhaltsgeld aufgezehrt war und die Familie Gudmund keine Mittel mehr hatte, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bat ich den Herrn Bischof, sie aufzunehmen – für diesen einen Winter, bis sie sich selbst in der Stadt verdingen kann. Wie Sie wissen, war ich früher Pfarrer in Gamla Uppsala und kenne die Familien dort gut. Aber ich ahnte nicht, dass dieses Mädchen so … undankbar ist.«

Elin ballte ihre Hände zu Fäusten und kämpfte gegen die Tränen an.

»Ich bin nicht undankbar«, entfuhr es ihr. »Und wer auch immer meine Mutter gewesen ist, sie hat genauso an Gott geglaubt wie Sie.« Die plötzliche Schärfe ihrer Worte wurde ihr erst in dem Moment bewusst, als sie den Satz aussprach. Unwillkürlich zog sie die Schultern hoch. In Gudmunds Haus hätte sie für eine solche Unverschämtheit eine Ohrfeige eingesteckt.

»Also zur Hälfte eine Hure und zur Hälfte ein Soldat«, erwiderte die Königin trocken. »Sicher nicht die schlechteste Mischung, um sich durchs Leben zu schlagen. Und ehrlich ist sie auch. Was man nicht von allen hier behaupten kann.« Olof blickte zu Boden.

»Elin Asenban hat das Medaillon nicht gestohlen«, verkündete die Königin. »Meine liebe Freundin Ebba ist ihr sehr dankbar, dass sie das Schmuckstück wieder gefunden hat. Ich verlasse mich darauf, dass Emilia nicht länger verdächtigt wird und dass Elin morgen Früh in der Eingangshalle wartet und zur Reise bereit ist.« Sie lehnte sich zurück und blickte sich in der Runde um. »Wir haben unsere Gäste lange genug warten lassen, denke ich. Gehen Sie schon voraus!« Auf ihren Wink zogen sich die Höflinge zurück. Ihr Getuschel und Gekicher war noch lange im Gang zu hören. Der Sekretär warf Elin noch einen drohenden Blick zu, machte nach einer zackigen Verbeugung auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

»Ich danke dir!«, rief Ebba Sparre der Königin zu. »Ich wusste, dass die Kleine hier unschuldig ist. Du hast klug entschieden!«

»Freu dich nicht zu früh, Belle«, entgegnete die Königin. »Wenn ich sie richtig einschätze, werden wir auf Tre Kronor noch genug Ärger mit ihr haben.«

Tre Kronor! Beim Gedanken an das Schloss zu Stockholm wurde Elin schwindlig. Emilia erzählte jede Nacht davon – in Stockholm waren alle Häuser schön und sauber, die vergoldeten Giebel blendeten jeden, der zu ihnen hochsah, die Arbeit war leicht und die Schiffe aus fernen Ländern brachten prachtvolle Stoffe, duftende Gewürze und Wein, so schwer und süß wie Nektar.

»Oh, wer so gut auf meinen Schmuck aufpasst, für den wird sich schon eine Aufgabe finden«, erwiderte Fräulein Ebba. Ihr Lächeln spiegelte sich im Gesicht der Königin wider und ließ es ein wenig weicher aussehen.

»Wie du meinst«, schloss Kristina das Gespräch. Schwungvoll stand sie auf und ging um den Tisch herum, bis sie direkt vor Elin stand. Erst jetzt fiel Elin eine seltsame Unregelmäßigkeit auf: Die rechte Schulter der Königin stand ein wenig höher als die linke. War Kristina verletzt?

»Wie alt bist du?«

»Fünfzehn, Ihre Majestät.«

»Lass das Knicksen und sieh mich an! Sag mir ganz ehrlich: Warum hat dich Leven wirklich von Gudmunds Hof geholt?«

Elin holte tief Luft. Blitzschnell überlegte sie sich eine Hand voll höflicher Antworten, aber jede von ihnen klang falsch. Schließlich entschied sie sich für die einfachste.

»Weil … viele Leute zugeschaut haben. Der Pfarrer war da und zwei andere Gutsbesitzer, die beratschlagten, was mit mir geschehen sollte. Sie waren sehr beeindruckt von Herrn Levens Mildtätigkeit und Güte.«

Die Königin warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.

»Hör dir das an, Belle!«, rief sie Ebba Sparre zu. »Dumm ist sie auch nicht. Oh, das Mädchen wird es auf Tre Kronor wahrhaftig nicht leicht haben!«

Zügel im Schnee

»Das Erste, was ich von Stockholm gesehen habe, waren die drei goldenen Kronen auf der höchsten Spitze des Schlosses«, flüsterte Emilia. »Dreißig ungarische Münzen hat König Gustav einst einschmelzen lassen, um sie zu vergolden. Damals, als ich und meine Schwester an Deck des Schiffes standen, das uns aus Finnland an die schwedische Küste trug, leuchteten sie nur für mich!«

Heute spürte Elin das alte Stroh nicht, das unter das zerschlissene Laken gestopft war. In der dunklen Magdkammer, wo neben der Bettkiste noch drei große Öltöpfe und eine Wäschetruhe standen, schien Emilias Stimme in jedem Winkel zu schweben. Ihre Arme aber umfingen Elin fester und wirklicher denn je. Unter der grob gewebten Wolldecke war es warm, aber Elin wusste nur zu gut, dass die Haut der Magd heiß vom Fieber war. Sorge schnürte ihr die Kehle zu.

»Und jetzt werden die Kronen dich begrüßen!«, sagte Emilia. »Hast du gesehen, wie Greta und die anderen dich angeschaut haben? Keiner hat gewagt, auch nur ein Wort zu dir zu sagen!«

Elin dachte an die ungläubigen, ängstlichen Blicke und an Annagrit, die schon am Abend in der Küche erschienen war und sich an die Arbeit gemacht hatte.

»Ich verstehe nur nicht, warum die Königin Greta auch noch belohnt hat«, sagte sie. »Sie hat jetzt genau das, was sie wollte – ihre Gemeinheit hat sich für sie ausgezahlt.«

Emilias leises Lachen schwebte in der Dunkelheit. »Unsere Königin ist nicht dumm«, antwortete sie. »Was meinst du, wer wäre die Nächste gewesen, der sie das Leben schwer gemacht hätte?«

»Du.«

»Oh ja – aber jetzt ist ihre Tochter hier und Greta wird keinen Grund mehr haben, Unruhe zu stiften.«

»Leute wie Greta werden immer einen Grund finden«, murmelte Elin. Emilia kniff sie in den Oberarm.

»Sei du nicht undankbar! Die Königin nimmt dich mit auf ihr Schloss! Du wirst nur erlesene Speisen essen und in Atlasseide und Spitze gekleidet sein. Den ganzen Tag spielt Musik und es gibt nichts als Vergnügungen. Am Stockholmer Hof trinkt man nur Wein und isst das zarteste Fleisch.«

»Ich werde in der Küche arbeiten«, flüsterte Elin. »Und dann schicke ich dir Geld und Medizin.« Der Griff an ihrer Schulter wurde fester.

»Nein, Elin«, sagte Emilia streng. »Blick nach vorn und niemals zurück, hörst du? Unsere Wege trennen sich und das ist gut und soll so sein!«

Elin schwieg. Ein Kloß saß in ihrem Hals und je mehr sie sich bemühte, ihn hinunterzuschlucken, desto größer wurde er.

»Wir suchen uns das Schicksal nicht aus«, sagte Emilia bitter. »Gott stellt uns in die Welt wie Spielfiguren. Es gibt nur zwei Wege – in den Schlamm der Armut, auf die Schlachtfelder und ins Elend. Oder in die Schlösser, die feinen Kammern und an die gedeckten Tische. Die Reichen sind reich und die Armen arm – und berühren werden sich diese Welten nie.« Tränen stiegen Elin in die Augen, rannen über ihre Nase und versickerten in Emilias herrlichem Haar, das sie an Herbstblätter erinnerte, die von Raureif überzogen waren.

»Ich will dich aber wieder sehen, Emilia. Du bist alles, was ich noch habe.«

»Das ist Unsinn, Kind. Ich war mit deiner Tante befreundet, das ist alles. Aber deine Tante und deine Eltern sind tot, also lass sie ruhen – und mich gehen.« Sanft strich Emilia über Elins Wange. »Nicht weinen«, murmelte sie. »Tränen sind so nutzlos wie verschütteter Wein.«

»Erzähl mir noch einmal von meinen Eltern, Emilia!«

»Ach Kind, du weißt, dass es da nicht viel zu erzählen gibt. Es war Herbst, als du ins Dorf gebracht wurdest – dein Vater war immer noch im Krieg, aber er hatte dafür bezahlt, dich nach Gamla Uppsala schaffen zu lassen. Du warst mehr tot als lebendig, als du hier ankamst – starrend vor Dreck und Läusen, krank von der Schiffsfahrt. Aber deine Tante nahm dich mit offenen Armen auf. Sie war eine gute Frau. Sie hat viel geweint in jener Zeit und gebetet, dass dein Vater lebendig zurückkehrt. Nun, wir wissen ja beide, wie es ausging.«

»Und sie wusste wirklich nichts über meine Mutter?«

»Kein Name, nein. Nur dass ihr Bruder sie in Usedom kennen gelernt hatte, erfuhr sie. Du musst ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sein. Ich habe Ansgar nie kennen gelernt, aber deine Tante sagte, sie und ihr Bruder wären sich schon als Kinder sehr ähnlich gewesen – sie hatte dunkles Haar und braune Augen. Deine Tante erzählte, dass ihm die meisten Haare ausfielen, bevor er zwanzig war.«

»Glaubst du, dass meine Mutter eine Hure war?«

»Das wird wohl niemand je erfahren – und es ist auch nicht wichtig, Elin. Du bist ein gutes, anständiges Mädchen. Komm, ich erzähle dir noch ein wenig von Stockholm. Als ich aus Finnland kam, war ich kaum älter als du. Und ich fand sofort Arbeit …«

»… auf dem Köpmantorget, dem Kaufmannplatz. Du hast Fisch verkauft.«

»Genau. Nicht weit davon liegt das Fischufer, wo Schiffe von den Schären anlegen. Dort ist auch der größte Marktplatz der Stadt.«

»Und dann hat Elias dein Haar gesehen und dich gefragt, ob du die Kupferfee aus den Minen von Falun bist.«

»Erzählst du die Geschichte oder ich? Ja, Elias war nie um einen Satz verlegen. Er war ein Mälarfischer und besaß zwei Boote. ›Von den zwei Meeren sind wir uns entgegengefahren‹, sagte er immer. Wir hatten ein Leben wie im Paradies am Köpmanporten.« Emilia seufzte tief. »Ich lernte damals sogar lesen und rechnen, das brauchte ich für den Fischhandel. Ach, wären wir doch nur nie nach Uppsala gegangen! Wer hat uns dazu getrieben, die Boote zu verkaufen und unser Glück auf einem Hof zu suchen? Zehn Jahre drückten uns die Schulden, die Steuern wuchsen und wuchsen. In dieser Zeit war es ein Segen, deine Tante zu kennen. Sie hat uns so oft geholfen. Wir hatten kein Geld, nach Stockholm zurückzukehren, kein Geld, den Hof zu halten. Und dann der Krieg in den deutschen Ländern, der seit bald dreißig Jahren Menschen und Geld frisst.

Wie viele Jahre haben wir nur für diesen elenden Krieg geschuftet? Und was hat er uns wirklich gekostet! Dich deine Familie, mich meinen Mann. Und alles nur, weil die einen Katholiken sind und die anderen Protestanten. Als wären wir nicht alle Menschen.« Elin erschrak.

»Lass solche Sätze nicht Greta oder die anderen hören!«

Emilia hustete dumpf und holte tief Luft. »Was soll mir denn noch Schlimmeres zustoßen?« Ihre Stimme wurde so leise, dass Elin sie kaum hörte. »Als die Nachricht von Elias’ Tod eintraf, wollte ich mich hinlegen und die Augen nie wieder aufmachen. Ich wollte den Himmel nicht mehr sehen, der mir das angetan hat. Ich weiß nicht einmal, ob auf dem Schlachtfeld ein Wundarzt bei ihm war oder ob er …«

»Hör auf, Emilia!«, unterbrach Elin sie sanft. »Solche Gedanken zehren dich aus.«

»Ich weiß, ich weiß. Mein Herz tut so weh, dass ich kaum atmen kann. Und hier unter der Rippe sticht es, als würde ich auf einer Nadel liegen.« Sie seufzte tief. »Da wollte ich dir von der goldenen Stadt erzählen und wovon rede ich? Von diesem unseligen Krieg.« Elin schwieg und dachte an ihren Vater. Manchmal, wenn sie träumte, winkte er ihr zu – ein großer Mann ohne Gesicht, mal mit dunklem Haar, mal mit kahlem Schädel.

Unter dem Fenster ging jemand mit einer Fackel vorbei. Licht huschte durch die Kammer. Wie immer sah Emilia erschöpft und verblüht aus, aber sie lächelte tapfer.

»Meine Kleine«, flüsterte sie. »Ich wünsche dir so viel Glück! Du wirst bald von besseren Tellern essen.«

Zu so früher Stunde lag die Empfangshalle verwaist da wie die verwunschenen Schlösser in den Trollmärchen. Die Kälte der Nacht hatte mit eisigen Fingern bizarre Blumen an die Fenster gemalt. Elin zog ihr Wolltuch um die Schultern und drückte das Bündel mit ihren Habseligkeiten noch fester an sich. In der Kleiderkammer reinigte Victor die Mäntel. Das regelmäßige, schleifende Geräusch der Bürste hatte etwas Beruhigendes. Gerade schlug eine Standuhr, die metallischen Schläge klangen durch die Flure und verhallten erst am Fuß der Treppe. Elin bewegte stumm die Lippen und zählte mit. Fünf Uhr. In der Küche wurden jetzt die ersten Feuer geschürt, Diener brachten frisches Feuerholz zu den Gemächern, und der Bischof würde sich in seiner Residenz in Kürze darauf vorbereiten, sein Frühstück einzunehmen und die Morgenaudienz zu halten. Noch waren die Räume kalt und klamm von der Nacht.

Victor eilte vorbei und lächelte ihr aufmunternd zu.

Für den Augenblick, den eine Schneeflocke brauchte, um an ein warmes Fenster zu fliegen und zu schmelzen, sehnte sie sich nach ihrem alten Leben zurück. Es hätte ihr genügt, woanders arbeiten zu können – solange sie nur weit genug entfernt von Greta wäre. Am liebsten wäre sie immer hier stehen geblieben – zwischen Küche und Tre Kronor.

Schritte erklangen auf der Treppe. Elin drückte sich näher an das Geländer. Ein schwarzer Rock wurde sichtbar, eine matronenhafte Gestalt und – weiße Löckchen. Schnaufend kam die Kammerfrau aus Madame Joulains Zimmer die Treppe herunter. Auf halber Höhe blieb sie stehen und sah sich mit schlafmüden Augen um. Jetzt am Morgen wirkte ihre Haut grau, ihre Lippen aber leuchteten in einem so grellen Rot, als hätte sie Beeren gegessen. Bei Elins Anblick verzog sie den Mund.

»So sieht man sich wieder«, meinte sie weder freundlich noch unfreundlich. Elin errötete und machte einen Knicks. Die Frau seufzte, drehte sich um und schnaufte die Treppe wieder hoch. Elin begriff und beeilte sich, ihr zu folgen. Die Kammerfrau trat zu einem Fenster. Ein Luftzug drückte sich durch einen Fensterspalt und trug Elin den Duft von parfümiertem Puder zu. »Elin heißt du, nicht wahr? Gut, gut. Mich nennst du Lovisa. Leg dein Bündel hin und lass dich anschauen.« Eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen.

»Hast du schon einmal ein richtiges Mieder getragen?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Das sieht man. Dreh dich um. Kind – du hältst dich ja wie ein Schürhaken!«

Unwillkürlich stellte sich Elin gerader hin und drückte die Schultern nach unten. Lovisa lächelte grimmig und schüttelte den Kopf. Ihre Löckchen tanzten.

»Nützt überhaupt nichts, Mädchen. In einer Stunde beginnt die Reise – und so, wie du jetzt aussiehst, wirst du auf keinen Fall zu uns in die Kutsche steigen. Nun, wir werden dich schon gerade biegen. Komm mit!«

Der Schein der Fackel verwandelte die Schatten der Kutschpferde in zuckende, langbeinige Fabeltiere. Der ganze Hof lag unter frischem Schnee begraben. Hinter den vereisten Fensterscheiben, in die neugierige Finger Gucklöcher gerieben hatten, tanzten Kerzenflammen wie Irrlichter im Moor. Alle Bewohner waren wach, um der königlichen Gesellschaft bei der Abreise zuzusehen. Stallknechte tränkten die Pferde und die Kutscher prüften ein letztes Mal die Schlittenkufen, die anstelle der Räder an den Kutschen befestigt worden waren. Die Kutschen bestanden aus dunklem Holz, das an einigen Stellen blau und gelb bemalt war – die Farben Schwedens. Auf jeder prangten die drei Kronen, das Zeichen des Königreichs Schweden.

Zügelringe und Kandarenketten klirrten, wenn die Pferde der Soldaten die Köpfe schüttelten. Mit zitternden Flanken wartete die Meute der königlichen Jagdhunde darauf, endlich vor der Kälte davonlaufen zu dürfen. Mitten in diesem Trubel stand Elin neben einem Berg von Gepäckstücken. Ihr eng geschnürtes Mieder aus festem Segeltuch drückte gegen ihr Brustbein und zwickte in den Achselhöhlen. Es musste einer dünneren, aber auch größeren Frau gehört haben. Das Kleid mit den weißen Ärmeln war länger und schwerer als ihre Küchentracht. Zum ersten Mal trug Elin fein gewebte Strümpfe und lederne Halbschuhe, die viel weicher und wärmer waren als die klobigen Küchenpantoffeln. Allerdings hatten die Schuhe einen vier Finger hohen Absatz, was Elin das Gefühl gab, auf Zehenspitzen zu laufen. Am wenigsten gefiel ihr das Tuch auf ihrem hochgebundenen Haar, das kaum größer als ein Taschentuch war. Ohne ihre Haube, die sonst ihr Haar vollständig verbarg, fühlte sich ihr Kopf so nackt an, als hätte ihn jemand geschoren. Verlegen zupfte Elin an ihren Handschuhen und wartete. Keiner der Bediensteten, die die Kleidertruhen einluden, gönnte ihr einen zweiten Blick.

Königin Kristinas französische Gäste fielen auf wie ein Haufen bunter Finken in einem Hühnerstall. Die verfrorene Madame Joulain blickte todunglücklich drein, ihre Wangen waren fiebrig gerötet und ihrer Nase sah man an, dass die Erkältung über Nacht nicht besser geworden war. Der Pelzsaum an ihrem Kragen sträubte sich im schneidenden Morgenwind. Madame Joulains Herrschaften ließen sich Zeit, zur Kutsche zu kommen. Der französische Graf war beleibt und hatte einen gestutzten Schnurrbart. Sein langes Haar trug er in unglaublich viele Locken gelegt. Schnee fing sich auf seinen zu Stulpen umgeschlagenen Schaftstiefeln. Die Dame an seiner Seite war zierlich und bewegte sich wie ein Vogel – mit flinken, genau bemessenen Bewegungen. Ihr purpurroter Rock leuchtete im Schnee. Das Haar der Französin war so schwarz, dass Elin sicher war, eine junge Frau vor sich zu haben, aber als die Dame sich umwandte, erkannte sie, dass ihr Gesicht viel älter war als ihre Bewegungen und die Farbe ihres Haars. Die Madame zählte sicher schon vierzig Jahre! Elin reckte ihren Hals. Irgendwo musste der Sohn des Grafen und der schwarzhaarigen Gräfin sein, der junge Marquis, der gestern mit Ebba Sparre durch den Park spaziert war. Gestern, als Fräulein Sparre für Elin so unerreichbar gewesen war wie der Polarstern.

Doch der französische Gast erschien nicht, dafür trat die Königin aus der Tür und ging mit energischen Schritten die Treppe hinunter. Ebba Sparre und eine Gruppe von Höflingen, die sie allesamt um einen Kopf überragten, hatten Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Als Ebba Elin entdeckte, glitt ein verschlafenes Lächeln über ihr Gesicht. Mit klopfendem Herzen knickste Elin so, wie Lovisa es ihr eben im Umkleidezimmer beigebracht hatte.

Längst hatte die Hofgesellschaft ihre Plätze in den Schlitten eingenommen, als endlich auch Lovisa auftauchte. Erleichtert bückte sich Elin nach ihrem Gepäck, aber weit kam sie nicht. Die Luft blieb ihr weg, Lichtblitze tanzten vor ihren Augen. Es war offenbar unmöglich, sich hinunterzubeugen, ohne zu ersticken. Also ging sie mit stocksteifem Rücken in die Knie und hangelte nach dem Bündel.

»Komm endlich!«, zischte ihr ein dickliches, bildhübsches Mädchen zu. »Frau Lovisa wartet.«

Das Gepäck wurde ihr aus der Hand genommen, grobe Soldatenhände halfen ihr auf die viel zu hohe Trittstufe.

Ehe sie sichs versah, saß Elin bereits auf einer gepolsterten Bank, Schulter an Schulter mit dem dicken Fräulein. Gegenüber leuchtete im Halbdunkel Lovisas Gesicht. Sobald die Tür geschlossen war, breitete sich eine angenehme Wärme aus, die ein tönerner und emaillierter Ofen verströmte. Rufe ertönten und die Kutsche setzte sich in Bewegung. Verstohlen spähte Elin zwischen den Vorhängen hindurch. Das Letzte, was sie sah, bevor die Kutsche durch das große Tor in Richtung Stadt fuhr, war Victor. Wie eine lebendige Zierfigur stand er neben der riesigen Tür und blickte ihr mit besorgtem Gesicht nach.

Obwohl es so früh war, dass sogar die Pferde in den Ställen noch schliefen, säumten Menschen die Straße, auf der sich der königliche Tross in Richtung Stockholm bewegte. Elin staunte darüber, wie anders die Welt durch das Fenster einer Kutsche aussah. Gleichgültige Mienen verwandelten sich in ehrfürchtige Gesichter, die Welt schien nur dafür da zu sein, sich den königlichen Karossen zuzuwenden und ihnen Platz zu machen. Alles Leben erstarrte für wenige Momente. Für Königin Kristina und den Hof, begriff Elin, lief die Zeit anders.

Sie fuhren ein Stück weit am Fyris-Fluss entlang und passierten die riesige Domkyrka, in die an jedem Wochentag die Wallfahrer strömten, um vor dem goldenen Schrein des Heiligen Erik zu beten. Elin erinnerte sich an die endlos langen Predigten und an die Kälte der Kirchenbänke, die unbarmherzig unter die Kleider kroch.

»Wenn du weiter an deinen Handschuhen herumzupfst, wirst du bald wieder frieren, weil die Fingerkuppen abreißen werden«, holte Frau Lovisas Stimme sie aus ihren Gedanken. Ertappt ließ Elin ihre Hände wieder in den Schoß sinken.

Die einzige Abwechslung, die die Fahrt bot, waren die Gespräche in der Kutsche. Ein wenig enttäuscht stellte Elin fest, dass sie sich kaum vom Tratsch in der Küche unterschieden. Man sprach über Königin Kristinas Verlobten, ihren Cousin Karl Gustav, und mutmaßte über einen möglichen Termin für die Hochzeit. Man überbot sich in Vermutungen und wusste dabei ebenso wenig darüber wie Olof, der Tischdiener.

»Wenn ihr mich fragt, hat er schon viel zu viel Geduld mit ihr gehabt«, sagte das dicke Mädchen, dessen Ellenbogen seit geraumer Zeit in Elins Seite drückte. »Immer wieder schiebt sie den Hochzeitstermin vor sich her.«

»Ich würde verstehen, wenn er es wäre, der sich ziert – oder möchtest du eine Frau haben, die flucht wie ein Soldat?«

Alle außer Elin und Lovisa kicherten.

»Karl Gustav müsste sie bezwingen wie der Bauer die Prinzessin mit der scharfen Zunge. Na, Mädchen? Was machst du so große Augen? Kennst du das Märchen nicht?«

Elin schüttelte den Kopf und das Gelächter wurde lauter.

»Na, dann erzähl es ihr schon, Tilda!«, sagte eine Frau zu dem dicken Mädchen. Die ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie wandte sich zu Elin um und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

»Das war eine rebellische Prinzessin, die nicht heiraten wollte. Als ihr Vater es ihr doch befahl, sagte sie, sie würde nur den nehmen, der sie sprachlos machen könnte. Sie setzte sich in den Thronsaal, den sie zuvor hatte kräftig aufheizen lassen, und wartete auf die Freier. Jeder, der eintrat, rief aus: ›Hier ist es aber heiß!‹ Worauf sie prompt zurückrief: ›In meinem Hintern ist’s heißer!‹ Da waren die Freier sprachlos.«

Gelächter umbrandete Elin. Tilda grinste Elin an.

»Na, wird das kleine Gänschen jetzt rot?«

Elin funkelte die kichernden Damen an. Wie rot würden die erst werden, wenn sie einen Tag in der Küche oder in den Stallungen bei den Knechten verbracht hätten!

»Das ist noch gar nichts – warte, bis du unsere Kristina kennen lernst«, ereiferte sich Tilda weiter. »Gegen die ist die großmäulige Prinzessin ein Waisenkind!«

»Hört auf!«, befahl Lovisa. »Wo habt ihr euren Anstand gelassen?« Das Gelächter verebbte und ging in Getuschel über. Im fahlen Licht, das durch das Seitenfenster fiel, sah Lovisas Gesicht noch strenger aus. Trotzdem war Elin sicher, dass für die Dauer eines Wimpernschlags ein amüsiertes Lächeln über die grimmigen Züge gehuscht war.

Die Wärme des kleinen Ofens hatte nicht einmal bis Mittag vorgehalten. Müdigkeit und Rückenschmerzen machten sich bemerkbar, außerdem eine leichte Übelkeit, denn obwohl der Schlitten dahinglitt, schaukelte und ächzte er, wenn sie über Schneehaufen fuhren oder bisweilen auch stecken blieben und warten mussten, bis sich die Kufen mit einem Ruck wieder aus dem Untergrund lösten. Das Schnauben der Pferde und die dumpfen Hufschläge wollten Elin in den Schlaf locken. Mehrmals ertappte sie sich dabei, wie sie den Kopf gegen die mit Samt bespannte Seitenwand lehnte und wegnickte. In einem dieser flüchtigen Träume erwachte sie in der Küche und Greta starrte sie wutentbrannt an.

Rufe drangen an ihr Ohr, ein Ruck ging durch die Kutsche und Elins Stirn schlug unsanft ans Fenster. Tilda sackte mit ihrem ganzen Gewicht gegen sie. Gerade noch konnte Elin sich abstützen, bevor ein zweiter Ruck sie Richtung Tür schleuderte. Jemand klopfte an die Scheibe.

»Aussteigen! Der Schlitten steckt fest!«

Lovisa und die Damen seufzten und zogen die verrutschten Decken von ihren Knien. Als Letzte kroch Elin aus dem Schlitten. Ihre Glieder waren so steif, dass sie stolperte, aber die Hand eines Reiters fing sie sicher ab.

»Langsam, Mademoiselle!«

Der Reiter, der ihr geholfen hatte, war ein ungewöhnlich schöner Mann. Blonde Locken fielen ihm über den Mantelkragen. Eine goldgelbe Feder an seinem Hut bauschte sich im Wind. Er rief dem Kutscher etwas zu und einige der Grenadiere lenkten ihre Pferde zu der Kutsche. War das vielleicht der Sohn des Marquis? Aber nein, das konnte nicht sein, dafür war sein Schwedisch zu perfekt. Im selben Moment preschte ein zweiter Reiter heran. Hoch spritzte der Schnee auf, als das Pferd aus dem Galopp zum Stehen kam. Die Damen wichen zurück. Ein leuchtend grüner Mantel mit Goldborten und Knöpfen fiel über die Kruppe des Pferdes.

»Der junge Marquis de Vaincourt«, flüsterte Tilda. Ihre Wangen waren vor Aufregung ganz rot. »Die Grafenfamilie ist mit dem französischen Botschafter Chanut befreundet, der in Stockholm lebt.« Elin runzelte die Stirn und schlang sich das Wolltuch, das sie während der Fahrt aus ihrem Bündel geholt hatte, um den Hals.

Das Pferd, das der junge Adlige ritt, warf den Kopf hoch und stemmte sich gegen den Zaum. Schaum troff in den Schnee. Der Marquis wirkte nicht viel älter als Elin. Das schwarze Haar erinnerte sie an die viel zu dunkle Lockenpracht der Marquise – und auch in den fein geschnittenen Zügen des jungen Mannes konnte Elin eine Ähnlichkeit ausmachen. Als der Reiter ihm etwas zurief, lächelte der Franzose nur hochmütig und schüttelte den Kopf.

»Wer ist der blonde Mann mit dem Federhut?«, wandte sich Elin an Tilda. Das Mädchen schien nur darauf gewartet zu haben, ihr Wissen mit ihr zu teilen. Sie war geschwätzig, aber harmlos, stellte Elin fest.

»Wie, du kennst ihn nicht? Das ist Magnus de la Gardie, Mitglied des Reichsrats. Manche behaupten, er sei der Günstling der Königin. Bis vor kurzem war er noch außerordentlicher schwedischer Botschafter in Paris.«

»Warum hat er einen französischen Namen, wenn er Schwede ist?«

»Seine Vorfahren stammen aus der Gascogne.«

Als hätte Magnus de la Gardie das geflüsterte Gespräch gehört, sah er sich plötzlich nach Elin um. Rasch wandte sie sich ab. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit des Winters über den frühen Nachmittag gelegt. Nur am Horizont konnte man noch ein wenig Helligkeit erahnen. Das Land lag unberührt wie ein weißes Laken vor ihr. Die Soldaten hatten aus dem Gepäckkasten der Kutsche Schaufeln hervorgeholt und feuerten die Pferde an. Mit aller Kraft legten sich die Tiere in das Geschirr, doch der Schlitten, der schräg in der Schneewehe steckte, rührte sich immer noch nicht.

Elin genoss die Pause und sog tief die kühle Luft ein. Hier, weit draußen auf den Ebenen, gab es nichts Schöneres als den Winter und die Farben des Himmels.

»Geht zurück!«, rief der Kutscher der Gruppe zu.

Während Elin sich beeilte, Lovisa und den anderen zu folgen, fing sie einen Blick des jungen Marquis auf. Für einen Moment sah sie sich mit seinen Augen: ein unbeholfenes Mädchen mit einem hässlichen blauen Fleck im Gesicht. Und zu allem Überfluss schwankte sie in den hohen Schuhen und hatte Mühe, in dem engen Mieder Luft zu bekommen. Ein spöttisches Grinsen huschte über das hochmütige Gesicht des Adligen. Sein Pferd tänzelte auf der Stelle. Grob parierte er es durch und hielt es am viel zu kurzen Zügel zurück. Es war ein schönes Tier – schwarz, mit gebogenem Schwanenhals und einer Mähne, für deren Pflege ein Stallknecht viel Mühe aufgewendet hatte.

Der Franzose beugte sich zu Magnus de la Gardie, nickte in Elins Richtung und sagte etwas. Seine Stimme war zu freundlich, um nicht hinterhältig zu sein. Die Worte verstand Elin nicht, sehr wohl aber den Tonfall.

»Hör nicht auf ihn«, sagte Lovisa ärgerlich. Offensichtlich hatte sie vergessen, dass Elin kein Französisch sprach.

»Was bedeutet ›trébuche‹?«, fragte Elin.

Lovisa seufzte.

»Stolpern. Er sagt, du läufst wie eine Ente, die über ihre eigenen Füße fällt.«

Elin warf dem Jüngling einen empörten Blick zu. Als hätte er nur auf ihre Reaktion gewartet, brach er in schallendes Gelächter aus.

Plötzlich erklang ein schrilles Wiehern. Holz knirschte, das Ächzen von Lederriemen ließ Elin alarmiert zur Seite springen. Aufgeregte Rufe und lautes Gebrüll hallten durch die Luft. Elin sah, wie eins der Kutschpferde sich aufbäumte und strauchelte.

»Hooo!«, rief der Kutscher. Die Zügel verhedderten sich, ein Riemen riss. Das Pferd verdrehte in Panik die Augen, bis das Weiße zu sehen war, und keilte aus. Holz splitterte und mit einem Mal spielten alle vier Kutschpferde verrückt. Unter dem Gewicht der Achsen, die sich bogen, ächzte der Schlitten und erhob sich aus seinem Schneebett. Die Mädchen kreischten, als das Gefährt seitlich über den Schneebuckel gehebelt wurde, bevor es mit Getöse umkippte. Ein schrilles Wiehern ließ Elin herumfahren. Mit offenem Mund beobachtete sie, wie das Ross des Franzosen stieg. Für ein paar Sekunden glaubte sie auf ein Reiterstandbild zu blicken, dann scheute das Pferd und sprang zur Seite. Bockend wand und drehte es sich, brach aus, stemmte sich gegen den Zaum und riss dem Marquis schließlich mit einem Ruck die Zügel aus der Hand. Ein Grenadier sprang herbei, doch schon im nächsten Augenblick taumelte er zurück und hielt sich stöhnend die Hüfte, an der ihn ein Huf getroffen hatte. Der dunkelgrüne Mantel des Marquis flog durch die Luft, auf und ab wie eine riesige Vogelschwinge, dann beförderte ein gewaltiger Bocksprung den Jungen aus dem Sattel.

»Duck dich!«, schrie Elin. »Runter mit dem Kopf!« Nun sahen es auch die anderen. Der rechte Fuß des Reiters hatte sich im Steigbügel verfangen. Das Ross, durch den Zug am Sattel noch mehr in Rage gebracht, trat wie von Sinnen aus. Elin blickte in seine weit aufgerissenen, braunen Augen, dann tat der Junge endlich das einzig Richtige, krümmte sich zusammen und schützte seinen Kopf mit den Armen. Ein Hinterhuf schnellte knapp an seinem Ellenbogen vorbei. Endlich waren auch die Grenadiere zur Stelle und kreisten das Pferd ein. Das riesige Tier legte die Ohren an, preschte los und schleifte den Marquis hinter sich her. Der Mantel rutschte ihm über den Kopf und folgte ihm wie eine Schleppe. Ein Soldat sprang vor, glitt jedoch ab und bekam den Zügel nicht zu fassen. Elin lief los.

»Halt!«, kreischte Lovisa, aber Elin kümmerte sich nicht um sie. Sie spürte kaum, wie sie in den ungewohnten Schuhen umknickte. Das Pferd galoppierte in ihre Richtung. Noch war es damit beschäftigt, vor dem Gewicht, das am verrutschten Sattel zog, zu fliehen, seine Aufmerksamkeit richtete sich ganz auf das Bündel, das es hinter sich herzerrte. Elin wartete den richtigen Moment ab und sprang nach vorne. Knapp verfehlte sie den peitschenden Zügel, doch mit der rechten Hand bekam sie den Kehlriemen zu fassen. Der Ruck, der durch ihre Schulter fuhr, schmerzte wie Feuer. Das Mieder nahm ihr alle Luft. Sie biss die Zähne zusammen und legte sich mit ihrem ganzen Gewicht in den Riemen. Schnee klatschte gegen ihre Wange und machte sie für einige Sekunden fast blind. Dennoch ließ sie nicht los, sondern klammerte sich mit der linken Hand an der Mähne fest. Das Pferd drehte sich um seine eigene Achse und schleifte sie mit. Ein Schmerzensschrei erklang, dann das hässliche Geräusch reißenden Stoffs. Elin wurde wie ein nasser Lappen herumgeschleudert, bis es ihr schließlich gelang, das Wolltuch mit der linken Hand von den Schultern zu ziehen. Schon hatte sie den Stoff hochgeworfen und zerrte ihn über die Pferdestirn. Noch zwei Handgriffe und die Augen des Pferdes waren bedeckt. Irritiert riss der Hengst den Kopf hoch, blieb aber mit zitternden, angespannten Beinen wie angewurzelt stehen. Seine Flanken dampften, sein keuchendes Schnauben füllte die Luft mit Atemwolken.

»Bis du wahnsinnig, Mädchen!«, rief ein Grenadier. Ein Arm fasste sie um die Taille und riss sie von dem Pferd weg. Plötzlich hatte sich eine ganze Gruppe von Soldaten um das nervöse Tier versammelt. Sie trieben es zur Seite, banden die baumelnden Riemen hoch und zogen den Sattel herunter. Jemand befreite den Fuß des Marquis aus dem Steigbügel und half dem stöhnenden Jungen auf die Beine. Als er mit dem rechten Fuß auftreten wollte, presste er zwischen den Zähnen einen Fluch hervor, den Elin auch ohne die Sprache zu kennen verstand. Unwillkürlich musste sie grinsen.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, zischte Lovisa. »Du hättest umkommen können!«

Flinke Finger zupften an Elins Haar. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, das lange Haar fiel ihr über die rechte Schulter.

»Und das Kleid!«, stöhnte Lovisa. »Sieh dich nur an!«

Zögernd wandte Elin den Blick von den Soldaten und betrachtete gehorsam ihren Ärmel. Der weiße Stoff hatte einen Riss bekommen und war über und über vom Schaum des Pferdemauls verschmiert. Ihre Schulter schmerzte und mit einem Mal fror sie so sehr, dass ihre Zähne klappernd aufeinander schlugen.

»Es tut mir Leid«, stammelte sie. »Ich werde es ersetzen.«

»Ersetzen! Du! Pah! Man sollte dich lieber gleich in Männerkleidung packen, wenn du dich am liebsten mit den Gäulen herumschlägst. Und wie kommst du dazu, dem Vieh dein gutes Wolltuch um den Kopf zu wickeln?«

»Solange ein Pferd nichts sieht, bewegt es sich nicht. Bei den Gudmunds war das die einzige Möglichkeit, das bockige Kutschpferd anzuschirren.«

Lovisa verdrehte die Augen.

»So«, meinte sie sarkastisch. »Na, du kannst unserer Königin auf der Jagd wirklich bestens Gesellschaft leisten.«

Die Kutsche war beschädigt. An einer Stelle war ein Holm gesplittert, Farbe war abgeplatzt, Schneematsch hatte die Gardinen und den Samt der Sitze beschmutzt. Innen lagen Decken und Bündel, zerbrochene Lampen und die Scherben des Ofens wild verstreut. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Schlitten wieder fahrtüchtig war. Elin war froh, ihren Wollschal wiederzubekommen, auch wenn er verschmutzt und zum Teil nass war. Sie drückte ihren schmerzenden Rücken gegen die Lehne. Ihre gezerrte Schulter pochte.

Der Kutscher wollte gerade anfahren, als die Tür aufgerissen wurde. Grüner Stoff leuchtete auf. Der Marquis hatte Schwierigkeiten, sich zu setzen, ohne sein verletztes Bein anzuwinkeln. Magnus de la Gardie nahm ihm gegenüber Platz. Schneeklumpen lösten sich von seinem Mantel und zerstoben auf dem Holzboden.

»Hat jemand den Arzt verständigt?«, fragte Lovisa mit einem kritischen Blick auf das Knie des jungen Grafen.

»Van Wullen fährt im ersten Wagen mit der Königin und den Gästen. Sobald wir den Tross eingeholt haben, wird er sich die Wunde ansehen.«

Mit einem Ruck setzte sich der Schlitten schließlich in Bewegung und gewann schnell an Fahrt. Erst jetzt fiel Elin auf, dass jemand ein paar der Lämpchen, die nicht kaputtgegangen waren, wieder aufgehängt hatte. Im schaukelnden Licht betrachtete sie den Marquis. Auf seiner Wange prangte eine Schürfwunde. Die Borten und Schleifen, die seine spanischen, halblangen Hosen zierten, waren zum Teil abgerissen oder zerdrückt. Auch die Knopfleiste, die das eng geschnittene Wams zierte, hatte unter dem Sturz gelitten. Am schlimmsten aber sah sein Knie aus. Dort musste das Pferd ihn getreten haben. Der kostbare Stoff war zerrissen und die Haut blutverkrustet. Die Wunde musste höllisch schmerzen, aber der Franzose ließ sich nichts anmerken und starrte nur stur aus dem Fenster. Trotz seiner Fremdheit erschien er Elin nicht viel anders als der arrogante Bäckersohn aus Gamla Uppsala.

»Und das ist also die Mademoiselle, die besser auf den Schmuck der Damen aufpasst als die Damen selbst«, brach Magnus nun das Schweigen. Er schenkte Elin ein herzliches Lächeln. Ganz bewusst sah er ihr in die Augen und nicht auf ihre geschundene Wange.

»Schüchtern Sie mir das Mädchen nicht ein«, sagte Lovisa in gutmütigem Tadel. »Sie ist noch völlig verstört.«

Magnus lachte.

»Glaubt man Kristina, ist sie alles andere als schüchtern, wenn es darum geht, die Königin mitten auf dem Gang beiseite zu stoßen. Und jetzt wirft sie sich wild gewordenen Streitrössern in den Weg. Ich wage gar nicht daran zu denken, was sie als Nächstes tun wird.« Elins Herz schlug gegen das harte Segeltuch wie ein Trommelstock.

»Erzählst du mir, woher du kommst?«, fuhr Magnus fort.

»Gamla Uppsala.«

»Aus der Stadt der Königsgräber, so, so«, sagte Magnus. »Einst lebten dort die Svea-Könige. Warst du je auf den Hügeln?«

»Natürlich. Die … Kirche steht dort.«

»Sie ist schließlich kein Heidenkind«, warf Lovisa ein.

Elin zuckte zusammen. Magnus wandte sich seinem Gast zu. Ein ganzer Wirbel von fremden Worten faszinierte Elin gegen ihren Willen und sie versuchte angestrengt, den Sinn zu erahnen. Magnus malte mit den Händen ein Tempelgebäude in der Luft nach, ließ Rauch zum Himmel steigen. Sie hörte die Namen »Freya« und »Odin« heraus und wusste plötzlich, dass Magnus von dem heidnischen Tempel erzählte, der in Gamla Uppsala einst an der Stelle der rußgeschwärzten, roten Holzkirche gestanden hatte. Unter der Eibe, so hieß es, wurden dort früher Menschen und Tiere den Göttern geopfert. Noch heute schlichen sich abergläubische Menschen auf den Hügel und verschütteten in nördlicher Richtung hinter der Kirche eine Hand voll Hühnerblut. Das sollte ihnen Unversehrtheit bringen. Auch Emilia hatte das Blut zu den Gräbern der Svea-Könige getragen, aber ihrem Mann Elias hatte es nichts genützt.

Der Marquis schien nicht beeindruckt. Leise antwortete er mit wenigen Worten. Aus seinem Mund klang die fremde Sprache melodiöser als bei Magnus oder Lovisa. Dennoch war sich Elin sicher, dass er etwas Verächtliches gesagt hatte. Magnus nahm das Gespräch wieder auf und deutete auf Elin. Sie konnte nur erahnen, dass er den Grafen darauf aufmerksam machte, sich noch nicht bedankt zu haben. Der Marquis schoss einen unfreundlichen Blick zu ihr hinüber, doch statt sich ein Lächeln abzuringen und ein Wort des Dankes zu sagen, griff er stumm unter seinen Mantel. Münzen klirrten. Im Licht der Flämmchen leuchtete Metall auf – ein Riksdaler. Alle Gespräche in der Kutsche verstummten.

Lovisas Gesicht lief rot an, Elin kam es vor, als hätte sie dem jungen Grafen das Geld am liebsten aus der Hand geschlagen. Stattdessen nahm die Hofdame den Riksdaler und murmelte einige höfliche Worte. Elin schoss das Blut in die Wangen, aber Lovisa bedeutete ihr, den Mund zu halten. Magnus de la Gardie konnte kaum verbergen, dass er von der herablassenden Geste des Gastes peinlich berührt war. Den Marquis dagegen störte die plötzliche verlegene Stille offenbar überhaupt nicht. Er wandte sich ab und starrte weiter zum Fenster hinaus. Magnus lehnte sich zurück und strich sich über den blonden Bart. Im Schein der schwankenden Lichter wirkte er wie eine Statue, die zum Leben erwacht war.

Elin drückte sich, so tief sie konnte, in die gepolsterte Sitzlehne. Mit einem Mal wünschte sie sich zurück in ihre warme, überschaubare Küche. Die Kutsche war plötzlich viel zu klein für all diese Menschen. Emilia hatte Recht. Die Adligen und die Küchenmädchen lebten nicht in derselben Welt. Sie hätte lieber zusehen sollen, wie das Pferd ihn bis zum vereisten Ufer des Mälarsees schleifte! Und sie hatte nicht übel Lust, einen Schneeklumpen vom Boden der Kutsche aufzuheben und ihm damit den arroganten Ausdruck aus dem Gesicht zu reiben.

Im Winterlicht glich der Mälarsee einer mit Frost überzogenen Silberplatte. Fußabdrücke und Spuren von Schlittenkufen zeigten, wo Eisfischer und Reisende vor kurzem noch ihre Wege gesucht hatten. Elin lehnte sich erschöpft an die Kutschenwand. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie sich mehr als einmal nach Emilias Strohlager zurückgesehnt, denn obwohl der Hofstaat in den Häusern auf der Strecke fürstlich bewirtet worden war, blieben für die Nacht nur enge Bettstätten, in denen sich die Mädchen und Frauen wie die Heringe in den Holzfässern der Fischverkäufer zusammendrängten. Das Mieder hatte Elins Achselhöhlen wund gescheuert, zu trinken gab es nur Bier – und zwar nicht das Dünnbier, an das sie gewöhnt war, sondern ein dunkles, dickflüssiges Getränk, das ihren Kopf schwer werden ließ und ihren Durst noch verschlimmerte. Längst war der französische Gast in den Schlitten der Königin umgestiegen und die Mädchen und Damen tratschten nun am liebsten über die Verschwendungssucht des Magnus de la Gardie, der seiner jungen Frau in Paris ein mit Perlen und Brillanten besticktes Kleid aus weißem Taft gekauft hatte. Für Wäsche und Leinen, eine Karosse und ein Gemälde hatte er tausende von Riksdalern ausgegeben. Elin versuchte sich diese Summe vorzustellen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Das Geschnatter der Mädchen ermüdete sie wie ein eintöniges Wiegenlied.

Am dritten Vormittag stieß Tilda Elin an der Schulter an. »Schau mal, wir sind gleich da«, sagte sie und deutete aus dem vereisten Schlittenfenster. »Da ist schon der Brunkeberg.«

Der Brunkeberg erwies sich als großer Hügel, auf dem ein Feuerturm stand. Auf einer vereisten, schnurgeraden Straße glitt der Schlitten in Richtung Hafen. Alle Straßen waren hier gerade gezogen und von erstaunlich vielen neu aussehenden Steingebäuden gesäumt.

»Vor ein paar Jahren hat es hier gebrannt«, erzählte Tilda. »Königin Kristina ließ die ganzen Holzhäuser abreißen und baut jetzt Paläste. Wir fahren gerade auf der neuen Königinstraße, der ›Drottninggatan‹!«

Lovisa lächelte und sah aus dem Fenster. An diesem Vormittag ließ eine eisige Wintersonne ihre faltige Haut schimmern. Elin lehnte sich so weit wie möglich nach vorne, um einen Blick auf die Stadt zu erhaschen.

Nach kurzer Zeit kam der Hafen in Sicht und dahinter, durch einen Graben von Eis getrennt – die Stadtinseln! Gesäumt von einem Ring von Schiffen, die über Winter an Land gezogen worden waren, lag Stockholm zwischen Mälarsee und Ostsee. Masten zeigten wie drohend erhobene Lanzen gen Himmel. Und direkt zwischen ihnen, so erschien es Elin, ragte der hohe Turm einer Kirche aus dem Häusergewirr hervor. Das Geräusch der Pferdehufe wechselte von einem knirschenden Trappeln zu dumpfen, tiefen Schlägen. Schlittenkufen trafen an einigen Stellen auf Holz, als der königliche Tross über die Brücke fuhr, die das Festland mit der zentralen Stadtinsel verband. Stockholm selbst war ganz anders als die Gegend am Brunkeberg. Zwar bestand die erste Häuserzeile direkt am Hafen aus prächtigen, palastartigen Gebäuden – dahinter jedoch, jenseits der großen Straßen, entdeckte Elin verwinkelte Gässchen und Märkte. Das war nicht die goldene Märchenstadt, von der Emilia erzählt hatte! Ganz gewöhnliches Ziegelwerk leuchtete, als wollte es die wenigen Stunden Licht in sich aufsaugen. Viele Häuser waren mit »Falurödfärg« gestrichen, der billigen roten Farbe aus den Kupferminen von Falun. Sogar Holzgebäude entdeckte Elin in der Königsstadt. Die Straßen waren noch schmutziger als in Uppsala, aber was Elin wirklich erschütterte, war die unüberschaubare Menge an Leuten. Noch nie hatte sie so viele Menschen gesehen – und noch dazu so viele, die fremdländische Kleidung trugen.

»Mach den Mund wieder zu«, sagte Lovisa. »Schau lieber dorthin, da kommt das Westtor des Schlosses!« Unmerklich war der Weg steiler geworden. Als Elin genauer hinsah, erkannte sie Wallgräben, eine hohe Festungsmauer und dahinter prächtige, helle Steingebäude, Türme und Spitzen. Das Schloss befand sich am Nordostrand der Insel – zum Teil sah es sogar so aus, als wäre das Gebäude ein Teil der Insel. Zwischen den kupfergedeckten Zinnen und Gebäudedächern ragte ein runder Verteidigungsturm hervor. Nur bei genauem Hinsehen erkannte Elin auf seiner Spitze die drei goldenen Kronen.

Die Kutsche fuhr durch das von zwei Rundtürmen flankierte Tor und dann scharf nach links in den rechteckigen Innenhof der Burg. Als sei damit ein Bann von ihnen genommen, schnatterten alle Damen im Schlitten gleichzeitig los. Die Kutschentür flog auf und die blaugelbe Livree eines Dieners leuchtete auf. »Los, los!«, scheuchte eine plötzlich lebhaft gewordene Lovisa Elin auf. »Steig schon aus!«

Nach den unzähligen Stunden im Schlitten kam es Elin so vor, als würde sie schwankenden Boden betreten. Aus den anderen Schlitten quollen Röcke und mit Pelz umnähte Mäntel. Diener kamen herbeigelaufen, trugen Truhen, Packen von Stoff, Körbe und Kästen davon. Elin drückte ihr Bündel an sich und sah sich mit bangem Herzen um. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt. Von weitem sah sie Magnus de la Gardie und die drei Franzosen aus dem Schlitten steigen. Der junge Marquis ließ sich stützen, sein Knie sah noch dicker aus als vor zwei Tagen.

TEIL II 

Tre Kronor

Das Leben im Schloss war weder golden noch einfach. Es steckte voller Stolperfallen und versteckter Regeln, von denen Elin nichts wusste – bis zu dem Moment, in dem sie sie übertrat. Das neue Mieder, das ihr zwar auf den Leib geschneidert war, aber umso enger saß, war bei weitem nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Verbot, Wasser zu trinken. Wein und Bier, so rieten die Ärzte der Königin, seien gesünder als Wasser, das verunreinigt sein konnte. Selbst als Elin darum bat, Dünnbier trinken zu dürfen, wurde ihr diese Bitte verwehrt.

»Das ist etwas für arme Leute«, wies Tilda sie mit gutmütigem Spott zurecht. »Denkst du etwa, das, was die Königin trinkt, sei nicht gut genug für dich?« So blieb Elin nichts anderes übrig, als sich so oft wie möglich aus der Kammer zu schleichen. Über Arkadengänge und Treppen erreichte sie die Räume im Ostflügel des Schlosses, wo sie heimlich frisch gefallenen Schnee von einem Fenstersims kratzte und ihn auf der Zunge zergehen ließ. In diesen Augenblicken war die Sehnsucht nach Emilia nicht mehr ganz so schlimm. Der Wind und der frische Geschmack von Winter gaben ihr das Gefühl, wieder lebendig zu werden. Längst kam es ihr so vor, als würde sie das Leben nur noch durch Glasfenster beobachten. Die Nord- und Ostmauern fielen direkt zum Hafen ab – so nah stand das Schloss am Wasser, dass es aussah, als könnte ein Kapitän, der mit seinem Schiff am Schloss vorbeifuhr, seine Hand über die Reling strecken und das Gemäuer berühren. Elin betrachtete die Eisangler und staunte über die Bürger und Adligen, die sich Kufen unter die Schuhe gebunden hatten und über den zugefrorenen See glitten. Ein aus Backsteinen erbauter Palast auf dem Festland faszinierte sie besonders – nicht weit von ihm befand sich die Brücke zu Skeppsholm, der »Schiffsinsel«, auf der sich die Werft befand. Selbst jetzt im Winter brannten dort vereinzelt Feuer, über denen die Spanten für die Kriegsschiffe getrocknet und dabei in Form gebogen wurden. Und weit draußen auf dem Wasser lag auch noch Djurgärden, der »Tiergarten«, die bewaldete Jagdinsel der Königin.

Elins Welt dagegen war mit einem Mal zu einem winzigen Fleck zusammengeschrumpft. Immer wenn sie aus einem der vielen Fenster in die Tiefe blickte – in die verwinkelten, schattigen Höfe des Schlosses, wurde ihr schwindlig. Doch im Inneren des Schlosses fürchtete sie sich ebenso – zum Beispiel davor, die kostbaren Möbel zu berühren. Ständig war sie peinlich bemüht, genug Abstand zwischen ihrem Rock und den Wandteppichen zu halten. Zu allem Überfluss hatte Lovisa ihr einen Stoffwulst um die Hüfte gebunden, der »Weiberspeck« hieß und die Taille betonen sollte, aber Elin kam sich damit vor, als trüge sie unter ihrem schweren Rock riesige Taschen, mit denen sie durch keine Tür mehr passte. Manchmal blieb sie stehen und betrachtete aus sicherer Entfernung die Stickereien.

»Kind, du bist doch kein Geist!«, rief Lovisa, als sie Elin lautlos und eilig vorbeihuschen sah. »Meine Güte, du trampelst entweder wie ein Bauer oder schleichst wie ein Nebelschweif! Lauf anmutig!«

»Ich will nicht anmutig laufen, ich will endlich eine Arbeit.«

»Und widersprich nicht ständig.«

»Dann gib mir eine Aufgabe!«

»Du hast jede Menge Aufgaben: Du musst lernen, anmutig zu gehen, mit dem Besteck zu essen, zu sticken und dich zu benehmen. Vorher kommst du mir nicht einmal in die Nähe der Königin, geschweige denn an die Festtafel.«

»Ich will nicht an die Festtafel! Ich will etwas tun. Es gibt Küchen hier – und Ställe.«

Lovisa zog misstrauisch die Stirn kraus.

»Wo wolltest du gerade hin? Doch nicht etwa in den Stall?«

Elin strich verlegen ihren verrutschten Ärmel zurecht. Es hatte keinen Sinn, Lovisa etwas vorzumachen.

»Zur Königin wollte ich«, gab sie zu. »Zum Audienzraum. Und wenn die Bauern und Geistlichen und Bürger ihre Bitten vorbringen, wollte ich sie fragen, ob ich bald eine Arbeit bekomme.«

Das erwartete Donnerwetter von Lovisa blieb aus. Stattdessen seufzte die Hofdame tief und sah auf einmal sehr faltig und müde aus.

»Ach Kind«, sagte sie leise. »Die Königin hat anderes zu tun, als sich um dich zu kümmern. Heute gibt sie keine Audienz.« Ihre Stimme wurde strenger. »Wenn sie befiehlt, dass du in der Küche Töpfe scheuerst, wirst du es tun. Bis dahin lernst du das, was alle Mädchen im Schloss lernen. Wenn du so versessen darauf bist, dich nützlich zu machen, geh ins Zimmer und mach deine Stickerei fertig.«

»Das ist eine Arbeit für gelangweilte Witwen!«

Lovisas Augen funkelten so gefährlich, dass Elin in Erwartung einer Ohrfeige den Kopf einzog. Aber Lovisa hatte sie noch nie geschlagen und auch jetzt fächelte sie sich nur mit einer zornigen Geste Luft zu. Ihre Löckchen wippten.

»Na schön«, sagte sie scharf. »Dann verschwinde – ich hab genug von dir! Scher dich dorthin, wo du meinst, dass du hingehörst! Geh von mir aus direkt in den Stall und biete dem Pferdeknecht deine Dienste an.«

Mit diesen Worten raffte sie ihren schwarzen Rock und rauschte durch eine der Flügeltüren in das Zimmer, in dem die Hofdamen sich zum Nähen und Tratschen versammelt hatten. Im ersten Augenblick wollte Elin Lovisa hinterherlaufen und sie um Verzeihung bitten. Doch dieser Augenblick verging. Lovisa hatte sie tatsächlich gehen lassen! Langsam wandte Elin sich um und blickte auf den langen, leeren Gang. Zum ersten Mal gehörte ein Stück der endlosen Zeit, die sie ansonsten dafür verwendete, das zu tun, was man ihr sagte, nur ihr allein. Am liebsten wäre sie losgerannt, so aber, in den hohen Schuhen und mit dem schweren Rock, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gemessenen Schrittes fortzubewegen. Die Gemächer der Königin lagen im Ostflügel des Schlosses. Elin fasste sich ein Herz und machte sich auf den Weg.

Das Schloss war ein Labyrinth mit tausenden von Winkeln. Manche Türen und Gänge waren versperrt, die Gardisten, die sie bewachten, musterten Elin mit finsteren Gesichtern, bereit, die Hellebarden zu senken und sie zurückzuhalten, sollte sie versuchen, den Raum zu betreten. Elin lächelte in sich hinein. Manchmal hatte es doch Vorteile, im Gewand eines Edelfräuleins herumzulaufen. Eine Scheuermagd hätten sie sofort davongejagt. Sie betrachtete die aus Stein gemeißelten Fruchtgirlanden über den Türen. Der in die Form von Trauben und Birnen gehauene Sandstein war bunt bemalt. Aus anderen Winkeln blickten ihr Löwengesichter entgegen. Endlich erreichte sie den Ostflügel und blieb vor einem Wandteppich stehen. Mit golddurchwirktem Garn war darauf eine biblische Geschichte eingestickt, die sie von Lovisa kannte. Die Figuren von Ishmael und seiner Mutter Hager waren altertümlich dargestellt, aber so prächtig, dass Elin der Atem wegblieb. Rasch vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, und streckte vorsichtig die Hand aus. Ihre Finger kribbelten, als sie behutsam die kostbaren Stickereien berührte. Es war ein Gefühl, als hätte ihr jemand ein Geschenk gemacht. Mutiger geworden, ließ sie ihre Finger über vergoldete Bilderrahmen und Türbeschläge wandern, erwiderte die düsteren Blicke der Ahnenbilder und berührte die Rüstungen, die wie Gespensterritter nur darauf zu warten schienen, die Lanze zu heben und anzugreifen. Am Fuß einer schmalen Treppe blieb Elin stehen. Das Gemälde, das hier hing, war anders als die Porträts und Tapisserien. Die Farben waren nicht dunkel und gedeckt – sie leuchteten! Es war, als blickte sie durch ein Fenster mitten in den Frühling. Allerdings war es ein Frühling, wie Elin ihn noch nie erlebt hatte. Zartes Blau und goldenes Rosa vereinten sich zu purem Licht. Und mitten in dem blühenden Wald räkelte sich eine nackte Dame! Ihre Brüste waren unbedeckt – einen Zweig mit saftig grünen Blättern hielt sie lässig und kokett so, dass ihre Scham verdeckt war. Putten mit winzigen Flügeln schwebten über den Bäumen oder tollten über das Gras. Andere junge Frauen, so bekleidet, dass sie kaum weniger schamlos wirkten als die Nackte, tanzten auf der Wiese. Mit einem nackten Mann! Elin ging noch näher an die Leinwand heran. Es duftete nach Öl und Harz – und ein bisschen vielleicht auch nach den zarten Rosen, die den Wolken ihre Farbe liehen. War das tatsächlich ein Kuss, der dort hinten dargestellt war?

»Liederlich!«, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Elin fuhr erschrocken zurück und stolperte dabei über ihren Rocksaum. Eine Hand bewahrte sie gerade noch vor einem uneleganten Sturz.

Der Mann musste soeben die Treppe heraufgekommen sein. Heiß schoss Elin das Blut in die Wangen. Sie knickste verlegen und murmelte eine Entschuldigung. Der alte Mann sah sie streng an. Er trug einen spitzen Kinnbart und dunkle Gewänder, die verstaubt und altmodisch wirkten. Sein weißer Spitzenkragen war frisch gestärkt. Die goldenen Ketten, die schwer auf seine Brust fielen, mussten ein halbes Königreich wert sein.

»Entschuldige dich nicht, Mädchen. Es ist kein Wunder, dass diese italienischen Schamlosigkeiten die Jugend verführen. Nun, es ist immer verlockender, an die Liebe zu denken als an die Pflicht.« Seine scharfen, durchdringenden Augen, unter denen Tränensäcke hingen, wurden schmal. »Ich habe dich hier noch nie gesehen – bist du die Tochter von Sekretarius Jörnsson?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Elin Asenban«, flüsterte sie. »Aus Uppsala.« Das strenge Gesicht wurde noch eine Spur härter.

»Ach richtig«, sagte er. »Das halbdeutsche Hurenkind, das Mitbringsel aus dem alten Schloss. Ich habe schon von dir gehört. Und was sucht jemand wie du bei den Arbeitsräumen?«

Das war der Ton, den sie von Gudmunds Hof nur zu gut kannte – und trotzdem kam ihr der Satz vor wie eine Ohrfeige.

»Ich … wollte nachfragen … bei der Königin. Oder bei einem Hofmeister. Ob es Arbeit für mich gibt.«

Die buschigen Augenbrauen zogen sich nun noch enger zusammen.

»Dass du hier bist, heißt nicht, dass du zum Schloss gehörst und hier im administrativen Flügel herumlaufen darfst, wie es dir passt«, wies der alte Herr sie zurecht. »Das ist kein Kuhstall. Am Donnerstag ist der nächste offizielle Audienztag. Da kommen die Bauern, um der Königin ihr Leid zu klagen. Und auch die Hurenkinder und die anderen Mindergeborenen dürfen dort ihre Fragen an sie richten.«

Elin sah den Adligen entsetzt an. Seltsamerweise musste sie genau in diesem Moment an Lovisas Beschreibung des Stockholmer Südtores denken, über dem die Köpfe der Hingerichteten aufgespießt wurden und über Wochen hinweg verrotteten. Sie beeilte sich, ihren Blick zu senken. Der alte Herr wartete immer noch auf eine Antwort. Was würde Lovisa an ihrer Stelle antworten? Höflich bleiben! Nicht durchscheinen lassen, was man wirklich dachte.

»Sie haben Recht«, sagte Elin leise. »Hier, wo ich als Mindergeborene bezeichnet werde, habe ich ganz sicher nichts zu suchen. Wenn Sie so freundlich wären und mir sagen würden, wie ich diese Räume hier auf dem schnellsten Weg verlassen kann …«

»Oh, auch noch scharfzüngig. Nun, da kann ich dir helfen. Du gehst diese Treppe dort hinunter – und dann noch ein paar Stufen mehr. Und ganz unten, in der Nähe der Vorratskeller, da wirst du den Ort finden, an dem du dich zu Hause fühlst.«

Wieder besann Elin sich auf alle Lektionen, die Lovisa ihr erteilt hatte, und rang sich ein steifes Lächeln ab.

»Ich danke vielmals für die liebenswürdige Auskunft. Ohne Sie hätte ich den Platz, der mir zusteht, sicher nicht gefunden. Ich wünsche einen angenehmen Tag.«

Obwohl ihre Knie zitterten, machte sie einen übertrieben tiefen Knicks und ging. Den Blick des alten Adligen spürte sie noch lange wie eine kalte Hand im Genick. Niedergeschlagen blieb sie an der Treppe stehen. Tränen brannten in ihren Augen. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. Halt suchend berührte sie einen Wandteppich, auf dem ein Wald abgebildet war. Hurenkind konnte man sie nennen, ja, aber diese Berührung hier gehörte ihr nun ebenso gut wie den Adligen.

In der Furcht, weiteren adligen Herrschaften zu begegnen, lief sie die Treppe nach unten. Irgendwann würde sie einen Raum, einen Gang erkennen und wissen, wie sie wieder zu Lovisas Kammern zurückkehren konnte. Je weiter sie in die unteren Stockwerke des Schlosses kam, desto mehr Menschen begegneten ihr. Anstelle von Wandteppichen gab es hier nur nackte Ziegelwände und Gewölbe – und statt Musik hörte sie barsche Rufe. Beinahe musste sie lächeln, als sie erkannte, wohin der Adlige sie geschickt hatte: zu den Küchen. Der vertraute Geruch nach Fisch und verbranntem Fett tröstete sie. Sie lehnte sich an eine Tür, lauschte den Geräuschen, dem Klappern und Lachen, den schnellen Schritten und dem Plätschern von Wasser und fühlte sich einen Augenblick lang geborgen. Fast war es so, als würde sie gleich Emilias Stimme hören, die sie mahnte, an die Arbeit zu gehen, bevor Greta zurückkam. Elin lächelte. Wenn Königin Kristina ihr keine Arbeit gab, konnte sie bis zum Audienztag genauso gut selbst nach einer Beschäftigung suchen.

Aber auch hier unten war sie nicht willkommen. Ihre Gegenwart irritierte die Diener, die Mägde knicksten verstört und wichen ihr aus. Elin schlich zur nächsten Tür und spähte vorsichtig in einen Raum. Ein Haufen von Schwanenfedern türmte sich auf dem Tisch. Eine Frau war emsig damit beschäftigt, die Federn auf einem Geflecht aus Eisendraht zu befestigen. Die Frau hatte graublondes, feines Haar und trug ein einfaches braunes Kleid. Leise sang sie ein Lied vor sich hin. Elin erkannte es sofort: »Herr Olof och Älvorna« – Herr Olof und die Feen – wie oft hatte Emilia es ihr vorgesungen! Die Frau griff zu einer weiteren Feder. Ihr Lied verstummte.

»Komm herein oder bleib draußen«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. In ihrer Stimme lag ein Lächeln. Elin machte einen vorsichtigen Schritt ins Zimmer. Auf dem gefliesten Boden schlugen die Absätze ihrer Schuhe laut auf. Zögernd umrundete sie den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Die Frau tauchte den Kiel einer Schwanenfeder in eine Schale mit Harz und fixierte sie anschließend mit einem Bindfaden am Drahtgestell. Ab und zu hob sie den Metallflügel an und prüfte die andere Seite. Zwischendurch schickte sie einen kurzen Blick aus freundlichen, graublauen Augen zu Elin.

»So«, sagte sie schließlich. »Und nun den anderen Flügel! Möchtest du mir helfen?«

»Gerne! Aber so etwas habe ich noch nie gemacht.«

»Federn nach der Größe sortieren kannst du sicher. Die fingerlangen hierher und die Schwungfedern auf die linke Seite. Nimm den kleinen Korb dort hinten.«

»Wofür wird dieser Schwan denn gebaut?«

»Für das Julfest in zwei Wochen. Der Schwan muss anmutig und so echt aussehen, als würde er noch lebendig auf dem Silbertablett sitzen. Zwischen die Flügel wird der Schwanenbraten gelegt. Hast du schon mal Schwan gegessen?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Bis vor kurzem habe ich noch von Rüben und gegorenem Hering gelebt. Und mein Kleid ist auch nicht mein richtiges Kleid. Ich war Scheuermagd.«

»Was du nicht sagst«, sagte die Frau ungerührt. »Nun, ein Rübengericht wird es zum Wild auch geben. Ich bin Helga Lundell.« Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. »Und ich nehme an, du bist das Mädchen aus Uppsala. Willkommen im Schloss!« Elin hätte am liebsten geflucht, weil ihr die Schürze fehlte, um sich die Tränen abzuwischen, die ihr plötzlich über die Wangen rannen. In ihrer Verzweiflung zupfte sie das Taschentuch, das Lovisa ihr gegeben hatte, hervor. Zu spät fiel ihr ein, dass das kostbare, mit Fransen versehene Tuch nur zur Zierde in der Hand getragen werden und niemals zum Naseputzen gebraucht werden durfte. Helga hielt bestürzt in ihrer Arbeit inne und legte Elin die Hand auf den Arm.

»Was ist denn los, Mädchen? Geht es dir nicht gut?« Die freundliche Berührung war endgültig zu viel. Elin drückte das Taschentuch gegen die Augen und schluchzte. Ohne es zu wollen, sprudelte alles aus ihr heraus, was ihr auf der Seele lag: Lovisas ständige Schelte, der Spott der Kammerfrauen, das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, die Sehnsucht nach Emilia und die Demütigung durch diesen alten Adligen. Helga nickte und arbeitete ruhig weiter, bis Elin endlich die Worte und die Tränen ausgingen. Das Taschentuch war hinüber.

»Du bist Axel Oxenstierna in einem ungünstigen Moment über den Weg gelaufen«, sagte Helga schließlich. »Aber gräme dich nicht, sei lieber stolz darauf, wie klug du ihm geantwortet hast.« Sie zwinkerte Elin zu. »Anscheinend sind Frau Lovisas Lektionen, über die du dich so beklagst, doch nicht so unnütz gewesen.«

»Axel Oxenstierna? Der Reichskanzler?«

»Oh, erschrick nicht. Er ist kein Ungeheuer – er ist nur streng und nicht gerade entzückt, katholische Ausländer am Hof zu haben. Unsere Königin ist so damit beschäftigt, ihre gelangweilten französischen Gäste zu zerstreuen, dass er einen Teil ihrer Arbeit macht.«

»Die Königin arbeitet?«

»Oh ja. Der ganze Flügel des Schlosses, in den du dich verirrt hast, ist nur für die Verwaltung des Landes da. Der Reichssaal wurde eigens dafür gebaut, die Vertreter der vier Stände zu Ratschlüssen und Audienzen zu empfangen. Königin Kristina ist eine kluge Frau – klug genug, um zu wissen, dass man nichts, was gut getan werden soll, aus der eigenen Hand legen sollte. Und wenn, dann nur in die Hände von Menschen, die am richtigen Ort das Richtige tun.«

»Dann hat sie sich bei mir geirrt«, meinte Elin und wischte sich die Nase ab. »Ich komme mir vor wie ein Spielzeug, das sie mitgenommen hat – nur um es dann zu vergessen.«

Helga Lundell lächelte wieder.

»Die Königin hat dich nicht vergessen.« Überrascht sah Elin ihr Gegenüber an, aber das freundliche, unbewegte Gesicht gab kein Geheimnis preis.

»Heute haben wir noch einiges zu tun«, fuhr Helga fort. »Du kannst dir bei mir gerne ein paar Öre verdienen. Wenn die Herrschaften von ihrer Schlittenfahrt zurückkommen, werden sie hungrig sein. Bringe mir die weißen Servietten dort vom Regal.«

Mit dem Küchendienst, den Elin zu verrichten gewohnt war, hatte Helgas Arbeit so wenig gemein wie das Ausmisten des Stalls mit der hohen Reitkunst. Hier ging es darum, die Nahrungsmittel zu einem Kunstwerk anzurichten. Elin polierte silberne Salzschälchen und lernte Servietten in der Form von fliegenden Tauben zu falten. Und bald saß sie mit glühenden Wangen vor dem Schwanengestell und klebte dem Tier Feder für Feder an die ausgestopfte Brust. Nach und nach nahm der Vogel Gestalt an. Harz verklebte Elins Finger und Helga reichte ihr ein großes Tuch. Es hatte bräunliche Flecken, die süß und fremd dufteten. Elin prüfte, ob die Rückseite sauber war, und band es sich wie eine Schürze um die Taille, um den kostbaren Stoff ihres Kleides zu schützen.

In diesen wenigen Stunden, in denen sie Splitter von duftendem Konfekt kosten durfte, lernte sie von Helga mehr über die Speisen, die Abfolge von Tellern und Gläsern, als sie je in ihrem Leben über irgendetwas gewusst hatte. Bald schallten Rufe durch die Gänge: »Die Herrschaften sind von der Jagd zurück!«, und ein wenig später: »Wo bleibt der Wein?«

Und dann ein weiterer, schriller Ruf, der Elin vor Schreck beinahe die silberne Konfektschale aus der Hand gleiten ließ.

»Elin!«

Lovisa war so blass, dass sie mit den weißen Haaren wie ein Gespenst aussah. »Im ganzen Schloss habe ich dich gesucht!« Mit zwei Schritten war sie bei Elin und zerrte sie einfach hinter sich her. »Und wie du aussiehst«, zeterte sie. »Sogar Harz hast du in den Haaren!«

»Lass mich los, Lovisa!«

»Den Teufel werde ich tun! Wenn du noch einmal wegläufst, sperre ich dich ein, verstanden?«

»Aber du hast mich doch selbst weggeschickt.«

»Aha, wir verstehen die Dinge jetzt nur noch so, wie wir sie verstehen wollen, ja? Glaub ja nicht, dass du damit durchkommst!« Grob zerrte sie Elin hinter sich die Treppen hoch. »Die Königin will dich morgen Früh in ihrer Kanzlei sehen.«

»Wirklich?«

»Freu dich nicht zu früh! Lieber Gott im Himmel, wie soll ich dir nur bis morgen Benehmen beibringen?«

Inzwischen lief Elin so schnell, dass sie Lovisa überholte. Im ersten Stock musste sie warten, bis die alte Hofdame ihr hinterhergeschnauft kam. Schon wollte sie um die Ecke weiterlaufen, als sie wie festgenagelt stehen blieb. Musik und Gelächter schallten über den Gang, die Flügeltüren zu einem Zimmer standen weit offen – und davor, an einem der hohen Fenster, stand der junge Marquis mit zwei Höflingen und der blassen Madame Toulain. Im selben Moment, als Lovisa Elin erreichte, entdeckte er die beiden. Sein Lächeln kühlte sofort ab.

Er nahm Lovisas Gruß mit einem arroganten Nicken entgegen und verschränkte die Arme. Sein Blick wanderte von Elins verklebtem Haar über ihre Wange, auf der er etwas sehr Amüsantes zu entdecken schien.

»Mach deinen Knicks«, raunte ihr Lovisa zu. Elin machte den Mund auf, um zu erwidern, dass sie eher bis zum Ende ihrer Tage im Kerker sitzen würde, als etwas Unglaubliches geschah. Der Marquis machte eine elegante Handbewegung und zog mit seinem Fuß einen zierlichen Halbkreis. Das schmerzende Knie bereitete ihm Mühe, aber trotz des Stocks, auf den er sich stützte, erkannte man, dass es eine ironisch übertriebene Verbeugung darstellte. Zweimal klopfte er mit seinem Stock auf den Boden und rief im Ton eines Haushofmeisters: »Regardez la reine de la cuisine!«

Die verblüfften Gesichter der Höflinge lösten sich aus der Erstarrung. Schallendes Gelächter ergoss sich über Elin wie ein Trog voll schmutzigem Waschwasser. Finger deuteten auf ihren Rock – und erst als sie an sich heruntersah, erkannte sie, dass sie immer noch die fleckige Schürze trug.

Der junge Marquis bog sich vor Lachen. Nur mühsam brachte er einen weiteren Satz heraus, der die Höflinge noch mehr entzückte. Sie klatschten und riefen »La reine! La reine avec le concombre!«

Madame Joulain war die Einzige, die nicht lachte. Sie sandte Elin einen mitleidigen Blick zu und rauschte an den Herren vorbei ins Musikzimmer. Nur zögernd folgte ihr die Hofgesellschaft. Zwei Diener schlossen die Flügeltüren.

»Nun, die Regeln der Höflichkeit musst du noch üben«, sagte Lovisa wütend.

»Ich? Er hat mich verspottet und gesagt, ich sei die Königin der Küche!«

»Nun, ganz Unrecht hat er damit wohl nicht, oder?« Mit einer unwirschen Bewegung riss Lovisa ihr die Schürze herunter, knüllte sie zusammen und wischte Elin damit etwas von der Wange. Wie gelähmt blieb Elin stehen, bis die Kammerfrau sie bei den Schultern nahm und zwang weiterzugehen. Erst nach einigen Schritten stutzte Lovisa und blieb stehen.

»Du hast verstanden, was er gesagt hat?«

»Nur diesen Satz.«

»Wer hat dir das beigebracht?«

»Niemand«, antwortete Elin kläglich. »Ich höre nur zu. Wenn ich etwas nicht verstehen soll, redest du immer auf Französisch.« Es war unglaublich, aber Lovisa war tatsächlich sprachlos. »Aber das andere habe ich nicht verstanden«, entschuldigte sich Elin. »Was hat er noch gesagt?«

»Das willst du nicht wissen.«

»Sei doch nicht so böse auf mich, Lovisa!«

»Ich bin nicht böse«, entgegnete Lovisa zu ihrem Erstaunen. »Du benimmst dich so, weil du es nicht besser weißt. Andere dagegen …«

Mit hektischen Fingern ordnete sie ihre Schläfenlocken und gewann ihre Fassung wieder zurück.

»Also gut, ich sage es dir. Er hat vorgeschlagen, man solle dir eine Rübenkrone schnitzen. Und als Zepter gebe man dir eine Gurke in die Hand, damit du standesgerecht über deinesgleichen herrschen kannst. Nun, den Tonfall brauche ich wohl nicht zu übersetzen.«

Keiner von Gretas Schlägen hatte je so geschmerzt. Elin biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es wehtat. Sie musste sich mehrmals räuspern, um den Satz, den sie sagen wollte, herauszubringen.

»Ich … möchte seine Sprache erlernen, Lovisa. Kannst du mir helfen? Dafür gebe ich dir den Riksdaler und die zwei Öre, die ich heute verdient habe.«

Die alte Kammerfrau sah sie mit offenem Mund an. Musik und Gelächter drangen durch die Tür. Nach einer Weile glätteten sich Lovisas zerknitterte Lippen zu einem Lächeln. Sie sah sich nach der geschlossenen Tür um.

»Das Verbeugen werde ich dir dennoch nicht ersparen können«, sagte sie leise. Mit einem Mal trat sie an Elin heran und nahm sie fest bei den Schultern. Auch Lovisa, stellte Elin fest, hatte Drachenaugen. »Behalte dein Geld und versprich mir dafür eins. Wenn ich dir genug Französisch beigebracht habe, dann zahlst du Monsieur Henri diesen Riksdaler, der ihm sein Leben wert war, Wort für Wort zurück.«

Gespenster

Der Gang war so zugig, dass die Flammen der Kerzen in den bronzenen Wandhalterungen bedrohlich flackerten. Hinter den Fenstern war es noch schwärzeste Nacht. Mit fünf schweigsamen Gestalten wartete Elin vor der mächtigen Flügeltür. Sie wurde von zwei Gardisten bewacht, die genauso müde aussahen wie die Gesellschaft, die sich beim Arbeitskabinett der Königin eingefunden hatte. Drei der Herren mussten Sekretäre sein, denn sie trugen Akten unter dem Arm und hatten Tintenflecken an den Händen. Einer konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen und steckte die anderen damit an. Stühle oder Bänke gab es keine. Es war noch nicht einmal fünf Uhr morgens und Elin fragte sich, ob sie hier wohl warten mussten, bis die Königin erwachte. Das würde sicher nicht vor neun oder zehn Uhr geschehen. Verstohlen musterte sie den jüngeren der beiden Gardisten. Er war höchstens fünf Jahre älter als sie und wenn sie nicht hinsah, konnte sie aus den Augenwinkeln erkennen, dass er sie ebenfalls betrachtete. Sie konnte sich vorstellen, was er sah: ein Edelfräulein, hergerichtet wie ein Paradepferd. Unbarmherzig hatte Lovisa heute an ihren Haaren gezerrt, um das Harz zu entfernen. Dann wurde ihr Haar in drei Partien geteilt, am Hinterkopf zu einem flachen Dutt hochgesteckt, den Lovisa als »Chignon« bezeichnete. Rechts und links von der Schläfe fiel Elins Haar nun in gedrehten Locken herab und kitzelte ihre Wangen. Eine Stelle an ihrem Ohr, an der Lovisa sie mit einem heißen Metallstab versengt hatte, war rot und pochte.

Die Gemächer der Königin lagen direkt neben den Verwaltungsräumen. Unten, am Fuß der Treppe, leuchtete wie ein verheißungsvoller Sonnenstrahl das Bild der nackten Schönheiten. Als die Tür endlich geöffnet wurde, war Elin so sehr in den rosenfarbenen Frühlingswald vertieft, dass sie erst gar nicht bemerkte, wie die frierenden Gestalten zum Leben erwachten. Gehorsam nahm sie Aufstellung und folgte den Sekretären durch die Tür.

Das Arbeitskabinett der Königin unterschied sich kaum von dem Raum in Uppsala, nur dass dieser hier größer war und mehreren Schreibern Platz bot. Die Seitentüren, die in weitere Gemächer führten – vielleicht sogar direkt in die Privatgemächer der Königin – waren geschlossen. Kristina stand in ein Dokument vertieft neben ihrem Schreibtisch und hob kaum den Kopf, als die Eintretenden ihr mit einer tiefen Verbeugung ihre Aufwartung machten. Elin musste zweimal hinsehen, um sich zu überzeugen, wirklich die Königin vor sich zu haben. Sie wirkte noch kleiner, als Elin sie in Erinnerung hatte, und sah aus wie eine nachlässig gekleidete Bürgerin. Ihre Haare waren offensichtlich in großer Hast hochgesteckt worden. Eine goldbraune Strähne hatte sich gelöst und fiel ihr auf die Schulter.

»Ach, das Fräulein Elin ist auch da.« Die Königin schenkte ihr ein Lächeln. »Und aufgezäumt hat man sie ebenfalls. Na, wie gefällt es dir im Kreise meiner Frauen?«

Zehn Augenpaare starrten Elin neugierig an. Beinahe hätte Elin die Frage ebenso unbefangen beantwortet, wie sie ihr gestellt worden war, aber dann fiel ihr ein, was Lovisa ihr eingebläut hatte: Rede vor unserer Königin nicht zu offen und beachte die Gebote der höflichen Konversation.

»Gut, Ihre Majestät«, antwortete sie. Die Königin hatte sich bereits wieder in ihren Brief vertieft. An ihrem rechten Ärmel prangte ein frischer Tintenfleck.

»Aha. Und die Kandare haben sie dir auch schon zwischen die Zähne gezwängt«, stellte sie fest. »Wo ist meine rebellische Scheuermagd geblieben?« Elin erschrak über den Tadel in Kristinas Stimme. »Setz dich dort neben das Fenster«, befahl die Königin barsch. »Ich werde mich später mit dir befassen.« Elin knickste mit hochrotem Kopf und ging, von den Höflingen misstrauisch beäugt, zu einem geschnitzten Stuhl mit einer durchgesessenen Sitzfläche. Dort verbrachte sie die Zeit damit, der Königin dabei zuzusehen, wie sie ihren Sekretären Briefe diktierte und mit gerunzelter Stirn Akten und einzelne Schriftstücke studierte. Es ging um die Friedensverhandlungen in Deutschland, konnte Elin heraushören. Osnabrück und Münster spielten eine wichtige Rolle. Elin nutzte die Zeit, um sich die Königin genau anzusehen. Um die Akten zu lesen, beugte sich Kristina tief über das Papier und kniff die Augen zusammen – so als würde sie auf die Ferne nicht gut sehen. In den wenigen Augenblicken, in denen sie saß und nicht im Kabinett auf und ab ging, fiel ihre schiefe Schulter besonders auf. Und als sie einmal neben Elin am Fenster stehen blieb, ragte unter dem Rocksaum die Spitze eines flachen Männerschuhs aus schwarzem Leder hervor. Elin konnte sich immer weniger einen Reim auf die junge Königin machen. Frau Gudmund hatte oft gezetert, dass Kristina verschwendungs- und vergnügungssüchtig sei und das Geld mit vollen Händen für Tanz und französischen Pomp ausgebe. Diese konzentrierte Frau in ihrem schlichten Kleid passte allerdings so gar nicht zu der Beschreibung – so wenig wie Emilias Vorstellungen von einem Leben bei Hofe. Als die Königin schließlich die letzte Akte zuklappte, war es im Kabinett schon hell geworden. Mehrere Stunden waren vergangen und Elin hatte sich keinen Augenblick gelangweilt. Aber wenn sie gedacht hatte, dass sich die Königin nun endlich ihr zuwenden würde, hatte sie sich getäuscht. Stattdessen schwang die Flügeltür auf und Axel Oxenstierna trat ein. Die Lehne drückte gegen Elins Rücken, so sehr wünschte sie sich, einfach in der Wand zu verschwinden. Der Kanzler warf ihr jedoch nur einen mürrischen Seitenblick zu und wünschte dann der Königin einen Guten Morgen. Bis auf einen Schreiber verließen alle Sekretäre den Raum. Schon wollte Elin sich ebenfalls erheben, als eine knappe Geste der Königin sie auf ihren Stuhl zurückbefahl. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie den Kanzler und die Königin dabei, wie sie noch einmal die Beschlüsse des Tages durchgingen. Ihre Vertrautheit ließ auf eine lange Bekanntschaft schließen. Königin Kristinas Stimme war bestimmt, aber respektvoll, als sie mit dem alten Kanzler sprach. Dennoch schienen ihre Ausführungen nicht seine Zustimmung zu finden.

»Mit den Friedensverhandlungen in Westfalen sollten Sie nichts überstürzen«, sagte er. »Es gibt dringendere Dinge, die Ihrer Aufmerksamkeit bedürfen.«

Kristinas Stirn umwölkte sich, obwohl sie ihre Freundlichkeit behielt und ein Lächeln auf ihrem Gesicht erschien.

»Grundsätzlich stimme ich mit Ihnen überein«, antwortete sie. »Allerdings sehe ich es als meine Pflicht an, den Krieg, an dem mein Vater sich im Namen von Schweden beteiligt hat, auch im Namen von Schweden wieder zu beenden.«

»Meiner Meinung nach wäre es wichtiger, wenn Sie zuerst die internen Angelegenheiten regeln, die Schweden mehr betreffen als ein Krieg in Europa.«

»Wie könnte mich der Krieg weniger betreffen als meine Privatangelegenheiten? Auf den Schlachtfeldern sterben täglich schwedische Männer«, erwiderte sie scharf. »Ganz zu schweigen von der Bevölkerung in den deutschen Städten und Dörfern, die entweder in alle Winde zerstreut oder so verarmt ist, dass die Menschen vor Hunger angeblich schon Gras essen. Soll Schweden etwa über entvölkerte Landstriche herrschen? Es ist meine Pflicht, die Brände zu löschen, die schon beinahe dreißig Jahre wüten.«

In der Pause, die folgte, glaubte Elin die Luft knistern zu hören wie vor einem Gewitter. Die Hand des Sekretärs verharrte in der Bewegung. Ein Tintentropfen löste sich von dem angespitzten Federkiel und zerplatzte auf der polierten Tischplatte.

»Mit der Frage Ihrer Heirat sind Sie weniger ungeduldig«, wandte der Kanzler mit seiner ruhigen Stimme ein. »Sie ist keine ›Privatangelegenheit‹, das wissen Sie selbst besser als ich. Das Fortbestehen der Dynastie hängt davon ab. Sie müssen sich jetzt endlich für einen Hochzeitstermin entscheiden, Kristina.«

»Eine Heirat will wohl überlegt sein«, erwiderte die Königin liebenswürdig.

»Wie viele Jahre wollen Sie noch überlegen? Sie sind öffentlich verlobt und haben Ihrem Vetter Ihr Versprechen gegeben. Ich habe Ihre Wahl nicht gebilligt, aber gut, auch Sie folgen Ihrem Herzen. Mehrmals hat Karl Gustav Sie schon um eine persönliche Unterredung in der Heiratsfrage ersucht, und Sie? Sie beschäftigen sich mit französischer Lebensart. Wie lange wollen Sie Ihren Bräutigam noch warten lassen?«

»Auf eine große Ehre kann man nicht lange genug warten.« Kristinas versöhnliches Lächeln konnte kaum über den gereizten Unterton in ihrer Stimme hinwegtäuschen. Axel Oxenstierna seufzte, als wäre er ein resignierter, strenger Vater und die Königin seine trotzige Tochter.

»Manchmal verstehe ich nicht, was in Ihrem Kopf vorgeht, Kristina. Aber da wir gerade bei offenen Worten sind: Mir ist das Gerücht zu Ohren gekommen, Sie hätten dem Bürgerlichen Adler Salvius einen Sitz im Reichsrat versprochen, wenn er mit seinen Verhandlungen in Deutschland zu einem baldigen Friedensschluss beitragen würde?«

»Wer hat Ihnen das zugetragen?«

»Böse Zungen, die, wie ich doch sehr hoffe, etwas Falsches erzählen.«

Die Königin seufzte. Elin hatte das Gefühl, Zeugin eines Kampfes zu werden, in dem Worte wie Degen geschwungen wurden. Mit einem Lächeln im Gesicht trugen hier zwei Gegner ein Scheingefecht aus und erkundeten für den Ernstfall die Schwächen des anderen. Selbst Elin, die nicht wusste, wer Adler Salvius war, begriff, dass Axel Oxenstierna mit seiner Erwähnung einen warnenden Schlag gegen die Königin geführt hatte.

»Bisher habe ich ihm noch gar nichts versprochen«, antwortete Kristina. »Und ich schätze die Arbeit Ihres Sohnes sehr und versichere Ihnen, dass seine Dienste als Unterhändler in Deutschland nicht weniger geschätzt werden als die seines Kollegen Salvius. Dennoch halte ich Salvius für einen begabten Mann.«

»Ich hoffe, diese Überlegung ist nicht Ihr Ernst«, entgegnete der Reichkanzler steif. »Er ist ein Emporkömmling, ein Bauernsohn, vergessen Sie das nicht. Seit jeher müssen die fünf höchsten Ämter des Reiches von schwedischen Adelsherren bekleidet werden. Ebenso ist es mit den Vertretern des Reichsrats. Ihr seliger Vater wusste das. Vergessen auch Sie es nicht.«

»Weder meine noch Salvius’ Vorfahren sitzen hier am Tisch«, sagte Kristina mit gutmütigem Spott. »Ich verlasse mich lieber auf die Verdienste und Fähigkeiten der Lebenden als auf deren Ahnenreihe. Jeder mag dort sitzen, wo er seine Fähigkeiten am besten zum Wohl für sein Land einsetzen kann.«

»So wie der junge de la Gardie?« Nun war es am Reichskanzler zu spotten. »Seine Verschwendungssucht, die er in Paris an den Tag legte, kostete Schweden ein Vermögen.«

Die Königin lachte.

»Ich gebe Ihnen völlig Recht. Aber wie Sie wissen, schätze ich Großmut und Freigebigkeit. Und ich bin der Meinung, dass Magnus genau diese Gaben zu unserem Nutzen eingesetzt hat, um das Verhältnis zu unserem Bündnispartner Frankreich zu stärken. Manchmal scheint ein Aufwand verschwenderisch zu sein, tatsächlich erweist er sich auf lange Sicht aber als Sparsamkeit. Vertrauen Sie mir, mein Kanzler!«

»Oh, ich vertraue Ihnen, meine Königin«, erwiderte der alte Adlige ruhig. »Sicher können Sie mich überzeugen, dass Frankreich nicht vorhat, lediglich bis zum letzten Schweden zu kämpfen. Ebenso wie ich sicher bin, dass Sie mich von den besonderen Fähigkeiten dieses Bauernkindes hier überzeugen können und davon, dass es einen Platz in der königlichen Kanzlei verdient.«

Bei diesen Worten sah er Elin nicht an, trotzdem duckte sie sich unwillkürlich. Schon seit einigen Minuten hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Ach ja, das Fräulein Elin meinen Sie.« Kristina nickte. »Ich habe sie hergebeten, ja. Aber nicht als Secretarius, wenn Sie das befürchten. Ich wollte sie anweisen, heute Nachmittag mit dem Reitunterricht zu beginnen.« Sie lächelte Axel Oxenstierna an und machte eine kunstvolle Pause. »Nach dem Julfest wird sie uns auf die Jagd begleiten.«

Wenn sie gesagt hätte, sie wollte Elin eine Krone schmieden lassen, hätte sie keinen besseren Effekt erzielen können. Oxenstierna wurde erst blass, dann rot wie ein Flusskrebs im Kochtopf. Dennoch ließ er sich nicht zu einem Zornesausbruch verleiten. Elin fühlte sich in diesem Augenblick, als wäre der Stoff ihres Rocks, in den sie ihre Finger vergraben hatte, glühend heiß. Auf die Jagd! Die Jagd war das Privileg der Adligen. Aber Königin Kristinas Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht vorhatte, Elin als Treiber mitzunehmen.

»Wie Sie meinen«, sagte der Kanzler eisig. »Hoffen wir, dass das Mädchen sich nicht das Genick bricht. Sie wissen ja: Je höher das Pferd, desto tiefer der Fall.«

Ohne Elin eines Blickes zu würdigen, verabschiedete er sich und verließ den Raum. Noch lange hörte man seinen festen Schritt auf der Treppe. Die Königin ging um den Tisch herum und nahm langsam wieder Platz.

»Sie können gehen, Bengt«, befahl sie dem Sekretär. Sofort legte er die Feder beiseite und suchte seine Unterlagen zusammen. Erst als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wich die Spannung aus dem Rücken der Königin und sie sank auf dem Stuhl zusammen – eine erschöpfte junge Frau. Zum ersten Mal seit Stunden sah sie Elin an und schenkte ihr ein schwaches Lächeln.

»Du hast es gehört«, sagte sie sanft. »Du wirst reiten lernen. Dein Lehrer wird Lars Melkebron sein. Er steht bei der Familie de la Gardie in Diensten.« Erwartungsvoll sah sie Elin an. »Freust du dich nicht auf die Jagd?«

Elin räusperte sich. »Oh doch. Es ist eine große Ehre …«

»Ach, hör auf damit!«, fuhr die Königin sie an. Sie sprang vom Stuhl auf und verschränkte die Arme. »Ist es so leicht, dich abzurichten wie ein Hündchen? Wer hat dir das eingebläut? Diese alte Krähe Lovisa? Sag mir ehrlich, was du denkst, oder sag gar nichts. Dir geht es nicht gut, das sieht ein Blinder! Und was soll dieses alberne Kleid? Meine Damen finden offenbar Gefallen daran, dich in ein Püppchen zu verwandeln.«

Elin schnappte nach Luft. Mit klopfendem Herzen stand sie langsam auf. So, auf gleicher Augenhöhe mit der Königin, fühlte sie sich etwas besser. Nun war es auch viel einfacher, dem Befehl zu gehorchen. Kristina wollte die Wahrheit hören? Das konnte sie haben! »Es stimmt, Majestät«, begann sie. »Ich … fühle mich wie ein verkleidetes Schoßtier und ich ersticke in diesen Räumen, wo ich nicht arbeiten und noch nicht einmal Wasser trinken darf.« Zum ersten Mal an diesem Morgen hatte sie das Gefühl, wieder atmen zu können. Überrascht sah die Königin sie an. Elin wurde noch mutiger. »Aber offenbar ist Lovisa nicht die Einzige, die mich wie ein Spielzeug behandelt. Sie … haben mich nur herkommen lassen, weil es den Kanzler ärgert, mich hier zu sehen, nicht wahr?« Sie schluckte und fuhr fort. »Wahrscheinlich wollen Sie mich nur deshalb auf die Jagd mitnehmen, um Herrn Oxenstierna zur Weißglut zu treiben.«

Königin Kristina brach in ein herzliches Lachen aus. Ihre Augen blitzten.

»Ich gestehe«, sagte sie. »Ja. Helga hat mir von der Begebenheit vor dem Bacchanal der Venus berichtet und ich konnte mir einfach nicht verkneifen zu sehen, was mein eiserner Kanzler sagt, wenn er mein neues Mündel hier sieht. Nun, ich hatte mit meiner Vermutung Recht.« Sie wirkte plötzlich wie ein ganz gewöhnliches Mädchen, das einen Streich ausgeheckt hatte. »Ich habe dich an geschickter Stelle platziert – so wie das Bild am Fuß der Treppe. Er hasst meine Gemälde. Besonders das Bild der Venus, das du betrachtet hast. Man stelle sich vor – mitten im streng lutherischen Schloss eine heidnische Liebesgöttin, nackt aus dem Meer entstiegen!« Ihr Lächeln wurde breiter. »Mit dieser Vermutung hattest du also Recht – aber niemals mit deiner Unterstellung, ich würde noch mit Puppen spielen.« Mit energischen Schritten kam sie auf Elin zu und blieb nur eine Armeslänge entfernt abrupt vor ihr stehen. Auge in Auge standen sie sich am Fenster gegenüber: Elin, die Scheuermagd, herausgeputzt wie eine Prinzessin – und Kristina, die Königin von Schweden, mit tintenbeschmutztem Ärmel und zerzaustem Haar. In ihren Augen spiegelten sich die Wolken eines strahlend blauen Winterhimmels.

»Wer bist du, Elin?«

»Das wissen Sie genau«, murmelte Elin gekränkt.

»Allerdings. Und wer bin ich?«

»Die … Königin.«

»Die Königin der Schweden, Goten und Vandalen, Großfürstin von Finnland, Herzogin von Estland und Herrin von Ingermanland. Ich spiele nicht mit Menschen, ich setze sie ein – es ist meine Pflicht, meine Aufgabe zu ihrem Wohl so gut wie nur möglich zu erfüllen. Könige sollen herrschen. Allen anderen ziemt es, ihre Befehle auszuführen und zu gehorchen. Und dich brauche ich für einen besonderen Auftrag.«

Elin hielt dem Blick der Königin stand, obwohl sich ihre Beine plötzlich anfühlten, als würden sie sie nicht mehr lange tragen.

»Sie können darauf vertrauen, dass ich mein Bestes geben werde«, sagte sie steif.

»Ich kann niemandem vertrauen«, erwiderte Kristina. »Liebst du dein Land, Elin?«

»Natürlich, Majestät.«

»Ich liebe es auch. Du ahnst nicht, wie sehr. Und du ahnst nicht, wie schwer es ist, es zu regieren. Von allen Seiten zerren die Vertreter der Stände an mir – die Adligen ebenso wie die Bürger, die Geistlichen und die Bauern. Es ist, als würde man versuchen, gleichzeitig vier Pferde zu zügeln, von denen dich jedes in eine andere Richtung schleifen will.«

Bei den letzten Worten war ihre Stimme lauter geworden, doch plötzlich schien sich die Königin wieder daran zu erinnern, wen sie vor sich hatte. Brüsk wandte sie sich ab, sah aus dem Fenster und seufzte tief. Elin knetete ihre Finger.

»Majestät«, sagte sie leise. »Darf ich eine Frage stellen?«

»Frag!«

»Axel Oxenstiernas Sohn führt im Namen von Schweden die Friedensverhandlungen in Deutschland an?«

Kristina nickte, ohne sich Elin zuzuwenden.

»Johan Oxenstierna ist der echte Sohn seines Vaters – bis auf die Tatsache, dass ihm dessen politisches Geschick fehlt. Aber ich habe kaum eine Wahl.«

»Und … Adler Salvius gehört ebenfalls zu den Gesandten?«

»Ihn habe ich Johan an die Seite gestellt – er gehört zu meinen Königstreuen. Es ist schwer, gegen die Oxenstiernianer zu bestehen. Immerhin hat der Kanzler die Mehrheit des Reichsrats und des Landes hinter sich.«

»Oxenstierna und der Rat wollen den Krieg nicht beenden, nicht wahr?«

»Ich liebe den Frieden so sehr, wie mein Vater den Krieg liebte. Aber es gibt andere Menschen in Stockholm, die kein Interesse daran haben, das Elend auf den Schlachtfeldern zu beenden, kriegslüsterne Männer, die schon meinem Vater treu dienten und die nun um ihre Kriegsbeute fürchten. Sie sind unmäßig wie Raubtiere und wollen so viele Gebiete wie möglich verschlingen. Mein Kanzler ist ein brillanter Staatsmann, aber er wird den Teufel tun, mir nach so vielen Jahrzehnten der Macht die Zügel freiwillig zu überlassen.«

»Werden Sie Adler Salvius den Sitz im Reichsrat geben?«

Nun wirbelte Kristina herum und starrte Elin an.

»Was erzähle ich dir nur?«, sagte sie ärgerlich. »Der Krieg ist nicht dein Geschäft – und die Friedensverhandlungen schon gar nicht. Es steht dir außerdem überhaupt nicht zu, mir solche Fragen zu stellen.«

»Dieser Krieg betrifft mich durchaus«, widersprach Elin leise. »Er hat meinen Vater und meine … Mutter das Leben gekostet. Ich kenne niemanden, der im Krieg nicht einen Sohn oder einen Vater verloren hat. Wenn der Bürgerliche Adler Salvius Ihnen als Königstreuer dienen kann, dann kann ich es auch. Oder denken Sie, ein … Hurenkind sei nicht gut genug?«

Die traurige Königin sah sie an und lächelte. Elin erschrak, als Kristina zu ihr trat und ihr die Hände auf die Schultern legte. Ihre Finger waren kräftig wie die eines Stallburschen.

»Überlege gut, was du mir versprichst. Weißt du, wie viel es dich kosten kann, nicht nur ein Handlanger, sondern eine echte Königstreue zu sein? Ich hätte sogar eine Aufgabe für dich, aber dennoch lasse ich dir die Wahl. Du kannst bei Lovisa bleiben und ein Hoffräulein werden. Und wenn du schön sticken, tanzen und plaudern gelernt hast, wird Lovisa einen Ehemann für dich finden, der dich gut versorgt.«

»Ich werde kein Hoffräulein, das wissen Sie genau. Ich bin nicht hier, um zu sticken.«

»Dann schwöre«, sagte die Königin ernst. »Schwöre bei Gott und beim Grab deiner Eltern, dass du schweigst und dass du tust, worum ich dich bitte.«

Elin dachte an ihren Vater und an Emilias Mann und hob das Kinn.

»Ich schwöre«, sagte sie mit fester Stimme.

Kristina ließ ihre Schultern los und trat zurück. Ein anerkennendes Lächeln glitt über ihr Gesicht.

»Ich hoffe, du wirst deinen Schwur nicht bereuen.« Sie drehte sich um und schritt zum Schreibtisch zurück. Ihr schwerer Rock schwang wie eine Glocke. Papier raschelte, als sie einen Brief öffnete und zu lesen begann.

»Geh!«, sagte sie, ohne sich noch einmal nach Elin umzusehen. »Dein Auftrag wird vielleicht verlangen, dass du gut reiten kannst. Fräulein Ebba wird dich heute Nachmittag zum Palast Makalös mitnehmen. Und richte Lovisa einen schönen Gruß von mir aus. Der ganze überflüssige Putz wird dir auf dem Pferd nur hinderlich sein. Sie soll dir ein bequemes Kleid mit möglichst weitem Rock geben und dein Mieder nicht so fest schnüren. Du bist schließlich keine Presswurst.«

Beleidigt war Lovisa mit wehenden Röcken davongesegelt, um nach passender Reitkleidung für Elin zu suchen. Elin hatte sich indessen mit ihrer Stickerei ans Fenster gesetzt und tat so, als würde sie die gekicherten Kommentare der Mädchen im Nebenraum nicht hören. Sie zählte die Sekunden. Vor Ungeduld stach sie sich schon zum vierten Mal in den Finger. Tildas Stimme war nicht zu überhören. Wie immer konnte das Mädchen ihre scharfe Zunge nicht im Zaum halten. Und heute hatte sie Unterstützung von Linnea, der Tochter des Hofzahlmeisters, die erst seit kurzem im Schloss lebte.

»Jetzt soll sie auch noch reiten, meine Güte!«, tuschelte Tilda. »Meint ihr, die Königin wird ihr auch noch befehlen, Hosen zu tragen?«

»Nun, das würde ihr jedenfalls besser stehen als der Samtrock.« Das war Linneas Stimme. »Wenn sie meint, dass niemand hinschaut, läuft sie wie ein Stallknecht. Vielleicht macht sie auf dem Pferd eine bessere Figur.«

»Bist du sicher? Wenn sie so reitet wie die Königin?«

Wieder ein Prusten. Das Getuschel wurde leiser und schärfer.

»Die Königin reitet wie ein Mann.«

»Vielleicht ist sie ja ein Mann?«, sagte Tilda. Empörungsrufe der anderen Mädchen wurden laut.

»Du Schandmaul!«

»Das ist doch nicht dein Ernst!«

»Doch! Im Ausland werden solche Vermutungen angestellt. Der Diener des englischen Gesandten hat es mir verraten. Wegen ihrer tiefen Stimme. Und seid mal ehrlich, denkt euch die Röcke weg – könnte sie nicht ein Mann sein?«

Elin schüttelte den Kopf. Wie konnte jemand die Königin für einen Mann halten?

»Wie soll das gehen – meint ihr, sie stopft sich Äpfel ins Dekolletee?«

»Nun stell dich nicht dümmer, als du bist! Diese zwei Äpfelchen hier verdankt Linnea allein Frau Lovisas Näh- und Polsterkunst.«

Ein Quieken und ein Klatschen ertönte, als hätte Linnea eine vorwitzige Hand weggeschlagen.

»Ach, hört auf!«, zischte ein anderes Mädchen. »Und lasst das niemanden hören! Das sind doch Lügen!«

»Nun, in jeder Lüge steckt ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht gründet sich der Verdacht auf der Vermutung, dass die Königin liebt wie ein Mann?«

»Hast du ihr schon einmal unter den Rock geschaut?«

»Ich nicht, aber Fräulein Ebba bestimmt!«, gab Tilda zurück. »Linnea hat gesehen, wie Kristina das Fräulein geküsst hat! Und warum sollte die Königin sonst mit der Heirat so lange zögern? Wer weiß, was der Bräutigam in der Hochzeitsnacht unter dem Rock finden würde?« Das Kichern wurde lauter und erlosch so abrupt, als hätte jemand die Flamme einer Kerze mit einem eiskalten Hauch ausgeblasen. Einen Augenblick herrschte betretene Stille, dann hörte Elin das Poltern eines umgekippten Stuhls und ein erschrockenes »Oh!«.

»So, hat es euch endlich die Sprache verschlagen?« Lovisas Stimme klang wie ein Donnerschlag. Vor Schreck stach sich Elin noch einmal in den Finger. »Tilda! Linnea! Raus hier! Geht in die Kammer, bis ich euch hole.«

»Oh, Frau Lovisa, verzeihen Sie«, schluchzte die dürre Linnea. »Wir haben nur gescherzt …«

»Das sind keine Scherze, sondern dumme Lügen! Und die werden euch eines Tages noch den Kopf kosten. Wisst ihr, was man im russischen Zarenreich mit solchen Lügnerinnen macht? Man gräbt sie nackt bis zum Kopf in die Erde ein und lässt sie erfrieren. Und Königin Kristina wird weitaus erfindungsreicher sein, wenn sie hört, wie ihr dummen Gänse sie verleumdet.«

Elin hörte entsetztes Stöhnen und unterdrücktes Schluchzen, dann stürzten die zwei Mädchen mit verweinten Gesichtern und hochroten Köpfen durch die Seitentür in das Durchgangszimmer, in dem Elin saß, und verschwanden durch die Tür. Lovisa gönnte Elin keinen Blick, als sie die Kammer betrat. Auf dem Arm trug sie ein Gewand aus festem, grauem Stoff.

»Zu fest geschnürt, ja?«, murmelte sie und winkte Elin zu sich. Mit wenigen Handgriffen hatte sie die Schleifen an Elins Mieder geöffnet und begann die Schnüre zu lockern. Es war ein seltsames Gefühl, die Hände der Kammerfrau auf dem Rücken zu spüren. Trotz ihres Ärgers waren ihre Griffe nicht schmerzhaft, sondern sanft und flink. Erleichtert atmete Elin tief ein. Wenig später hatte sie sich von einer Puppe in einen Menschen zurückverwandelt. Statt der hohen Schuhe trug sie flache Halbschuhe aus schwarzem Leder – ähnlich denen der Königin – und ein etwas zu weites, graues Gewand aus robustem Stoff. Lovisa zupfte mit kritischem Gesicht die Rockfalten zurecht und seufzte.

»Gewöhnlich siehst du jetzt aus«, seufzte sie. »Ein Jammer bei einem so hübschen Mädchen!« Endlich schenkte sie Elin ein flüchtiges Lächeln und kniff sie leicht in die Wange.

»Wie apart sie aussieht!«, rief Fräulein Ebba schon von weitem. »Ich dachte, du hättest grüne Augen, aber wenn du ein graues Kleid trägst, sind auch deine Augen grau wie heller Satin!« Die Gruppe von Höflingen, die Ebba begleitete wie ein Schwarm Motten das Licht, musterte nach dem Kompliment interessiert Elins Gesicht, als gäbe es einen Schatz zu entdecken, den sie dort nie vermutet hätten.

»Ich danke Ihnen«, murmelte Elin. Neben Ebba, die ein safrangelbes Gewand trug, fühlte sie sich wie ein Küchenkäfer neben einem Schmetterling. »Kommt«, befahl Ebba. »Wir nehmen den kürzesten Weg zum Bootssteg!«

Elin hatte erwartet, wieder in einen großen Schlitten steigen zu müssen, der sie über die Brücke bringen würde, stattdessen führte der Weg noch tiefer ins Schlossinnere, mehrere Treppen hinunter in Richtung der Vorratskeller. Durch Gänge, die immer roher wurden – erst Ziegelgewölbe, wo Brennholz gelagert wurde, dann grob behauener Sandstein –, kamen sie durch mehrere Tore und Türen, bis ihnen eisige Luft entgegenwehte. Ein direkter Gang aus dem Schloss! Elin sperrte den Mund auf und blickte an der steilen Burgmauer hoch, die sich, so schien es ihr, bis in den Himmel erhob. Es musste die Ostfassade sein, denn man konnte von hier aus auf die Schiffsinsel mit der Werft schauen. Das Hafenwasser vor ihnen war gefroren. Im Sommer musste hier ein Landungssteg für Ruder- oder Transportboote sein, jetzt aber standen kleine Holzschlitten bereit, um die Gesellschaft über das Eis zum Festland zu bringen. Die Pferde vor den Schlitten scharrten im Schnee, der die Eisfläche bedeckte. Schon beim Anblick der Tiere bekam Elin Herzklopfen. Ein Auftrag der Königin! Und sie sollte dafür reiten lernen. Der nächste Gedanke jagte Elin einen Schauer über den Rücken. Ob die Königin sie nach Deutschland schicken würde?

Ebba winkte Elin zu sich und ließ sie in ihrem Schlitten Platz nehmen. Das Gefährt war nicht viel mehr als eine offene Holzschale mit Kufen. Geschnitzte Meerespferde flankierten die Seiten. Mit einem scharfen Ruck setzte es sich in Bewegung. Die Lakaien froren in ihren Prachtlivreen und trieben die Pferde zu einem raschen Trab an. Das schleifende Geräusch der Kufen und das Schnauben der Pferde vermischten sich zu einem Winterlied, das Elins Seele wärmte. Fräulein Ebba hatte von der Kälte rote Wangen, was ihr sehr gut stand. Mit einer eleganten Bewegung streifte sie ihren Handschuh ab und holte einen Beutel aus bestickter Atlasseide unter ihrem Mantel hervor.

»Ich habe mich immer noch nicht bedankt, Elin«, sagte sie. Der Wind spielte mit ihren Worten und trug sie davon. Ebba rückte näher an Elin heran, eine Nähe, die ungewohnt und aufregend war, und drückte ihr den Beutel in die Hand.

»Das ist für dich. Bewahre es gut, es bringt Glück und schützt vor bösen Geistern!«

»Böse Geister?«

Ebbas Lächeln verblasste zu einer angespannten Sichel. Ihre schönen Augen waren voller Furcht.

»Im Schlossgarten und im Park, ja. Der Oberhofmeister hat sie gesehen und die Nichte des Schatzkanzlers ebenfalls. Das arme Mädchen ist so erschrocken, dass sie eine ganze Woche lang an Fieber und Krämpfen litt.« Sie seufzte und blickte gedankenverloren auf das Eis. »Ich fürchte mich vor ihnen. Schon seit Wochen habe ich das Gefühl, dass ein schreckliches Unglück über dem Schloss liegt. Die Gespenster sind Unglücksboten.« Ihre Stimme wurde leiser, bis sie sich beinahe im Wind verlor. »Auch vor dem Tod meines Vaters gab es Unglückszeichen – Raben und riesige Schwärme von Dohlen, die sich gegenseitig die Augen aushackten.« Elin schauderte und verkroch sich noch tiefer unter das schützende Schaffell, mit dem sie sich zugedeckt hatten. »Und dann verliere ich in Uppsala das Medaillon meines Vaters«, fuhr Ebba leise fort. »Da waren sie mit einem Mal wieder gegenwärtig – all die bösen Omen.«

»Sie haben das Medaillon wieder, Fräulein Ebba«, warf Elin ein. »Manchmal ist ein Rabe nur ein Rabe und ein Gespenst nur Nebel zwischen den Bäumen.«

Die Hofdame zeigte ein trauriges Lächeln und seufzte.

»Natürlich«, sagte sie leise und nicht sehr überzeugt. »Das könnten auch Kristinas Worte gewesen sein. Sie spricht nicht gern von Aberglauben und Gespenstern. Und auch über Hexen verliert man in ihrer Gegenwart am besten kein Wort. Sie glaubt nicht daran, dass es Hexen gibt, und will die Prozesse endgültig verbieten lassen.«

»Ich glaube auch nicht daran«, sagte Elin. »An Hexen, meine ich.« Sie schluckte und dachte an Emilias Haar. Durch den Stoff des Beutels hindurch ertastete sie die filigrane Form eines winzigen Kreuzes.

Die junge Hofdame schenkte ihr ein Lächeln und deutete auf das Ufer, an dem sich der rote Palast aus Ziegelwerk erhob.

»Das ist der Palast Makalös – ›Ohnegleichen‹. Das größte Gebäude nach dem Schloss. Macht er seinem Namen nicht alle Ehre?«

Von den Mauern des Schlosses aus gesehen wirkte das Gebäude nicht halb so prächtig wie aus der Nähe. Elin zählte fünf Stockwerke. Ganz oben befand sich eine riesige Dachterrasse – wie gemacht für Feste unter einem Sommerhimmel.

»Unser Reichsmarschall Jakob de la Gardie hat es vor ein paar Jahren erbauen lassen«, erklärte Ebba. »Er ist Magnus’ Vater.«

Vom Wasser führte eine breite Treppe direkt hinauf zum prächtigen Palast. Vier mächtige Türme grenzten das Gebäude an den Ecken ab und erhoben sich zu spitzen Kupferzinnen. Auf den beiden seezugewandten Türmen an der Südseite thronten kupferne Meerjungfrauen mit wehendem Haar. In den Händen hielten sie Pfeil und Bogen. Steinerne, grimmig dreinblickende Löwen bewachten den Eingang in der Mitte eines langen Arkadengangs, an dem bereits Diener auf die Gäste warteten. Ein Mann kam die Treppe herunter und winkte Ebba zu. Vor dem roten Ziegelwerk leuchtete sein Haar wie eine helle Flamme. Magnus de la Gardie!

»Da sind ja meine Gäste!«, rief er und half Ebba aus dem Schlitten. »Meine Frau fragt schon den ganzen Morgen nach dir, Ebba. Sie weiß gar nicht mehr, womit sie unsere Bretonen noch unterhalten soll. Ach, Fräulein Elin – sie geht mit meinem Diener hier. Unser Reitmeister brennt schon darauf, das Mädchen zu sehen, das sich mit unserem launigsten Schlachtross angelegt hat!«

Lars Melkebron war ein Hüne mit einer Stimme, die so laut war wie die eines Befehlshabers. Seine Worte aber trafen Elin wie die Sticheleien einer bösartigen Hofdame. »Lange Reden wirst du bei mir nicht hören, Fräulein Scheuermagd«, sagte er zur Begrüßung. »Und die Titel hebe ich mir für die jungen Kavaliere auf, denen ich beibringen soll, auf dem Schlachtfeld einen ordentlichen Angriff zu reiten und nicht bei der ersten Fanfare vom Pferd zu kippen. Auch den vornehmen Tanzunterricht für Pferde, wie er jetzt in den Reitanstalten in Europa so in Mode ist, wirst du bei mir nicht finden. Nein, die Königin will, dass du eine ordentliche Jagd oder ein Rennen reiten kannst. Und genau das wirst du lernen.«

Nach dem ersten Schreck stahl sich ein Lächeln auf Elins Lippen.

»Dafür, dass Sie nicht viele Worte machen wollen, war das aber eine sehr lange Ansprache.« Sie hatte Mühe, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Lars zog die Brauen hoch und warf ihr einen schelmischen Blick zu.

»Dein Mundwerk wirst du noch im Zaum halten, bevor die Sonne untergeht. Und das ›Sie‹ lass sein. Für dich bin ich Lars. Hast du schon einmal auf einem Pferd gesessen?«

»Nur an einem gehangen.«

Der alte Reitmeister lachte dröhnend und beschleunigte seinen Schritt noch mehr, sodass Elin nur noch laufend mithalten konnte.

Im Vergleich zu Gudmunds niedrigen Stallungen aus Blockholz war diese hier riesig und wirkte beinahe wie ein gemauerter Wohnraum mit hohen Decken.

Pferdeköpfe mit Atemfahnen vor den Nüstern wandten sich den beiden Neuankömmlingen zu. Augen mit langen Wimpern glänzten im Licht einer Stalllaterne. Elin schöpfte Atem. Ihr war warm, ihre Beine schmerzten. Viel zu lange war sie nur wie eine Dame durch die Gänge getrippelt und hatte am Fenster über ihren Stickereien gesessen. Jetzt durchströmte sie ein lange vermisstes Glücksgefühl. Am liebsten hätte sie gejubelt, aber um Lars nicht herauszufordern, hielt sie vorsichtshalber den Mund und folgte dem Reitmeister zu einer Holzwand. Ein bildschöner Sattel lag darauf. Seine Sattelblätter glänzten und als Elin näher heranging, konnte sie den Duft von feinster Sattelseife und Lanolin wahrnehmen.

»Dieser Sattel ist ein Geschenk der Königin«, erklärte Lars. »Simon Jüterbock hat ihn für dich angefertigt – der beste Sattelmacher der Stadt. Na los, im Gegensatz zu einem Pferd kann dieses tote Stück Leder dich nicht beißen.«

Elin war sprachlos. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und befühlte die Riemen und den glatten Lederüberzug.

»Das … ist ein Sattel für einen Mann.«

»So ist es. Aber wenn du willst, kann ich dir natürlich auch einen Damensattel holen lassen.« Es klang, als hätte er angeboten, ihr anstelle eines goldenen Zaums ein durchgekautes Seil zu bringen. Heftig schüttelte Elin den Kopf.

»Ich will wie die Königin reiten!«

Lars nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet, und strich über das Sattelhorn.

»Zuerst siehst du dir den Sattel genau an. Du musst dein Werkzeug gut kennen. Er hat einen Holzrahmen – hier am Horn kannst du ihn fühlen. Ausgestopft ist er mit Pferdehaar und überzogen mit Hirschleder. Den Seidenüberzug hat Jüterbock weggelassen, es ist ein einfacher Jagdsattel, kein Prunksattel für Prozessionen. Steigbügel bekommst du aber trotzdem solche, wie die Frauen sie haben.« Er hob etwas hoch, das aussah wie ein gewöhnlicher Steigbügel – nur hatte dieser hier eine Fußkappe aus geschwärzter Bronze. »Sporen wirst du ebenfalls nicht bekommen – zumindest jetzt noch nicht. Dafür gebe ich dir einen guten Zaum. Komm mit! Wir suchen dir ein Pferd aus.«

Elins Herz schlug einen Trommelwirbel. Schüchtern folgte sie Lars, der an den Verschlagen entlangschritt. Ein dunkler Kopf wandte sich ihr zu. Selbst im Schattenriss erkannte Elin den schwanengleich gebogenen Hals des Rappen sofort wieder. Das Tier schnaubte ein weißes Wolkengespenst in die Luft und spitzte die Ohren.

»Wie heißt dieses Pferd?«, rief sie Lars hinterher. Der alte Reitmeister blieb stehen.

»Oh, der – Enhörning. Er gehört zu Herrn Magnus’ Pferden. Wird mal ein gutes Streitross. Der junge Vaincourt hat ihn geritten.«

»Ich weiß«, sagte Elin. Und in Gedanken setzte sie hinzu: Wenn man es reiten nennen kann.

»Aber nur bis zu seinem Unfall«, meinte Lars. »Dann hat die Marquise darauf bestanden, dass er ein anderes Pferd bekommt.« Er lachte, trat zu dem Tier und klopfte ihm den Hals. »Der Sanftmütigste ist er zwar nicht, aber der Schnellste allemal.«

»Enhörning«, sagte Elin leise zu sich selbst. Einhorn. »Kann ich ihn reiten?«, fragte sie zaghaft. Lars warf ihr einen Blick zu, als hätte sie gefragt, ob sie einen Waldtroll satteln dürfe.

»Wo denkst du hin, Scheuerfräulein!«, rief er. »Ein Pferd ist keine seelenlose Maschine, was auch immer uns die Kriegsherren, die Pfaffen oder irgendwelche Franzosen weismachen wollen. Du kannst nicht jeden beliebigen Reiter draufsetzen.

Ein Reiter muss sein Pferd verstehen. So wie die Königin«, fügte er mit unverhohlenem Respekt hinzu. »Sie könnte Enhörning jederzeit reiten. Er ist dickköpfig, er braucht einen Reiter, der anstelle der Sporen den Verstand gebraucht. Nein, für dich habe ich etwas Passenderes.«

Mit diesen Worten trat er in die Box auf der anderen Seite des Stalles und führte ein stämmiges, braunes Pferd mit hellem Bauch und schwarzen Fesseln aus dem Verschlag. Seine Mähne war kurz und struppig und so schwarz wie seine Beine. Im Halbdunkel des Stalles leuchtete sein helles Maul, als hätte es seine Nase eben in einen Eimer mit Milch getaucht.

»Das ist Spelaren, ein guter Nordschwede. Seine Rasse stammt von den Wildpferden ab, die schon die Svea-Könige durch alle Schlachten getragen haben. Er ist wie geschnitzt für Ritte im tiefsten Schnee.«

Elin warf Enhörning einen letzten, sehnsüchtigen Blick zu und gab sich fürs Erste geschlagen.

Ein Pferd aufzuzäumen war nicht halb so schwierig wie Gudmunds störrischen Kutschgaul anzuschirren. Schwieriger war es dagegen, sich in den Sattel hochzuziehen. Spelaren legte die Ohren an und stöhnte, als würde man ihm eine Schiffskanone auf den Rücken laden. Lars schwang sich auf sein eigenes Pferd, einen rotbraunen Hengst, dem Spelaren gerade mal bis zur Schulter ging, und wies Elin an, ihm nach draußen zu folgen.

»Heute werden wir ein paar Runden im Lustgarten der Königin reiten. Er liegt direkt hinter dem Palast Makalös. Du wirst lernen, die Zügel und die Beine richtig einzusetzen. Also: Los!«

Elin kam es vor, als würde sie auf einem schwankenden Weinfass sitzen. Vor Aufregung entglitt ihr der linke Zügel. Unendlich weit unter ihr zog der Boden vorbei. Noch tauchten einige zaghafte Sonnenstrahlen den königlichen Lustgarten in spärliches Frühnachmittagslicht. In weniger als einer Stunde würde es wieder dunkel werden. Im Garten brannten bereits Fackeln und Laternen. Zögernd hob Elin den Kopf und sah durch die Pferdeohren nach vorn.

»Na los!«, rief Lars ihr zu. »Wenn dich jemand sieht, wird er dir anbieten, dein Pferd zu tragen, damit es schneller geht!«

Elin nahm ihren ganzen Mut zusammen, lockerte die Zügel und drückte die Unterschenkel fester an die Seiten des Pferdes. Spelaren reagierte und ging schneller. Und plötzlich, als sich Elin in den wiegenden Rhythmus eingefunden hatte, war sie glücklich. Lars sah ihr strahlendes Gesicht und begann mit dem richtigen Unterricht.

Die Sonne hatte sich kaum vom Fleck bewegt, als Elin schon in hohem Bogen durch die Luft segelte. Die Wolken glitten über ihr hinweg, dann ein Himmel aus Schnee und Hufspuren. Gerade noch konnte sie die Arme an den Körper ziehen, da schlug sie schon auf dem gefrorenen Boden auf. Vor Schmerz wollte sie aufschreien, doch sie bekam keine Luft. Benommen setzte sie sich auf, krümmte sich und rang nach Atem. Ihr Rock war voller Schneematsch und Schmutz und ihre Seite schmerzte so stark, dass Elin, sobald sie wieder Luft schöpfen konnte, fluchte wie Gudmunds Viehknecht. Das Schlimmste war die Enttäuschung. Lars vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass sie unverletzt war, dann schüttelte er ungerührt den Kopf.

»Was habe ich dir gesagt? Pass auf die Fersen und die Zügel auf! Verstehst du jetzt, warum dein Pferd ›Spieler‹ heißt?«, spottete er. »Er sieht harmlos aus, aber er hat stets noch einen Wurf parat, um dich mir nichts, dir nichts aus dem Spiel zu befördern.« Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Bete, dass ihr zur Jagd nur auf die Insel Djurgärden geht. Wenn du das Pferd nicht halten kannst, werden es zumindest die Ufer der Insel früher oder später zum Stehen bringen!«

Elin biss die Zähne zusammen und stand mühsam auf. Immer noch zitterte sie vor Schreck. Ihre ganze linke Seite war schneeverklebt und schmerzte wie nach einem Hieb mit einem Holzeimer. Mit fahrigen Händen ordnete sie ihre Röcke und suchte wütend nach einer Antwort.

»Du irrst dich, Lars!«, rief sie schließlich. »Ich bin freiwillig abgesprungen. Wenn du mich auf diese Kuh mit Mähne setzt, musst du dich nicht wundern, wenn ich zu Fuß schneller wieder im Schloss bin als hoch zu Ross!«

Lars sah sie so verblüfft an, dass sie lachen musste, obwohl ihr mehr denn je zum Heulen zumute war.

»So, Fräulein Scheuermagd will lieber spazieren gehen?«, brüllte der Reitmeister. »Nichts da! Zurück in den Sattel, bevor die Angst das Pferd überragt und dir bei jedem Ritt über die Schulter schaut!«

Elin wischte sich rasch über die Augen und humpelte mit erhobenem Kopf zu Spelaren. So, wie sie es vor einer halben Stunde gelernt hatte, zog sie sich auf den Pferderücken hoch und ließ sich in den Sattel gleiten. Ihr nasser Rock hing schwer an ihrer Hüfte. Behutsam und voller Angst holte sie die Zügel ein. Rechts von ihr erhob sich die gewaltige Nordseite des Palastes Makalös. Die beiden berittenen Krieger, die die Zinnen der landzugewandten Seite schmückten, schienen ihr höhnisch mit den Lanzen zuzuwinken. Gerade wollte sie die Zügel weiter nachfassen, als ihr an einem Fenster etwas auffiel. Wie ein blasser Mond leuchtete ein Gesicht hinter den in Blei gefassten, rechteckigen Scheiben. Mit verschränkten Armen stand der junge Marquis de Vaincourt am Fenster und beobachtete die Reitstunde. Selbst als er Elins Blick bemerkte, wich er nicht zurück.

An tausend Stellen pochten Blutergüsse und blaue Flecken. Blasen brannten an den Fingern, die die Zügel wund gescheuert hatten, und zu allem Überfluss hatte sie sich beim zweiten Sturz auch noch die Hand verstaucht. Das Feuer im Mädchenzimmer war heruntergebrannt. Wenn Elin die Augen schloss, saß sie wieder auf Spelarens Rücken und war glücklich wie noch nie zuvor. Behutsam tastete sie unter der Bettdecke nach dem kleinen Silberkreuz, das Fräulein Ebba ihr geschenkt hatte. Und nun besaß sie auch noch einen eigenen Sattel! Wie gern hätte sie Emilia davon erzählt.

Für einen Moment hörte sie wieder Ebbas Worte über das drohende Unheil, aber diesen Gedanken wollte sie schnell wieder beiseite schieben. So kniff sie die Augen zusammen wie ein Kind, das hofft, wenn man den Troll nicht sah, würde er einen auch nicht entdecken. Doch die Träume ließen sich von diesem Zaubertrick nicht zum Narren halten. Als Elin mitten in der Nacht aufwachte, war ihr Haar schweißnass. Immer noch trieb ihr das Bild von einer schlafenden Emilia vor Augen. Aber als Elin im Traum näher an das Bett ihrer Freundin herangetreten war, sah sie, dass die Hand, die auf Emilias Brust lag, sich nicht mit dem Atem hob und senkte. Emilia – ihre Emilia! – war gestorben; mit der Hand auf ihrem schmerzenden, vernarbten Herzen.

Ein klarer Wintermond tauchte die Bettvorhänge in ein geisterhaftes Licht. Nach und nach nahm Elin, noch immer ganz benommen, den Atem der anderen Mädchen wahr, die in diesem Zimmer schliefen. Neben ihr im Bett lag Tilda. Wie immer hielt sie ihr Kissen eng umschlungen und lächelte leicht im Schlaf. Elin schlug die mit Fell gefütterte Decke zurück und stand auf. Nur mit dem knöchellangen Unterkleid aus Leinen bekleidet, verließ sie das Gemach und tappte barfuß über den Gang. Auf dessen Südseite befand sich eine Nische mit einem großen Fenster, das direkt auf ein Gebäudedach zeigte. Links davon konnte Elin einen Blick in den streng geometrisch angelegten Parkgarten werfen, der sich wie eine mit akkurat gestutzten Hecken bepflanzte Terrasse über den tiefer gelegenen Teil der Burg erhob. Zur Rechten, weit unterhalb dieser Anhöhe, befand sich der von der äußersten Schlossmauer umgrenzte Obstgarten. Ganz ungezähmt streckten hier die winterkahlen Obstbäume ihre Äste nach dem Mond aus. Die kleinen, rechteckigen Scheiben beschlugen von Elins Atem und gaben dem Garten einen Heiligenschein. Neben einem Baum glaubte Elin auf einmal eine Gestalt zu erkennen. Reglos stand sie auf einem Teppich aus Nebel.

»Emilia?«, flüsterte Elin. Sie legte die Hand an die Scheibe und sah genauer hin. Es war nicht die finnische Magd. Möglicherweise war es nur eine Nebelsäule. Vielleicht träumte Elin aber auch nur, denn die Gestalt winkte ihr zu. Ihr Gesicht konnte sie von ihrem Standort aus nicht erkennen – aber das Haar war lang und beinahe weiß, wie das von Elin.

Der Mann mit dem Federhut

Während der Jultage sprach man an den Kaminfeuern viel über die Gespenster, die in dieser dunkelsten Zeit des Jahres um die Häuser der Menschen schlichen. Solange Elin mit den anderen am großen Kamin saß, konnte sie darüber lachen, aber sie vermied es, noch einmal in den nebligen, düsteren Garten zu blicken. Die Räume des Schlosses dufteten nach frisch geschnittenen Tannen- und Kiefernzweigen, die als Julschmuck aufgehängt worden waren. Wacholderzweige und Efeublätter lagen auf den Tischen. Elins Reitstunden fanden bei Fackelschein statt. Lovisa schien allerdings wild entschlossen, dem täglichen Reitunterricht etwas weniger Unzüchtiges entgegenzusetzen. Vor ihren religiösen Lektionen gab es kein Entkommen. Sie las Elin aus den Büchern Mose vor, ließ sie die Psalme Davids auswendig lernen und natürlich, wie es sich für jeden guten Gläubigen gehörte, nahm das Studium des lutherischen Katechismus kein Ende. Das, worauf sich Elin nach den religiösen Unterweisungen am meisten freute, waren die Fabeln des Äsop, die Lovisa ihr auf Französisch vorlas. Bald verstand sie mehr als nur ein paar Worte und es machte ihr diebischen Spaß, sich unwissend zu stellen und den anderen Damen beim Plaudern zuzuhören. Die schwindsüchtige Madame Joulain war noch schmaler geworden und strahlte mit ihren brennenden Augen und der blassen Haut inzwischen die morbide Schönheit einer Todesfee aus. Ununterbrochen beklagte sie sich über »die barbarische Kälte und die Menschen, die so steif und humorlos sind, dass sie an trockenes Holz erinnern«. Jeden Tag fragte sie Lovisa, wie lange es noch dauern würde, bis endlich das Eis im Hafen brechen würde. Elin fand den Gedanken, dass der junge Marquis dann mit dem nächsten Schiff davonsegeln würde, sehr beruhigend. Aus einigen Gesprächsfetzen hatte sie herausgehört, dass die französischen Gäste in Paris lebten, aber aus einem Landstrich stammten, der sich »Bretagne« nannte, und dort einen Erbschaftsstreit um Ländereien am Meer verloren hatten.

Königin Kristina strahlte in diesen Tagen hell wie die Sonne selbst. Ihr Lachen hallte durch die Räume, sie plauderte mit den Gästen und scheuchte Musiker, Schneider und die jungen Kavaliere von Magnus de la Gardie herum. Etwas war im Gange. Manchmal, wenn Elin durch die Flure lief, hörte sie rhythmisches Stampfen und eine fremde, haarfeine Musik, die wie ein melodisches Weinen klang. Hofdamen huschten mit Stoffbahnen über dem Arm vorbei. Was es damit auf sich hatte, verriet ihr Lovisa erst am Morgen des Julfestes.

»Heute Abend werden wir ein richtiges Ballett sehen!«, rief ihr die alte Hofdame zu. »Um Himmels willen, unsere übermütige Königin hat sogar versucht, mich altes Schlachtross auf den Tanzboden zu zerren! Ihr ist wirklich nichts heilig.«

»Was ist ein Ballett?«

»Nun, ein Tanz aus Frankreich – und ähnlich unsittlich wie das Reiten im Männersitz.« Ihren Worten zum Trotz blitzte die Vorfreude Lovisa nur so aus den Augen. »Im obersten Stock des Schlosses lässt Kristina ein Theater nach italienischem Vorbild bauen. Wenn es ganz fertig ist, wird es sogar Maschinen geben, die Donner und Blitz erzeugen können. Zum Julbankett heute hat Kristina auch die Mädchen und dich geladen. Mach mir ja keine Schande!«

Lovisa wollte sich jedoch nicht allein auf ihre Ermahnung verlassen und steckte Elin in ein züchtiges Kleid mit hochgeschlossener Chemise. Offensichtlich hoffte die Hofdame, ihr Zögling würde in diesem schlichten Gewand so gut wie unsichtbar werden. Elin ertappte sich dabei, wie sie am späten Nachmittag vor einem Spiegel stehen blieb und sich kritisch betrachtete. Sie sah aus wie eine junge Witwe, stellte sie fest. Aber immerhin wie eine lächelnde Witwe, die vor Aufregung rote Wangen hatte.

Die Pracht, die sie am Julabend zu sehen bekam, überstieg selbst die Bilder vom Hofleben, die Emilia ihr mit Worten in das Dunkel der Mägdekammer gemalt hatte. Der riesige Raum, den sie mit Lovisa und den anderen Mädchen durch eine Seitentür betrat, hätte selbst Emilias kühnste Fantasien übertroffen. Das Lüsterlicht warf ein Netz aus Lichtreflexen auf die gedeckte Tafel. Wie pflichtbewusste Soldaten warteten eckige Polsterstühle mit dunkelbraunen Lederbezügen auf die Gäste. An jedem Platz lag ein Silberteller und ein Besteck mit geschnitzten Elfenbeingriffen in Form von Fischen. Jede Schuppe war detailgetreu eingeritzt. Die zweizinkigen Gabeln sahen aus wie für Puppenhände angefertigte Bratspieße. Auf jedem Teller saß ein perfekt gefalteter Serviettenschwan, was Elin ein Lächeln entlockte. Helga Lundell hatte ganze Arbeit geleistet!

Der Festsaal brummte wie ein Bienenstock – Lakaien eilten durch den Raum und balancierten Silberplatten mit Wildbretpasteten und Brandküchlein. Elin war so überwältigt, dass es ihr nicht gelang, auch nur einen Bissen zu essen. Unter großem Applaus wurden mehrere Schwäne hereingetragen. Sie thronten wie lebendig geworden auf den großen Platten, die silbernen Seen glichen.

Musiker stellten sich am Ende von Kristinas Tafel auf und begannen auf Instrumenten zu spielen, die nur entfernt den Schlüsselfideln glichen, die Elin kannte. »Das ist eine Violine«, erklärte Lovisa. »Und der Mann, der die Hauptmelodie spielt, ist ein Komponist aus Italien.« Die Töne, die er seinem Instrument entlockte, klangen höher und reiner als jede Schlüsselfidel, deren Klänge Elin bisher gehört hatte. Bisweilen berührte Elin die Musik so sehr, dass sie glaubte weinen zu müssen. Der Duft von fremden Gewürzen erfüllte den Raum. Es gab Muscheln und Aal und einen gebratenen Kapaun, der vorwurfsvoll in die Runde starrte. Kerzen steckten in silbernen Leuchtern mit schwerem, achteckigem Fuß. Elin bewunderte das Pfefferschälchen und kostete das wertvolle Gewürz.

Der Pfeffer zerging noch auf ihrer Zunge, als ein Diener erschien und sie bat, an den Tisch der Königin zu kommen. Elin verschluckte sich vor Schreck. Der Pfeffer brannte wie Feuer in ihrer Nase. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Würde sie jetzt den Auftrag erhalten? Am Julabend?

»Denk daran, was ich dir beigebracht habe«, flüsterte Lovisa. »Antworte nur mit Ja oder Nein und nur dann, wenn du gefragt wirst. Und komm mir bloß nicht auf die Idee, mit den französischen Herrschaften zu sprechen!«

Am Tisch der Königin wurde viel gelacht, ausgelassene Spaße flogen hin und her. Die Diener umflatterten die Herrschaften und kamen kaum zur Ruhe. Noch nie war Elin die Königin so fremd erschienen wie heute. Sie strahlte mit den Leuchtern um die Wette, ihr Gesicht war weich und schön. Sie war ebenso galant und kokett wie die französische Gräfin. Elin wurde gegenüber von Madame Joulain platziert, neben einem freundlich aussehenden Herrn in besticktem Rock. Seine gerüschte Halsbinde mit Spitzensaum leuchtete sauber und duftend gepudert im Licht der Kerzen. Neben den Tellern lagen zusätzliche Löffel. Was Elin noch mehr erschütterte als die wundersame Vermehrung des Bestecks, waren die Franzosen. Sie waren alle am Tisch versammelt – Henri natürlich mit seinen Eltern, aber auch die Höflinge, die sie ausgelacht hatten. Schon stießen sich die ersten an, tuschelten und kicherten. Elin konnte Henris Gesicht zwischen den Spitzen der Schwanenflügel sehen. Heute wirkte er weniger lebhaft als sonst, sondern hatte etwas Düsteres, Melancholisches an sich. Elin war sehr wohl bewusst, dass der junge Adlige sie aus den Augenwinkeln genau beobachtete. Ein Diener legte ihr eine Eierspeise auf den Teller. Elin schnürte es die Kehle zu. In ihrer Panik sah sie sich unauffällig um – und fand Madame Joulains Blick. Die Hofdame schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und zog die Brauen hoch. Mit einer unauffälligen Geste deutete sie auf einen Löffel aus Perlmutt. Henri grinste verächtlich. Elin war den Tränen nah. Trotzdem lauschte sie den Gesprächen. Schwedische Sätze vermischten sich zuweilen mit französischen Phrasen und Elin war sich nicht sicher, ob sie alles verstand. Dennoch erfuhr sie, dass der Mann mit dem hageren, freundlichen Gesicht neben ihr Herr Freinsheim hieß und die königliche Bibliothek verwaltete. Neben ihm saß der französische Botschafter Pierre-Hector Chanut. Bei Magnus de la Gar die saß ein beleibter junger Kriegsherr mit dunklem Haar und noch dunkleren Augen. Er beteiligte sich kaum an den Gesprächen und hatte sich seine Trinkkanne mit dem Silberdeckel schon zum dritten Mal füllen lassen. Seine Augen waren verschleiert vom vielen Wein, und er starrte die Königin an wie ein verdurstender Hund die Quelle. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass Kristina in den höchsten Tönen von Ebba schwärmte, die ebenfalls am Tisch saß.

»Sie spielt nicht die Venus, sie ist eine!«, sagte Kristina gerade leidenschaftlich zum alten Marquis. Und setzte provokant hinzu: »Ihr Körper ist ebenso schön wie ihre Seele!« Der junge Oberst am Tisch verzog das Gesicht, als hätte er in einen verdorbenen Fisch gebissen, was Kristina ebenso wenig bekümmerte wie die Tatsache, dass Fräulein Ebba errötete. »Sie werden staunen, wie wundervoll meine Belle in ihrem Ballettkostüm aussieht!«, fuhr Kristina fort. »Ein Jammer, dass unser junger Graf nicht an den Tanzproben teilnehmen konnte. Wie geht es Ihrem Knie?«

»Besser«, erwiderte Henris Vater an der Stelle seines Sohnes. »Nicht der Rede wert. Natürlich hätte er heute tanzen können, aber für Ihr Ballett wäre es sicher kein Gewinn gewesen. Selbst wenn er gesund ist, hat er zwei linke Beine.«

Elin zweifelte daran, ob sie die französischen Sätze alle richtig verstanden hatte, aber im Gegensatz zu seiner Frau, die so schnell zwitscherte wie ein ungeduldiger Vogel, sprach der Marquis langsam und gesetzt. Offenbar hielt er nicht viel von seinem Sohn. Nun, dachte Elin bei sich, dann sind wir ja schon zu zweit.

»Sie hatten großes Glück, Monsieur Henri, dass das Fräulein Elin in der Nähe war«, hörte sie Kristinas Stimme. Erschrocken blickte sie auf.

Der alte Marquis zog die Brauen hoch.

»Wie darf ich das verstehen? Mir wurde gesagt, die Gardisten hätten das Pferd eingefangen?«

»Das ist auch nicht gelogen«, erwiderte die Königin mit einem Lachen. »Fräulein Elin ist ein weit beherzterer Soldat als so mancher in meiner Leibgarde. Karl sollte sie für seine Kavallerie anwerben.« Der Oberst erwachte aus seinem trunkenen Groll und ließ den Blick zu Elin schweifen. Das war also Kristinas Verlobter! »Meine Hofdamen sind nicht zu viel zu gebrauchen, aber Fräulein Elin sollte man nicht unterschätzen«, schloss Kristina und hob das Weinglas. Elin senkte den Kopf und starrte die weiße Tischdecke an. Als Muster waren ausgerechnet springende Einhörner eingewebt. Erst als das Schweigen bleischwer wurde, wagte sie aufzusehen.

Der Marquis musterte seinen Sohn kritisch. Trotz seines galanten Lächelns gefror sein Blick. Henri kniff die Lippen zusammen und schwieg.

»Nun, dann danke ich Ihnen von Herzen, Mademoiselle«, wandte sich der Marquis schließlich an Elin. »Ich hoffe, Sie sind gebührend entlohnt worden.«

»Sie spricht nur Schwedisch«, meinte die Königin gut gelaunt.

Der Blick, den der Marquis Elin nun zuwarf, gab ihr das Gefühl, ein verachtungswürdiger Wechselbalg zu sein.

»Sie ist trotzdem ein ganz reizendes Mädchen«, beeilte sich die Marquise zu sagen. »So ein hübscher Teint!« Mit einem Mal hasste Elin nicht nur Henri und seine Eltern, sondern auch alle anderen am Tisch – den betrunkenen Karl Gustav, der sie aus glasigen Augen anstarrte, den Bibliothekar, ja sogar die Königin, die sie in diese Lage gebracht hatte. Lovisas Ermahnung schrillte in ihrem Ohr, aber ihr Mund öffnete sich wie von selbst.

»Ich bin reich belohnt worden, Monsieur«, sagte sie und bemühte sich, die französischen Worte langsam und korrekt auszusprechen. »Einen Riksdaler habe ich erhalten.« Der Marquis und seine Frau überspielten ihre Überraschung gut. Henri dagegen war ebenso verblüfft wie die übrigen Tischgäste. Am anderen Ende der Tafel reckte man die Hälse, um zu sehen, was die plötzliche Stille zu bedeuten hatte.

»Dann ist es wohl an mir, der Mademoiselle ein angemesseneres Dankesgeschenk zu machen«, sagte der Marquis.

»Überlassen Sie es mir, mich bei der jungen Dame erkenntlich zu zeigen«, versuchte Magnus galant zu vermitteln. »Schließlich war der Unfall allein meine Schuld. Enhörning ist kein Pferd, das man einem Gast überlässt, dessen Leben einem teuer ist.«

»Ich danke Ihnen, aber wir Vaincourts lassen niemals unsere Gastgeber dafür bezahlen, dass unsere Kinder ihre Reitstunden nicht ernst genug nehmen. Henri!« Die Stimme des alten Grafen schnitt schärfer als das Rasiermesser eines Barbiers. »Geh in mein Gemach und lass dir von meinem Diener zwanzig silberne Ecu geben.« Henri schoss von seinem Stuhl hoch und empfahl sich mit einer steifen Verbeugung. Sein Gesicht war ebenso rot wie das von Elin. Mit einer zierlichen Geste nahm die Marquise die Serviette und tupfte sich die Mundwinkel ab. Dann winkte sie dem Diener, ihren Stuhl nach hinten zu rücken. »Ich werde mich ebenfalls für einen Augenblick entschuldigen!«, sagte sie mit einem charmanten Lächeln.

»Madame, ich bitte Sie, nehmen Sie wieder Platz!« Die Stimme der Königin brachte die Menschen am Tisch zum Schweigen. Sie war nicht aufgestanden, trotzdem schien sie Elin und alle anderen zu überragen. Sie wandte sich an die Grafenfamilie und sprach auf Französisch einige versöhnliche Worte. Für Elin zu schnell, um sie verstehen zu können. Die Marquise lächelte höflich und nahm wieder Platz. Henri dagegen setzte sich erst auf einen gezischten Befehl seiner Mutter wieder hin. Dann wandte sich Kristina an Elin. Ihre Augen blitzten vor Wut.

»Du beleidigst meine Gäste?«, fuhr sie Elin auf Schwedisch an. »Jemandem das Leben zu retten ist eine Ehre, keine Arbeit, für die du Lohn erhältst. Ich dachte, man hätte dir ein Mindestmaß an Anstand beigebracht! Der wahre Held ist bescheiden und schweigt über seine Taten.«

»Aber Majestät!«, wandte Elin ein. Ihre Fingernägel drückten schmerzhafte Halbmonde in ihre Handflächen. »Das Geld bedeutet mir nichts. Darum ging es nicht. Wenn Sie an meiner Stelle wären …«

»An deiner Stelle?«, donnerte Kristina. »Du wagst es, dich mit mir zu vergleichen?« Die Musik kam endgültig aus dem Takt und verstummte.

»Nein«, stotterte Elin. »Ich wollte nur …«

»Schweig! Mademoiselle hat wohl vergessen, wo sie herkommt und wo sie offenbar immer noch hingehört. Vielleicht fällt es dir wieder ein, wenn du in die Küche zurückkehrst. Jetzt sofort!«

Elin stand auf. Der Raum schien zu schwanken. Die vielen Gesichter verschwammen vor ihren Augen. Im Saal war es totenstill geworden. Der junge Marquis war blass. In seiner Miene lag nicht mehr die geringste Spur von Verachtung. Er sah so unglücklich aus, wie Elin sich fühlte.

»Herr Freinsheim, seien Sie so freundlich und reichen Sie meiner menschlichen Zündschnur zum Abschied doch bitte ein Konfekt«, sagte Kristina mit kalter Stimme. »Vielleicht ist das ja eine Möglichkeit, ihren vorlauten Mund zu stopfen.« Höflich lachten die schwedischen Tischgäste und nahmen nach und nach ihre Gespräche wieder auf. Murmeln füllte den Saal, die Violinen setzten wieder ein. Der Bibliothekar erhob sich und reichte Elin mit einem mitfühlenden Lächeln eine silberne Konfektschale. Die Königin hatte sich halb abgewandt und würdigte Elin keines Blickes mehr. Mit Tränen in den Augen machte Elin einen hastigen Hof knicks und ging.

Wie sie zu Lovisas Tisch zurückgekommen war, wusste sie nicht. Die Lichter und Farben verschwammen vor ihren Augen, so sehr kämpfte sie gegen die Tränen an. Die alte Kammerfrau schalt Elin nicht, sondern stand auf und zog sie unter einem Vorwand aus dem Saal. Erst in der leeren Vorhalle richtete sie das Wort an sie.

»Schluck die Tränen runter«, sagte sie sanft. »Das ruiniert nur das Wangenrouge.«

»Zum Henker mit dem verdammten Rouge!«

»Hör auf zu fluchen!«

»Warum? Was soll dieses höfliche Getue? Sie sind alle … so falsch!«

»Seht! Wie kannst du so etwas sagen!«

»Für den Grafen bin ich Ungeziefer.«

»Was hast du erwartet?«, gab Lovisa unbarmherzig zurück. »Ein Esel merkt erst, dass er ein Esel ist, wenn er in die Gesellschaft von Rössern kommt. Die gräfliche Familie behandelt dich nun einmal deinem Stand entsprechend. Du bist keine Adlige, sondern die Tochter eines einfachen Soldaten und einer unbekannten Mutter, mag sie nun eine Lagerdirne gewesen sein oder nicht. Am besten, du freundest dich mit dieser Tatsache an und nimmst den anderen ihre Zielscheibe.«

»Ich will den Riksdaler haben«, fuhr Elin die alte Dame plötzlich an. »Jetzt sofort! Ich gebe ihn dem Marquis zurück. Ich will sein verfluchtes Geld nicht!«

Entschieden schüttelte Lovisa den Kopf.

»Eine Frau kann es sich nicht leisten, aus Stolz Geld wegzuwerfen. Der Taler ist nur Metall – aber er bedeutet sehr viel mehr als das. Eines Tages kann er darüber entscheiden, ob du dich frei fühlst oder unfrei wie eine Magd«, erwiderte sie ruhig. »Solange du diese Tatsache nicht zu schätzen weißt, wirst du von mir keine lumpige Öre bekommen!«

»Dann behalte den verdammten Taler! Und auch dieses Kleid und den Puder und den ganzen Tand. Ich will nichts mehr von euch! Ich verlasse das Schloss. Noch heute!« Im Raum verstummte die Musik, Applaus und Stühlerücken erklang. Lovisas Fingernägel gruben sich schmerzhaft in Elins Schultern.

»Das hat die Königin dir weder befohlen noch erlaubt«, sagte sie mit Nachdruck. »Sie hat dich in die Küche zurückgeschickt. Und genau dort wirst du dich nun hinbegeben. Ich werde mit ihr reden.«

»Aber …«

»Kein Aber, Elin. Sie ist die Königin. Und die Leute an ihrem Tisch, die du in Verlegenheit gebracht hast, sind ihre Gäste. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, außer vielleicht das eine: Königin Kristina ist aufbrausend, sie hat das wilde Blut und auch das stürmische Gemüt der Wasa. Fordere es nicht heraus!«

Elin zitterte am ganzen Körper. Die Locken waren aus den Haaren gekämmt, das Rouge abgewischt. Nie war ihr aufgefallen, wie grob der einfache Stoff der Mägdekleidung sich anfühlte. Dieses Kleid hier roch zudem nach fremder Haut und altem Schweiß – Gerüche, die ihre Nase früher kaum wahrgenommen hatte. Ihr Leben auf Gudmunds Hof und in der Mägdekammer erschien ihr so schäbig und grau wie nie zuvor. Zwei der Mägde schnarchten in ihrem Bett, aber Elin konnte ohnehin nicht schlafen. Seit Stunden saß sie regungslos auf ihrem Schlaflager, den Rücken an die kalte Wand gelehnt. Ihr Körper schien taub geworden zu sein wie ein Stück Holz. Brennend vor Wut ging sie immer wieder ihren Plan durch. Niemand konnte ihr befehlen, in diesem Schloss zu bleiben! Sie würde fliehen. Gleich morgen. Sie würde Stockholm verlassen und zu Emilia nach Uppsala zurückkehren. Und wenn die Königin sie suchen ließ, würde sie sich nach Deutschland durchschlagen, zu der Insel, auf der ihre Mutter gelebt hatte. Alles war besser, als hier zu sein. Vielleicht ließ sich Fräulein Ebbas Silberkreuz verkaufen? Gerade wollte sie nach dem Schmuckstück greifen, das unter dem groben Stoff verborgen war, als sie einen Lichtschimmer entdeckte.

»Elin!«, flüsterte jemand in der Dunkelheit. Im ersten Moment glaubte Elin das Gespenst aus dem Park zu sehen, dann aber erkannte sie im Licht eines glimmenden Kienspans Helga Lundells Lächeln.

»Komm mit und weck die anderen nicht auf«, raunte Helga ihr zu. »Du hast Besuch!« Das war bestimmt Lovisa! Elin glitt über die klamme Decke und folgte dem tanzenden Licht des Kienspans, der wie ein Glühwürmchen vor ihr herschwebte. Helga führte sie durch einen schmalen Gang und eine Holzstiege hinunter. Kälte kroch ihnen entgegen.

»Wohin gehen wir?«, flüsterte Elin. Helga drehte sich um und legte warnend den Finger an die Lippen. Erst als Elin runde Ziegelgewölbe erkannte, erriet sie, dass sie in den Lagerkellern sein mussten – in dem Teil, wo das Brennholz und Holzfässer mit eingelegten Zwiebeln und Stockfisch gelagert wurden. »Dort hinein«, flüsterte Helga und deutete auf eine schmale Holztür. Elin schluckte und drückte die Klinke herunter. Kerzenlicht leckte über ihre Schuhe. Durch die Fässer, die sich bis zur Decke stapelten, wirkte der Raum sehr schmal. Dennoch bot er genug Platz für einen Tisch. Ein Verwalter führte hier wahrscheinlich die Aufstellungen über die Vorräte. Jetzt ging allerdings eine Gestalt in einem langen Mantel im Raum hin und her. Der Federhut verbarg ihr Gesicht, aber die energischen Bewegungen hätte Elin überall wieder erkannt.

»Ihre Majestät!«

»Hier, fang auf!«, befahl die Königin barsch. Mit einem Ruck wandte sie sich um und warf Elin einen Gegenstand zu. Es war ein in Leder gebundenes, schmales Buch.

»Lies mir den Titel vor.«

»Wie Sie wissen, kann eine kleine Magd wie ich nicht lesen«, schnappte Elin.

»Woher soll ich das wissen?«, gab die Königin ebenso schnippisch zurück. »Heute sprichst du Französisch, morgen zitierst du womöglich auf Deutsch aus dem Osnabrücker Verhandlungsprotokoll? Ich habe den Verdacht, du kannst viel mehr, als du mir zeigst.« Ihre Stimme bekam einen schneidenden Unterton. »Wie kommst du überhaupt dazu, meine Gäste zu beschämen?«

»Ich habe sie beschämt?«, rief Elin. »Der Marquis hat mich mit diesem Riksdaler beleidigt!«

»Dich beleidigt?«, spottete Kristina. »Du beleidigst dich selbst, Elin Ansgarsdotter. Du solltest bescheiden sein, statt aus Eitelkeit einen Streit vom Zaun zu brechen – und dazu noch mit Personen, denen du nicht gewachsen bist. Bevor man in den Kampf zieht, sollte man sorgfältig die Waffe wählen, statt sich die erstbeste Mistgabel zu schnappen.«

»Sie waren es doch, die mich auf den Kampfplatz gezerrt hat«, gab Elin zurück. Kristinas Mundwinkel zuckten, und plötzlich brach sie in Gelächter aus. Sie lachte so sehr, dass sie sich verschluckte und husten musste.

»Guter Gott, Elin«, sagte sie schließlich atemlos. »Jemanden wie dich könnte Karl wirklich auf dem Feld gebrauchen. Woher hast du nur diesen Trotzkopf?«

»Leute wie ich brauchen besonders harte Schädel«, erwiderte Elin ernst.

Kristina winkte ab.

»Bilde dir nur nichts auf dein Elend ein. Und den jungen Marquis sieh als Lektion: Du wirst im Leben viele Feinde haben – und jeder davon lehrt dich, mit zukünftigen Widrigkeiten besser fertig zu werden. Er ist der Stein, an dem du lernen kannst, deinen Säbel zu schärfen.« Sie lachte wieder und strahlte Elin an. »Im Grunde war es ein großartiger Auftritt bei Tisch! Alle glauben, dass du bei mir in Ungnade gefallen bist. Niemand würde auch nur vermuten, dass ich dir jetzt noch traue.«

Vielleicht war es die Tatsache, dass die Königin in dem einfachen Gewand und vor den Ziegelmauern wie eine ganz gewöhnliche Frau wirkte, vielleicht machte Elins Enttäuschung sie auch nur gleichgültig, jedenfalls lachte Elin nicht, sondern verschränkte die Arme.

»Wer sagt, dass ich Ihnen noch vertraue?« Kristinas Lachen erstarb. Elin schluckte und sprach weiter. »Vorher haben Sie mir verboten, mich mit Ihnen zu vergleichen, jetzt vergleichen Sie mein Elend mit Ihrem Glanz. Ich … bitte um die Erlaubnis, das Schloss verlassen zu dürfen.«

Kristinas Augen wurden schmal.

»Auf keinen Fall. Wenn ich nicht auf dein Vertrauen zählen kann, tut es mir Leid. Dann werde ich dich eben an deinen Schwur erinnern müssen. Oder bedeutet ein Hurenkind zu sein, keine Ehre zu haben?«

Das hatte gesessen! Elin reckte das Kinn in die Höhe und rang um Fassung.

»Sie können leicht spotten, Majestät«, sagte sie leise. »Sie sind von hoher Geburt und wissen, wer Ihre Eltern sind. Ich kenne meinen Vater nur vom Namen und meine Mutter gar nicht.«

»Sei froh darum«, erwiderte Kristina bitter. Dann seufzte sie und ihr Gesicht wurde weicher.

»Ich wollte dich nicht beleidigen, Elin. Und auch die Worte an der Tafel sind eher zur Täuschung als aus echtem Ärger gesprochen worden. Lerne von mir! Manchmal sind solche Listen nötig!«

»Haben Sie noch mehr Befehle für mich?«, entgegnete Elin frostig.

»Ja, die habe ich. Schlag das Buch auf!«

Elin blickte auf den Ledereinband. Immer noch hielt sie die Kostbarkeit fest umklammert, als fürchtete sie, das Buch könne ihr aus der Hand springen und davonflattern. Behutsam lockerte sie den Griff und klappte das Buch mit einem ungeschickten Handgriff auf. Die Seiten fielen auseinander, niedergedrückt von etwas, das schwerer war und in der Mitte des Buches steckte. Ein Brief.

»Es ist so weit«, sagte Kristina.

»Ich soll einen Brief überbringen?«, flüsterte Elin. »Muss ich etwa nach Deutschland? Zu Pferd? Ich kann noch nicht reiten!« Kristina lächelte nicht mehr und Elin fiel auf, wie dunkel die Schatten unter ihren Augen waren.

»Nein. Du wirst zu Fuß gehen – und zwar hier in Stockholm. In letzter Zeit werden Briefe abgefangen, die von höchster Wichtigkeit sind. Nun habe ich beschlossen, den Verrätern ein Schnippchen zu schlagen. Ich brauche jemanden, der sich im Volk bewegen kann, ohne aufzufallen. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann und der klug genug ist, einen Brief so gut zu behüten, als wäre er ein kostbares Schmuckstück oder vielleicht sogar ein Leben.«

»Darf ich … danach das Schloss verlassen?«

Die Königin schüttelte den Kopf und seufzte.

»Auf welchem Schlachtfeld wurde dein Vater getötet?«

»Bei Nördlingen.«

»Meiner fiel in Lützen, als ich fünf Jahre alt war. Man fand ihn ohne Kleidung, nur noch mit seinen Strümpfen und seinen drei Unterhemden bekleidet. Ein Krieg macht die Menschen zu Bestien. Ich schlage dir einen Handel vor, Elin. Hilf mir, diesen Krieg zu beenden. Ich kann jeden Vertrauten brauchen, der mir Treue schwört. Sobald der Krieg vorbei ist, verspreche ich dir, dass du gehen kannst, wohin du willst. Wenn du mir bis dahin dienst, mit deinem ganzen Herzen, deinem Mut und deiner Klugheit, dann werde ich dich belohnen. Und glaube mir …« – sie beugte sich weit zu Elin vor -»… du wirst es nicht bereuen, mir zu dienen. Oder möchtest du nicht schreiben und lesen können wie Monsieur Henri? Bedenke – du könntest auch Dokumente lesen. Besonders solche, die dir möglicherweise einen Hinweis auf deine Herkunft geben könnten.«

Elin betrachtete nachdenklich das Buch in ihren Händen. Die unverständlichen Zeichen auf dem Buchdeckel grinsten ihr höhnisch entgegen. Vergeblich bemühte sie sich, ihre Wut und Empörung wieder zu finden, stattdessen konnte sie nicht anders, als der Königin ein flüchtiges Lächeln zu schenken.

»Wem soll ich den Brief überbringen?«

»Einem Sendboten, der nach Deutschland reiten wird. Zeitgleich schicke ich einen offiziellen Boten los. Er wird sich ein paar Dummheiten leisten, die die Spione am Hof auf seine Fährte bringen werden. Den mögen die Posträuber dann jagen, während unser Kurier unbehelligt den Brief trägt.« Beim Wort »unser« zuckte Elin zusammen. Kristinas Stimme sank zu einem Flüstern.

»Deine Aufgabe ist einfach. Du gehst als ganz gewöhnliche Magd zum Hötorget – dem Heumarkt – und von dort aus zum Haus von Simon Jüterbock, dem Sattelmacher.«

»Und wie komme ich ungesehen aus dem Schloss?«

»In wenigen Stunden werden Bauern und Bürger in den Audienzraum kommen. Helga wird dich dorthin bringen. Von da aus kannst du nach der Audienz unauffällig mit ihnen gemeinsam das Schloss verlassen.«

»Das ist ein Brief an Adler Salvius in Deutschland, nicht wahr? Sie versprechen ihm den Posten im Reichsrat?«

Kristina lächelte anerkennend.

»Und wenn der Brief sein Ziel erreicht, hat dieser unselige Krieg vielleicht schneller ein Ende, als den Oxenstiernianern lieb ist.«

»Er wird sein Ziel erreichen«, sagte Elin.

»Nimm dieses Siegel mit und verstecke es gut! Es ist dein Erkennungszeichen für Jüterbock.« Helga drückte ihr ein kleines, hartes Oval aus Metall in die Hand, das Elin sofort in ihrem Ärmel verbarg. Das Kopftuch hatte Helga ihr bis ins Gesicht heruntergezogen. Das Wolltuch um ihre Schultern roch nach Räucherkammer. »Schau auf den Boden«, riet ihr Helga. »Und halte dich in der Mitte der Gruppe, die den Audienzraum verlassen wird. Sieh dich nicht um und errege auch sonst nicht die Aufmerksamkeit der Gardisten und Wächter. Den Weg zum Hötorget hast du dir gemerkt?«

Elin nickte und strich sich nervös über den Rock, in den der kostbare Brief eingenäht war.

»Gott schütze dich«, flüsterte Helga. »Ich warte zu jeder vollen Stunde an der Anlegestelle.«

Wenig später stand Elin in einer Nische des Gangs, der zum Audienzraum führte. Murmeln wurde laut, als sich die Türen öffneten. Ein Strom von Menschen drängte aus dem Saal – Bürger in ihrem Sonntagsstaat, Handelsleute, Tagwerker und Bauern, die die Last vieler Jahre Feldarbeit gebeugt hatte wie alte Bäume.

Elin mischte sich unauffällig unter die Menge und ließ sich, den Kopf gesenkt, mit ihr treiben. Langsam schob sie sich zur Mitte des Trosses, der von mehreren Dienern zum Ausgang geleitet wurde. »Ich sagte dir doch, die Königin kann uns nicht helfen«, flüsterte neben ihr eine Frau. »Gegen den Bauernschinder Oxenstierna wird sie nichts ausrichten.«

»Sie hat versprochen, sich beim Rat für die Bauern einzusetzen. Mehr kann sie nicht tun. So ist es nun mal. Nicht einmal eine Königin kann einfach so über alles und jeden frei bestimmen.«

»Nun, dafür kann sie frei bestimmen, wie viel Geld sie für den ganzen Prunk und diese Ausländer ausgibt«, kam die spitze Antwort. »Man sagt, die Staatsfinanzen liegen am Boden!«

»Lass es gut sein, Grit«, sagte der Mann müde. »Sie hat uns immerhin Geld aus der Schatzkasse gegeben.«

»Dieses Geld lindert unsere Not für einen Monat«, knurrte die Frau. »Aber die Steuerlast nimmt es uns nicht – während die Adelsherren ihre Privilegien genießen und sich Paläste bauen. Und wer erlässt uns die Steuern und Zölle? Wer? Ohne die Zustimmung des Rats darf der Reichstag keine neuen Zollverordnungen beschließen. Und wer sitzt im Rat? Die Adelsherren! Einen Teufel werden die beschließen, um uns das Leben leichter zu machen.«

Ein Ellenbogen traf Elin in der Seite und sie wurde abgedrängt. Wenig später tat sich vor ihr das Tor auf und ein eisiger Morgenwind strich über ihr Gesicht. Gefrorener Matsch auf den Straßen machte es schwer, vorwärts zu kommen. Elin klammerte sich an ihren Korb. Die Tage unter Lovisas Obhut schienen ihr ein Stück Sicherheit geraubt zu haben. Sie fühlte sich allein und fehl am Platz. Die Welt, die früher die ihre gewesen war, war ihr entglitten und in die Ferne gerückt. Bei jedem Schritt bildete sie sich ein, das Papier, das in ihrem Rock eingenäht war, rascheln zu hören. Jeder musste es hören! Erst nachdem sie den Stortorget überquert hatte und in das Gewühl der Straßen eingetaucht war, begann sie wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Die meisten Gassen waren so breit, dass Kutschen hindurchfahren konnten. Aber es gab auch schmalere mit steilen Treppen. In diese Schluchten zwischen den Häusern fiel nur spärliches Licht. Und obwohl es Tag war, brannten in den Werkstätten Kerzen und Öllampen. Elin legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die schmalen weißen Schornsteine, die Treppengiebel und die eisernen Ankerklemmen an den Fassaden, die die Wände der Häuser zusammenhielten. Ganz oben zwinkerte nur ein schmaler Streifen Himmel auf die Stadt herunter. Hinter den vereisten Fenstern sah sie Schuhmacher und Knopfschnitzer bei der Arbeit. Sie hörte die regelmäßigen Schläge der Kupferstecher und fasste nach und nach Mut, sich die Menschen, die ihr entgegenkamen, genauer anzusehen. Manche der Bürger schmückten sich nach europäischer Mode mit Perücken, andere waren altmodisch gekleidet. Die Flamen trugen Schuhe mit roten Sohlen und Absätzen. Elin folgte einer Gruppe von ihnen quer durch die Stadt bis zum Stadttor und schlüpfte dort rasch an ihnen vorbei. Über die Brücke verließ sie dann die Stadtinsel. Weit vor ihr erhob sich der Brunkeberg. Die Flügel der roten Windmühlen bewegten sich träge im Wind. Verstohlen blickte sie sich um, aber niemand folgte ihr. Bauern trieben Schweine zum Markt oder trugen Hühner in Käfigen auf dem Rücken dorthin. Der Hötorget selbst war der größte Markt, den Elin je gesehen hatte. Es mussten hunderte von Menschen sein, die hier ihre Waren feilboten! Milchkrüge, Schafe, Eier, Hühner, Gerätschaften für die Küche – alles gab es hier zu kaufen. Der Duft von Torffeuer vermischte sich mit dem Geruch von Kuhmist und dem Aroma von siedender Fischsuppe. In Kohlepfannen wurde sogar frischer Fisch geröstet.

Simon Jüterbocks Haus war unscheinbar und lag in einer Seitengasse, nicht weit von der breiten Hauptstraße entfernt. Nur das Kupferschild mit einem aufgemalten Sattel wies darauf hin, dass sich hier eine Sattlerei befand. Elin zögerte und blieb stehen. Sie nahm ihren Korb hoch und tat so, als würde sie die Dinge darin ordnen. Leute drängten an ihr vorbei. Auf der anderen Straßenseite lehnte ein Mann mit einem Federhut an einem Karren und schnitt mit einem kleinen Messer einen Apfel in Stücke. Sein Gesicht konnte sie unter der Hutkrempe nicht erkennen. Er trug Handschuhe. Sein kleiner Finger stand steif und geziert ab. Elin ließ ihren Blick weiterwandern, bis sie sich schließlich ein Herz fasste und an Jüterbocks Tür klopfte. Sie öffnete sich beinahe augenblicklich und ein strenges Gesicht erschien. Die Haut des Mannes sah aus, als hätte ein Rotgerber sie ein wenig zu gründlich bearbeitet.

»Simon Jüterbock?« Der Mann nickte. In ihrem Rücken glaubte Elin die stechenden Blicke von Spähern zu fühlen. Mit einer kaum merklichen Geste schüttelte sie das Siegel aus dem Ärmel und ließ es Jüterbock einige Sekunden lang sehen.

»Ich komme wegen der neuen Kutschzügel«, sagte sie laut. Simon nickte und ließ sie eintreten. Im Inneren der Werkstatt arbeiteten zehn Leute. Ein Geselle, der dabei war, einen Sattelrahmen mit Leder zu beziehen, ließ die Hände sinken und musterte Elin mit besorgtem Blick.

»Die Zügel habe ich im Hof«, sagte Simon und ging voraus. Mit weichen Knien folgte Elin ihm. Natürlich führte der Weg nicht in den Hof, sondern in eine kleine Kammer. Sorgfältig verschloss Simon die Tür und drehte sich zu ihr um.

»Der Brief«, flüsterte er. »Du hast ihn bei dir?«

Elin nickte. Simon wandte höflich den Blick ab, während sie ihr kleines Nähmesser aus dem Korb holte und die Naht an ihrem Rocksaum auftrennte. Der versiegelte Brief lag schwer in ihrer Hand. Simon Jüterbock nahm das Papier entgegen.

»Ich habe auch einen weiteren Brief dabei«, sagte Elin leise. »Falls der Bote abgefangen wird, soll er diesen hier aushändigen. Das wird ihm Zeit geben, das richtige Dokument zu vernichten.« Mit diesen Worten zog sie das zweite Schreiben aus der Stofffalte am Rock.

»Die Königin lässt ausrichten, dass der Brief in spätestens acht Tagen am vereinbarten Ort sein muss.«

Jüterbocks Gesicht war angespannt, die Hand, die die Briefe hielt, zitterte leicht.

»Gut«, sagte er heiser. »Ich danke dir. Hier, nimm diese Zügel mit und geh.«

Wenig später stand Elin wieder vor dem Haus. Simons Aufregung hatte sie angesteckt, sie musste sich beherrschen, sich nicht ständig umzuschauen. Der Mann mit dem Federhut stand immer noch am anderen Ende der Straße. Er betrachtete Jüterbocks Türschild und sah dann mit großer Konzentration auf ein Hausdach. Elins Herz begann schneller zu schlagen. Unauffällig überquerte sie die Straße und verschwand aus seinem Blickfeld. Dann drückte sie sich flink an eine kalte Hauswand, schaute vorsichtig um die Ecke und folgte den Augen des Mannes. Da fiel ihr eine winkende Bewegung auf einem der Dächer auf. Ein Späher! Elin fluchte. Sie musste Jüterbock warnen! Seltsamerweise spürte sie in diesem Moment keine Angst. Mit einer genau bemessenen Bewegung steckte der Mann das Messer ein und begab sich auf Jüterbocks Straßenseite, wo sich ein anderer Mann wie ein Schatten aus einer Gasse löste. Schnauben und das Geräusch von einem scharrenden Huf erklang. Hielt jemand in der Gasse Pferde bereit? Behutsam stellte Elin den Korb auf einer Treppe ab und wickelte die langen Zügel um ihren Unterarm. Im Schatten der Gasse waren der Mann mit dem Federhut und der zweite Unbekannte in ein Gespräch vertieft.

Elin zog sich unauffällig zurück, lief ein Stück weiter und huschte dort über die breite Straße. So schnell es auf dem gefrorenen Weg ging, hastete sie zwischen den Häusern hindurch. Hier musste Jüterbocks Hinterhof sein. Vor ihr erhob sich eine fensterlose Steinmauer – vermutlich die Rückseite einer weiteren Werkstatt oder vielleicht des Stalls. Ein leises Wiehern bestätigte ihre Vermutung. Eine Tür klappte. Elin wich zurück und hielt nach einer Möglichkeit Ausschau, in den Hinterhof zu gelangen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und zuckte zurück. Da hockte der Späher – gut verborgen auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses beobachtete er Simons Hof. Nun gab er den Männern in der Seitengasse ein zweites Zeichen. Elin überlegte nicht lange. Sie raffte den Rock hoch und stopfte sich den Saum in den Bund. Nun hatte sie die Beine frei. Dann tastete sie nach einer Ritze in der Mauer und kletterte im Sichtschutz des Stalls an ihr hoch. Mit aufgeschürften Fingerknöcheln kam sie oben an und legte sich bäuchlings über die Mauer. So konnte der Späher auf dem Dach sie nicht sehen. Rechts von ihr befand sich der Stall. Elin zog sich näher an das schmale Seitenfenster heran und schielte hindurch. Der Geselle, der eben noch den Sattelrahmen bezogen hatte, schob gerade Königin Kristinas Brief in ein Geheimfach unter dem Sattelblatt. Sorgfältig zurrte er die Schnalle darüber fest und stieg auf das Pferd. Pferd und Reiter verließen den Stall und verschwanden aus Elins Blickfeld. Zu spät. Rufen konnte sie nicht. Und wenn sie von der Mauer in den Hof sprang und zu dem Kurier rannte, würde der Späher sie sofort entdecken. Elin überlegte fieberhaft, dann robbte sie ein Stück auf der Mauer zurück und sprang auf die Straße. Der Aufprall nahm ihr die Luft, ihre Handflächen, mit denen sie sich abgestützt hatte, pochten. Sofort schoss sie hoch und lief los. Die Häuser schienen kein Ende zu nehmen. Sie umrundete ein weiteres Gebäude, bis sie in der Gasse stand, in der sie die Verfolger vermutete. Und richtig: Da war ein Schatten. Zuckende Pferdeohren und eine wippende Feder auf einem Hut. Die Verfolger lauerten darauf, dass der Bote aus dem Hof ritt, um ihm zu folgen. Natürlich – mitten in der Stadt würden sie keinen Tumult riskieren. Elin sah sich um. Jedes Geräusch erschien ihr plötzlich doppelt so laut, jede Kleinigkeit nahm sie mit größter Schärfe wahr. Zum Beispiel die beiden Heringsfässer am Rand der Straße. Gegenüber stand ein Karren. Elin schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Kurier diesen Weg nehmen würde, und rannte los. Die Fässer waren leer und standen vermutlich bereit, um abgeholt zu werden. Sie verkroch sich hinter ihnen und lauschte. So schnell sie konnte, wickelte sie den Kutschzügel von ihrem Unterarm ab und schlang ihn um die Fässer. Hufschlag erklang. Jüterbocks Kurier. In schnellem Trab bewegte er sich genau auf Elin zu. Sie zurrte den Zügel fest und huschte zum Karren, das lose Ende des Zügels in der Hand. Hinter dem Karren ging sie in Deckung. Der Trab wurde langsamer. Reite weiter!, flehte Elin in Gedanken. Doch das Pferd blieb stehen. Elin spähte hinter dem Wagen hervor. Der Kurier hatte sein Pferd angehalten und starrte den Kutschzügel an, der quer über der Straße lag. Elin winkte ihm zu und machte eine warnende Handbewegung. Er verstand und gab seinem Pferd die Sporen. Sein Wallach sprang über den Zügel am Boden und flog los wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schnellt. Elin wand die Zügel um die Speiche des Karrenrads und hielt das Ende mit beiden Händen fest. Galoppschlag näherte sich. Gerade noch rechtzeitig spähte sie unter dem Wagen hindurch, um die Pferdebeine zu erkennen, dann warf sie sich nach hinten und zog mit aller Kraft am Seil. Der Zügel schnellte vom Boden hoch und spannte sich quer über die Straße. Der plötzliche Ruck drohte ihr die Arme aus den Gelenken zu hebeln. Ein brennender Schmerz zuckte durch ihre Handflächen. Gepolter und ohrenbetäubendes Gebrüll ertönte. Die Fässer tanzten über die Straße und brachten die Pferde zu Fall, der Karren rutschte weg. Elin wurde gegen die Hauswand geschleudert. Ein Fass schlingerte auf sie zu. Gerade noch rechtzeitig konnte sie zur Seite springen, bevor es die Hauswand genau an der Stelle traf, an der sie sich eben noch befunden hatte. Auf der Straße wuchtete sich eines der gestürzten Pferde wieder auf die Beine und schüttelte benommen den Kopf. Sein Reiter wand sich schreiend im Schneematsch und hielt sich das verletzte Bein. Innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte sich die menschenleere Gasse in einen Jahrmarkt. Fenster flogen auf, Menschen strömten aus den Häusern. Das zweite Pferd hatte sich im Zügel verheddert und trat in seiner Panik nach allem, was sich ihm näherte. Elin stützte sich an der Hauswand ab und kam benommen auf die Beine. Im selben Augenblick stand der Mann mit dem Federhut auf und sah sie an. Sein blutüberströmtes Gesicht wirkte wie eine rote Maske. Die Feder klebte an seiner Wange und verdeckte seine Züge. Als er seine Hand ausstreckte und auf Elin deutete, stand sein kleiner Finger ab, als wäre er ausgerenkt. Elin ließ endlich den Zügel los und begann zu rennen. Eine Hand riss an ihrem Wolltuch. Sie ließ es einfach zurück und schlitterte weiter. »Haltet sie!«, brüllte eine Männerstimme. Zum Glück war ihr Rock noch hochgebunden, was das Rennen erleichterte. Wie vom Teufel gejagt, hetzte sie um die Ecke. Eine Gruppe von Frauen stob erschrocken auseinander. Entsetzt starrten sie auf Elins verschmutzten Rock und ihre bloßen Beine.

»Dahinten!«, schrie sie den Frauen zu. »Er wollte mich schänden! Haltet ihn auf!«

Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, hörte sie hinter sich Gebrüll und Gezeter. Mistgabeln stießen mit einem trockenen Knall gegeneinander. Die Frauen schrien: »Schändung!« Elins Verfolger brüllten: »Mord!« Elin sprang in eine Seitenstraße, hetzte die Treppen einer schmalen Gasse hinauf und kletterte über eine Mauer. Mit einem schmerzhaften Satz landete sie in einem kleinen Hinterhof, in dem ein Holzstapel lag. Dahinter verkroch sie sich. Ihre Lungen fühlten sich an, als hätte sie eine Hand voll Nadeln verschluckt, und ihre Hände brannten höllisch. Erst jetzt sah sie, dass ihr die Zügel blutige Schürfwunden zugefügt hatten. Rufe und trappelnde Schritte ertönten. Elin drückte sich noch dichter an den Holzstoß.

»Hier ist sie nicht!«, rief eine Frau. »Das arme Ding! Sicher ist sie zum Hötorget gelaufen!« Elin kauerte sich zusammen und schloss die Augen. Der Schock ebbte nur langsam ab. Der Kurier ist auf dem Weg, wiederholte sie in Gedanken immer wieder wie ein beruhigendes Gebet. Es dauerte lange, bis sie es wagte, hinter dem Holzstapel hervorzukommen. Erst als die Dunkelheit sich längst wieder über die Stadt gelegt hatte, kroch sie völlig durchgefroren hervor und kletterte schwerfällig auf die Straße. Noch länger dauerte es, bis sie den Weg zum Schloss fand, immer auf der Hut, immer in der Erwartung, entdeckt und festgenommen zu werden. In weitem Bogen umrundete sie die Gegend um den Hötorget und huschte von Nische zu Nische bis zur Brücke. Das Schloss erschien ihr wie ein fremder Ort aus einem Märchen. Ihre Füße trugen sie kaum noch, als sie endlich die Anlegestelle erreichte. Ob Helga noch dort war? Eine neue Sorge flammte in ihr auf – was, wenn sie nicht mehr ins Schloss kam? In diesem Moment nahm sie den süßen Duft von Marzipan wahr. Sie drehte sich um und sank in Helgas Arme.

»Mein armes Mädchen!«, murmelte Helga immer wieder, während sie behutsam Elins Wunden reinigte. Elin saß zitternd am Tisch, an dem Helga noch vor wenigen Wochen den Schwan erschaffen hatte. »Lovisa stellt schon seit Stunden das halbe Schloss auf den Kopf, um dich zu finden«, flüsterte sie. »Ich habe gesagt, ich hätte dich das letzte Mal in den Vorratskellern gesehen. Oh, meine arme Kleine! Ich wünschte, mein Neffe wäre hier. Er studiert Medizin in Uppsala.«

»Es ist nicht schlimm«, murmelte Elin mit klappernden Zähnen. Sie fragte sich, wo der Kurier wohl heute übernachten würde. Waren ihm weitere Verfolger auf der Spur? Nur langsam ließ die Anspannung nach. Hier, in der Geschirrkammer, schlüpfte sie schließlich in ihr Mieder und den Rock, den sie gestern getragen hatte. Helga steckte ihr das Haar hoch und stäubte es mit Parfümpuder ein. Nach und nach verschwand Elin, das Bauernmädchen. Gerade war sie dabei, Handschuhe über ihre verwundeten Hände zu ziehen, als sie einen Schatten auf dem gefliesten Boden entdeckte. Mit einem Schrei sprang sie zur Seite. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie einen ganzen Tag an sich vorbeiziehen – der Mann mit dem Federhut war ihr gefolgt und hatte sie gefunden! Ein Messer blitzte auf und Elin sank zu Tode getroffen auf die Fliesen. Doch der Schatten gehörte nur zu Lovisa.

In ihren Locken hing eine Spinnwebe. Obwohl sie sofort ein strenges Gesicht aufsetzte, konnte sie ihre Erleichterung kaum verbergen.

»Da bist du ja. Erschöpft siehst du aus. Mein Gott, Helga! Was habt ihr nur mit dem Mädchen gemacht?« Rasch verbarg Elin ihre Hände in den Falten des Rockes. Zufällig blieb ihr Blick dabei an einem blanken Silberteller hängen. Schemenhaft erkannte sie darin das Gesicht einer jungen Hofdame mit ängstlichen Augen. Auf der Straße war ihr Gesicht schmutzverklebt gewesen – und ihr Haar unter dem Tuch verborgen. Selbst wenn sie sich begegneten, würde der Verräter sie unmöglich wieder erkennen.

»Und?«, fragte Lovisa streng. »Bedankst du dich nicht, dass ich dich aus der Küche erlöst habe? Du glaubst nicht, wie sehr ich der Königin auf die Nerven fallen musste, bis sie ein Einsehen hatte.«

»Entschuldige«, erwiderte Elin gehorsam. »Ich danke dir. Du weißt gar nicht, wie sehr!«

Die alte Dame schenkte Elin ein strahlendes Lächeln. »Vielleicht wirst du ja in Zukunft auf mich hören. Und vergiss nicht, dich bei der Königin zu entschuldigen und dich auch bei ihr vielmals zu bedanken.« Elin lächelte müde. Wenn sich hier jemand bedanken würde, dann war es die Königin.

Der rote Handschuh

Das Jahr 1648 begann mit einem Wintersturm. Man wollte Unglückszeichen am Himmel gesehen haben und berief sich auf die düsteren Prophezeiungen von Sterndeutern. Blass und übernächtigt erschien die Königin morgens um fünf in ihrem Arbeitskabinett und brütete über ihren Dokumenten. Immer noch war keine Nachricht von Adler Salvius eingetroffen. Kristina trieb die Friedensverhandlungen unermüdlich voran. Sie hielt ihr Versprechen und schenkte Elin zum Dank für ihren Dienst eine hübsche Geldkassette aus Ebenholz und dazu zwanzig Riksdaler. Was Elin jedoch weit mehr freute als das Geld, das sie baldmöglichst Emilia schicken wollte, war die Befreiung von ihren Mädchendiensten und der Unterricht, den sie stattdessen erhielt. Jeden Morgen stand sie leise auf und schlich zur Waschschüssel, um die anderen Mädchen nicht zu wecken. Längst wunderten sich die Lakaien und Gardisten nicht mehr, wenn sie Elin vor der königlichen Bibliothek warten sahen. Um halb sechs Uhr morgens begann der Hauslehrer mit dem ersten Unterricht. Manchmal, wenn die Arbeit ihr eine Pause bot, kam sogar Kristina mitten am Tag in die Bibliothek, lauschte Elins Lektionen oder wies den Lehrer zurecht. Nach und nach entschlüsselte Elin das Mysterium der Schrift. Die Bücher verwandelten sich in Berge von Wissen, die sie allerdings nur mühsam Buchstabe für Buchstabe erklimmen konnte.

In ihren Träumen wurde Elin von dem Mann mit dem Federhut heimgesucht und aus dem Schlaf geschreckt. In diesen Stunden lauschte sie dem pfeifenden Atmen der anderen Mädchen und wagte nicht, zum Fenster zu gehen. Längst waren die Wunden an ihren Händen verheilt, doch der Gedanke an den Mann, der immer noch nicht gefunden worden war, jagte ihr Angst ein. Möglicherweise lebte er am Hof und stand in den Diensten eines Adligen. Verstohlen begann Elin damit, die Menschen im Schloss besonders aufmerksam zu beobachten. Oxenstierna mit seiner ruhigen Art und seinem brütenden Groll erschien ihr ebenso verdächtig wie die anderen Mitglieder des Rats – mit Ausnahme von Magnus und dem Reichsadmiral Karl Karlsson Gyllenhielm, die der Partei der Königstreuen angehörten.

Wenn die Königin im großen Audienzsaal Vertreter der Stände empfing, stand Elin neben der Tür in der Nähe der Gardisten und ließ ihren Blick über die Gesichter wandern. Unter dem gewaltigen Thronhimmel am Ende des Raums sah Kristina winzig aus, ihre Stimme aber war laut und bestimmt. Elin staunte über die Fähigkeit der Königin, auf alle Fragen mit dem gleichen Ernst einzugehen, die Bauern zu besänftigen, die Bürger zu ermutigen, die Adligen nicht zu verärgern und ihnen dennoch keine Zusagen zu machen. Als eine ganze Delegation von Geistlichen und Adligen erschien und sich lauthals darüber beschwerte, dass der französische Botschafter im Keller seines Hauses katholische Messen abhalten ließ, die auch die anderen Ausländer aus der Stadt besuchten, schaffte Kristina es, die Situation nicht eskalieren zu lassen, sondern alle Parteien zu besänftigen. Weniger Glück hatte sie bei der Verleumdungskampagne gegen Adler Salvius, der von den Adligen als gewinnsüchtiger Bauernsohn geschmäht wurde. Als Kristina in einer Ratssitzung bemerkte, Salvius würde im Reichsrat gute Dienste leisten, bekam der sonst so ruhige Oxenstierna einen Wutanfall, der bis vor die Türen des Versammlungssaals zu hören war. Nach solchen Sitzungen zog sich die Königin erschöpft in die Bibliothek zurück und las schweigend in einem Buch, während Herr Freinsheim Elin unterrichtete.

Herr Freinsheim war der liebenswürdigste Herr, den Elin je kennen gelernt hatte. Der protestantische Bibliothekar hatte eine angenehm ruhige Stimme. Ursprünglich stammte er aus Ulm und hatte lange an der Universität in Uppsala unterrichtet. Sein Humor war nicht so scharf und spottend wie der von Kristina. In seiner Gegenwart lernte Elin, wie schnell die Zeit verfliegen konnte.

Für die französischen Gäste dagegen wurde die Zeit am Hof immer länger. Der Winter begann sie zu zermürben. Die Kavaliere verlegten sich darauf, im Schloss Scherze zu treiben oder Streit anzuzetteln. Elin hatte rasch gelernt, ihnen aus dem Weg zu gehen. Inzwischen kannte sie das Schloss so gut, dass sie innerhalb von Sekunden unsichtbar werden konnte. Nur während ihrer Reitstunden sah sie Henri ab und zu aus dem Fenster schauen, aber sie hatte beschlossen, ihn zu ignorieren, was ihr nach einer Weile auch gut gelang. Spelaren tanzte inzwischen unter ihr wie eine gespannte Bogensehne und Lars nahm sie zu Ausritten an die Ufer des Mälarsees mit.

Schnee stob, wenn das schwere Pferd in großen Sprüngen hinter dem viel schnelleren Ross des Reitlehrers hergaloppierte.

»Nicht übel, Scheuerfräulein«, sagte Lars eines Tages nach der Reitstunde. »Wenn du Glück hast, nimmt die Königin dich nächste Woche auf die Schlittenjagd mit.«

Elin strahlte und klopfte Spelarens Hals.

»Darf ich dann Enhörning reiten? Nur für diesen einen Tag! Dann muss ich nicht hinter den anderen herhinken.«

»Gib es endlich auf«, murrte er. »Wie oft soll ich es dir noch sagen: Enhörning bekommst du in tausend kalten Wintern nicht. Er erscheint sanft wie ein Lämmchen, aber wenn er freies Land sieht, verwandelt er sich in ein Schlachtross.« Elin kannte den gereizten Tonfall ihres Reitlehrers nur zu gut, um noch weiter auf ihrem Wunsch zu beharren.

Mit glühenden Wangen kehrte sie in die Bibliothek zurück, wo Freinsheim sie schon erwartete. Der Lehrer schüttelte lächelnd den Kopf und zog ein langes Pferdehaar von ihrem Ärmel.

»Du bist spät«, sagte er mit sachtem Tadel. Atemlos entschuldigte sich Elin und nahm am Tisch Platz. Zu ihrer Überraschung klatschte Freinsheim zweimal in die Hände und hob die Stimme.

»Und Sie, Monsieur Henri, werden bestimmt bereits im Palast Makalös erwartet.«

Elin fuhr herum und erstarrte. Henri de Vaincourt wandte nur zögernd den Blick von einer Sternkarte, die er eingehend betrachtet hatte, und lächelte Freinsheim verlegen an. Er war so versunken darin gewesen, die Planeten und Sterne zu studieren, dass er sich jetzt offenbar nur langsam daran erinnerte, wo er sich befand. Elin irritierte sein Anblick – die Person, die sie hier sah, war kein hochmütiger Edelmann, sondern ein junger Mann mit traurigen Augen.

»Sicher, Monsieur Freinsheim«, entgegnete er mit sanfter Stimme. Dann wandte er sich Elin zu. »Sieh an. Die Küchenkönigin lernt in den Buchstaben herumzurühren.«

Von einer Sekunde auf die andere schoss Elin das Blut in die Wangen. Sie widerstand der Versuchung, das Tintenfass zu nehmen und es Henri ins Gesicht zu werfen.

»Wenn ich die Buchstaben nur halb so gut beherrsche wie andere Leute ihr Pferd, dann bin ich wirklich eine Königin«, entgegnete sie. »Die Königin der Schriften.«

Henris Lächeln verschwand. Sie freute sich, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung getroffen hatte.

»Interessant, dass Sie es ansprechen, Mademoiselle«, sagte Henri. »Ich hörte, Sie begleiten uns mit Ihrem altersschwachen Wallach zum Schlittenturnier. Es wird Ihnen sicher ein Vergnügen sein, den Schweif meines Pferdes zu bewundern – vorausgesetzt, Sie erkennen ihn auf die große Entfernung.«

Sein Lächeln flammte wieder auf, als er ihr empörtes Gesicht sah. Nun, so leicht würde sie sich nicht geschlagen geben.

»Das letzte Mal sah ich nicht nur den Schweif Ihres Pferdes, sondern darunter auch Ihr Gesicht. Eine eigenwillige Methode, Schnee zu essen.« Freinsheim legte seine Hand auf Elins Schulter.

»Genug jetzt«, sagte er freundlich. »Auch Feindschaften wollen behutsam gepflegt sein. Wollen Sie sich nicht die Hände reichen und Ihre Differenzen lieber auf einem Schachbrett austragen?«

»Feindschaft, Monsieur Freinsheim?«, erwiderte Henri. »Eine Küchenmagd kann nicht mein Feind sein. Auch dann nicht, wenn sie wie ein Äffchen Kunststücke wie das Lesen und das Reiten lernt.«

Er verbeugte sich und ging mit raschen Schritten aus dem Saal.

»Nein, nein, nein, Elin«, sagte der Bibliothekar. »Bücher sind zwar Waffen, aber dennoch nicht zum Werfen da.« Sacht wand er ihr das Buch, das sie fest umklammert hatte, aus der Hand.

»Den Globus sollte man ihm an den Kopf werfen. Was bildet der sich ein!«, erboste sich Elin. »Er ist so … eitel! Und widerlich, arrogant und …«

»… vor allem noch sehr jung. Er hat es nicht leicht, glaube mir.«

»Was hat er denn schon für Sorgen? Ob er einen Goldknopf mehr oder weniger am Wams hat?«

Freinsheim lächelte wohlwollend.

»Nimm die jungen Männer nicht zu ernst, Elin. Sie sind viel zu stolz und dazu hitzköpfig wie junge Pferde – und du bist auch nicht viel besser.«

»Immer noch besser als er!«

Der Bibliothekar runzelte die Stirn.

»Keine Adlige zu sein, heißt nicht, ein besserer Mensch zu sein«, wies er sie ernst zurecht. Elin machte den Mund zu und schwieg. Verbissener denn je vertiefte sie sich an diesem Tag in das Studium der Buchstaben, die sich anstellten wie eine Schafherde, die auseinander stob, sobald Elin sie zu fangen versuchte. Selbst nachdem Freinsheim gegangen war, blieb sie noch mehrere Stunden über ihren Büchern sitzen. Jedes Mal, wenn sie zur Kerze blickte, schien jemand ein großes Stück davon abgeschnitten zu haben. Schließlich, als ihre Augen schon brannten, griff sie zum Federkiel und nahm ein Stück Pergament. Behutsam tunkte sie den angespitzten Kiel in die Tinte, setzte die Spitze auf das Blatt und schrieb.

Liebe Emilia,

Das Schreiben wollte auch nach den Wochen der Übung nicht so recht gelingen. Ihr Federkiel spreizte sich unter dem Druck ihrer ungelenken Schreibhand.

Ich hoffe, Dein Herz schmerzt nicht mehr.

Mir

Erschöpft hielt sie inne und blickte zweifelnd ihr Gekritzel an. Es sah aus, als wäre eine betrunkene Spinne erst in die Tinte gefallen und dann über das Blatt gehumpelt. Wie gerne hätte sie Emilia all das geschrieben, was ihr auf dem Herzen lag – tausend Momente, Ereignisse, Gespräche, tausend Zweifel und Sorgen, die sie nachts nicht schlafen ließen. Stattdessen setzte sie den Kiel wieder an und beendete das Schreiben: geht es gut.

Der Raum schwankte, die schattigen Gespenster feixten im zitternden Kerzenlicht. Elin rieb sich die Augen und starrte auf die Landkarte der neuen Welt, die an der Wand hing. Da waren sie – die Americas, die Africas, das Kap der Stürme und Terra Australis. Länder und Kontinente, die sie nie sehen würde. Müde stand Elin auf und schlich aus der Bibliothek.

In der Nähe der königlichen Gemächer blieb sie verwundert stehen. Ihre Nase kitzelte. Es roch … nach verbranntem Holz? Sie lief die Treppe hinauf und erschrak. Rauch quoll unter einer Türritze hervor. So schnell, dass sie beinahe gestürzt wäre, rannte Elin die Treppe wieder hinunter und hämmerte an die Türen der Gemächer.

Wenig später war das Schloss in heller Aufruhr. Lakaien, Gardisten und Reitknechte wimmelten durcheinander. Aus Küchen und Ställen wurden Eimer herbeigeschafft. Die Küchenmädchen wurden aus dem Schlaf gerissen und kamen herbeigerannt, um beim Löschen zu helfen. In dem Chaos dauerte es eine ganze Weile, bis man eine Löschkolonne gebildet hatte, die sich lückenlos bis zum Brunnen erstreckte. Eimer um Eimer wurde hochgeholt. Inzwischen schlugen die Flammen aus mehreren Räumen im Verwaltungstrakt und den Gemächern der Königin. Elin stand mitten auf der Treppe. Ihre Arme waren längst lahm. Es war sicher schon der fünfzigste Eimer, den sie weiterreichte. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie am Fuße der Treppe Kristina – unversehrt, immer noch in ihrer Tageskleidung. »Lasst die verdammten Wandteppiche!«, schrie sie mit rauer Stimme. »Rettet die Akten!«

»Geben Sie her, Mademoiselle!« Der volle Eimer wurde Elin aus der Hand gerissen. Erst als der junge Mann im Studentenrock ihr flüchtig zulächelte, wusste sie, woher sie seine Stimme kannte. Es schien Jahre her zu sein, dass sie in Uppsala Schnee für die Küche geholt hatte.

»Hampus? Was machst du denn hier?«

Irritiert runzelte er die Stirn. Elin wurde klar, dass er sie mit ihrem rußverschmierten Gesicht nicht erkennen konnte.

»Arbeiten. Und studieren. Mademoiselle, der Eimer!«

Erst gegen Morgen war der Brand gelöscht. Zurück blieben Haufen von versengten, durchnässten Teppichen und verkohlten Tischen und Stühlen. Jeder, der mit anfassen konnte, half dabei, die Trümmer in den Hof zu schleppen. Die wenigen Gardinen, die durch das Löschwasser vom Feuer verschont geblieben waren, hingen starr gefroren in den verwaisten Räumen.

»Auch hier sind keine Akten beschädigt worden«, stellte Ebba Sparre fest. Ihre Hände waren schwarz von Ruß. An der Stelle, an der sie sich eine Locke hinter das Ohr gestrichen hatte, prangte ein dunkler Streifen wie eine kunstvolle Verzierung. »Ich wusste es«, flüsterte sie immer wieder. »Die Gespenster haben das Unglück angekündigt.«

»Dann kannst du jetzt ja wieder ruhig schlafen«, sagte die Königin. »Das Unglück ist passiert.« Obwohl sie beherzt klang, sprach ihr Körper eine andere Sprache. Mehrmals fielen ihr Gegenstände aus den Händen und als Elin herbeisprang, um sie aufzuheben, scheuchte die Königin sie unwillig weg. »Belle, sei so gut und hole ein paar Diener«, wandte sie sich schließlich an Ebba. »Sie sollen zusehen, dass der Kamin wieder in Gang kommt, bevor uns die Wände durchfrieren.« Kaum hatte die Hofdame den Raum verlassen, wurde Kristina aschfahl und schwankte. Elin konnte sie gerade noch stützen.

»Hast du die Fenster gesehen, Mädchen?«, flüsterte sie. Elin nickte.

»Sie waren alle weit geöffnet. Jemand wollte das Feuer nähren.« Kristina lächelte matt und stützte sich schwer auf das verkohlte Fensterbrett. »Beneidest du mich immer noch um mein Los als Königskind?«

»Wer will Sie töten?«

»Wer will es nicht? Meine eigenen Adligen, die um ihre Lehen und Privilegien fürchten und das Königtum am liebsten abschaffen würden? Oder vielleicht Geistliche, die nicht dulden, dass Katholiken an meinem Hof sind? Bürger oder Bauern? Möglicherweise war es sogar ein Agent der polnischen Wasa, die nur darauf lauern, dass Schwedens Thron verwaist ist. Dann könnten sie ihre eigenen Erbansprüche geltend machen.«

»Der Thron ist nicht verwaist«, sagte Elin. »Sie leben.«

»Fragt sich nur, wie lange noch«, erwiderte die Königin in ihrer trockenen, harschen Art. Nachdenklich starrte Elin auf das verschmierte Fensterglas. Erst jetzt erkannte sie, dass sich ein Handabdruck darauf abzeichnete – der Ruß machte die Fingerspuren sichtbar.

»Bauern waren es sicher nicht«, sagte sie leise. »Der Mann vor Jüterbocks Haus war besser gekleidet.« Kristina musste nah herangehen, um mit ihren kurzsichtigen Augen die Fingerabdrücke zu erkennen, auf die Elin deutete.

»Als ich ihn sah, hielt er den kleinen Finger betont abgespreizt«, erklärte Elin. »Und ich habe beobachtet, dass ein Mensch, der auf eine Wand schreibt, seine Hand auf Augenhöhe hält. Wenn der Attentäter beim Öffnen des Fensters ebenso gehandelt hat, würde auch die Größe passen.«

Nach dem Brandanschlag wurde die Königin krank und litt an Schüttelfrost und Fieber. Fräulein Ebba wachte an ihrem Bett, um ihr die Stirn abzuwischen, wenn die Fieberträume sie unruhig schlafen ließen. Gerüchte trieben durch das Schloss. Die Königin liege im Sterben, hieß es. Als Kristinas Kammerdiener Johan Holm erschien und Elin zur Königin bat, war sie überzeugt davon, dass es zu Ende ging. Da ihre Privatgemächer ausgebrannt waren, hatte man die Königin in einem anderen Flügel des Schlosses untergebracht. Elin erwartete, eine Atmosphäre behutsamer Stille vorzufinden, stattdessen erklang von weitem eine laute Stimme. Mit betretenem Gesicht blieb Holm stehen und bat Elin mit einer höflichen Geste, sich zu gedulden. Die Gardisten lauschten gespannt.

»Nie werde ich meine Unterschrift unter diesen Beschluss setzen!«, donnerte die Stimme des Kanzlers Oxenstierna. »Solange ich lebe, werden die Reichsräte und der Reichstag ihn nicht als Thronerben anerkennen!«

»Karl Gustav ist die beste Wahl!«, gab die Königin zurück. Das klang nicht wie die Stimme einer schwachen Kranken.

»Es war schwer genug, den Rat davon zu überzeugen, dass dieser Pfalzgrafensohn Ihr Gemahl werden soll«, rief der Kanzler. »Dann allerdings sagten Sie, Sie würden keinen Mann unter Ihrem Stand heiraten, also soll Karl Gustav nun zum Oberbefehlshaber der schwedischen Truppen in Deutschland ernannt werden. Sogar dieser Wunsch wurde vom Rat respektiert. Aber Karl Gustav will nicht nach Deutschland. Er will Sie endlich heiraten!«

»Eine tote Braut nützt weder ihm noch Schweden«, erwiderte Kristina. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Erst das Attentat in der Kirche vor einigen Monaten – nun der Brandanschlag. Begreifen Sie denn nicht, dass Schweden für den Fall meines Todes einen Nachfolger braucht?«

Oxenstierna senkte die Stimme.

»Einen Erben braucht Schweden.«

»Nicht von mir!«, schrie Kristina. »Niemals werde ich heiraten! Nie!«

In der Pause, die entstand, kam es Elin so vor, als würde die Zeit stehen bleiben.

»Nun, Kristina«, sagte der Kanzler schließlich. »Sie sind jung. Das Privileg der Jugend ist es, dass sie sprunghaft sein darf und ihre Meinungen immer wieder ändern kann.«

Elin überraschte der väterliche Tonfall des Kanzlers. Ein Scharren war zu hören und sie drückte sich in die Ecke. Mit großen Schritten verließ der Kanzler das Gemach der Königin. Wie immer trug er seine schwarzen Gewänder und den weißen Männerkragen. Aus seinen Bewegungen sprach Resignation. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie alt doch der eiserne Kanzler war.

Wenig später winkte ihr der Kammerdiener, in das Schlafzimmer der Königin zu kommen. Dort lag Kristina in einem riesigen Bett. Auf den Bettvorhängen waren in regelmäßigen Abständen goldene Kronen aufgestickt. Die Königin war blass, schwarze Schatten lagen unter ihren Augen. Ihre Nase ragte wie ein Habichtschnabel aus ihrem Gesicht. Sobald sie Elin sah, setzte sie sich auf und schickte mit einem Wink den Kammerdiener weg.

»Elin. Was machst du nur für ein Gesicht! Komm her und gib mir deine Hand!« Alle Kraft war aus ihrer Stimme gewichen. Elin umfasste die kalte, feuchte Hand.

»Ich habe ein Geschenk für dich«, flüsterte Kristina. »Du findest es auf dem Tisch.« Elin drehte sich um und entdeckte ein schmales Buch. »Trost der Philosophie«, las sie auf dem Titel. Behutsam zog Kristina Elin zu sich hinunter, bis sie ihr ins Ohr flüstern konnte.

»Schlag es auf und suche zwei verbundene Seiten! Zwischen ihnen findest du einen Brief. Hebe ihn auf und verstecke ihn gut – und wenn ich sterben sollte, dann bringe ihn unverzüglich zu Karl Gustav. Hörst du? Zu keinem anderen!«

»Sie werden nicht sterben!«

Die Königin lächelte schwach.

»Ich habe es nicht vor, aber man muss stets für alle Fälle gerüstet sein.«

»Sie müssen den Mann finden, der Ihre Gemächer in Brand gesteckt hat.«

Kristinas Lachen ging in ein Husten über.

»Natürlich suchen wir ihn. Aber soll ich alle Männer, die einen Federhut tragen, verhaften lassen?«

»Nein«, antwortete Elin. »Aber er wird sich dort aufhalten, wo er glaubt, dass Sie sind.«

Kristina zog die Brauen zusammen.

»Ich höre«, sagte sie leise.

»Inzwischen weiß jeder im Schloss, dass in wenigen Tagen das Schlittenturnier für die Damen stattfindet und dass die Kavaliere am Mälarsee zur Jagd gehen werden. Lars sagte mir, Sie reiten immer auf der Jagd mit.«

»Diesmal nicht. Magnus und Karl Gustav werden meine Gäste begleiten.«

»Vielleicht wäre es klug, wenn Sie verlautbaren ließen, dass Sie doch an der Jagd teilnehmen. Dann könnte ich Ausschau nach ihm halten.«

»Wer sagt, dass du an der Jagd teilnehmen darfst!«, fuhr Kristina sie an. »Du kannst noch nicht gleichzeitig auf dein Pferd und auf die anderen Reiter achten. Wozu habe ich Gardisten und Vertraute?«

»Aber ich bin die Einzige, die dem Mann schon einmal begegnet ist. Auch wenn ich sein Gesicht nicht gesehen habe, würde ich ihn erkennen – da bin ich ganz sicher!«

»Meine Soldaten sind durchaus in der Lage, verdächtige Personen zu erkennen. Dazu brauche ich verdammt noch mal kein kleines Mädchen.«

»Aber …«

»Kein Aber! Du bleibst im Schloss.« Elin drängte die Tränen der Enttäuschung zurück. Die Königin schloss die Augen. Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Sie entzog Elin ihre Hand und krümmte sich zusammen.

»Sag meinem Diener, er soll Doktor van Wullen holen«, sagte sie nach einer Weile leise.

Der Leibarzt der Königin, der gleich darauf erschien, trug eine Perücke, die ihm bis über die Schultern fiel. Unter dem Arm hielt er einen lederbespannten rechteckigen Kasten. Mit schnellem Schritt ging er zum Bett der Königin und beugte sich über sie. Elin blieb neben der Tür stehen, das Buch mit dem kostbaren Brief an sich gepresst. Mit einem Murmeln antwortete die Königin dem Leibarzt auf seine Fragen.

»Schmerzen«, flüsterte sie. »Hier.« Van Wullen nickte.

»Wie immer das linke Hypochondrium«, sagte er streng. »Sie leiden an zu viel gelber Galle, die sich mit schwarzer Galle vermengt. Ihr Magen ist geschädigt. Und wenn ich mich nicht irre, sehe ich auch schon die Ursache, Majestät.« Mit diesen Worten beugte er sich über das Tischchen neben Kristinas Bett und hob einen weißen Krug hoch. Angewidert roch er daran und schüttelte den Kopf.

»Schon wieder Wasser, Majestät. Ich sagte Ihnen bereits, dass es Ihr Blut verdirbt. Mit ihm dringen schädliche Stoffe in Ihren Körper und verunreinigen die Körpersäfte. Haben Sie denn nicht den gepfefferten Branntwein getrunken, den ich Ihnen bringen ließ?«

Die Königin schüttelte den Kopf. Jetzt wurde van Wullen ernsthaft wütend. Mit einer akkuraten Bewegung klappte er den kleinen Kasten auf. Schimmernde Zangen, Nadeln und Skalpelle kamen zum Vorschein. Van Wullen suchte das Aderlassbesteck heraus.

»Das schlechte Blut muss abfließen.«

Von einem weiteren Tisch holte er eine Schüssel und entnahm dem Kästchen ein Lederband, das er der Königin um den Oberarm schlang. Behutsam schob er die Schüssel unter den Ellenbogen. Schlaff hing Kristinas Arm über den Bettrand nach unten. Mit einem routinierten Griff ertastete der Arzt eine Stelle in der Armbeuge. Die Lider der Königin zuckten nicht einmal, als das Skalpell in ihre Haut fuhr. Blut begann zu fließen und sammelte sich in der Schale.

»Sie sollten keinen Besuch mehr empfangen«, sagte der Arzt. »Es strengt Sie zu sehr an. Auch so wird es lange dauern, bis Sie sich erholt haben.«

»Sie irren sich«, antwortete Kristina mit geschlossenen Augen. »Ich werde an der Jagd teilnehmen!«

Im Innenhof des Schlosses ging es zu wie auf einem Marktplatz. Mit offenem Mund betrachtete Elin den prachtvollen Schlitten der Familie Oxenstierna. Der Reichskanzler und sein Vetter, der Schatzkanzler Gabriel Oxenstierna, waren in altehrwürdigem Ornat erschienen und boten ihren Damen die Plätze in zwei mit rotem Leder bespannten Schlitten an. Adelsherren aus dem Reichsrat waren mit ihren Töchtern und Frauen ebenso vertreten wie deren Söhne auf Streitrössern, die nicht minder jung und aufbrausend waren wie ihre Herren.

Die halbe Nacht lang war Elin immer und immer wieder ihren Plan durchgegangen, doch immer noch schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Der Reitmantel einer Hofdame, den sie ohne Lovisas Erlaubnis aus einer der Kleidertruhen entwendet hatte, zog schwer an ihren Schultern. Hoffentlich hatte sie an alles gedacht! Freinsheim glaubte, sie müsse Lovisa helfen, Lovisa hatte sie gesagt, sie sei in der Bibliothek, und Fräulein Ebba, die heute bei der Königin blieb, hatte sie weisgemacht, sie halte sich bei Helga auf. Und Helga würde sagen, Elin sei morgens in der Küche gewesen, wenn jemand fragen würde. Jetzt durfte nur Lars sie nicht entdecken! Verstohlen zog Elin den Hut tiefer in die Stirn. Ihr helles Haar war gut verborgen, ein Tuch aus dunkler Seide ließ es noch weniger auffallen.

Hufgeklapper brach sich an den hohen Wänden. Endlich entdeckte sie einen von den Reitknechten und winkte ihn heran.

»Wo bleibt das Pferd?«, rief sie ihm zu. »Die Königin wartet!«

Der Bursche erschrak. »Die Königin? Aber reitet sie denn nicht ihren Ardenner?«

Elin musste sich überwinden, ihrer Stimme einen scharfen Klang zu geben.

»Seht ihr ihn hier irgendwo? Nein, sie hat Graf Magnus ausdrücklich um Enhörning gebeten. Also?«

Würdevoll richtete sie sich auf. Der Reitknecht runzelte die Stirn. »Gut«, sprach sie in gereiztem Ton. »Nenne mir deinen Namen, damit ich weiß, was ich Reitmeister Lars Melkebron sage, wenn er fragt, warum er Enhörning persönlich satteln muss.«

Es war beinahe zum Lachen, wie gut ihre Täuschung funktionierte. Der Bedienstete wurde knallrot.

»Ich hole das Pferd«, stammelte er.

»Beeile dich!«, rief sie ihm hinterher. »Und nimm den Männersattel!«

Rasch trat sie in den Schatten eines Arkadengangs zurück und wartete. Ihr Mund war trocken vor Aufregung, aber sie erwiderte das Lächeln eines jungen Adligen, der sie wohlwollend musterte. Gleich darauf warf sie ihm einen zweiten verstohlenen Blick zu. Nein, er war sicher nicht der Mann mit dem Federhut. Wenn nur niemand sie erkannte, bis sie das Schloss verlassen hatte! Um sich die Zeit zu vertreiben, betrachtete sie die Schlitten. Über vierzig waren es – schmale, bunt bemalte Holzschlitten, vor die je ein Pferd gespannt war. In den meisten Gefährten fand nur eine Person Platz. Hölzerne Meerespferde, aber auch geschnitzte Schwäne, Meerjungfrauen und Hirsche schmückten die Schlitten. An den Seiten waren die Wappen der schwedischen Adelshäuser aufgemalt. Die Gesellschaft, die sich im Hof versammelt hatte, war nicht weniger bunt. Graf Per Brahe, der Hofmarschall, hatte ein weißes Pferd vor seinen Schlitten gespannt und trug passend dazu einen mit weißem Pelz verbrämten Mantel. Zobelpelz und Fuchsfell glänzten im Fackelschein. Endlich wurden auch die Reitpferde der Damen in den Hof geführt. Es waren nicht viele Damen, die reitend an der Jagd teilnehmen würden. Elin zerknüllte vor Aufregung ihre Handschuhe. Endlich – da war ihr Pferd! Enhörning reckte den Hals und spitzte die Ohren. Der Reitknecht, der ihn führte, war völlig außer Atem. Im vorderen Teil des Hofes knallten die ersten Peitschen, Schlitten setzten sich in Bewegung. Als der Festzug den Hof verließ und zum Westtor fuhr, erhoben sich hinter den Fensterscheiben unzählige Arme und winkten dem Tross hinterher. Elin eilte zu dem Reitknecht und griff nach Enhörnings Zügeln.

»Aber wo ist … ich dachte, die Königin?«, stammelte der Bedienstete.

»Sie ist eben zu Herrn Brahes Schlitten gegangen«, zischte Elin ihm zu. »Vorher sagte sie noch etwas wie: ›Wenn ich den Burschen erwische, der mein Pferd nicht bereitgestellt hat, werde ich seinen Kopf über dem Südtor aufspießen lassen.‹ Ich führe das Pferd zu ihr – oder willst du, dass sie dich sieht und weiß, wer für die Verspätung verantwortlich ist?«

Der Junge überließ ihr die Zügel, als hätte er sich daran verbrannt. Elin spürte seinen verängstigten Blick noch, als sie den Hof schon halb überquert hatte. Enhörning folgte brav dem Zug des Zügels, bis sie ihn an der Arkadentreppe zum Stehen brachte. Sie musste drei Stufen hochsteigen, um den Steigbügel zu erreichen. Das Pferd trappelte auf der Stelle. Elin erschrak, doch dann nahm sie allen Mut zusammen, fasste die Zügel und stieg auf.

In den Werkstätten, an denen sie vorüberritten, brannten Kerzen, die die Finsternis des Morgens vertreiben sollten. Enhörning bewegte sich geschmeidig wie eine Katze. Überrascht stellte Elin fest, dass das Streitross viel leichter zu reiten war als der plumpe Spelaren. Ihre Sicherheit wuchs und sie holte in federndem Trab zu dem Tross auf. An jedem Fenster erschienen Gesichter und bestaunten das Schauspiel auf der Straße. Kinder folgten dem Konvoi und kreischten begeistert, zwischen den Beinen Stöcke oder Besen, die in ihrer Vorstellung zu feurigen Reittieren wurden. »Die da – die reitet wie ein Mann!«, rief ein kleiner Junge. Elin winkte dem Kind zu und lächelte.

Zahlreiche Hufspuren am Ufer des Mälarsees zeigten, wo vor einigen Stunden die Diener bereits vorausgeritten waren, um den Turnierplatz herzurichten. Fackeln und Laternen erhellten den Teil des Sees, auf den sie nun abbogen. Weit hinaus ging es, mitten auf die Eisfläche. Das kratzende Geräusch der Kufen würde die Barsche und Hechte aufschrecken, die tief unten im Schlamm schliefen. Elin fröstelte es bei der Vorstellung, samt ihrem Pferd im eisigen Wasser zu versinken. Wie Irrlichter vergessener Seelen leuchteten die Fackeln und tauchten den Turnierplatz in diffuses Licht.

Diener hatten bereits Ringe an Stangen aufgehängt, die es in vollem Galopp vom Schlitten aus mit Lanzen herunterzuhangeln galt. Elin ritt an jedem Schlitten vorbei, musterte den Kutscher, die Adligen, betrachtete jeden Handschuh, jeden Mann, der ihr von der Statur her bekannt vorkam. Sie erntete viele erstaunte Blicke und hörte Damen tuscheln – einen Verdächtigen fand sie jedoch nicht. Schließlich wandte sie sich von den Schlitten ab und sah sich nach der Jagdgesellschaft um. Enhörning riss den Kopf hoch, als hätte er ihren Schreck gespürt.

Henri de Vaincourt saß auf einem weißen Koloss von einem Pferd, dessen Brust so breit wie eine Truhe war. Elin zwang sich zu einem freundlichen Gruß. Henris Blick glitt fassungslos über Enhörning.

Das Lächeln, das Henris Vater ihr schenkte, glich einem Zähnefletschen. Heute hatte der alte Mann nichts Feines an sich – er sah aus wie ein Haudegen auf dem Schlachtfeld.

»Ah, Mademoiselle! Wie ich sehe, begleiten Sie uns heute auf dem Ausritt in die Wälder, statt an den Spielen teilzunehmen?«

Enhörning spürte ihre Nervosität und begann zu tänzeln.

»Schlittenfahrten sind nichts für mich«, erwiderte Elin.

»Ich bezweifle, dass Streitrösser eine bessere Wahl sind«, gab der Marquis zurück. Er warf seinem Sohn einen stechenden Blick zu. Elin fasste die Zügel fester und rang sich ein nervöses Lächeln ab. Ein Horn erscholl, die Reiter verabschiedeten sich von der Schlittengesellschaft und sammelten sich am Ufer des Sees. Vogelflinten wurden geprüft. Elin lenkte Enhörning zu der Gruppe. Ihre Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt. Drei weitere Frauen im Damensattel fanden sich ein und schüttelten die Köpfe über Elins Sattel.

»Wie kommt es, dass mein Sohn nicht mit einem Pferd fertig wird, das sogar eine Bauernmagd reiten kann?«, zischte der Marquis dem jungen Grafen zu. »Warum sitzt du heute nicht auf dem Gaul?«

»Wie Sie wissen, Vater, musste ich Mutter versprechen, dieses Pferd nicht mehr zu reiten.«

Die Stimme des alten Vaincourt vibrierte vor Verachtung.

»Memme«, stauchte er seinen Sohn zusammen. »Soldaten fragen nicht nach ihren Müttern, wenn es um Pferde oder Waffen geht. Ein Weib bist du! Nun, das Schlachtfeld wird dich bald lehren, als Feigling zu sterben oder als Mann zu leben.«

Elin schämte sich, Zeuge einer solchen Demütigung zu werden. Irgendwie tat ihr Henri sogar ein wenig Leid. Rasch trieb sie Enhörning an und schloss zu den vorderen Reitern auf. Auch hier war niemand, der dem Mann mit dem Federhut ähnelte. Wieder ertönte das Horn. Die Reiter johlten und gaben das Zeichen zum Galopp. Enhörning legte die Ohren an und schoss davon. Elin hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, was für große Sätze das Pferd machte. Der Schreck dauerte nur kurz, dann hatte sie mit einem Mal das Gefühl, auf Wolken zu reiten.

Unter ihr flog der Boden dahin. Sie überholte die anderen Reiter, die ihr zuriefen, ihr Pferd zu zügeln. Die Wälder am Mälar trugen Schleier aus Reif – die sanfte Morgensonne tauchte sie in märchenhaftes Licht. Elin atmete die Winterluft ein und war glücklich. Erst als unmittelbar hinter ihr regelmäßige Hufschläge erklangen, blickte sie sich um. Es war Henri de Vaincourt.

Verbissen trieb er seinen Schimmel an. Elin drückte Enhörning die Fersen in die Flanken. Der Hengst spannte sich – und brach zur Seite aus! Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und wäre beinahe vom Pferderücken gestürzt. Höhnisch winkte ihr der peitschende Schweif von Henris Schimmel zu. Der Graf blickte über die Schulter und grinste. Auf der Stelle vergaß Elin den Mann mit dem Federhut, sie vergaß jede von Lars’ Lektionen und riss Enhörning herum. Die Wut durchströmte sie so jäh und heftig, dass ihre Wangen heiß zu glühen begannen.

Überrumpelt von ihrem scharfen Befehl legte Enhörning die Ohren an und verwandelte sich in einen Pfeil. In weniger als zehn Atemzügen hatte sie Henri eingeholt. Ihre Blicke trafen sich. Nase an Nase preschten die Pferde in gestrecktem Galopp durch den Schnee. Hinter ihnen gellten warnende Rufe, aber Elin und Henri hatten längst den Pakt geschlossen. Schulter an Schulter ritten sie ein halsbrecherisches Rennen. Nur aus den Augenwinkeln erkannte Elin das Flattern eines Rebhuhns. Ihr Hengst brach so abrupt aus, dass die Zügel schmerzhaft durch ihre Hände ruckten. Das Pferd entglitt ihr wie ein glitschiges Seil.

Einige Sekunden lang hatte sie das Gefühl, dass sie von einem unendlich hohen Turm fallen würde, dann stürmte der Hengst wieder los. Henri verging das siegesgewisse Grinsen, als er das Streitross, das er eben überholt hatte, wieder herandonnern sah. Mit vorgestrecktem Kopf raste Enhörning an dem Schimmel vorbei und riss mit einer beiläufigen Kopfbewegung Elin die Zügel aus der Hand. Sie klammerte sich an der Mähne fest.

»Hol den Zügel!«, rief ihr Henri zu. »Der Zügel, rechts! Er hat sich am Steigbügel verfangen!« Längst konnte Elin nichts mehr sehen. Mühsam ertastete sie den Zügel und nahm ihn auf. Auf einmal bockte Enhörning mitten im Lauf. Ein Schlag warf Elin zur Seite – dann dehnte sich die Zeit zur Ewigkeit. Als stünde sie neben sich, sah sie sich aus dem Sattel fliegen. Ein peitschender Schweif streifte ihre Stirn. Dann zuckte nur noch Schmerz durch die Dunkelheit.

»Mademoiselle? Mademoiselle!« Die bange, bebende Stimme kam aus weiter Ferne. War sie in der Bibliothek? Nein, an ihrer Lippe klebte bitterer Schnee. Benommen blinzelte sie und blickte – in ein verängstigtes Gesicht. Der junge Mann hatte eine fein geformte Nase und eine schön geschwungene Oberlippe. Sein eisiger Atem zerschellte an ihrer Wange. »Das wollte ich nicht!«, flüsterte er ihr zu. »Es tut mir so Leid!« Unendlich behutsam strich ihr eine sanfte Hand über die Wange – eine Berührung, die sie lächeln ließ. Erleichterung erhellte das Gesicht. Erst jetzt fiel Elin wieder ein, woher sie den Jungen kannte. Es war Henri. Seltsamerweise fiel ihr kein schnippischer Satz ein – und auch die Wut war verschwunden. Henris Reittier stand nicht weit von ihr, der Zügel schleifte im Schnee. Enhörning war fort.

»Es … geht schon«, erwiderte sie. Das war gelogen. Ihr linker Arm fühlte sich seltsam taub an. Hufschlag ertönte, dann entsetzte Schreie. Die Schnauze eines Jagdhunds fuhr ihr über die rechte Hand. Sie blinzelte und ließ es zu, dass ihr für einige Sekunden die Wirklichkeit entglitt. Von fern hörte sie scharfe Streitworte, die sie nicht verstand. Als sie wieder mühsam in die Welt des Schnees zurückfand, stellte sie verwundert fest, dass es der alte Vaincourt und Henri waren, die sich gerade stritten.

»Lassen Sie mich in Ruhe, Vater! Gehen Sie zur Seite! Sie sehen doch, dass ich ihr helfen muss!« Mit einer Behutsamkeit, die Elin ihm nie zugetraut hätte, legte Henri den Arm um sie und bettete ihren Kopf an seine Schulter. Sie wollte protestieren, stattdessen rutschte ihr Kopf kraftlos zur Seite. Die Brokatborte kratzte an ihrer Braue. Ein vergoldeter Knopf klickte gegen ihren Eckzahn. Plötzlich hielt Henri abrupt in der Bewegung inne. An ihrer Wange spürte sie, wie schnell sein Herz schlug.

»Was … ist?«, flüsterte sie. Langsam zog er die Hand unter ihrer Schulter hervor. Blut bedeckte seine Finger. Ein roter, glänzender Handschuh – nur der kleine Finger war nicht in Elins Blut getaucht. Schlagartig wurde ihr übel. Sie musste den Kopf abwenden. Doch das, was sie stattdessen sah, war noch viel schlimmer: Im Schnee lag der zerbrochene Pfeil einer Armbrust. Rasch blickte sie weg – und fand Henris Augen. In diesem Moment, der eine Ewigkeit dauerte, machte die Angst sie beide völlig gleich. Sie waren nicht mehr Graf und Scheuermagd, sondern nur Henri und Elin. Doch dann kam der Schmerz und Elin stöhnte auf. Henri schrie nach den Gardisten und zerrte sich den Mantel von den Schultern. Mit flinken Händen ballte er den Stoff zu einem Bündel und drückte ihn gegen die Wunde. »Haben Sie keine Angst, Mademoiselle.« Trotz der tödlichen Kälte, die sich von der Wunde her ausbreitete, klammerte sie sich an der Wirklichkeit fest und versuchte, nicht wieder das Bewusstsein zu verlieren. Ein Gardist beugte sich über sie.

»Der Attentäter!«, flüsterte sie ihm zu. »Sucht den Mörder! Er hat an der rechten Hand nur vier Finger!«

Als Elin das nächste Mal die Augen aufschlug, war es nicht mehr Henris Hand, die sie umklammert hielt, sondern Kristinas. Es musste viel Zeit vergangen sein, denn die Königin sah wieder gesund und kräftig aus.

»Wir haben ihn, Elin«, sagte sie leise. »Meine Gardisten haben ihn noch am selben Tag gefunden. Und seinen Auftraggeber auch. Wie wir vermutet haben, war es ein Adliger aus dem Schloss, der mit meiner Politik nicht einverstanden ist – zumindest gehörte er weder zum Rat, noch saß er im Reichstag.«

Elin versuchte zu nicken, aber es wollte ihr nicht gelingen. Die verbundene Wunde an ihrem Rücken pochte dumpf.

»Er lag am Rand des Reitwegs auf der Lauer. Du hast Glück gehabt, dass Enhörning dich abgeworfen hat. Sonst hätte dich der Pfeil direkt ins Herz getroffen.« Die Königin musste sich über Elin beugen, um ihr Flüstern zu verstehen.

»Warum … hat er auf mich geschossen? Hat er mich wieder erkannt?«

»Nicht dich – mich!«, sagte Kristina. »Er wusste, dass die Königin am Ausritt teilnehmen wollte. Dann sah er eine Dame, die im Männersitz auf einem Streitross reitet – mit Federhut. Er dachte, du wärest ich. Nun, du siehst, dass Soldaten- und Königskinder oft das gleiche Schicksal teilen.«

Sie lachte verschmitzt und beugte sich noch weiter zu Elin. »Ab heute sind wir Schwestern! Und wer seine königliche Schwester mit dem eigenen Leib schützt, hat natürlich einen Wunsch frei.«

»Den Wunsch hebe ich mir auf, Majestät«, flüsterte Elin.

»Nicht Majestät«, sagte die Königin. »Wenn wir allein sind, bin ich Kristina.« Mit einem Lächeln setzte sie hinzu: »Trotzdem wirst du der Strafe für deinen Ungehorsam nicht entgehen.«

Suchend sah Elin sich um. Seltsam, die Tür nahm sie nur verschwommen wahr.

»Monsieur Henri?«, fragte sie. »Kann ich … ihn sehen?«

»Später vielleicht. Er lässt dir Grüße bestellen und wünscht dir gute Genesung.«

Die Wunde entzündete sich. Die Tage wurden zu einer endlosen Abfolge von wirren, schmerzdurchleuchteten Träumen. Die Gesichter an ihrem Bett wechselten wie Tänzer bei einem Menuett: Lovisa, Ebba, Doktor van Wullen und Kristina. Einmal bildete sie sich sogar ein, Madame Joulain und die Gräfin zu sehen. Manchmal, wenn Elin die Augen aufschlug, war es Tag, einen Wimpernschlag später Nacht und die Frau mit dem weißblonden Haar beugte sich über ihr Bett. Die leeren Augen eines Totenkopfs sahen Elin an – doch sie war zu schwach, um zu schreien. Sorgsame Hände wischten ihr mit nach Lavendel duftenden Tüchern den Fieberschweiß ab. Immer wieder sah sie Henri – den anderen Henri. In ihren Träumen war er nicht hochmütig, sondern strich ihr sanft über die Wange. »Keine Angst, Mademoiselle«, flüsterte er.

»Mademoiselle Schneefee!« Die Stimme gehörte nicht Emilia. Aber Emilia war es, die neben ihr lag, nach Luft schnappend und die Hand auf ihr Herz gelegt. Doch als Elin nach ihrem Arm tastete, um sie zu trösten, fühlte sich ihre Haut kalt und rau wie ein klammes Laken an. Mühsam kämpfte sich Elin ins Bewusstsein zurück und blinzelte benommen ins Tageslicht. Die Gleichgültigkeit, die wie eine Decke aus Ziegelsteinen auf ihr gelastet hatte, war von ihr gewichen. Sie schlug die Augen auf, doch statt Henri, den sie erwartet hatte, saß Hampus an ihrem Bett. Der Student schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

»Guten Morgen! Du bist es ja doch. Ohne einen Eimer in der Hand hätte ich dich beinahe nicht erkannt. Muss ich jetzt ›Sie‹ zu dir sagen?«

»Hampus«, flüsterte sie. »Was machst du im Schlafgemach einer Frau?«

»Studieren. Bei Doktor van Wullen. Aber auch wenn er mich nicht an dein Bett gelassen hätte, wäre ich hier – meine Tante, Helga, hat mir alles Mögliche angedroht, wenn wir dich nicht wieder gesund machen. Spürst du deinen Arm? Versuche ihn zu heben, geht es?«

Es tat weh, den Arm zu bewegen und der Ellenbogen war steif, aber Elin nickte matt.

»Ich muss aufstehen«, flüsterte sie. »Emilia … Sie stirbt! Ich muss …«

»Langsam, Elin. Du musst gar nichts.«

»Hampus – du musst mir helfen! Wenn du wieder in Uppsala bist, geh bitte zu Emilia!«

»Ach, du meinst diese finnische Magd mit den roten Haaren? Als ich vor zehn Tagen aus Uppsala abgereist bin, habe ich Sie am Hofbrunnen gesehen. Sie sah nicht so aus, als würde sie bald vor den Herrn treten.« Erleichtert schlief Elin wieder ein.

Es musste Tage später sein, als sie sich das erste Mal aufsetzte. Besorgt beobachtete Fräulein Ebba, wie Lovisa Elin unbarmherzig in eine sitzende Position schob und ihr half, die Beine aus dem Bett zu heben. Kristina stand mit verschränkten Armen neben der Tür.

»Was denn, so schwach?«, spottete sie und lächelte verschmitzt. »Ich habe die Köpfe der Verräter im Schlosshof aufspießen lassen, willst du sie nicht sehen?«

»Regen Sie das Mädchen nicht mit solchen Schauergeschichten auf, Majestät«, tadelte Lovisa die Königin.

»Es wird noch viel schauriger, wenn sie einen Blick aus dem Fenster wagt«, erwiderte Kristina ungerührt. »Aber so wie sie aussieht, schafft sie es nicht einmal bis zum Tisch.«

Elin biss die Zähne zusammen und schaute zum Glasfenster. Draußen schien die Sonne! Auf Lovisa gestützt machte sie einen ersten Schritt und dann noch einen weiteren. Das Zimmer schwankte, aber sie tappte weiter, bis ihre Finger das Fensterbrett berührten. Im nächsten Augenblick war schon Kristina an ihrer Seite und legte den Arm um ihre Taille, damit sie nicht in den Knien einknickte. Ihr Griff war kräftig und bestimmt. Die Berührung tat gut und fühlte sich vertraut und warm an. Sie sahen sich an. Kristina lächelte.

»Sieh nach unten und erschauere vor Furcht«, raunte sie Elin ins Ohr. »Das ist die Strafe für deinen Ungehorsam.« Unten im Schlosshof stand Lars. Ein Lächeln erlaubte er sich bei Elins Anblick natürlich nicht, aber immerhin erwiderte er ihr Winken. Bei der Handbewegung warf Enhörning den Kopf hoch. »Du hast dir das Pferd ohne Erlaubnis aus dem Stall geholt«, sagte Kristina. »Nun reite es gefälligst auch!«

TEIL III 

Das Versprechen

Irgendwann zwischen zwei Fieberträumen war das Hafeneis gebrochen. Als Elin sich das erste Mal wieder ankleidete und mit Kristina und Fräulein Ebba auf die Nordmauer ging, war ihr das Mieder zu weit geworden und aus dem Spiegel blickte ihr ein hohlwangiges Geschöpf entgegen. Unter dem linken Schulterblatt pochte die empfindliche Narbe. Stockholm erwachte aus dem Winterschlaf. Das Gewicht der Handelsschiffe brach das dünn gewordene Eis. Bizarr gezackte Eisschollen bildeten ein bewegliches Muster auf dem Wasser. Die Familie Vaincourt hatte mit dem ersten Schiff das Land verlassen und Kurs auf Polen genommen, um den dortigen Botschafter zu besuchen. Für Elin hatten sie einen höflichen Abschiedsgruß und einen Beutel mit silbernen französischen Ecus hinterlassen. Elin nahm eine Münze aus dem Beutel und betrachtete nachdenklich das bourbonische Wappenschild mit den drei Lilien und das Porträt des jungen Königs Louis XIV. Eine lange Locke fiel ihm bis auf die Schulter herab. Kristina war untröstlich über die Abreise ihrer Gäste, aber immerhin amüsierte sie Elins Enttäuschung, keine persönliche Nachricht von den Vaincourts vorzufinden. »Ja, einen Feind zu verlieren ist ein großer Verlust«, sagte sie. Elin schwieg, doch das seltsame Gefühl in der Magengrube blieb. Einen Feind zu verlieren wäre einfacher gewesen als jemanden, mit dem man einen Augenblick zwischen Leben und Tod geteilt hatte.

Mit der Schneeschmelze und den ersten Regenfällen kamen die Probleme an der Schleuse, die einzige Durchfahrt zwischen der Ostsee und dem Mälarsee und gleichzeitig die einzige Verbindung zwischen der Stadtinsel und der Südstadt Södermalm. Zahlreiche Schiffe lagen hier, hochbordige Koggen zur Ostsee hin und kleinere Boote auf der Mälarsee-Seite. Elin begleitete die Königin zur Schleuse. Kristina wollte sich davon überzeugen, dass die Schleusentore so weit wie möglich geöffnet waren. Trotzdem gab es Überschwemmungen, die viele Häuser in Söderström verwüsteten. Aus leeren Augen starrten die Gesichter der Enthaupteten vom Südtor auf die Straßen. Elin suchte nach dem Mann mit dem Federhut, aber die Hinrichtung war so lange her, dass sie auch einen vertrauten Menschen unter den verfaulten Schädeln nicht wieder erkannt hätte.

Doch das Leben wurde besser – so als hätte Elin den Preis bezahlt. Bei Hof behandelte man sie wie ein Kuriosum. Tilda und die anderen Mädchen umsorgten sie plötzlich und Oxenstierna ließ ihr als Geschenk eine kleine silberne Brosche in Form eines Pferdekopfs anfertigen. Kristina gab ihr ein eigenes Gemach, das nicht weit von ihren eigenen Privaträumen lag. Das Zimmer war so groß wie der Raum, den Elin bisher mit drei anderen Mädchen bewohnt hatte. Darin stand ein Himmelbett mit blassgrünen Vorhängen. Es war, als hätte sich Kristinas Herz geöffnet, und Elin trat dankbar und staunend ein. Sie lernte eine andere Kristina kennen – warmherzig und sorgsam und unendlich müde von den Verhandlungen und Ränkespielen. Sie lebte mit dem Schwert an der Kehle, das wurde Elin nun klar. Und einen Schwertstreich hatte sie selbst am eigenen Leib gespürt.

Es vergingen noch einige Wochen, bis Elin sich zum ersten Mal wieder in den Stall wagte. In den Nächten zuvor hatte sie immer wieder von Enhörning geträumt. Das Pferd erschien ihr in den Träumen riesenhaft, feurig und so wild, dass sie schweißgebadet aufwachte. Lars empfing sie mit einer festen Umarmung, dann aber scheuchte er sie unbarmherzig in den Sattel und ließ sie büßen. Am Ende der Reitstunde schmerzte ihre Narbe höllisch und ihre Beine zitterten vor Erschöpfung, aber sie war unendlich stolz auf sich. Im Überschwang lief sie sofort in das kleine Arbeitskabinett, das auch als Lager für die Akten diente, um Emilia zu schreiben. Neben dem Fenster stand der kleine Tisch, an dem sie das Lesen und Schreiben übte – dort stapelten sich ihre Unterlagen. Sie brauchte sich nur hinzusetzen und den Federkiel anzuschärfen. Sie war so vertieft in diese Arbeit, dass sie die Stimmen, die sich dem Zimmer näherten, anfangs nicht bemerkte. Erst als die Tür aufflog, schrak Elin hoch und erstarrte. Kristina stürmte in den Raum und warf eine Ledermappe mit Dokumenten auf den Tisch. Ihr Verlobter Karl Gustav folgte ihr.

»Warum hältst du mich hin, Kristina?«, rief er. »Was habe ich getan, um so viel Verachtung zu verdienen?«

»Wer behauptet, dass ich dich verachte?«

»Lenk nicht ab. Du verstehst mich sehr gut!« Seine Stimme bebte. Elin drehte sich wieder zur Tischplatte um und duckte sich tief über das Papier. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sollte sie sich aus der Seitentür stehlen?

»Sag mir jetzt: Wann wirst du dein Heiratsversprechen einlösen?«, donnerte Karl Gustav.

Elin stand auf, knickste tief und murmelte eine Entschuldigung. Kristina und Karl Gustav starrten sie an.

»Ich gehe schon, Ihre Majestät«, sagte Elin und rannte Richtung Tür. Kristina war schneller. Schmerzhaft schloss sich ihre Hand um Elins Handgelenk.

»Elin, du brauchst den Raum nicht zu verlassen«, sagte die Königin mit einer drohenden Höflichkeit. »Hier gibt es nichts, was hinter verschlossenen Türen besprochen werden müsste. Schreib deinen Brief.« Elin schluckte und verstand.

Sie versuchte den feindseligen Blick des Kavallerieobersts zu ignorieren und nahm gehorsam wie eine Verurteilte wieder Platz. Hinter ihrem Rücken ging Karl Gustav erregt auf und ab. Kristina räusperte sich und ließ sich Zeit mit der Antwort.

»Ich war so jung wie Fräulein Elin, als ich dir mein Versprechen gegeben habe«, sagte sie schließlich sanft. »Zu jung für solche Entscheidungen.«

»Du musst nur die Entscheidung treffen, ob du mich liebst.«

»Romantisches Gerede«, wies Kristina ihn mit sanftem Spott zurecht. »Damals im Frühling klangen unsere Schwüre schön und wahrhaftig – aber wir sind beide erwachsen geworden.«

Verstohlen wandte Elin den Kopf zur Seite und schielte zu Karl Gustav. Was sie sah, bestürzte sie. Mitleid schnitt ihr ins Herz. Da stand der Oberst, der über tausende von Soldaten befahl, hilflos wie ein verliebter Junge, der abgewiesen wurde. Er war ein fetter Kriegsherr geworden, der zu viel trank, aber Elin war es, als könnte sie den jungen Mann sehen, den Kristina gekannt hatte und der seine Cousine offenbar immer noch aufrichtig liebte. Er zog Kristina zum Fenster und senkte seine Stimme, aber Elin hatte gute Ohren.

»Ich erkenne dich kaum wieder«, sagte er heiser. »Wo ist das Mädchen, das sich heimlich mit mir verlobte und mir in seinen Briefen schwor, dass nichts uns trennen könne? Jetzt finde ich eine Frau, die den ganzen Tag mit Staatsgeschäften beschäftigt ist. Sie spricht nur noch davon, den Überseehandel auszubauen, Manufakturen zu errichten, und zerbricht sich den Kopf über Handelsverträge mit Spanien, Portugal und England.«

Mit einer Leidenschaft, die Elin ihm nie zugetraut hätte, trat er noch näher an die Königin heran. »Wir haben getanzt, Kristina«, sagte er leise. »Weißt du das nicht mehr?« Kristina sah ihn lange an. Sie war so viel kleiner als der massige Mann, dass sie zu ihm hochschauen musste. Einen Augenblick wünschte sich Elin, sie würde Karl Gustav zulächeln und ihm die Hand reichen. Doch die Königin trat einen Schritt zurück.

»Ich achte dich sehr, Karl«, sagte sie mit belegter Stimme. »Du bist mir ebenso teuer wie Belle oder Magnus …«

»Es ist also Magnus!«, brauste er auf. »Es stimmt also, was man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt! Er ist dein Günstling! Seit Monaten muss ich mit ansehen, wie du ihn mit Ehren überschüttest.«

»In erster Linie ist er verheiratet«, antwortete sie ihm. »Aber bevor du andere der Untreue beschuldigst, solltest du dir überlegen, was eine Liebe schneller abzukühlen vermag: ein Günstling oder ein im Feld gezeugter Bastard.«

Bei diesem Wort zuckte Elin zusammen.

»Also das verzeihst du mir nicht«, sagte Karl Gustav gekränkt. »Urteile nicht leichtfertig über mich und meine Treue, Kristina. Dieses Wort bedeutet im Frieden das eine, im Krieg dagegen etwas ganz anderes. Du hast nie ein Schlachtfeld mit eigenen Augen gesehen. Für dich finden die Kämpfe nur auf dem Papier statt. Abstrakte Flecken auf Landkarten, ein paar diktierte Anweisungen für die Unterhändler zwischen Ausritten und Balletten.« Unversehens war er laut geworden. Kristina senkte den Kopf und seufzte.

»Ich kann dir nicht einmal widersprechen, Karl. Verzeih mir, wenn ich dich beleidigt habe. Der wahre Grund liegt nicht bei dir – ich habe einfach eine Abneigung gegen die Ehe, die so stark ist, dass ich nicht weiß, ob ich sie je überwinden werde.« Sie richtete sich auf, was sie nicht viel größer aussehen ließ, und reckte das Kinn nach oben. »Jedenfalls wird mein endgültiger Entschluss bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag und meiner offiziellen Krönung feststehen. Bis dahin bitte ich dich, Schweigen über unsere Unterredung zu wahren. Aber auch jetzt weiß ich: Ich werde nur heiraten, wenn es aus politischen Gründen keine andere Möglichkeit gibt. Ich bitte dich als Freundin, die ich immer noch für dich bin und immer sein werde, Karl: Nimm die Stelle des Generalissimus an.«

Die Pause, die darauf folgte, verursachte Elin Übelkeit, so viel Angst hatte sie. Doch Karl Gustav war kein unbesonnener Kämpfer, er machte nicht den Fehler, seinen Zorn zu zeigen.

»Freundin«, sagte er nur bitter. »Wenn du mich nicht zum Mann nehmen willst, will ich weder dein Nachfolger sein noch dein Generalissimus. Vergiss nicht, Cousine – ich bin ein Wittelsbacher. Wir lassen uns eine solche Behandlung nicht bieten.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und schritt aus dem Raum. Hinter ihm fiel die Tür so laut ins Schloss, dass Kristina und Elin zusammenzuckten. Lange Zeit sagte keine von beiden ein Wort. Erst als Elin einen unterdrückten Laut hörte, drehte sie sich um. Ihre Finger waren taub geworden, so fest hatte sie die ganze Zeit die kleine Klinge umklammert, mit der sie den Federkiel geschärft hatte. Die Königin starrte aus dem Fenster. Ihre Augen glänzten.

»Kristina«, sagte Elin sanft. Die Königin schüttelte heftig den Kopf und hob abwehrend die Hand.

»Lass mich«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Sie wandte ihr blasses Gesicht Elin zu. »Was siehst du mich so an? Erscheint es dir denn so erstrebenswert zu heiraten?«

»Ich … weiß nicht.« Gudmunds Hof war wieder da und mit ihm die aufdringlichen Knechte und der lüsterne Blick des alten Gudmund, der nach den Mägden schielte. Und da war auch die Erinnerung an Gudmunds Tochter Madda, die bei der Geburt ihres ersten Kindes unter Schmerzen und Schreien beinahe gestorben wäre.

»Es braucht mehr Mut, sich zu verheiraten, als in eine Schlacht zu ziehen«, sagte Kristina leise. »Was erwartet eine Frau schon in der Ehe?«

»Schmerzhafte Geburten und der Tod im Kindbett«, sagte Elin.

Kristina nickte.

»Und vergiss nicht die prügelnden, betrunkenen Männer. Wenn man die Wahl hat, frei zu sein und frei zu bleiben, warum sollte man sie nicht treffen?« Nach einer Pause fuhr sie noch leiser fort: »Unsere katholischen Freundinnen haben es da besser. Sie können ins Kloster gehen, wenn sie nicht heiraten wollen.«

»Andererseits muss nicht jede Ehe unglücklich sein«, wandte Elin ein. »Emilia und Elias waren glücklich.«

Kristina fuhr herum wie eine Schlange.

»Es steht niemandem zu, mich zu bedrängen!«, schrie sie plötzlich. »Und dir am allerwenigsten!« Ihre Stimme gellte in Elins Ohren. Zorn wallte in ihr auf, so ohne jeden Grund angefahren zu werden. Sie reagierte ohne nachzudenken.

»Ich bedränge Sie nicht!«, schrie sie zurück. »Sie selbst haben zu mir gesagt, man müsse alle Seiten hören, bevor man ein Urteil fällt. Haben Sie das schon vergessen?« Sie schnappte nach Luft und wurde sich bewusst, was sie sich gerade gegenüber der Königin herausgenommen hatte. Ihr Jähzorn verebbte. Zu ihrer Überraschung ließ sich Kristina auf einen Stuhl fallen und lachte. Kopfschüttelnd musterte sie Elin und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.

»Es ist seltsam – so verschieden wir auch sind – in so vielen Dingen sind wir uns gleich. Du bist rebellisch und hast deinen eigenen Kopf. Wenn ich in dein Gesicht sehe, wenn du lachst oder wütend bist, dann glaube ich manchmal, in einen Spiegel zu blicken. Du bist mein Spiegelbild, Elin. Nur bist du nicht gefangen, so wie ich.«

»Sie sind nicht gefangen. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie befehlen – wir gehorchen.«

»Das sagst du, die tut und lässt, was ihr gefällt, und die sogar meine Befehle missachtet«, spottete Kristina. Ein schmerzlicher Zug huschte über ihr Gesicht. In solchen Augenblicken erinnerte die Königin Elin an einen Aprilhimmel – von einer Sekunde auf die andere veränderte sich das Spiel der Wolken, Sonne wechselte mit Regen, Gewitter mit Frühlingsluft und Regenbogen. »Ich beneide dich so sehr, dass du es dir gar nicht vorstellen kannst«, flüsterte Kristina. »Was ist ein König denn anderes als ein gekrönter Sklave seines Volkes?«

Tabulae anatomicae

»Lass Lovisa nicht wissen, dass ich dir erlaube, in diese Bücher zu schauen!« Hampus lächelte verschwörerisch. »Hier sind die Organe besonders schön abgebildet. Und in diesem Buch dort findest du die Skelettdarstellungen und die Muskelmänner.«

Behutsam zog der Student ein Buch zu sich heran. De humani corporis fabrica, entzifferte Elin den Titel.

Hampus schlug es auf und deutete auf einen Holzschnitt, der einen ganzen Menschen darstellte – allerdings ohne Haut. Muskeln hüllten ihn ein und hingen an einigen Stellen wie aufgeklappte Lappen vom Körper. Fräulein Ebba hätte sich bei diesem Anblick sicherlich bekreuzigt.

»In diesem zweiten Buch beschäftigt er sich fast nur mit der Muskulatur. Und hier hast du das Adernetz und die Eingeweide.« Sobald er über Medizin sprach, verschwand Hampus’ Fröhlichkeit. Elin musste lächeln, wenn sie ihn so konzentriert sah. In einigen Jahren würde er seine Patienten als ausgebildeter Arzt mit diesem besorgten Ausdruck im Gesicht das Fürchten lehren.

Elin griff nach einem anderen Buch und blätterte in den anatomischen Tafeln. Es waren Kostbarkeiten, die hier auf dem Tisch lagen. Herr Freinsheim hatte Hampus die Folianten nur in die Hand gegeben, nachdem der Student feierlich geschworen hatte, sie nicht zu beschädigen. Der Anatomist und Chirurg Andreas Vesalius hatte die Bücher vor mehr als hundert Jahren drucken lassen. Elin kannte inzwischen die Namen der meisten Organe und wusste um die Beschaffenheit der vier Flüssigkeiten, die das Temperament eines jeden Menschen bestimmten. Bei Frauen überwogen die feuchten und kühlen Elemente, bei Männern dagegen Trockenheit und Hitze. Elin wusste auch, dass sich diese Elemente bei der Königin laut Doktor van Wullen nicht im Einklang befanden, was sie so männlich und unbeherrscht erscheinen ließ. Die Analyse des Arztes war verwirrend, aber dennoch logisch – bis auf die Tatsache, dass sich Elin fragte, ob ihre eigenen Anlagen auch im Ungleichgewicht waren, denn die meisten von Kristinas Gefühlsregungen konnte sie sehr gut nachvollziehen.

Hampus rückte näher an Elin heran und beugte sich mit ihr zusammen über das Buch. Im Licht der tief stehenden Nachmittagssonne glänzte sein rotbraunes, glattes Haar wie Kupfer. Elin betrachtete verstohlen sein Profil. Ihre Schultern berührten sich leicht, als sich Hampus nach vorne beugte und auf ein Bild zeigte.

»Das wolltest du dir doch ansehen, oder? So sieht ein menschliches Herz aus.« Elin betrachtete konzentriert das Organ. Das hier sollte in Emilias und ihrer Brust schlagen?

»Es sieht nicht viel anders aus als ein Schweineherz«, meinte sie enttäuscht.

»Was dachtest du denn?« Hampus lachte verschmitzt. »Dass es aussieht wie die Zeichnung unter einem Liebesgedicht? Das menschliche Herz ist kein romantisches Organ, es besteht aus Muskeln, Adern und Nerven. Rene Descartes hat sogar Klappen darin entdeckt.«

»Klappen? Wofür?«

»Kennst du die Entdeckung von William Harvey? Er hat anhand der Blutmenge, die täglich durch das Herz fließt, berechnet, dass das Blut nicht ständig neu gebildet wird, sondern nur in einer bestimmten Menge vorhanden ist und in einem Kreis durch den Körper fließt. Auch Monsieur Descartes verfolgt diese These vom großen Blutkreislauf. Die Klappen dienen zur Unterstützung des Pumpens.«

»Meinst du Descartes, den Philosophen? Die Königin unterhält eine Korrespondenz mit ihm. Sie diskutieren viel über philosophische Fragen. Aber dass er Mediziner ist, wusste ich nicht.«

»Oh, er beschäftigt sich mit vielen Disziplinen. Er würde sagen, das Herz ist eine Maschine, ein kleines Teil des Räderwerks, das unseren Körper antreibt.«

»Dann kann man das Herz ja wie eine kaputte Maschine wieder instand setzen«, murmelte Elin. Die Vorstellung war faszinierend.

»Gib es zu, Elin – du willst das nur wissen, weil du dir immer noch Sorgen um diese finnische Magd machst! Dabei hat mir Erik aus Uppsala geschrieben und versichert, dass sie noch lebt. Und das nicht schlecht, seit du sie unterstützt.«

Überrascht sah Elin ihn an.

»Nein«, meinte sie. »Das heißt ja – ich will wissen, was es für Herzkrankheiten gibt. Emilia sagte, ihr Herz sei vor Kummer vernarbt und schmerze deshalb, ich dagegen denke, sie leidet an etwas, das man heilen kann. Als ich sie das letzte Mal sah, hatte sie Fieber und ein Stechen – hier. Ich schicke ihr Geld, damit sie sich Medizin kaufen und ein wenig ausruhen kann. Aber wenn ich wusste, was mit ihrem Herzen ist, könnte ich ihr sagen, was sie tun muss.«

Hampus’ Augen waren braun wie die von Henri – aber von einem wärmeren Braun, ein bisschen wie das Harz, das seine Tante zur Fixierung der Schwanenfedern verwendete.

»Schreib mir auf, was für Symptome sie noch hatte. Ich werde Doktor van Wullen fragen, was man ihr raten könnte.« Mit diesen Worten zog er das Buch, in dem das Herz abgebildet war, zu sich heran. Versehentlich berührte er dabei Elins Arm. Vor Schmerz zog sie die Luft scharf zwischen den Zähnen ein. Hampus wich erschrocken zurück.

»Schon wieder eine Prellung?«

Elin rieb sich den Arm und lächelte verschämt.

»Enhörning denkt immer noch, ein Reiter sei etwas, das man einfach an einem Baum abstreifen kann. Aber zumindest hat er verstanden, dass ich mich nicht mehr so leicht abwerfen lasse.«

»Zeig her«, sagte Hampus sanft. Ohne zu zögern löste Elin das Schleifenband an ihrem Ärmel und schob den Stoff ein Stück zurück. Beim Anblick der blauroten Stelle oberhalb des Ellenbogens verzog Hampus das Gesicht. Behutsam umfasste er mit der linken Hand ihren Unterarm und strich mit der rechten über die Prellung.

»Ich könnte dir ein Pflaster zurechtmachen«, murmelte er.

Jemand räusperte sich im Raum und beide blickten erschrocken hoch. Herr Freinsheim war ins Zimmer eingetreten – gefolgt von Kristina.

Sofort ließ Hampus Elins Arm los und sie streifte sich den Ärmel wieder bis zum Handgelenk hinunter.

»Es hat seine Vorteile, Medizin zu studieren«, sagte Hampus und machte eine tiefe Verbeugung. »So darf man die jungen Damen berühren.«

»Das sehe ich«, erwiderte Kristina trocken. »Wenn Fräulein Elin nur halb so viel Begeisterung für ihre Schreibübungen aufbringen würde wie für dich, Hampus …«

»Oh, Sie haben sie noch nicht durchschaut«, erwiderte Hampus. »Es ist nicht die Liebe zu mir, sondern ausschließlich die Liebe zur Medizin, die sie an meinen Tisch lockt. Ich habe den Verdacht, sie will heimlich mit mir studieren.«

»Natürlich! Weswegen sollte man sich sonst mit Hampus an einen Tisch setzen?«, warf Elin ein. Freinsheim und die Königin verstanden ihren Humor. Freinsheim erlaubte sich sogar ein flüchtiges Lächeln. Hampus’ Gesicht dagegen verdüsterte sich und Elin tat ihre vorlaute Art wieder einmal Leid. Es war einfacher, wenn auch gefährlicher, mit Kristina zu scherzen – bei Hampus fühlte sie sich oft so, als hätte sie beim Versuch, ihm einen scherzhaften Klaps zu geben, ohne Absicht eine tiefe Wunde geschlagen. Abrupt wandte er sich dem Tisch zu und stapelte die Bücher auf seine Arme.

»Sie entschuldigen, Majestät«, murmelte er. Elin senkte den Kopf und warf Kristina einen zerknirschten Blick zu. Die Königin grinste und ging zu dem Regal mit den Werken der Physik. Der Bibliothekar folgte ihr, jedoch nicht ohne Elin zuvor zu ermahnen, ihre Schreibübungen fortzusetzen. Elin liebte das Lesen, aber das Schreiben fiel ihr nach wie vor schwer. Dafür lernte sie umso eifriger Deutsch und saß abends über den unendlich scheinenden Listen, auf denen die Namen der schwedischen Soldaten erfasst waren. Kristina hatte sich erbarmt und einige der Akten aus dem alten Schloss in Uppsala nach Stockholm schaffen lassen. Aber mehr als den Namen ihres Vaters und die Stationen seines Kriegswegs, die ihn von der Insel Usedom über unzählige Schlachtfelder und schließlich bis nach Nördlingen geführt hatten, hatte Elin nicht erfahren. Es gab keinerlei Aufzeichnungen über sie oder ihre Mutter. Kein einziges Dokument über eine Eheschließung, keinen Anhaltspunkt, nichts. Auch der Kurier, den Kristina wegen einer anderen Angelegenheit nach Uppsala schickte und der bei den Gudmunds nachgefragt hatte, brachte keine neuen Nachrichten.

Die Königin trieb in diesen Monaten die Verhandlungen in Deutschland mit aller Macht voran. Die Nächte verbrachte sie nicht selten zusammen mit Elin in der Bibliothek. Kristina las die Schriften des Philosophen Descartes und schrieb Briefe an ihn, die sie Elin vorlas. Sie handelten vom Wesen der Liebe, von der Trennung von Geist und Materie und der Existenz und Beschaffenheit der Seele.

Kurz nach Pfingsten gab sich Karl Gustav endlich geschlagen und legte in der Kirche seinen Eid als Generalissimus ab. Mit blassem Gesicht und sichtlich abgemagert kniete er vor Kristinas Baldachin und sprach den Schwur, den Axel Oxenstierna ihm vorlas. Elin, die in der hintersten Reihe stand, versuchte bei Kristina eine Regung zu entdecken, aber im Gegensatz zu Karl Gustav, der einen durch und durch unglücklichen Eindruck machte, wirkte Kristina kühl und nahm seinen Handkuss gnädig entgegen. Eine ganz andere Kristina platzte am selben Abend in Elins Gemach und wedelte freudestrahlend mit einem Brief.

»Wir haben Prag!«, rief sie. »Mein General Königsmarck hat die Kleinseite von Prag erobert. Und weißt du, was sich im Schloss befindet?«

»Schätze?«

»Und was für welche! Bilder, Skulpturen und Kuriositäten! Vom großen Kaiser Ludwig zusammengetragen, unglaubliche Kostbarkeiten aus ganz Europa! Oh, wir werden eine Bilderkammer einrichten, wie Schweden sie noch nie gesehen hat!«

Seit Elin mit Kristinas Unterstützung in Deutschland nach Informationen über ihre Eltern forschen ließ, hielt sie sich in der Hoffnung auf Postsendungen oft am Hafen Skeppsbron und bei der Schleuse zur Südstadt auf. Gemeinsam mit Hampus passierte sie die Landungsstege, die unzähligen Bootshäuser und atmete den Duft von gerösteten Heringen ein. Die verschiedensten Güter wurden von den Mälarschiffen auf die Ostseeschiffe umgeladen – und umgekehrt. Durch Kristinas Verhandlungen und neue Zollverordnungen, die im Reichstag beschlossen worden waren, bekam der Überseehandel Aufwind. In allen möglichen Sprachen wurden Geschäfte abgeschlossen, Elin hörte Verhandlungen auf Dänisch, Flämisch und auch viele französische Sätze. Einmal vernahm sie eine sanfte Stimme und drehte sich überrascht um. Aber es war nicht Henri.

Immer wieder schwemmte die Ostsee Kriegsheimkehrer aus Deutschland an – abgerissene, vom Krieg gezeichnete Männer, nach Pfeifentabak und Schweiß riechend, viele von ihnen Krüppel mit ausdruckslosen Augen, die nichts so sehr herbeisehnten wie ein langweiliges, ruhiges Leben in ihrer Kate. Elin ertappte sich dabei, wie sie die Gesichter dieser Männer eingehend studierte – und sich vorstellte, ob ihr Vater ebenso ausgesehen hatte.

»Woran denkst du?«, flüsterte Hampus ihr zu, als sie zu einem Schiff aus Deutschland unterwegs waren. »Gefällt dir etwa dieser schwarzhaarige Soldat, den du so anstarrst?« Elin gab Hampus einen Stoß in die Seite. Sie ärgerte sich, dass sie errötete, denn nun hatte der Soldat das Gespräch bemerkt und schenkte ihr ein überraschtes, hoffnungsvolles Lächeln.

Mit Elin und Hampus strömten unzählige Menschen zum Hafen. Das riesige Transportschiff hatte die Rahsegel auf Halbmast gesetzt und lief langsam auf die Anlegestelle zu. Möwenschreie hallten über das Wasser. Trauben von Menschen hatten sich an der Reling versammelt und winkten den am Ufer Stehenden zu. Kaufleute warteten auf ihre bestellte Ware, Arbeiter standen bereit, die Güter auf die Mälarboote umzuladen. Die ersten Listen wurden gezückt. Hampus zog Elin näher zu sich heran und bahnte mit seiner Schulter einen Weg durch die Menge.

»Das ist doch Monsieur Chanut!«, rief er. »Monsieur Chanut!«

Auf seinen Ruf hin drehte sich der französische Botschafter um. Elin freute sich, den liebenswürdigen Herrn zu sehen. Kristina lud den Diplomaten oft ins Schloss ein, und sogar Axel Oxenstierna schätzte ihn. Neben ihm stand Pater Villon, der Hauskaplan der französischen Botschaft, ein ruhiger Mann mit Pockennarben im Gesicht. Chanut lächelte und winkte Hampus zu sich heran.

»Ah, der junge Freund von Descartes!« Galant nahm er Elins Hand und deutete eine Verbeugung zu einem Handkuss an. »Und Mademoiselle Elin, welch ein Zufall.«

»Suchen Sie jemanden?«, fragte Hampus.

Chanut blickte über seinen Kopf hinweg zur Reling und sein Gesicht hellte sich auf. »Und da habe ich ihn auch schon gefunden! Monsieur Tervué. Die Königin wird ihn noch heute empfangen.«

Die Passagiere verließen nun über Holzplanken das Schiff. Der Mann, der Chanut zugewunken hatte, war beleibt. Seine Wangen zitterten bei jedem Schritt. Elin war verwirrt. Warum hatte Kristina ihr nichts davon gesagt, dass sie Besuch aus Frankreich erwartete? Noch dazu von einem Katholiken! Ob er zu den Gelehrten gehörte, die Kristina aus aller Welt zu sich lud, um die Wissenschaften im Schloss zu etablieren? Der Kaplan und Chanut begrüßten Tervué und auch Elin und Hampus wurden kurz vorgestellt. So freundlich das Lächeln des Gastes war, so kritisch war der Blick, mit dem er Elin musterte – ihr Haar, ihr Dekolletee und den Abstand zwischen ihr und Hampus, der ihm offenbar als zu gering erschien. Seine Augen waren von einem kalten Grün.

»Ich freue mich darauf, noch heute die gelehrteste Frau Schwedens und vielleicht sogar Europas kennen zu lernen«, sagte er zu Chanut. »Man sagt, sie habe alles gelesen.«

»Und dennoch wird sie Sie überraschen«, erwiderte Chanut launig. »Nichts, was man sich über sie erzählt, wird ihr nur annähernd gerecht.«

Mit gemischten Gefühlen betrachtete Elin die Kutsche, in die die drei Männer einstiegen.

»Da drüben kommen die Postsäcke und die Unterhändler!«, rief Hampus. Gemeinsam kämpften sie sich den Weg zu den beiden Männern frei, die gerade an Land gingen, kaum beachtet von den Kaufleuten.

»Nachrichten für das Schloss?«, rief Elin dem älteren der beiden Händler zu. »Es muss ein Brief für Elin Asenban dabei sein!« Der Mann warf einen Blick auf die Gardisten, die unweit von Elin Position bezogen hatten, dann öffnete er den Reisebeutel, den er über der Schulter trug. Papier knisterte, dann, nach einer Ewigkeit, zog er endlich einen Packen an Briefen heraus und ging sie durch. Elin konnte sich nicht beherrschen und spähte über seine Schulter. Da waren ein Schreiben von Rene Descartes an die Königin, mehrere Briefe von anderen Stellen – und schließlich ein Schreiben, auf dem als Empfänger Elin Asenban vermerkt war! Beinahe hätte sie den Brief fallen lassen, aber es gelang ihr, ihn höflich entgegenzunehmen und in ihren Ärmel zu schieben. Dann drehte sie sich um und lief zurück zu Enhörning und zu Hampus’ Pferd. Ihr Streitross zerrte ungeduldig am Zügel, den der Gardist hielt. Längst verwunderte es kaum jemanden am Hafen, Elin in ihren Männersattel steigen zu sehen. Hampus erregte viel mehr Aufmerksamkeit, als sein Pferd vor einem Kalb scheute, das sich losgerissen hatte, und beinahe ein Heringsfass umwarf.

Wenig später passierten Elin und Hampus die Kutsche von Monsieur Chanut. Aus den Augenwinkeln sah Elin ein rundes Gesicht am Kutschenfenster und als sie sich noch einmal umdrehte, erkannte sie Monsieur Tervué, der empört und fassungslos betrachtete, wie sie im Männersitz an der Kutsche vorbeiritt.

In schnellem Trab ließen Elin und Hampus die Gassen hinter sich und ritten auf den Brunkeberg hinauf, bis sie fast nur noch grünes Land sahen. Als die ersten Windmühlen und der Feuerturm in Sicht kamen, zügelte Elin Enhörning und sprang ab, bevor das Pferd zum Stehen kam. Der Brief in ihrer Hand fühlte sich heiß an. »Mach ihn auf«, sagte Hampus leise. Gemeinsam setzten sie sich ins Gras und blickten auf das Dokument. Schließlich nahm sich Elin ein Herz und brach das Siegel. Heute schienen die Worte vor ihr zu fliehen. Sie konnte sich kaum einen Reim machen auf die Buchstaben, die irgendwo, weit weg in Deutschland, ein Botschafter auf das Papier geschrieben hatte.

»… konnten keinen Namen und keinerlei Auskunft bekommen«, las Hampus fast flüsternd vor. Elin blinzelte und reckte das Kinn in die Höhe. Mit zusammengepressten Lippen blickte sie aufs Wasser. Sie würde nicht weinen. Nicht heute. An diesem Tag war der Himmel so klar, dass man von hier oben sogar die Schären sehen konnte – Lovisa hatte ihr erzählt, dass es tausende solcher Inseln gab, manche nur wenige Bootslängen voneinander entfernt, felsig und nackt oder mit kleinen Wäldchen, ein zerklüfteter Archipel. Es war aussichtslos, sie zu zählen, aber immer noch einfacher als die Aufgabe, eine fremde Frau mit weißblondem Haar zu finden, die irgendwann, vor sechzehn Jahren, am Rand eines Schlachtfelds das Kind eines schwedischen Soldaten zur Welt gebracht hatte.

»Du wirst sie finden«, sagte Hampus leise. »Wenn der Krieg erst vorbei ist, wirst du reisen und dir selbst ein Bild machen können. So viele Aufzeichnungen sind im Krieg zerstört worden. Unzählige Kirchen haben gebrannt …«

»Ich weiß.« Elins Antwort klang schärfer, als sie beabsichtigt hatte, aber diesmal war Hampus nicht gekränkt. Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie zu sich heran.

»Du bist nicht allein, Elin«, murmelte er. »Du hast Kristina, du hast Lovisa und Herrn Freinsheim – und du hast mich.«

»Dich? Du fährst doch demnächst für mehrere Wochen nach Uppsala zur Akademie.« Sie starrte das Gras zu ihren Füßen an. »Hampus … würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Jeden, Elin. Das weißt du doch.«

»Könntest du … noch einmal bei den Gudmunds nachfragen? Sie haben gemeldet, dass sie nichts über meine Eltern wissen – aber ich glaube es erst, wenn sie es auch dir gesagt haben. Und könntest du … Emilia einen Brief und ein paar Riksdaler bringen?«

»Das sind aber zwei Gefallen.«

»Bitte!«

Hampus lächelte ihr besänftigend zu.

»Natürlich werde ich Emilia besuchen. Mach dir nicht so viele Sorgen.«

Die Flüssigkeit, in der sich die schwarzen Würmer wanden, war ganz gewöhnliches Teichwasser. Auf Elins Schreibtisch zwischen Pergament und Büchern wirkte das Glas jedoch einigermaßen seltsam.

»Hirudo medicinalis«, sagte Hampus geheimnisvoll. »Blutegel. Sie saugen das schlechte Blut aus dem Körper und schwächen den Kranken sehr viel weniger als ein Aderlass. Wenn die Theorie stimmt, dass in unserem Körper nur eine bestimmte Menge Blut im Kreis gepumpt wird, ist es eher schädlich, dem Körper viel Blut zu entziehen.« Er beugte sich näher zu Elin und senkte seine Stimme. »Bist du nicht auch erstaunt, wie sehr unsere glitschigen Freunde hier den Höflingen ähneln? Der dahinten heißt Johan Oxenstierna.« Elin kicherte.

»Hier wird nicht getuschelt«, fuhr Lovisas herrische Stimme dazwischen. Zu Elins Überraschung stand Hampus sofort auf und machte einen Schritt zur Seite.

»Entschuldigen Sie«, murmelte er verlegen. »Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Das warst du aber«, sagte Lovisa. »Denke daran, du bist ein junger Mann und Fräulein Elin noch ein Mädchen. Ein anständiges Mädchen«, setzte sie mit Nachdruck hinzu.

»Ich stimme Ihnen vollkommen zu«, sagte Hampus galant. »Ich muss mich ohnehin verabschieden – ich habe meiner Tante versprochen, sie zum Markt zu begleiten.«

Er verbeugte sich übertrieben tief erst vor der Hofdame, dann mit einem Zwinkern vor Elin, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und schnell den Raum verließ. Kopfschüttelnd sah Lovisa ihm nach.

»Es ist keine gute Idee, diesen Studenten in deinem Privatgemach zu empfangen.«

»Die Tür steht offen. Und außerdem ist er mein Freund!« Lovisa verschränkte die Arme. In den vergangenen Wochen hatte die Kammerfrau sich sehr verändert. Je heller die Sommersonne schien, desto düsterer wurde ihr Gemüt. Einmal hatte Elin sie dabei ertappt, wie sie im Ostflügel am Fenster stand und weinend auf das Wasser blickte, aber Lovisa wollte nicht verraten, was ihr Kummer bereitete.

»Freunde kannst du dir leisten, sobald du einen Ehemann hast«, knurrte sie jetzt. »Bis dahin bringt es dich nur in Verruf. Weißt du nicht, wie über dich getuschelt wird?«

»Lass die Gänse doch schnattern.«

»Du hast leicht reden. Herr Hampus hat schließlich keinen Ruf zu verlieren.«

»Aber ich schon?«

»Nein, du hast noch einen langen Weg vor dir, dir überhaupt erst einen Ruf zu erarbeiten!« Lovisa seufzte und wischte sich über die Stirn. »Aber das ist nicht der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin. Ein Bote ist gekommen – mit einem Päckchen aus Deutschland für dich.«

Elin fuhr hoch. »Wo?«

»Im Kabinett der Königin. Du sollst es holen.«

Kristina blickte nicht von ihren Akten auf, als Elin in ihr Kabinett stürmte, sondern deutete nur mit einer vagen Geste auf einen Tisch bei der Tür. Elin stürzte sogleich dorthin und riss den Lederbeutel an sich. Etwas klirrte darin. Eine Kette? Vielleicht ein Erbstück?

»Vorsicht, Elin!«, hörte sie Ebbas Stimme neben sich. »Vielleicht ist etwas Zerbrechliches darin.« Erst jetzt bemerkte Elin die Freundin der Königin. Sie saß am Fenster und hatte ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien.

Behutsam tastete Elin nach dem Inhalt des Beutels und erschauerte, als ihre Fingerspitzen kaltes Metall und Leder berührten. Überrascht zog sie den Gegenstand heraus. Es war ein Zaumzeug mit einem schmalen Mundstück. Ein Kärtchen mit einer Empfehlung hing daran. Elin brauchte eine halbe Ewigkeit, um zu begreifen, von wem die Sendung stammte und warum sie aus Deutschland kam und nicht aus Frankreich.

»Monsieur Henri wurde von seinem Vater an die Front geschickt«, sagte Kristina. »Der arme Kerl steht auf einem Schlachtfeld in Zusmarshausen bei Augsburg. Ich nehme an, der Zaum ist eine kleine Erinnerung daran, dass du dein Pferd besser zügeln sollst. Eins muss man dem jungen Marquis lassen – seinen Humor nimmt ihm so leicht niemand.« Sie lächelte müde und beugte sich wieder über die Akten. »Wie weit bist du mit der Katalogisierung der philosophischen und sprachwissenschaftlichen Studien für die Bibliothek?«

»Ich arbeite daran«, murmelte Elin. Tränen brannten in ihren Augen. Sie war plötzlich unglaublich wütend auf Henri. Wütend, dass er diese Hoffnung in ihr Herz gesetzt hatte. Und da war noch ein anderer Gedanke, der sie beunruhigte: Henri war auf einem Schlachtfeld. Seltsamerweise erinnerte sich Elin nicht an den hochmütigen Adligen, sondern an den Jungen in der Bibliothek, der mit sehnsüchtigem Blick die Sterne betrachtet hatte.

»Warum zum Teufel heulst du?«, fuhr Kristina sie an.

Ebba warf der Königin einen tadelnden Blick zu.

»Das wissen Sie genau!«, brachte Elin heraus.

»Ach richtig, du wartest ja immer noch auf den Brief, der dir bestätigt, dass deine Mutter eine Prinzessin war, die unstandesgemäß einen Soldaten geheiratet hat – heimlich am Rand eines Schlachtfelds. Ach Elin, gib es endlich auf! Es ist bedeutungslos!«

»Für Sie schon!«

»Mein Gott, wir haben ganz andere Sorgen! Europa brennt! Es gibt Bürgerkriege und Aufstände. Meine Adligen setzen mir zu und du denkst an nichts anderes als die Vergangenheit. Du musst sie endlich ruhen lassen und in die Zukunft blicken. Ich für meinen Teil wäre froh, nicht zu wissen, wer meine Mutter ist.«

»Wie können Sie so etwas nur sagen!«

»Ich weiß, wovon ich rede. Du hast zumindest die Illusion, dass deine Mutter dich liebte. Ich hingegen habe meine Mutter an dem Tag verloren, an dem ich geboren wurde.« Kristina seufzte. »Alle dachten, ich sei ein Junge. Mein Vater soll gesagt haben: ›Sie wird klug werden, da sie uns so gut zu täuschen wusste. ‹ Nun, meine Mutter hat mir diese Täuschung nie verziehen.«

Elin hatte das Gefühl, dass dies nicht die ganze Wahrheit war.

Mit unbarmherziger Stimme fuhr Kristina fort: »Was würdest du tun, wenn du feststellen müsstest, dass deine Mutter dich ertränken wollte?«

»Das hätte sie nie getan«, gab Elin trotzig zurück. Ohne es zu wollen, hatte sie ihre Hände zu Fäusten geballt. Am liebsten hätte sie Kristina geohrfeigt.

»Es reicht, Kristina.« Ebbas Stimme klang so sanft wie immer. »Du urteilst über fremdes Leid«, fuhr sie noch leiser fort. »Und dabei müsstest gerade du wissen, dass du Elin damit unrecht tust.«

Kristina warf Ebba einen langen Blick zu, dem diese mühelos standhielt. Elin bewunderte die junge Hofdame für ihre Sanftmut und ihre Klarheit, die dennoch nicht darüber hinwegtäuschten, dass sich hinter dem hübschen Äußeren ein starker Wille verbarg. Kristina seufzte.

»Du hast Recht, Belle«, sagte sie nach einer Weile. »Entschuldige, Elin. Ich bin hart geworden. Aber selbst ich weiß, wie grausam es ist, jemandem die Hoffnung zu nehmen.«

Sie trat an Elin heran und legte den Arm um ihre Schulter. Irritiert zog sie die Brauen zusammen. »Hat Lovisa dich doch noch überredet, hohe Schuhe zu tragen?« Mit energischen Schritten ging sie um Elin herum, lüpfte respektlos ihre Röcke bis zum Knie und schüttelte beim Anblick der flachen Lederschuhe den Kopf. »Belle, sieh dir das an! Sie wagt es tatsächlich, auf ihre Königin herabzuschauen! Wer zum Henker hat dir erlaubt zu wachsen?« Kristinas Lachen war herzlich und rau zugleich. Wieder einmal war Elin verwirrt von der Sprunghaftigkeit ihres Gemüts. »Vor lauter Regieren und Studieren habe ich gar nicht bemerkt, wie hübsch du geworden bist. Du solltest in meinem Ballett tanzen! Du wärst eine wunderbare Jagdgöttin Diana!«

»Sie wissen, dass ich nicht gerne tanze.«

»Eine Sünde. Du und meine Belle auf der Bühne – was für ein wunderbarer Anblick wäre das! Aber hör zu, Elin – ich möchte dir etwas schenken. Schönheit vergeht, die Kunst ist ewig. Deshalb schenke ich dir ein Porträt. Mein Hofmaler David Beck wird es anfertigen. Ein schönes, großes Gemälde für dich – und ein kleines Porträt für mich. Damit ich mich, wo ich auch bin, immer an dich erinnere.«

Elin schnappte nach Luft. Ihr Zorn wich der Verzweiflung. In diesem Moment bedeutete ihr das Geschenk der Königin nichts. Schwer wie eine nicht eingelöste Schuld lag Henris Zaumzeug in ihrer Hand.

»Danke, Majestät«, murmelte sie und machte sich auf den Weg zu den Stallungen. Noch nie war es ihr so tröstlich erschienen, die heubestäubten Gänge zu betreten und Enhörnings Atem in ihrer Hand zu spüren. Wie so oft stritt sie mit Lars darüber, dass sie alleine ausreiten wollte – und gewann zu ihrer Überraschung das Wortgefecht. Der Reitmeister schüttelte den Kopf und warf resigniert die Arme in die Luft.

»Gut, Fräulein Scheuermagd«, wetterte er. »Wenn du meinst, dass du alles gelernt hast, dann fliege!«

Und Elin flog. Auf Enhörnings Rücken verschwammen die Bäume am Ufer zu einer verwaschenen Abfolge von Licht und Schatten und wirbelnden Sommerfarben. Der Wind kühlte ihr Gesicht. Zum ersten Mal ließ sie den Gedanken zu, dass sie ihre Mutter nie finden würde. Erst als sie Enhörning zum Stehen gebracht hatte, erkannte sie, wohin sie instinktiv geritten war: zu der Stelle, an der Henri sie festgehalten hatte.

David Beck, der Hofmaler, hatte so helle Wimpern und Brauen, dass Elin sie auf die Entfernung nicht erkennen konnte. Wenn er malte, machte der Künstler einen spitzen Mund wie eine alte Dame, die an einem heißen Getränk nippte. Der Stoff seiner schwarzblauen Ärmel war geschlitzt, sodass bei jeder Bewegung, die er an der Staffelei ausführte, die weißen Wäscheärmel hervorblitzten. Und sie blitzten oft.

Gerade zog er einige Skizzenstriche und ließ seinen Blick immer wieder über Elins Züge wandern. Noch nie hatte jemand ihr Gesicht so lange und so unbarmherzig nach Schatten, Fältchen und Linien abgesucht.

»Sehen Sie etwas weiter nach rechts, Fräulein Elin. Ja, das ist besser, so kommt die Linie der Wange besser zur Geltung. Sie haben schöne Wangenknochen.«

Lovisa blickte von ihrer Stickerei auf und musterte den Maler wie ein Hofhund den Fuchs vor dem Hühnerstall. Elin verkniff sich nur mühsam ein Lächeln.

»Wenn wir mit dem Ölbild anfangen, können Sie sich entscheiden, was für ein Gewand Sie tragen wollen«, fuhr Beck fort. »Ihre Augen haben einen besonderen Farbton. Ein Grau, das grün oder blau schimmern kann – je nachdem, welche Stofffarbe den Augen schmeichelt.«

»Wechselhaft wie ihr Gemüt«, bemerkte Lovisa trocken.

»Grün!«, rief Elin. »Ich möchte, dass meine Augen grün sind.«

»Ein Hündchen wäre passend«, meldete sich Lovisa wieder zu Wort. »Das biblische Symbol der Treue.«

»Ein Jagdhund!«, schlug Elin vor. »Die Königin wird begeistert sein, wenn einer ihrer Jagdhunde auf dem Porträt ist.«

»Ich dachte da eher an das weiße Schoßhündchen von Madame Chanut«, entgegnete die Kammerfrau. »Das passt auch auf die Miniaturen.« Sie nickte Herrn Beck zu und bat ihn fortzufahren. Den Rest der Sitzung fiel es Elin besonders schwer, ruhig zu sitzen. Kaum hatte Herr Beck seine Kohle zur Seite gelegt, sprang sie auf und folgte der Kammerfrau zu den Mädchenräumen.

»Lovisa!«, rief sie ihr hinterher. »Warte! Was für Miniaturen? Die Königin hat nur eine bestellt.«

»Eine für die Königin, eine für mich – und eine als Geschenk für eine besondere Person«, sagte Lovisa geheimnisvoll. »Und nun muss ich sehen, dass ich für dich ein hellgrünes Kleid finde.« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Schließlich sollst du Augen haben wie die Waldfeen aus den Märchen.«

Doch da war noch etwas, was Elin seit dem Streit mit Kristina auf der Seele lag.

»Lovisa, kanntest du die Königin, als sie ein junges Mädchen war?«

»Ihre Tante kannte ich gut, die selige Katharina. Warum?«

»Was ist mit Kristinas Mutter?«

»Die Brandenburgerin«, murmelte Lovisa abfällig. »Gustav Adolf nannte sie sein ›Hauskreuz‹ und er hatte Recht damit.« Sie trat näher an Elin heran. »Für Kristina ist es ein Segen, dass ihre Mutter vor sechs Jahren aus Schweden floh. Obgleich sie sich einen besseren Zufluchtsort als ausgerechnet unseren Erzfeind Dänemark hätte aussuchen können. Frage also besser nicht nach der Landesverräterin. Hier spricht man nicht über sie.« Lovisas Stimme wurde noch leiser. »Wahnsinnig ist Maria Eleonora. Sie hat sich in Gustav Adolf verbissen wie ein tollwütiger Hund und ihm das Herz aus der Brust gerissen. Und das meine ich wörtlich.«

Elin schauderte. Die anatomischen Lehrtafeln mit den hautlosen Menschen kamen ihr in den Sinn. Sie wagte nicht weiterzufragen, aber ein mulmiges Gefühl blieb. Und zu dem Gespenst der weißblonden Frau gesellte sich in den folgenden Nächten ein Nachtmahr, der ein bluttriefendes Herz in den Händen hielt.

Das Kleid, das Elin bei der nächsten Sitzung trug, war tief dekolletiert. Weiße Spitze bedeckte züchtig ihre Schultern. Ebbas Silberkreuz hing um ihren Hals. Aus den Augenwinkeln schielte Elin zu der Palette, auf der der Maler mit flinken Bewegungen eine Farbe anmischte.

»Berggrönt – Berggrün, so wie die Farbe Ihres Kleides«, erklärte er, als er ihre Neugier bemerkte. »Es wird aus zerstoßenem Malachit gewonnen. Und für den Himmel im Hintergrund verwende ich Kopparblätt, das ist Azuritblau.«

»Wozu brauchen Sie so viel Schwarz?«, fragte sie gepresst. Es war anstrengend, in dieser starren Pose mit dem unnatürlich gestreckten Hals zu sprechen.

»Elfenbeinschwarz«, sagte Beck geheimnisvoll.

»Müsste es nicht ›Elfenbeinweiß‹ heißen?«

»Das ist das Wundervolle an der Kunst. Hier wird Schwarz manchmal Weiß und Weiß Schwarz. Dieses hier wird aus dem Elfenbein von Pottwalzähnen hergestellt. Dafür zerreibt man es zu Pulver und brennt es in eisernen Töpfen. Das Schwarz, das dabei entsteht, bekommt in Kombination mit Bleiweiß einen wunderbaren Blaustich, ideal für Schatten und die Vorhänge, die ich am Bildrand malen werde.« Konzentriert tupfte David Beck den Pinsel in das zarte Grün und machte sich ans Werk. Maler und Modell waren so vertieft in ihre Arbeit, dass sie das Klopfen an der Tür gar nicht bemerkten. Erst als sie klickende Krallen auf dem Holzboden hörte, wurde Elin aufmerksam.

»Um Himmels willen«, murmelte Lovisa.

In der Tür stand Hampus. Um seine Hand gewickelt war eine lederne Leine, an der einer der Jagdhunde der Königin zerrte.

»Sie gestatten, Frau Lovisa. Es war Elins Wunsch, einen Jagdhund für das Porträt zu bekommen. Dieser hier ist der sanfteste und der geduldigste.«

Lovisa musterte Hampus von oben bis unten, dann gab sie ihren Widerstand erstaunlich schnell auf.

»Also gut.«

Hampus strahlte über das ganze Gesicht und wagte erst jetzt, sich Elin zuzuwenden. Bei ihrem Anblick entglitt ihm das höfliche Lächeln.

»Nicht lachen, Fräulein Elin«, beschwerte sich Herr Beck. »Lieblich und würdevoll! Würdevoll!«

Mühsam zog Elin die Mundwinkel nach unten und zwinkerte Hampus zu. Endlich fing er sich, schloss den Mund wieder und lächelte zurück.

»Na los«, befahl Lovisa. »Bringen Sie das Vieh zum Fräulein. Wenigstens ist der Hund von guter Rasse.«

Der Student schluckte und führte den Hund zu Elin. Sie fühlte seine Hand, die seltsamerweise ein wenig zitterte, und nahm die lederne Leine entgegen. Hampus befahl dem Hund, Platz zu nehmen, dann entfernte er sich rasch wieder in Richtung Tür.

»Bitte, Lovisa«, sagte Elin leise. »Lass Herrn Hampus eine Weile zusehen, wenn er möchte. Er studiert doch die Anatomie und den Sitz der Muskeln am menschlichen Körper. Als Studie ist ein solches Gemälde sicher interessant für ihn. Dabei kann er noch etwas lernen.«

»Das glaube ich gerne«, antwortete Lovisa sarkastisch. Elin unterdrückte ein weiteres Lächeln und konzentrierte sich wieder darauf, eine Statue zu sein.

Das rosenfarbene Land

M,, jedem Schiff, das im Sommer am Hafen anlegte, schwappte eine neue Welle französischer Gäste ins Schloss. In Paris erhob sich das Volk gegen Kardinal Mazarin. Viele Freigeister, die sich an dem Aufstand, der sich bald »Fronde« nannte, beteiligten, hielten es für besser, sich den Auseinandersetzungen zu entziehen und ins Ausland zu reisen. Zu Axel Oxenstiernas Unmut wurde Kristina nicht müde, Scharen von ausländischen Wissenschaftlern an ihren Hof zu laden und ihr neues Hoftheater mit Schauspielern, Tänzern und Musikern zu bestücken, so wie sie die Räume mit neuen Ebenholzsekretären, Kandelabern und Statuen ausstattete. Freinsheim hatte alle Hände voll mit den Gelehrten zu tun, die mit Gerätschaften, astronomischen Instrumenten und Kisten voller Schriften und Bücher anreisten. Tervué brachte zwanzig Ledertruhen mit und bezog als Gelehrter für Mathematik und Religionsphilosophie einen eigenen Raum.

Längst hatte sich das Schloss verändert: Es glänzte nicht mehr in der steifen Pracht des schwedischen Hofzeremoniells, sondern hatte das verspielte Flair europäischer Lebensart angenommen. Die altmodischen Sparrendecken wichen prächtigen Stuckarbeiten. Anstelle der Tapisserien ließ Kristina dunkelrot gefärbte Ledertapeten mit aufgemalten goldenen Ornamenten an die Wände nageln. Säulen und zierliche Figurinen schmückten die Räume.

Währenddessen ging der Krieg weiter. Frankreich kämpfte als Bündnispartner an Schwedens Seite. Nach jedem Gefecht musste wieder neu verhandelt und um Städte und Provinzen gefeilscht werden. Aber immerhin schickte Adler Salvius verschlüsselte Briefe mit guten Nachrichten aus Osnabrück.

Die einzigen Nachrichten, die Elin erhielt, waren dagegen zwei weitere entmutigende Briefe aus Deutschland, die besagten, dass ihre Mutter so unauffindbar war, als hätte es sie nie gegeben. Kristina machte keinen Hehl daraus, dass sie eine weitere Suche für zwecklos hielt. Über dem Kamin in Elins Gemach wurde das Porträt aufgehängt, das David Beck vor kurzem vollendet hatte. Eine stolze, ernste Frau blickte Elin entgegen, mit Augen so grün wie helles Flusswasser und Haaren wie Silber. Ihre Hand ruhte auf dem Kopf des Jagdhundes. Aber wer diese junge Hofdame wirklich war, woher sie stammte und welche Geschichte sich mit ihrer Existenz verband, erfuhr Elin nicht. Dennoch war sie immer noch fest entschlossen, nicht aufzugeben. Wieder und wieder ging sie ihre Aufzeichnungen durch und suchte nach Möglichkeiten, neue Informationen zu erhalten. Ein großer Trost in dieser Zeit waren ihre Studien. Wort für Wort betrat sie neue Räume mit immer neuen Türen, die sie in immer neue Zimmer des Wissens führten. Wenn sie die Medizinbücher aufschlug oder sich mit mathematischen Formeln beschäftigte, hatte sie das Gefühl, die Welt greifen zu können. Hampus war eine große Hilfe, auch wenn über ihre Vertrautheit getuschelt wurde und sogar Helga Bemerkungen darüber machte.

Als Elin eines Tages von einem Ausritt mit Hampus und Lars zurückkam und mit Pferdehaaren am Rock zu ihrem Gemach ging, hörte sie im Kabinett Axel Oxenstiernas Stimme.

»Ich rate Ihnen ab, Majestät«, sagte er. »Sie hat Hochverrat an Schweden begangen.«

Wie immer sprach der Kanzler ruhig und sehr beherrscht, aber am Tonfall von Kristinas Antwort erkannte Elin nur zu gut, dass Kanzler und Königin wieder einmal stritten. Elin eilte weiter zu ihrem Gemach und wurde kurz vor der Tür von einer aufgeregten Ebba eingeholt.

»Hast du es schon gehört?«, sagte sie. »Die Königinmutter kehrt aus ihrem Exil nach Schweden zurück. Kristina wird ihr mit dem Schiff entgegenfahren.«

»Nimmt sie uns mit?«

Fräulein Ebba schüttelte den Kopf. »Nein, sie hat ausdrücklich befohlen, dass nur Lovisa und ihr Kammerdiener sie begleiten sollen.«

»Lovisa hat erzählt, dass die Königinmutter ihrem Gemahl das Herz …«

Ebba verschränkte die Arme, als würde sie frösteln.

»Oh ja«, sagte sie leise. »Das hat sie. Aber sie ist eine im Geiste kranke Frau und verdient unser Mitleid. Frag nicht weiter, hörst du? Und jetzt geh zu Lovisa und richte ihr aus, dass sie Vorräte einpacken lassen soll.«

Trotz der Sommersonne fror Elin, als sie rasch über den Burghof zu Lovisas Gemächern lief. Sie hatte nicht erwartet, dass Lovisa von der Nachricht begeistert sein würde, aber die Reaktion der Hofdame verblüffte sie doch. Lovisa wurde blass und drückte sich ein Taschentuch an den Mund.

»Diese verfluchte Brandenburgerin«, murmelte sie. »Wie kann die Königin mir das antun?«

»Was redest du da!«, rief Elin. »Es ist eine Ehre, dass die Königin dich mitnimmt. Ich würde so gerne mitfahren.«

»Aber ich nicht!«, schrie Lovisa sie plötzlich an. »Lieber würde ich Scherben essen, als auf ein Schiff zu steigen!« Sie erschrak vor der Heftigkeit ihrer eigenen Worte und nahm sich sofort wieder zusammen. »Es tut mir Leid, Elin«, flüsterte sie. »Du musst verstehen – es gibt Seeungeheuer an der Küste und scharfe Klippen und Granitfelsen, an denen die Schiffe zerschellen können. Wer will schon im kalten Wasser begraben sein?«

»Es sieht nicht nach Sturm aus.«

Lovisa schluckte und schüttelte heftig den Kopf.

»Was weißt du schon?«, sagte sie mit hoher, zittriger Stimme, die Elin an ihr nicht kannte. »Nichts weißt du! Gar nichts!« Betroffen sah Elin, wie eine Träne über Lovisas Wange lief und ihren Weg in die tiefe Falte zwischen Nase und Mundwinkel fand. Unwirsch wischte Lovisa sie weg und wandte Elin den Rücken zu.

»Geh und sag der Königin, dass morgen alles bereit sein wird.«

Elin rührte sich nicht. Lovisas Schultern zuckten. Ein unterdrücktes Schluchzen erklang. Elin zögerte, dann aber trat sie näher und tat etwas, was sie noch nie gewagt hatte: Behutsam umarmte sie die alte Dame. Eine eiskalte Hand krallte sich in Elins Unterarm.

»Ist schon gut, Kind. Ist nicht schlimm. Sieh nur, was für eine alte Närrin ich bin. Es ist schon zwanzig Jahre her und ich kann immer noch nicht anders, als mir jeden Sommer die Augen auszuheulen.«

»Was ist passiert, Lovisa? Sag es mir!«

Lovisa drehte sich nicht um und löste sich auch nicht aus Elins Armen. Durch das Muster des Bleinetzes am Fenster schimmerte das dunkelblaue Wasser. Lange betrachtete Lovisa die Wellen. Um keinen Preis der Welt hätte Elin die alte Frau in diesem Augenblick losgelassen. Der Gedanke, Lovisa würde sich in ihrer Trauer auflösen und in sich zusammenfallen wie ein leeres Kleid, machte ihr Angst.

»Ich hasse nichts so sehr wie Schiffe«, flüsterte Lovisa schließlich. Wieder schwieg sie und Elin wagte nicht nachzufragen. Als sie wieder zu sprechen begann, war ihre Stimme so leise, dass Elin anfangs kaum verstand, was sie sagte. »Kennst du die Geschichte von der Wasa?«

»Das Schlachtschiff, das bei seiner Jungfernfahrt im Hafen gesunken ist?«

Lovisa nickte und versteifte sich noch mehr.

»Es geschah an einem Augusttag. Viele Wochen lang hatte man an Gustav Adolfs prächtigstem Schlachtschiff gebaut. Der König befand sich im Krieg und drängte in seinen Briefen immer wieder, die Wasa vorzeitig fertig zu stellen. An einem Tag wie heute schleppten sie das Schiff von der Werft zur Schleuse. Dort nahm die Wasa zum ersten Mal Fahrt auf – nur die Hälfte der Segel war gesetzt. Wir standen an Land und winkten. Ganz Stockholm blickte auf das prächtigste Kriegsschiff, das Schweden je gesehen hatte. Es war in bunten Farben bemalt und mit geschnitzten Holzfiguren verziert. Die Kanonenpforten waren geöffnet und wir blickten auf die Mündungen. Die Galionsfigur hatte die Gestalt eines springenden Löwen – du weißt ja, dass Gustav Adolf der ›Löwe aus der Mitternacht genannt wurde. Am prächtigsten jedoch waren die Holzfiguren an den Seiten – darunter eine Meerjungfrau mit blondem Haar. Ein bisschen erinnerst du mich an sie.« Sie räusperte sich und fuhr mit festerer Stimme fort: »Wir standen am Ufer und jubelten und winkten, als die Wasa zur Jungfernfahrt ablegte. Eine leichte Böe neigte das Schiff, aber es richtete sich wieder auf. Doch dann, vor der Insel Beckholm, wurde es von einer zweiten Böe erfasst, neigte sich gefährlich weit zur Seite – und kippte schließlich um. Wasser drang durch die Kanonenpforten der beiden Batteriedecks und der Jubel verwandelte sich in Jammer. Wir sahen die Wasa sinken! Es ging so schnell, dass ich manchmal noch heute hoffe, es wäre nur ein böser Traum. Alles, was von der Pracht blieb, waren die Masten mit den schwedischen Flaggen, die wie ein höhnisches Mahnmal des Versagens aus dem Wasser ragten. Nach einigen Wochen wurden sie unter Wasser abgesägt, um die Peinlichkeit unsichtbar zu machen. Fünfzig Leute ertranken bei dieser Jungfernfahrt – Seeleute, Soldaten, Musketiere und Offiziere. Unter ihnen auch Vizeadmiral Erik Jönsson Dahlström. Mein Mann.« Die letzten Worte sprach Lovisa so gleichgültig, als würde sie den Brief einer fremden Person vorlesen. Elin ließ sie zögernd los und trat neben sie.

»Es tut mir so Leid. Das … wusste ich nicht. Man sagte mir, du seist Witwe, aber dass es so war …«

Lovisa lachte bitter auf.

»Witwen sind Witwen, gleichgültig, wie ihr Mann zu Tode kam. Ich denke, Eriks Tod hätte ich verwunden, irgendwann.

Aber was ich Gustav Adolf nie verzeihen werde, ist ein anderes Leben, das mir teuer war.«

Mühsam riss sie den Blick von einer Kogge los, die Kurs auf die Schleuse nahm, um in die Ostsee hinauszufahren, und wandte sich Elin zu. Elin erschrak, so verändert sah Lovisa aus. Aus der grell geschminkten herrischen Hofdame war eine zu früh gealterte, unglückliche Greisin geworden.

»Erik und ich hatten uns so viele Jahre Kinder gewünscht«, sagte sie. »Aber Jahr für Jahr saß ich mit einem leeren Schoß da, während alle anderen Frauen Kinder bekamen. Du kannst dir vorstellen, wie glücklich ich war, als Gott sich doch noch erbarmte. Ich war alt damals – siebenunddreißig Jahre. Der König selbst gratulierte mir zu diesem späten Segen. Er war ein fröhlicher Mann, ich mochte ihn sehr gerne. Er konnte uns wohl am besten verstehen, waren er und seine Brandenburgerin doch selbst lange mit Kinderlosigkeit geschlagen. Er schenkte mir einen vergoldeten Wolfszahn – ein Schutzamulett, das Neugeborene bis zur Taufe vor dem Teufel schützen soll. Nun, meinem kleinen Mädchen hat es nichts genützt. Ich gebar es viel zu früh in der Nacht, nachdem die Wasa gesunken war – und ich bin sicher, sie ist an meinem Entsetzen gestorben. Dafür verfluche ich Gustav Adolf – für seine Ungeduld und sein Ungestüm, das auch seine Tochter geerbt hat.«

»Weil er deinen Mann aufs Schiff berufen hat?«

»Oh nein. Mein Erik war ein Kriegsmann, mit seinem Tod musste ich rechnen. Was ich Gustav Adolf nicht verzeihe, sind seine Briefe aus Polen. Er schickte Befehle und immer wieder neue Anweisungen, als das Schiff schon halb fertig war. Noch mehr Segel, noch ein zweites Batteriedeck, noch mehr Kanonen – so lange, bis die Schiffsbauer eine nicht seetüchtige Todesfalle zu Wasser ließen. Ach, hätten doch nicht alle so blind gehorcht und stattdessen ein besseres Schiff gebaut!« Mit einem traurigen Lächeln streckte sie die Hand aus und strich Elin über das Haar. »Mein kleines Mädchen wäre heute zwei Jahre jünger als die Königin – und nur wenig älter als du.« Elin nahm Lovisas Hand und drückte sie an ihre Wange. Sie sah Lovisas Angst und ihren Kummer, der unter der Schminke und dem herrischen Gebaren verborgen lag, und schämte sich für jeden abfälligen Satz, den sie zu ihr gesagt hatte. Ob ihre Mutter auch so sehr um sie getrauert hätte?

»Du wirst nicht mitfahren«, sagte sie zu Lovisa. »Ich verspreche es dir. Niemand wird dich zwingen, auf ein Schiff zu steigen – auch die Königin nicht.«

Niedergeschlagen stand Elin am Skeppsbron und sah zu, wie Diener die Vorräte an Bord brachten. Zwei Träger hatten einen langen Stock geschultert, an dem mit Seilen ein Fass aufgehängt war. Im Takt ihrer Schritte gluckerte darin der Wein. Es war so früh am Morgen, dass noch Nebel über dem Wasser lag. Mit gemischten Gefühlen betrachtete Elin das Schiff. Es war ein kleiner Zweimaster, schnittig und schnell. Was mochte es für ein Gefühl sein, an Deck zu stehen und zu spüren, wie das Schiff untergeht?

Trotz der frühen Stunde hatten sich bereits Schaulustige am Hafen eingefunden. Einige Eisenträger gingen im Hintergrund vorbei zu den Verladestellen an der Schleuse – auf den Schultern lange Stangen von schwerem Roheisen, die sie geschickt durch die schmalen Gassen zum Hafen balancierten.

Kristina erschien spät und in Begleitung von Axel Oxenstierna, der ein letztes Mal versuchte sie umzustimmen.

»Ich bitte Sie, Majestät: Empfangen Sie sie hier, wie es sich gehört. Wenn Sie schon Ihrem Stolz nicht folgen wollen, dann denken Sie wenigstens an das Wetter. Es könnte stürmen.«

»Ich liebe die Stürme«, erwiderte Kristina. »Und ich sehe nichts Ehrenrühriges daran, eine kranke Frau so zu begrüßen, wie es sich für eine Tochter geziemt.«

Wie immer, wenn der Kanzler in ihrer Nähe war, machte Elin, dass sie davonkam. Heute führte der einzige Weg, der ihr offen stand, direkt auf das Schiff. So schnell sie konnte, lief sie die Holzstiege hinauf und ließ sich von einem Matrosen an Deck helfen.

Nur wenig später erschien Kristina, die Zornesröte noch im Gesicht.

»Endlich!«, rief sie ihrem Kammerdiener Johan Holm zu. »Ich dachte schon, der Kanzler würde mich am Hafen anketten, um mich zurückzuhalten.« Sie entdeckte Elin und riss die Augen auf. »Was machst du denn hier? Wo ist Lovisa?« Elin griff zum Geländer und machte sich auf einen Wutanfall gefasst.

»Sie kommt nicht mit.«

»Wie bitte? Ich habe ihr befohlen mitzufahren!«, brüllte Kristina. Elin nickte und versuchte ruhig und überlegt zu antworten.

»Es ist meine Schuld«, sagte sie. »Ich habe ihr gesagt, dass Sie mich an ihrer Stelle mitnehmen werden. Niemand sollte dazu gezwungen werden, über das Grab eines geliebten Menschen zu fahren.«

Kristina fluchte. »Diese schwedischen Witwen! Sie bereiten mir Kopfschmerzen wie schwarze Krähen, die noch Jahre über der Grabstätte kreisen.«

Es war nicht klug, Kristina eine Antwort zu geben, wenn sie so schlecht gelaunt war wie an diesem Tag. Trotzdem hatte Elin das Gefühl, Lovisa verteidigen zu müssen.

»Sie wissen, warum sie trauert«, erwiderte sie. »Es erscheint mir grausam, ihren Schmerz nicht zu respektieren.«

Kristina zog spöttisch eine Augenbraue hoch.

»Ach ja? Na, an diese weisen Sätze werde ich dich erinnern, wenn du die Königin aller Witwen kennen lernst.«

Elin atmete auf. Sie durfte also mitfahren – und Lovisa würde nicht, wie Elin befürchtet hatte, doch noch zum Schiff gerufen werden. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass Kristinas Wut bereits wieder abkühlte.

»Freuen Sie sich denn nicht darauf, Ihre Mutter wieder zu sehen?«, fragte Elin leise.

Kristina ließ sich Zeit mit einer Antwort. Sie sah nachdenklich zu den Inseln hinüber und seufzte.

»Das ist ja das Seltsame«, sagte sie und lächelte plötzlich wieder. »Dass ich mich trotz allem ein wenig freue. Ich muss verrückt sein. Sehnt sich ein Gefangener nach seinem Kerkermeister?«

Das Schiff legte ab und nahm langsam Fahrt auf. Staunend betrachtete Elin Stockholm zum ersten Mal mit den Augen einer Reisenden. Wie majestätisch es wirkte, wenn man nur die Front der prächtigen Häuser sah, die den Hafen säumten!

Händler, die die lichtlosen und zum Teil schäbigen Gassen dahinter nicht zu Gesicht bekamen, mussten den Eindruck gewinnen, eine sehr reiche Stadt vor Augen zu haben. Es war seltsam, im Stehen an dieser Pracht vorbeizugleiten. Vage erinnerte sich Elin an den Geruch von Salz und Pfeifenrauch, seltsam fern und doch wie der Duft einer längst vergessenen Heimat. Als Kind war sie auf einem Schiff nach Schweden gebracht worden – war es möglich, dass sie sich nun daran erinnerte?

Bald hatte das Schiff die Stadt hinter sich gelassen und nahm Kurs auf die Ostsee. An der großen Stadtinsel Söder mit ihren steilen Granitklippen vorbei ging es weiter in den Archipel unzähliger unbewohnter Inseln und Inselchen. Auf manchen sah man bizarre Felsformationen, geschliffen von den Stürmen vieler Jahre. Manche der Schären waren ganz kahl, auf anderen fanden nur einige vom Sturm zerzauste Birken Platz. Möwenschreie durchschnitten die Stille. Elin erschienen sie wie die Klagelaute verdammter Seelen.

Sie betrachtete die Wellen und hatte das Gefühl, bis auf den Grund des Mälarsees sehen zu können. In ihrer Vorstellung war es ein Friedhof mit Masten statt Grabsteinen. Ungeheuer lagen am Grund und äugten zum schwarzen Umriss des Schiffes empor. Sie schauderte und rieb sich die Arme.

Kristina stand an Deck und sprach während der Fahrt kaum ein Wort. Aber Elin sah, wie sie nervös ihre Finger knetete. Die Festung Vaxholm kam in Sicht, doch das Schiff der Königinmutter war weit und breit nicht zu sehen. Der Himmel hatte sich verdüstert, ein kühler Sommerwind ließ Elin frösteln. Als die ersten Regentropfen fielen, zogen sie sich in die Kajüte unter Deck zurück. Beim ersten Donnerschlag zuckte der Kammerdiener zusammen und sprach ein Gebet.

»Weiterfahren«, befahl Kristina dem Kapitän.

»Dann halten Sie sich gut fest«, erwiderte der Seemann ungerührt.

Der Wind wurde zum Sturm und ließ das Schiff auf den Wellen tanzen. Verglichen mit dieser Fahrt waren Elins Ritte auf dem bockigen Enhörning ein Kinderspiel. Nie hätte sie dem Kammerdiener Johan, der längst vom Beten zum Fluchen übergegangen war, solche Worte zugetraut. Sein Gesicht nahm den Farbton von blassgrünem Schimmel an. Wellen klatschten gegen den Bug und der Wind heulte. Als eine Welle das Schiff hochriss, bis Elin glaubte, einen Atemzug lang zu schweben, traf die Übelkeit sie mit voller Wucht. Sie presste sich die Hand auf den Mund und würgte. Als Kristina, völlig unbeeindruckt von dem Wellentanz, endlich den Befehl gab, auf einer Insel an Land zu gehen, fluchte Elin längst mit Johan um die Wette.

Der Sturm tobte mehrere Stunden. Ungerührt las Kristina in einem Buch, obwohl der Wind an den Seiten riss. Elin betrachtete frierend das Ballett der Blitze am Horizont. Vom Schiff der Königinmutter gab es keine Spur.

»Wir warten«, bestimmte Kristina und lächelte dem entsetzt dreinblickenden Johan aufmunternd zu. »Es kann nicht länger als ein paar Tage dauern.«

Das Lager unter freiem Himmel war schnell errichtet. Auf der kleinen Insel, vor der sie geankert hatten, hoben sich schiefe Bäume gegen den Himmel ab. Irgendwann kam auch wieder die Sonne hervor und Elin vergaß die beschwerliche Fahrt. Das düstere Schloss lag in weiter Ferne. Statt Perlen und Juwelen glitzerten hier die Regentropfen auf den Blättern der Birken. Die Nacht würde kühl werden und so rückten Kristina und Elin auf dem Lager nahe zusammen. Über der Ostsee glühte ein heller, nordischer Sommerabend. Das Wasser erinnerte an eine polierte Platte aus blassem Gold.

»Rück näher zu mir«, flüsterte Kristina. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah Elin an. In ihren Augen spiegelte sich das Glitzern des nächtlichen Meeres. »Ich will dir etwas ganz Besonderes erzählen. Auf der Insel Björkö gibt es noch Wikingergräber. Wenn du willst, zeige ich sie dir. Bald werden die Gelehrten alles über unser Volk nachlesen können. Ich will nämlich eine Geschichte Schwedens schreiben lassen.« Sie gähnte, ließ sich auf das Lager zurückfallen und streckte sich wie eine Katze. »Mein Name wird berühmt sein«, sagte sie. »Nicht wahr?«

»Über alle Grenzen hinweg«, antwortete Elin und meinte es ernst. Sie wandte den Blick zum Himmel und erinnerte sich an die Sternenkarte, die Henri in der Bibliothek betrachtet hatte. Kristina erzählte bis spät in die Nacht von ihren Plänen und fragte Elin nach ihrem Leben auf dem Gudmundshof aus. Erst lange nach Mitternacht fielen ihnen die Augen zu und sie glitten in den Schlaf hinüber. Wenig später wachte Elin von ihrem eigenen entsetzten Keuchen wieder auf. Der Albtraum von einem verregneten Schlachtfeld und verzerrten Gesichtern hing noch einen Moment wie ein Trugbild vor ihren Augen. Noch nie hatte sie sich so sehr nach einer tröstlichen Umarmung gesehnt. Neben sich hörte sie Kristinas tiefe Atemzüge. Verstohlen tastete sie über die Decke und berührte die Hand der Königin. Behutsam nahm Elin sie in die ihre und sie spürte, wie Kristina im Schlaf ihren Händedruck erwiderte.

Es dauerte zwei Tage, bis Maria Eleonoras Schiff endlich am Horizont auftauchte. Kristina sprang als Erste an Bord und rief Elin und Johan Holm zu, sie sollten sich gefälligst beeilen. Elin suchte die zerstreuten Bücher zusammen und ließ sie vor Aufregung beinahe wieder fallen. Während sie dem Schiff der Königinmutter entgegenfuhren, versuchte sie ihr Haar in Ordnung zu bringen. Ihre Wangen waren von der Sonne gerötet, als hätte sie zu viel Rouge aufgetragen.

Es war nicht einfach, mit den schweren Röcken auf das große Schiff umzusteigen – auf der anderen Seite reichte ein Seemann Elin die Hand und hielt sie fest, bis sie an Deck angekommen war. Dort sah sie sich um und staunte nicht schlecht. Auf einem waagrechten Balken war ein Affe angekettet, der beim Anblick der Fremden zu kreischen anfing, als würde man ihn schlachten. Leuchtend bunte Papageienvögel fielen in das Geschrei mit ein. Kristina schien den Aufstand der Bestien nicht zu bemerken. Gebannt starrte sie auf die Kajütentür, die sich nun öffnete. Die Dame, die an Deck trat, war so groß, dass sie sich unter dem Türrahmen ducken musste. Niemandem hätte Kristina weniger ähnlich sehen können.

Maria Eleonora musste in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein. Noch jetzt lag ein Abglanz davon auf ihren Zügen. Die Augenbrauen waren perfekt geschminkt, das Haar kunstvoll frisiert und ihr Mund sinnlich geschwungen. Unzählige Edelsteine funkelten an ihren Handgelenken und am Hals. Und sie trug prachtvolle Kleidung vom allermodernsten französischen Schnitt. Mit deutlicher Missbilligung musterte sie Kristinas wenig feierliches Kleid und das unordentlich hochgesteckte Haar.

Elin blinzelte vor Verwirrung. Das, was sie hier sah, war ein völlig falsches Bild. Mutter und Tochter hätten aufeinander zurennen, sich in die Arme fallen und sich über das Wiedersehen freuen müssen. Doch alles, was Kristina zustande brachte, war ein nervöses Lächeln. Maria Eleonora hatte für ihre Tochter nicht einmal das übrig. »Wie ich sehe, hast du deine Hofdame mitgebracht«, sagte sie auf Französisch. »Das ist also das Fräulein Sparre, von dem du mir in deinen Briefen berichtet hast?«

»Nein«, erwiderte Kristina. »Das ist Fräulein Elin. Sie ist mir ebenso teuer wie Ebba. Ihr verdanke ich sogar mein Leben. Ich dachte, sie würde sich freuen, unser Wiedersehen zu begleiten, da sie sich nach mütterlicher Wärme sehnt.«

Elin senkte den Kopf und knickste tief. Verstohlen linste sie dabei zu Maria Eleonoras Händen, an denen blutrote Rubine funkelten. Beim Anblick der spitzen Finger musste sie an Gustav Adolfs Herz denken. Dennoch – eine Wahnsinnige hatte sie sich anders vorgestellt.

»Ein Kind, das seine Mutter liebt!«, rief Maria Eleonora aus. »Wie rührend! Das ist die Hingabe, die ich vermisse. Meine Tochter lässt mich verhungern!«

»Mit einer solchen Pension, wie Sie sie von mir bekommen, dürfte es ein Kunststück sein zu verhungern«, erwiderte Kristina. Elin konnte sehen, wie viel Beherrschung es die Königin kostete, ruhig zu bleiben. Maria Eleonoras Lächeln war so hart wie das der Steinlöwen auf Tre Kronor. Mit einer anmutigen Geste bat die Königinmutter in die Kajüte zu Tisch. Es gab frische Meeresforellen, Pasteten und kunstvoll angerichtetes Zuckerwerk. Während die verschwenderisch teuer gekleideten Lakaien Wein kredenzten, begann Maria Eleonora zu klagen, wie ärmlich sie leben müsse. Elin warf einen Seitenblick zu Kristina. Ihre Königin brachte vor Wut und Enttäuschung kaum ein Wort heraus.

»Während Sie hier Konfekt speisen und Wein trinken, sind die Menschen in den deutschen Städten gezwungen, Gras zu essen«, sagte sie schließlich. »Man sagt, in Zweibrücken habe eine Mutter sogar ihren Säugling gekocht und gegessen. Und wenn Sie mich fragen, Madame, glaube ich das sofort.« Elin verschluckte sich bei diesen Worten und musste husten. Mit einem Mal schmeckte das duftende Forellenfleisch nach bitterem Gift.

»Solche geschmacklosen Äußerungen kenne ich von dir zur Genüge«, seufzte Maria Eleonora pikiert. »Nun, so zerschlägt sich die Hoffnung, dass sich zumindest diese Unart gebessert hätte.«

»Das sind Geschichten, die der Krieg erfindet, nicht ich«, gab Kristina kühl zurück.

»Mein liebes Kind, gibt es etwas Langweiligeres als das Gerede über Krieg?«

»Nun, es ist meine Aufgabe, darüber zu reden. Ich arbeite hart daran, endlich den Frieden zu verhandeln, nachdem sich Schweden seit bald zwanzig Jahren an diesem unseligen Krieg beteiligt.«

»Dieser Krieg ist schon deshalb eine Schande, da er meiner Tochter die Zeit stiehlt, sich die Haare anständig zu frisieren.« Fassungslos starrte Elin die Königinmutter an. Maria Eleonora bemerkte ihren Blick und lächelte. »Wenn du klug wärst, würdest du dich mit weniger hübschen Mädchen umgeben, meine Tochter. Vielleicht würdest du dann ein wenig aparter erscheinen.« Sie tupfte sich mit ihrer Serviette die Mundwinkel ab. Elin musste sich beherrschen, um nicht an Kristinas Stelle zu antworten. »Sieh dich nur an, mein Kind«, fuhr Maria Eleonora fort. »Dein Gesicht ist von der Sonne verbrannt – du siehst aus wie ein Bauernmädchen!«

»Da Sie als meine Mutter behaupten, so arm wie ein Bauer leben zu müssen, ist das doch nur passend«, sagte Kristina trotzig.

Maria Eleonora warf die Serviette hin. Ihr wollüstiger Mund verzog sich vor Empörung. »Meine eigene Tochter verfolgt mich mit Spott! Gerade du solltest verstehen, dass mir an meinem Wohl nicht gelegen ist. Aber deinem Vater und meinem verstorbenen Gatten bin ich es schuldig, ein Leben zu führen, das meinem Stand entspricht!«

»Also mit Affen und Zwergen und Gauklern«, spottete Kristina.

»Von deinen dreißigtausend Talern kann ich kaum meine Zofen bezahlen!«, jammerte Maria Eleonora. »Von meinen Coiffeuren ganz zu schweigen!« Ihre Stimme kippte ins Hysterische. »Schweden ist es mir schuldig! Und du bist mir Hochachtung und alle Liebe der Welt schuldig!« Elin duckte sich, als die Königinmutter sie um Zustimmung heischend am Arm packte. »Ist es nicht so, Kind?«, rief sie melodramatisch.

»Du begegnest deiner Mutter sicher mit mehr Dankbarkeit. Aus welchem Hause stammst du?«

Elin hatte genug. Die Enttäuschung über diese Mutter, die keine war, wich einer unbändigen Wut.

»Aus keinem«, erwiderte sie. »Zwar bin ich nicht so braun gebrannt wie die Bauernkinder, trotzdem kann ich besser Kühe melken als die meisten von ihnen. Ich bin das Kind eines Soldaten.«

Doch so einfach war Maria Eleonora nicht zu schockieren. Zwar ließ sie Elins Arm los, als hätte sie ein Stück Dung berührt, dann aber huschte ein hochmütiges Lächeln über das geschminkte Gesicht.

»So, und da sage noch einer, wir seien uns nicht ähnlich«, meinte sie zu Kristina. »Ich halte mir zum Vergnügen Affen, du dir dagegen Bauernmädchen. Dennoch bezweifle ich, dass der Unterhaltungswert bei ihr höher ist.« Mit einer gezierten Geste wandte sie sich an ihre Lakaien. »Als Nächstes wird meine Tochter wohl einen einbeinigen Soldaten anschleppen, der zotige Lieder singt.« Die Diener sahen sich irritiert an, unsicher, ob sie über den geschmacklosen Witz ihrer Herrin lachen sollten oder nicht.

»Kaum anzunehmen«, erwiderte Kristina tonlos. »Ein einbeiniger Soldat nützt auf der Ballettbühne wenig, Madame.« Elin wunderte sich in diesem Moment am meisten über sich selbst. Sie war völlig ruhig. Maria Eleonoras Beleidigungen trafen sie nicht, im Gegenteil: Sie musste ein spöttisches Lächeln unterdrücken. Überrascht fühlte sie jedoch, wie Kristina unter dem Tisch nach ihrer Hand griff und sie tröstend drückte.

»Entschuldigen Sie uns nun«, sagte Kristina höflich. Elin erhob sich gleichzeitig mit der Königin. »Wir sollten uns auf den Weg machen. Ich habe Anweisung gegeben, Sie auf Tre Kronor mit einem Festbankett zu begrüßen.«

Erst an Bord ihres eigenen Schiffes brach die Königin ihr Schweigen. Sie stand an der Reling und klammerte sich so fest an das Holz, dass ihre Finger ganz weiß wurden. Ihre Sonnenbräune war einer kränklichen Blässe gewichen und ihre Augen glänzten. Elin trat zu ihr.

»Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen, Kristina«, sagte sie sanft. »Sie hat nicht Sie oder mich beleidigt – nur sich selbst. Das sagen Sie mir doch immer.«

»Verdammt, ich hätte auf Oxenstierna hören sollen, statt mir Hoffnungen zu machen«, zischte Kristina. »Eine sentimentale Idiotin bin ich!«

Die Begrüßung Maria Eleonoras im Schloss fiel sehr verhalten aus. Man starrte ihren Hofstaat an – die Narren und Zwerge, die bunt gekleideten Tierführer, die die langhaarigen Rassehunde ins Schloss führten. Lakaien trugen die Papageien durch die zugigen Gänge. Der Affe entfloh und biss mehrere Bedienstete, bis er endlich wieder eingefangen wurde. Axel Oxenstierna blieb dem Bankett demonstrativ fern. Zum ersten Mal verspürte Elin dem Kanzler gegenüber so etwas wie Sympathie oder doch zumindest großen Respekt vor seiner Charakterstärke. Elin selbst flüchtete sich in ihr Gemach, wo schon ein Brief von Hampus sie erwartete. Mit fahrigen Fingern nahm sie das versiegelte Schriftstück an sich und warf sich auf ihr Bett. Die Vorhänge zog sie zu und saß somit abgeschlossen von der Welt auf einer einsamen Insel aus Stoff. Sie atmete tief durch, öffnete behutsam den Brief und las.

Meine liebe Elin,

sicher wartest Du schon auf gute Nachricht – und wie gerne würde ich sie Dir schicken. Emilia habe ich nicht angetroffen – aber das Geld und den Brief Erik gegeben. Er wird dafür sorgen, dass sie alles bekommt. Leider haben wir nichts herausgefunden. Die Gudmunds wissen tatsächlich nichts über Dich. Mein Freund Erik hat seine Verbindungen genutzt und in alle amtlichen Papiere Einsicht genommen, die die Familie Asenban betreffen, aber selbst dort fand sich nichts. Einige Unterlagen sind zudem bei einem Brand im Pfarrhaus vor dreizehn Jahren vernichtet worden. Somit ist dieser Teil Deiner Familiengeschichte leider ausgelöscht. Ich bedauere unendlich, dass ich Dir keine besseren Neuigkeiten bringen kann, und hoffe, Du kannst es mir verzeihen. Ich werde alles tun, um Dich in Deinem Kummer zu trösten. Am Samstag kehre ich zurück. Bis dahin verbleibe ich als Dein treuer, Dir von ganzem Herzen ergebener Freund Hampus

Elin ließ den Brief sinken, zog die Beine an den Körper und legte den Kopf auf die Knie. Sobald sie die Augen schloss, glaubte sie zu fühlen, wie die Sicherheit ihrer mathematischen Studien und das Wissen über die Maschine Mensch ihr entglitten. An die Stelle der Gewissheiten traten Chaos und Enttäuschung, gespiegelt in den Gesichtern dreier Frauen: einer traurigen Mutter, die seit zwanzig Jahren um ihr totes Kind weinte, einer selbstsüchtigen Mutter, die zu ihrer Tochter so kalt war wie eine Tote. Und einer toten Mutter, die ihre wahren Züge hinter einem Vorhang aus bleichem Haar verbarg.

Direkt nach dem Festmahl, bei dem Maria Eleonora ihre Tochter pausenlos um eine höhere Apanage anbettelte, brach Kristina überraschend mit hohem Fieber zusammen. Als Elin völlig verstört bei ihrem Gemach ankam, hatte Doktor van Wullen Kristina bereits zur Ader gelassen. »Gut dass Sie hier sind«, murmelte er. »Sie hat schon nach Ihnen verlangt. Wischen Sie ihr die Stirn ab, wenn sie unruhig wird.« Elin nickte und ließ sich mit zitternden Knien neben dem Bett nieder. Fräulein Ebba war nicht da – Elin nahm an, dass Kristina sie weggeschickt hatte, um Maria Eleonora zu beschäftigen. Im Zimmer brannten Kerzen, die Vorhänge waren zugezogen. Kristinas Haut glänzte vor Fieberschweiß. Elin kam sich vor, als wäre sie mit der Königin begraben worden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel Angst gehabt. Ihre Mutter hatte sie verloren, das begriff sie. Aber was, wenn sie nun auch noch Kristina verlieren würde?

Gegen Mitternacht schreckte Kristina hoch. Beim Anblick der geschlossenen Vorhänge riss sie entsetzt die Augen auf. Ihre Fingernägel wurden zu Krallen, die sichelförmige Male auf Elins Arm hinterließen.

»Das Herz!«, flüsterte die Königin atemlos. »Das schlagende Herz!« Elin versuchte sie zu beruhigen, aber die Königin richtete sich auf und weinte. »Barmherziger Gott, sie hat sein Herz genommen … in der goldenen Kapsel hängt es!«

»Da ist kein Herz!«, flüsterte Elin, selbst zu Tode erschrocken. Nur langsam kam Kristina zu sich. Ihre irrenden Augen fanden ein wenig Ruhe.

»Mach die Vorhänge auf, um Gottes willen!«, bat sie. »Ich will die Nacht sehen! Und lösche die Kerzen. Ich war lange genug in einer Gruft eingesperrt.«

Elin sprang auf und riss die Vorhänge zur Seite.

»Sehen Sie? Kein Herz!«, rief sie.

Die Königin wandte ihr die fiebrigen Augen zu.

»Es ist immer da«, flüsterte sie. »Das Herz meines toten Vaters. Ihn verfolgte sie mit einer krankhaften Zuneigung. Mich hat sie gehasst.«

Elin dachte an Maria Eleonoras maskenhaftes Gesicht und schauderte.

»Siehst du meine schiefe Schulter?«, flüsterte Kristina. »Ich bin ein Krüppel – nicht besser als die Unglücksmenschen, mit denen sie sich umgibt. Sie hat mir nie verziehen, dass ich nicht als Sohn auf die Welt kam und dass mein Vater mich liebte. Man sagte, ein Balken fiel auf meine Wiege und brach mir die Schulter. Aber ich weiß, dass meine Mutter heimlich hoffte, ich würde sterben. Vielleicht misshandelte sie mich oder ließ mich absichtlich fallen.«

»Das … ist ein Fiebertraum, Kristina«, sagte Elin sanft.

Die Königin schüttelte heftig den Kopf. Haarsträhnen klebten an ihrer Stirn.

»Dieser Albtraum ist mein Leben«, sagte sie. »Und zwar seit dem Moment, als meine Mutter mit dem Sarg meines Vaters aus Deutschland zurückkehrte. Sie ließ seinen Leichnam einbalsamieren und weigerte sich jahrelang, ihn bestatten zu lassen.« Das Reden strengte die Königin so sehr an, dass sie nach Luft rang, und Elin beeilte sich, ihr den Schweiß abzutupfen. »Bei ihrer Rückkehr war ich ein Kind«, flüsterte Kristina. »Mit einem Mal liebte sie mich, weil ich ihrem toten Gemahl ähnlich sah, sie erstickte mich in ihren Umarmungen. Sie zog mit mir nach Nyköping, ließ alle Gemächer mit schwarzem Stoff ausschlagen und die Fenster verhängen. Narren und Krüppel lungerten in dieser Gruft herum und erschreckten mich zu Tode. Kerzen brannten Tag und Nacht. Ständig trug diese Wahnsinnige das Herz meines Vaters in einer goldenen Kapsel mit sich herum. Sein Sarg stand am Fuß der Treppe – manchmal ging ich daran vorbei und bildete mir ein, seine Finger zu hören, die verzweifelt an der Innenseite des Sargdeckels kratzten. Krank, wie sie ist, weinte und klagte sie unaufhörlich. Ihre Tränen nässten das Bett, das ich mit ihr teilen musste. Ein Jahr dauerte diese Folter, bevor Axel Oxenstierna endlich ein Machtwort sprach und mich erlöste.« Ihre Stimme wurde bitter. »Das, Elin, ist Mutterliebe. Nichts als geisteskrankes Witwentheater.« Keuchend rang sie nach Luft. Elin strich ihr das Haar aus der Stirn.

»Versprich mir eins«, flüsterte die Königin mit geschlossenen Augen. »Begrabe endlich deine Mutter. Du siehst, was geschieht, wenn man sich zu sehr an die Toten klammert. Sie kehren nicht zurück. Man selbst ist es, den sie mit sich ins Grab ziehen.«

Elin schluckte und ließ es zu, dass ihr die Tränen über die Wangen rannen. Seltsamerweise tat es gut, zu weinen. Sie kam sich vor, als würde sie in einem Trümmerfeld sitzen, und hatte unendlich Mitleid mit der Königin – und ein wenig auch mit sich selbst.

Mit einer großzügigen Apanage zog Maria Eleonora weiter auf ihren Witwensitz nach Nyköping. Im Schloss atmete man erleichtert auf. Nach einigen Wochen erschien Kristina völlig abgemagert im Arbeitskabinett. Alles ging weiter wie bisher, nur Elin war nicht mehr dieselbe. Sie vergrub sich noch tiefer in ihre Bücher und betäubte ihren Schmerz mit Wissen. Das Studium linderte die Einsamkeit, die sie vor allem nachts spürte. Hampus, der sie oft mit einem verwunderten Lächeln betrachtete, bemerkte, sie wüsste bald mehr als er und die Mathematikstudenten zusammen.

»Du brauchst schon wieder ein neues Kleid«, sagte Lovisa eines Morgens, während sie die Kleidertruhe in Elins Zimmer inspizierte. »Wie wäre es mit einem blauen? Tiefes Dekolletée – inzwischen kannst du es tragen.«

»Am liebsten habe ich mein Reitkleid. Es war mir ohnehin zu groß, als ich es bekam. Und man kann die Schnürbrust weiter machen.«

»Ich kenne jemanden, der eine etwas damenhaftere Erscheinung zu schätzen weiß.« Lovisa lächelte Elin verschwörerisch zu. »Zumindest hat er sich schon in dein Porträt verliebt.«

Elin blickte irritiert von ihrem Brief auf, den sie gerade an Emilia schrieb.

»Mein Porträt?«

»Was dachtest du denn, wofür ich die Miniaturen brauche?« Elin warf die Feder so heftig auf den Tisch, dass die Tinte quer über das Blatt spritzte.

»Du willst mich verschachern?«

»Ich verschaffe dir eine großartige Chance! Dein Verehrer ist ein Kaufmann namens Gustav Nilsson, ein anständiger Mann, der vor fünfzehn Jahren Witwer geworden ist …«

»Vor fünfzehn Jahren?«

»Er ist wohlhabend und hat es nicht nötig, Geld zu erheiraten. Und mit seinem Namen würdest du …«

»Lovisa!«

»Lerne ihn doch erst einmal kennen.«

»Das brauche ich nicht.«, schrie Elin sie an. Jetzt wurde auch Lovisa wütend.

»Aber es wäre das Beste für dich, zu heiraten«, sagte sie streng. »Sei froh, dass überhaupt jemand ein Hurenkind wie dich will.«

»Aber das Hurenkind will nicht!«

Lovisa warf das Kleid, das sie gerade begutachtet hatte, in die Truhe zurück und knallte den Deckel zu.

»Du hörst mir jetzt zu, Elin!«, keifte sie. »Ich musste dankbar sein, dass Gustav Adolf mich nach dem Tod meines Mannes ins Schloss aufgenommen hat. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Und jetzt friste ich hier mein Dasein als Gänsemagd für die adligen Töchter. Willst du so enden?«

»Besser so, als wenn ich mich als Ehefrau kaufen lasse.«

Lovisas Züge verhärteten sich noch mehr.

»Du weißt nicht, wovon du sprichst. Ein Arzt kannst du als Frau nicht werden, bilde dir das nur nicht ein. Noch bist du Kristinas Spielzeug und sie lässt dich gewähren. Aber auch eine Königin kann sterben – und dann hast du an diesem Hof nur Feinde und keinen Schutz mehr. Oxenstiernas Sohn wird dich nur zu gern wieder in den Stall zurückjagen, aus dem du gekommen bist.«

»Es reicht, Lovisa«, sagte Elin eisig. »Ich brauche kein neues Kleid und schon gar keinen Ehemann.« Wütend raffte sie ihre Unterlagen zusammen und stürmte aus ihrem Gemach.

Wie erwartet fand sie Hampus in der Bibliothek. Er schreckte hoch, als sie ihre Bücher mit Schwung auf den Tisch warf.

»Habe ich etwas verpasst?«, fragte er ruhig. »Ist der Krieg vorbei?«

»Mein Krieg hat eben erst begonnen!«, rief Elin empört aus. »Lovisa hat sich in den Kopf gesetzt, mich zu verheiraten!«

»Es dürfte wohl leichter sein, Enhörning über rohe Eier tanzen zu lassen. Wer ist der Glückliche?«

Gegen ihren Willen musste Elin lachen.

»Ein gewisser Gustav Nilsson.«

Hampus pfiff durch die Zähne.

»Sehr reich.« Er beugte sich wieder über sein Buch. »Und – wirst du darüber nachdenken?«

»Was gibt es da nachzudenken?« Missmutig ließ sich Elin neben Hampus auf einen Stuhl fallen. »Weißt du, was sie noch gesagt hat? Eine Frau kann kein Arzt werden.«

»Nun, das dürfte allerdings stimmen. Aber du könntest natürlich einen Arzt heiraten.«

Elin lachte auf.

»Natürlich. Dich.«

»Das könntest du«, erwiderte Hampus. Mit einem Knall klappte er sein Buch zu und streckte sich auf seinem Stuhl. »Vorausgesetzt, du wartest ein paar Jahre, bis ich mein Studium beendet habe und Professor geworden bin. Aber ein Professorengehalt wird kaum für eine Familiengründung ausreichen. Ich müsste schon als Physikus bei einer Stadt angestellt werden. Wenn ich sehr viel Glück habe, nimmt ein Fürst mich als Leibarzt in seine Dienste, dann hätte ich wirklich genug Auskommen, um an Heirat denken zu können.« Er lächelte über Elins verdutztes Gesicht. »Alles Dinge, über die sich mein Freund Erik keine Sorgen machen muss«, sagte er. »Er ist ein Adliger und wird sein Auskommen einfach erben.«

Irritiert sah Elin ihren Freund an. Sie saßen direkt nebeneinander, eine Nähe, die Elin so vertraut war und die doch im Moment etwas Fremdes hatte.

»Machst du dir denn Gedanken … über das Heiraten?«, fragte sie. Hampus seufzte und lächelte.

»Viel mehr Gedanken mache ich mir über mein Studium«, sagte er. »Ich wollte es dir ohnehin sagen: Meine Zeit in Stockholm ist bald vorbei. Ich kehre Anfang November endgültig nach Uppsala zurück. Und im nächsten Sommer gehe ich zum Studium ins Ausland – nach Leyden.«

»Leyden«, wiederholte Elin leise. Hampus ergriff rasch ihre Hand.

»Ich werde dir schreiben«, versprach er. Und mit einem Zwinkern fügte er hinzu: »Und wenn Lovisa dir zu sehr auf der Nase herumtanzt, dann sage ihr, ich hätte dir versprochen, dich zu heiraten, wenn es kein anderer tut.«

Die Nachricht verbreitete sich im Schloss wie ein Lauffeuer. Kaum war der Eilkurier aus Münster im Schlosshof vom Pferd gesprungen, ging die Neuigkeit von Mund zu Mund: »Der Krieg ist vorbei!«

Elin stand an ihrem Fenster und sah in den Palasthof, wo das dampfende Pferd des Kuriers gerade zu den Stallungen geführt wurde. Es war der einunddreißigste Oktober und der Schnee fiel in dichten Flocken vom Himmel. Elin hörte die Rufe und das Trappeln von Schritten auf den Gängen, trotzdem rührte sie sich nicht vom Fleck. Statt in die Arbeitsräume zu gehen, sah sie dem Tanz der Flocken zu und dachte an Kristinas Worte: »Wenn der Krieg vorbei ist, kannst du gehen, wohin du willst.« Nur dass sie nicht mehr wusste, wohin sie gehen sollte. Sie konnte sich mit dem Kaufmann verloben. Oder sie konnte sein Angebot ablehnen und ihr Leben zwischen Büchern und anatomischen Tafeln weiterführen. Ohne Hampus allerdings, denn ihr Freund würde übermorgen abreisen. Bei dem bloßen Gedanken daran fühlte sie sich so einsam wie selten zuvor.

»Elin?«, erklang hinter ihr eine sanfte Stimme. Es war Hampus, natürlich. Neuerdings kleidete er sich wie ein Höfling. Es stand ihm nicht schlecht – er war wirklich ein gut aussehender Mann. Tilda und Linnéa hätten sich nach seinen Küssen gesehnt. »Die Königin lässt fragen, wo du bleibst. Sie hat angeordnet, dass wir sofort in die Kirche kommen sollen, wo sie für den Frieden ein Tedeum lesen lässt.«

»Ich mache mich gleich auf den Weg«, sagte sie und lächelte Hampus an. Er trat neben sie ans Fenster und sah dem Trubel auf dem Schlosshof zu.

»Der Friede wurde am sechsundzwanzigsten Oktober ratifiziert – der Kurier war wirklich schnell. Aber unsere Königin lässt sich auch nicht gerade viel Zeit. Morgen Abend gibt sie ein Ballett zu Ehren des Friedens. Und da kein neues Stück geschrieben werden konnte, wird Fräulein Ebba in ihrer Rolle tanzen. Die Gelehrten stellen schon in aller Eile ihre Rezitationen zusammen. Würdest du mit mir …«

»Natürlich«, erwiderte Elin ärgerlich. »Wenn du mich hier schon alleine zurücklässt, muss ich ja um jede Stunde froh sein, die wir noch gemeinsam verbringen können.«

Das Lächeln in Hampus’ Gesicht machte einer betretenen Miene Platz. Elin vermisste ihren Freund jetzt schon, sie vermisste ihn so sehr, dass es wehtat.

Das Hoftheater befand sich im obersten Stock des Schlosses. Es war ein riesiger Raum, der früher für große Bankette und Bälle genutzt worden war. Elin hatte den im italienischen Stil eingerichteten Saal schon oft bei den Bühnenproben gesehen, heute jedoch nahm ihr die Pracht den Atem. Kristalllüster hingen von der Decke. Die Sitze waren mit Teppichen belegt. Die Sitzreihen selbst teilten sich in zwei Bereiche – für Adlige und Nichtadlige. Normalerweise wäre Elin zu ihrem Ehrenplatz in der Nähe von Kristina gegangen, heute aber wollte sie bei Hampus und seiner Tante sein. Helga begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung. »Mein liebes Kind!«, rief sie. »Ich freue mich, dich zu sehen – du warst lange nicht mehr bei mir in den Küchenräumen!«

Elin lächelte und nahm neben Hampus Platz. Die Musiker stimmten ihre Instrumente. Alle Augen waren auf den Vorhang aus glänzender weißer Atlasseide gerichtet. Es roch nach Farbe, nach schwerem Parfüm und Puder. Fächer erweckten den Eindruck, als säße ein ganzer Schwarm flatternder Vögel mitten im Publikum. Kristina hatte bereits in ihrem Sessel in der ersten Reihe Platz genommen und ließ ihren Blick über das Publikum schweifen. Als sie Elin entdeckte, lächelte sie und nickte ihr zu. Elin erwiderte ihren Gruß. Mit Unbehagen sah sie, dass Monsieur Tervué ganz in Kristinas Nähe saß und mit dem Botschafter Monsieur Chanut plauderte.

Wenig später wurden die Kerzen der Lüster im hinteren Teil des Raumes gelöscht und der Vorhang schwang wie von Geisterhand auf. Ein Schleiervorhang in Blau und Gelb erschien, dann wurde auch er weggezogen. Elin hielt sich unwillkürlich an ihrem Fächer fest. Das Gemälde des rosenfarbenen Frühlings war lebendig geworden! Zarte Wolken bewegten sich vor einer gemalten Landschaft. Blütenblätter aus Seide rieselten auf die Bühne und der Duft von Rosen verbreitete sich im ganzen Raum. Es war eine kleine, abgeschlossene Welt für sich, so entrückt und doch so real wie die Lehne, die gegen Elins Schulterblätter drückte. In diesem Augenblick, als sie in das rosenfarbene Land blickte, sah sie ihr Leben an sich vorbeiziehen. Sie sah sich in vielen Jahren – mit Hampus, der sein scherzhaftes Versprechen wahr gemacht hatte. In dieser Zukunft war sie die angesehene Frau und Gehilfin des Leibarztes Hampus Lundell. Sie würden sich küssen und das Bett teilen und sie würde gerne in seiner Nähe sein. Verstohlen blickte sie nach links und betrachtete sein Profil. War so die Liebe?

Ein Schauspieler trat auf die Bühne und begann in gestochenem Französisch ein langes Gedicht zu rezitieren. Er lobte den Frieden und die Weisheit und Güte der Königin, ihre Liebe für ihr Land und für die Menschen. Dann spielten die Geigen auf – und eine weitere Gestalt erschien.

Seidene Rosen zierten ihr Kleid, Schleier wehten. Die Venus! Elin blinzelte und erkannte Fräulein Ebba. Mit eleganten, grazilen Bewegungen begann sie zu tanzen. Anmutig schwang sie ihre Arme und setzte die Füße zu zierlichen Schritten im Takt der Musik voreinander. Elin starrte auf das rosenfarbene Land, bis sie ganz darin verschwunden war, bis die Venus sie umarmte und küsste, bis sich die aufgesteckte Frisur der Göttin löste und weißblondes Haar ihr über den Rücken fiel. Dann verblasste das Gespenst ihrer Mutter allmählich, drehte sich anmutig ein letztes Mal zum Publikum um und löste sich schließlich auf.

Erst der Applaus holte Elin wieder in die Wirklichkeit zurück. Fräulein Ebba verbeugte sich und Kristina war so begeistert, dass sie zu der Tänzerin rannte und sie, kaum dass sie die Bühne verlassen hatte, umarmte. Monsieur Tervué betrachtete diese vertraute Geste so angewidert, dass Elin schauderte.

TEIL IV 

Kristinas Kuss

Ire Kronor, XXI. März 1649

Liebe Emilia,

wie sehr hoffe ich, dass es Dir besser geht und die Medizin von Doktor van Wullen Dir geholfen hat. Ich schicke Dir diesmal sieben Riksdaler. Von Erik Gyllenhielm hörte ich, dass Du nicht mehr in der Küche arbeitest und in ein Dorf außerhalb von Uppsala gezogen bist. Ich wünsche Dir das Beste und freue mich so sehr auf den Tag, an dem wir uns endlich wieder sehen! Stell Dir vor: Sobald die Kunstschätze aus Prag da sind, darf ich die Königin nach Uppsala begleiten. Alle warten sehnsüchtig auf das Schiff, das die Kunstwerke bringt. Im Schloss drücken sich die Lakaien ständig in der Nähe der Fenster herum, um einen Blick auf die ankommenden Schiffe werfen zu können. Seit sich herumgesprochen hat, wie großzügig die Königin den Friedensboten belohnt hat, ist hier jeder versessen darauf, ihr als Erster die Nachricht von dem Schiff aus Prag überbringen zu können. Selbst Johan Oxenstierna vergisst seit Tagen, mich verachtungsvoll zu übersehen, und belauert stattdessen mit offenem Mund und Gier in den Augen jedes ankommende Schiff. Er sieht aus wie eine fette Katze, die hungrig auf das Mauseloch starrt. Vor ein paar Wochen ist der Botschafter Adler Salvius aus Münster zurückgekehrt. Die Königin hat ihr Versprechen gehalten und ihn zur Belohnung für seine Dienste zum Reichsrat ernannt. Du kannst Dir sicher vorstellen, was für ein Skandal das war. Ich bin unendlich stolz auf sie – eine Frau, die den Widerstand des alten Adels bricht! Ganz allein durch ihr Geschick, ihre Klugheit und ihre Hartnäckigkeit hat sie ein ganzes Heer kriegssüchtiger Männer zum Frieden gezwungen. Es gibt viel üble Nachrede gegen Adler Salvius, aber die Königin betont, dass sie sich auch weiterhin nicht mehr nur an Personen adliger Geburt oder an eine lange Ahnenreihe binden will. Die Generäle und Adligen, allen voran natürlich unser Kanzler, beschweren sich darüber, dass Schweden um des Friedens willen zu viele Zugeständnisse gemacht habe. Die hohen Herren beklagen den Verlust von vielen Provinzen, die sie nun nicht mehr zu ihrer Kriegsbeute zählen können. Als hätten sie noch nicht genug! Überall bauen sich diese Kriegsgewinnler ihre Paläste, vor allem auf der Ritterinsel. Die Königin kümmert ihr Gejammer zum Glück wenig. Gerade in diesen Tagen hat sie viel zu tun. Der Krieg hat den Staatsfinanzen sehr geschadet und Kristina muss ihre ganze Klugheit aufbringen, neue Pläne zu machen, wie sich die Wirtschaft wieder aufrichten lässt. Immer noch zahlen die Bauern Kriegssteuern und auch um das Handwerk ist es nicht gut bestellt.

Ich habe mich den Winter über viel mit der Astronomie beschäftigt, ich spreche Deutsch und Französisch, lese leidlich gut Latein und vertiefe mich immer weiter ins Studium der Medizin. Außerdem arbeite ich inzwischen in der Bibliothek des Schlosses. Monsieur Tervué kann mich nicht leiden und macht mir das Leben schwer, seit er erfahren hat, dass ich die philosophischen Schriften von Rene Descartes studiere. Er hält ihn für einen Atheisten, der auf die Königin einen schlechten Einfluss ausübt. Tervué wirft sich an die Königin heran, als gelte es, ihre Hand zu gewinnen. Überhaupt benehmen sich einige der Wissenschaftler wie Jagdhunde, die sich mit Klauen und Zähnen um das fetteste Stück Beute reißen. Ich sage dir, die Intrigen hier sind nicht weniger bösartig als Gretas Gezeter in der Küche. Erinnerst Du Dich noch, Emilia?

Seit dem Julfest habe ich mich zurückgezogen und kaum jemand anderen gesehen als ein paar schwangere Hofdamen, die geifernden Gelehrten und unzählige Papierbögen. Die Tintenflecke an meinen Fingern lassen mich aussehen, als wäre Gelehrtheit so etwas wie ein Fleckfieber. Immer noch tanze ich nicht, mir ist nach allem anderen als tanzen zumute. Kennst Du das, Emilia? Diese Traurigkeit, wenn man feststellt, dass man etwas verloren hat, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, es je zu besitzen? Ich habe endlich eingesehen, dass ich wohl nie erfahren werde, wer meine Mutter war. Kristina meint, es sei besser für mich, und nach dem, was Maria Eleonora ihr angetan hat, glaube ich es bei Tage auch.

Bei Nacht sieht es dagegen ganz anders aus. Und noch etwas drückt mir auf die Seele: Mein bester Freund ist abgereist und wird bald ins Ausland gehen. Ich hatte dir ja schon geschrieben, dass er mir im Scherz versprochen hat, um meine Hand anzuhalten. Nicht, dass ich das ernst nehmen würde, aber etwas macht mir dennoch Sorgen: Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich mir ein Leben mit ihm vorstellen könnte. Es ist seltsam – ich bin sicher, ihn zu lieben, und trotzdem widerstrebt mir die Vorstellung, mich ihm nackt zu zeigen oder mit ihm das Bett zu teilen. Vielleicht ist etwas an mir widernatürlich? Seit Lovisa von Hampus’ leicht dahingesagten Worten erfahren hat, malt sie mir in den schrecklichsten Farben aus, wie ich als Frau eines armen Wanderarztes von Marktplatz zu Marktplatz ziehen werde, statt mit einem alten Kaufmann gemütlich in Stockholm zu residieren und meine Diener herumzuscheuchen. Mir ist elend zumute und ich fühle mich, als hätte ich gleich zwei Freunde auf einmal verloren. Ob das Leben wirklich nur aus Verlusten besteht, Emilia? Es ist verrückt: Je mehr ich lerne, je mehr ich von der menschlichen Maschine, von der Welt und vom Lauf der Sterne verstehe, desto undurchschaubarer wird mein Leben und

»Was machst du hier?«

Elin schrak so sehr zusammen, dass ihr Federkiel einen Tintenklecks auf Emilias Brief hinterließ. Die Büchse mit Streusand fiel um. Kristina lachte. »Vergiss nicht zu atmen«, bemerkte sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Meine Güte, du bist vielleicht schreckhaft geworden! Fehlt nur noch, dass du mir auf der nächsten Jagd beim ersten Schuss durchgehst wie ein Pferd.«

»Seit wann schleichen Sie sich von hinten an einen Briefschreiber heran?«

»Seit es so viel zu entdecken gibt«, meinte Kristina spöttisch und deutete auf den Brief. »Lovisa gibt also immer noch nicht auf?«

»Sie führt sich schlimmer auf als damals der Kanzler bei Ihnen und Karl Gustav.«

Kristina lachte ihr etwas raues, herzliches Lachen, was Elin wie immer sofort wieder versöhnte. Dann schwenkte sie einen versiegelten Brief und strahlte Elin an.

»Monsieur Chanut sagte mir, dass er heute noch einen Brief an unseren Freund Descartes losschickt. Und ich möchte ihm dieses Schreiben hier mitgeben. Rate, was darin steht.«

Elin vergaß auf der Stelle ihren Kummer und sprang auf.

»Monsieur Descartes kommt zu Besuch auf Tre Kronor?«

»Zwingen kann ich ihn natürlich nicht«, sagte Kristina. Ihr siegesgewisses Lächeln verriet jedoch etwas ganz anderes. »Jedenfalls möchte ich, dass du Monsieur Chanut diesen Brief überbringst. Und zwar jetzt gleich.«

»Was werden Ihre Gelehrten dazu sagen, die seine Schriften als Teufelszeug bezeichnen?«

»Heulen und mit ihren Zähnen klappern werden sie«, meinte Kristina leichthin. Sie war schön geworden in diesem Winter und trug seit dem Friedensschluss den Kopf noch ein Stückchen höher. Aus ihren Bewegungen sprach nicht mehr so viel Fahrigkeit wie früher. Auf der Jagd hielt sie zehn Stunden oder länger im Sattel aus und spottete über Elin, die schon nach wenigen Stunden das Gefühl hatte, nicht mehr richtig sitzen zu können.

»Ich bringe ihn sofort in die Botschaft!«, rief Elin. Ihre Finger kribbelten vor Aufregung, als sie den kostbaren Brief entgegennahm. Beschwingt lief sie die lange Treppe hinunter, überquerte den Hof und verließ das Schloss. Sie wusste, dass sie einen Gardisten als Begleitung hätte mitnehmen müssen, aber sie genoss es, alleine unterwegs zu sein. In ihrem grauen Kleid fiel sie kaum auf – und Monsieur Chanut würde sie nicht tadeln, wenn sie nicht im Festgewand erschien.

Obwohl es ein warmer März war, türmten sich in den Gassen immer noch die Schneehaufen. Elin sog den Geruch nach brennendem Feuerholz tief in die Lungen und beschleunigte ihre Schritte. Die Französische Botschaft residierte in einem Stadthaus, dem »Scharenbergska Huset«. Niemand würde vermuten, dass der Keller zu einer kleinen Kapelle umgebaut war, in der Monsieur Chanut der lutherischen Empörung zum Trotz immer noch die katholischen Messen lesen ließ. Bei ihrem ersten Besuch im Haus des Botschafters hatte Elin vor allem eine Madonnenfigur bewundert. Solche Abbilder waren bei den Lutheranern verpönt, ebenso andere Zeichen katholischer Frömmigkeit wie zum Beispiel Rosenkränze. Wie immer war auch heute in Monsieur Chanuts gastfreundlichem Haus viel los. Herr Tervué saß im Salon und diskutierte mit dem Hauskaplan. Elin erkannte auch den französischen Tanzlehrer der Königin, der ein Glas Wein in der Hand hielt. Madame Chanut begrüßte Elin und deutete mit einem nachlässigen Winken zur Treppe.

»Gehen Sie nur nach oben, Mademoiselle. Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer.«

Elin drehte sich um und rannte ganz undamenhaft die Treppe hinauf.

»Monsieur Chanut!«, rief sie. Endlich kam die letzte Stufe. Elin fegte um die Ecke – und rannte gegen ein Hindernis. Schwappender Wein malte eine purpurrote Kaskade in die Luft. Instinktiv riss sie die Hand, die den Brief hielt, in die Höhe und sprang zur Seite. Mit einem staubigen Knall kam ein Buch auf dem Boden auf. Elin blickte auf eine Hand, von der roter Wein tropfte, und glaubte für einen Moment, wieder den Handschuh aus Blut zu sehen – wie damals auf der Lichtung, nachdem sie vom Pfeil getroffen worden war. Und auch diesmal war es Henris Hand!

Der Franzose sah sie an, als wäre sie ein Gespenst. Der Becher, den Elin ihm aus der Hand gestoßen hatte, rollte gegen die Wand. Henri erschien ihr älter – viel älter. Aus dem hageren Jungen war ein Mann geworden, der sie um fast einen Kopf überragte.

»Mademoiselle Elin?«, rief Chanut aus dem Arbeitsraum.

Elin räusperte sich.

»Ja, ich bin hier. Ich … komme schon …«

»Ah, ich habe also richtig gehört«, tönte Chanuts Stimme durch den Flur. »Wer sonst würde die Treppe hochpoltern wie die Kavallerie.« Elin rührte sich nicht und auch Henri wirkte wie erstarrt. Erst nach einer Weile sank ihre Hand mit dem Brief nach unten. Stumm standen sie sich gegenüber. Elin spürte das Klopfen ihres Herzens bis in die Kehle. Langsam, ganz langsam erahnte sie ein Lächeln auf Henris Gesicht.

»Ihr Französisch hat sich verbessert, Mademoiselle«, sagte er leise.

»Ihres auch«, erwiderte sie prompt. »Zumindest, was Ihre Wortwahl mir gegenüber betrifft.«

Es hatte kein Tadel sein sollen, eher ein unbeholfener Scherz. Zu ihrer Überraschung reagierte Henri nicht gekränkt, sondern zog spöttisch einen Mundwinkel hoch.

»Gut, dass Sie mich daran erinnern! Ihre Rübenkrone habe ich noch im Gepäck.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich freue mich sehr, Sie gesund zu sehen.«

»Ich freue mich ebenfalls, Monsieur de Vaincourt«, antwortete sie. Die Nennung seines Namens vertrieb das Lächeln aus seinem Gesicht.

»Haben Sie … meine Sendung erhalten?« Verdammt! Wie konnte sie so unhöflich sein und sich nicht für das Zaumzeug bedanken!

»Ja«, murmelte sie.

»Dann ist Ihr Dankesbrief wohl auf dem Weg nach Deutschland verloren gegangen.« Da war er wieder, der überhebliche Tonfall. Vor ihr stand Henri de Vaincourt, der Adlige, und Elin wusste beim besten Willen nicht, womit sie ihn gekränkt hatte. In diesem Augenblick stellte sie fest, wie mühelos ein alter Hass aufbrechen konnte. Es war einfacher, ihm feindlich gesinnt zu sein, als sich um ein neues Lächeln zu bemühen.

»Ich wüsste nicht, wofür ich Ihnen zu danken hätte«, erwiderte sie kühl. »Ich hoffe, der scharfe Zaum fehlt Ihnen nicht. Sie scheinen ja ein Talent dafür zu haben, tief vom hohen Ross zu fallen.«

Der Blick des Franzosen wurde noch finsterer.

»Offenbar sind Sie bestens über mein Unglück informiert. Vielen Dank, dass Sie mich so höhnisch daran erinnern, ein Krüppel zu sein«, sagte er. »Entschuldigen Sie mich.« Er zupfte an seinem weinbefleckten Ärmel und ging an ihr vorbei. Das heißt, er ging nicht, er versuchte zu gehen und dabei zu verbergen, dass sein rechtes Bein steif und ungelenk war.

Elin biss sich auf die Lippe. Es kam ihr vor, als hätte Henri ihr den Wein mitten ins Gesicht geschüttet.

»Ah, ich sehe, die jungen Leute haben sich schon getroffen«, erklang Chanuts muntere Stimme. Der Botschafter stand mit verschränkten Armen in der Tür, um seine Augen bildete sich ein Netz von Lachfältchen.

»Henri! Wollen Sie sich nicht mit Mademoiselle Elin in mein Kabinett setzen und ein wenig plaudern?«

»Bedaure«, erwiderte Henri. »Ich habe noch zu tun. Ein andermal gerne.«

Er nickte kurz und verschwand in ein anderes Zimmer. Betreten sah Elin ihm nach. Als hätte das Wortgefecht alte Wunden wieder aufgerissen, schmerzte plötzlich ihre Narbe am Rücken.

»Verzeihen Sie ihm, Mademoiselle«, sagte der Botschafter. »Er ist erst heute angekommen und noch müde von der Reise. Was haben Sie für mich? Einen Brief?«

»Für Monsieur Descartes«, sagte sie schnell. »Königin Kristina bittet Sie, ihn der Korrespondenz beizulegen.«

»Gut, gut. Das werde ich gerne tun. Kommen Sie doch herein, dann gebe ich Ihnen noch einige Dinge für die Königin mit.«

Zögernd betrat Elin das Schreibzimmer des Botschafters, das voll gestopft war mit Schriften und Büchern. Chanut tauchte unter den Schreibtisch und wühlte in einer Schublade. »Bleibt Monsieur de Vaincourt lange in Stockholm?«, fragte sie nach einer Weile.

»Solange er möchte«, tönte Chanuts Stimme dumpf hinter dem Möbelstück hervor. »Wir kennen seine Pläne noch nicht. Er hat uns gewissermaßen überrascht. Aber natürlich ist er als Freund der Familie jederzeit willkommen. Ah, hier ist es.« Mit rotem Gesicht tauchte er wieder auf und reichte Elin ein dünnes Buch. »Mit Dank zurück an die Königin. Wissen Sie, Henri hat eine schwere Zeit hinter sich, und kaum vom Schlachtfeld heimgekehrt, fand er sich in Erbschaftsstreitigkeiten verwickelt. Es ist keine schlechte Wahl für ihn, eine Reise zu machen.«

»Was ist ihm zugestoßen?«

»Oh, das wissen Sie nicht? Graf de Vaincourt hat ihn als Kadett mitgenommen, befahl ihm dann aber in der Schlacht, bei der Kavallerie in erster Reihe mitzureiten. Monsieur Henri geriet ins Kreuzfeuer und wurde vom Pferd geschossen.« Er seufzte. »Das geschieht nun einmal, wenn man einen jungen, in der Kriegskunst noch unerfahrenen Mann aufs Schlachtfeld schickt. Nun, alles andere sollte er Ihnen selbst erzählen. Grüßen Sie bitte die Königin von mir!«

»Das … werde ich«, murmelte Elin. Leise schlich sie die Treppe hinunter und floh auf die Straße. Diesmal blickte Henri ihr nicht durch das Fenster nach.

Das Schiff mit der Kriegsbeute aus Prag kam unbemerkt in den frühen Morgenstunden an, als die Lakaien noch schliefen und Johan Oxenstierna mit Fieber im Bett lag. Erst gegen drei Uhr morgens hatte Elin ihr Buch zugeschlagen, sich an das Fenster gesetzt und den Hafen betrachtet. Als sie die Fackeln am Ufer entdeckte und aufgeregte Rufe hörte, sprang sie auf, holte ihren Mantel und lief zu den Kellern. In den Ziegelgewölben waren die Schauerleute schon dabei, mit Stoff umhüllte Gegenstände über Flaschenzüge von der Anlegestelle direkt in die Keller hinunterzulassen. Kurz darauf erschien Kristina mit aufgelöstem Haar im Gewölbe. Sie warf Elin ein strahlendes Lächeln zu, zerrte den Stoff vom nächstbesten Gegenstand und stieß einen entzückten Ruf aus. Ein schwerer Goldrahmen kam zum Vorschein. Und ein nackter, anmutiger Fuß, von Meisterhand gemalt.

Noch vor Sonnenaufgang wurde in der Kunstkammer des Schlosses Platz für die neuen Werke geschaffen. Ebba und Elin arbeiteten fast den ganzen Tag daran, die Tafelgemälde deutscher, italienischer und niederländischer Maler auf Staffeleien und Tischen zu drapieren. Mit kritischem Blick wachte David Beck über das Arrangement der Kunstwerke. Juwelen leuchteten in Schatullen. Elin staunte über das Silber und die Medaillen, die Majoliken und Skulpturen. Zur Sammlung aus dem Hradschin gehörte auch die prächtige Ulfilas-Bibel in gotischer Sprache.

Gegen Mittag wagten sich erstmals die Hofdamen und die Frauen der Reichsräte in die Kammer und erblassten beim Anblick der nackten Schönheiten, die Maler wie Tizian, Tintoretto und Veronese auf die Leinwand gebannt hatten. Obwohl sie sich insgeheim vor einem Wiedersehen fürchtete, hielt Elin verstohlen Ausschau nach Henri, aber der junge Graf begleitete Chanut und dessen Frau diesmal leider nicht.

An diesem Tag predigten die Geistlichen von allen Kanzeln der Stadt ihre Entrüstung über die schamlosen Kunstwerke, aber Kristina ließ sich nicht beeindrucken, sondern spottete nur über das »Höllenfeuer-Gezeter«. Der Gottesdienst in der Domkyrka erinnerte an den Vorabend des Jüngsten Gerichts. Elin langweilte sich unendlich bei der düsteren Predigt und wusste, dass es der Königin nicht anders ging. Endlich sprach der Pastor die letzten Worte und entließ die Kirchenbesucher. Elin konnte es kaum erwarten, das Gotteshaus zu verlassen. An der Treppe fing Ebba sie jedoch ab und nahm sie beiseite. »Komm heute Nacht in die Bilderkammer«, flüsterte sie mit einem verschwörerischen Unterton. »Sag niemandem etwas davon – und zieh dein gutes Kleid an!«

Mit gemischten Gefühlen machte sich Elin in dieser Nacht auf den Weg. Ihre Schuhe trug sie in der Hand und schlich über den nachtkalten Boden der Flure. Als sie wenig später in der Bilderkammer angekommen war, glaubte sie eine fremde Welt zu betreten. Marzipanduft und der Geruch nach Ölfarbe und Firnisharz erfüllten den Raum. In Glaskaraffen glühte roter Wein. Noch nie hatte sie ein solches Meer an Kerzen gesehen, Wärme wehte ihr entgegen wie eine Sommerbrise. Kristina hatte ein Kleid aus Atlasseide an, das sie sonst nur auf der Ballettbühne trug.

»Willkommen!«, rief sie. »Heute Nacht gehören die Künste dieser Welt nur uns!« Mit einem energischen Wink scheuchte sie die Pagen aus dem Zimmer und verschloss die Tür. Den Schlüssel legte sie in eine der Juwelenkisten. Mit einem verschwörerischen Lächeln drehte sie sich um. »Kommt und seht euch die Bilder an! Ein wunderschönes Geschenk für eine erhabene Königin!«

»Ein Geschenk nennen Sie es?«, sagte Elin mit gutmütigem Spott. »Ich nenne es eher Raub.«

»Fürsten rauben nicht, meine kritische Elin«, wies Kristina sie lachend zurecht. »Nenne diese Kunstwerke einfach meine persönliche Gratifikation. Auch Glaubenskriege sind nun mal nur ein anderes Wort für Eroberungsfeldzüge. Und ich habe längst nicht so sehr geraubt, wie es meinen Ministern und dem Kanzler gefallen hätte.«

Sie gingen von Bild zu Bild, blieben vor jedem Kunstwerk stehen und bewunderten die Formen und die Farben, die Leiber der Götter und die biblischen Gestalten, die Landschaften und Stillleben. Noch nie hatte Elin so viele Farben auf einmal gesehen. »Um wirklich lebendig zu werden, brauchen sie das Licht des Südens«, flüsterte Kristina. »Wünschst du dir nicht manchmal dort zu sein, Elin? In Venedig vielleicht? In Rom oder in Florenz?« Elin wandte den Blick von einem Götterhain und sah die Königin an.

»Ja«, erwiderte sie. »Natürlich! Wer wünscht sich das nicht, mit Ausnahme von Lovisa vielleicht.«

»Wer weiß, was die Zukunft bringt«, sagte Kristina geheimnisvoll. »Heute jedenfalls sind wir im Süden! Heute bin ich nicht die Königin, nicht die Minerva des Nordens und nicht die Tochter des Löwen aus der Mitternacht. Heute bin ich nur Kristina! Und heute Nacht nennst du mich nicht ›Sie‹, sondern ›du‹.«

»Auf Kristina, die Sonne!«, sagte Ebba feierlich. Sie schritt zum großen Tisch und schenkte Wein in die Gläser ein. Elin nahm mit einem Lächeln eines davon und prostete Kristina zu. Der Wein schmeckte süß und herb zugleich, er legte sich wie Öl auf ihre Zunge und füllte ihre Nase mit dem herben Duft von Trauben und Gewürzen, die sie nicht kannte. Noch nie hatte sie so etwas Köstliches getrunken. Nach einer Weile begannen die Götter auf den Bildern zu lächeln. In dieser Nacht war das Leben am Hof so, wie Emilia es Elin vor fast zwei Jahren beschrieben hatte. Kristina und Ebba tanzten, sie schmückten sich mit den Prager Juwelen und tranken die Farben ebenso begierig wie den Wein. Weit nach Mitternacht streckte sich Ebba auf den Seidenkissen einer Sitzbank aus und schlief ein – das Haar offen, sodass es bis zum Boden fiel, das leere Weinglas in der Hand. Kristina setzte sich neben sie und strich ihr behutsam über die Stirn. Elin saß auf dem Boden und betrachtete die beiden Frauen. Die Königin und ihre Hofdame wirkten wie ein Gemälde, eine Szene von großer Vertrautheit.

»Sie … du … liebst sie, nicht wahr?«

Überrascht blickte Kristina auf und lächelte.

»Natürlich«, erwiderte sie. »Sieh sie dir an – wer sollte Belle nicht lieben?«

»Dann wird … Fräulein Ebba auch nicht heiraten?«

»Woher soll ich das wissen? Ich kenne Beiles Pläne nicht.« Sie musterte Elin mit scharfem Blick. »Was willst du wirklich wissen? Heraus damit!«

»Ich … es ist nur, Lovisa will mich verheiraten und ich will nicht. Ich weiß nicht, ob ich jemals heirate. Wenn, dann vielleicht Hampus – aber ich weiß nicht, ob ich ihn liebe. Ich würde gerne so leben wie du. Aber … du hast Fräulein Ebba geküsst … und die Leute erzählen sich …«

»Dass ich Frauen liebe?« Kristina musste sich die Hand vor den Mund schlagen, um nicht laut loszulachen. »Oder hast du die dummen Gerüchte gehört, die erzählen, dass man mich im Ausland für einen Mann hält?«

In ihre Heiterkeit mischte sich nun Ärger. Wenn diese Spannung in der Luft lag, konnte die launische Königin auf alle Arten reagieren – in Spott verfallen, einen Wutanfall bekommen oder ganz nüchtern auf die Frage antworten. Heute tat sie nichts von alledem. Stattdessen stand sie vorsichtig auf, um Ebba nicht zu wecken, und setzte sich neben Elin auf den blanken Boden.

»Mann oder Frau – spielt das eine Rolle?«, sagte sie. »Bin ich etwas anderes, nur weil die anderen mich anders nennen?«

Im Licht der Kerzenflammen leuchteten Kristinas Augen in einem tiefen Blau. Ihr Lächeln war so schön wie das von Ebba. »Ich zeige dir etwas, Elin. Wirst du mir vertrauen?« Elin schwieg. Sie behielt es für sich, dass Kristina der einzige Mensch war, dem sie ganz und gar vertraute, und nickte nur stumm. »Dann schließe die Augen und gib dir die Antwort auf deine Frage selbst«, sagte Kristina sanft.

Elins Herz klopfte bis zum Hals. Die Augen zu schließen war eine schwierigere Aufgabe, als Enhörning zu reiten, und erforderte mehr Mut, als Oxenstierna und seinen Anhängern zu begegnen. Die Dunkelheit hüllte sie ein, nur dunkelrote Schemen leuchteten hinter ihren geschlossenen Lidern. Noch nie hatte sie sich so schutzlos hingegeben.

»Ich denke, wir sind alle Gottes Geschöpfe«, flüsterte Kristina. »Ob wir nun katholisch sind oder protestantisch, ob Mann oder Frau – die Grenzen existieren nur, solange wir sie aufrechterhalten.« Elin spürte Kristinas Atem auf ihrem Mund und lächelte über den behutsamen Kuss. Die Lippen der Königin waren kühl vom Wein. Elin wunderte sich darüber, wie einfach es war. Es war ein Kuss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und Elin gestand sich ein, dass sie die Königin liebte – für all das, was sie war. Aber auch für all das, was sie nicht war und nie sein würde.

»Und?«, flüsterte Kristina ihr zu. »Bist du nun etwas anderes, als du warst? Wirst du dafür im Höllenfeuer schmoren?«

Elin öffnete die Augen. Mit einem Mal wurden die Mauern der Welt durchsichtig im Licht der rosenfarbenen Sonne.

»Es gibt Männer, die ebenso sehr Frau sind wie ihre Mütter«, sagte Kristina. »Und Frauen, die so männlich sind wie ihre Väter. Die Seele kennt kein Geschlecht. Ob du eines Tages heiratest oder nicht, ist allein deine Entscheidung. Niemand kann es dir befehlen. Und wenn du mich fragst, rate ich dir sogar davon ab – ich bin überzeugt, dass jeder über kurz oder lang in einer Ehe unglücklich wird.« Elin spürte unendliche Erleichterung. Kristina streckte sich und betrachtete nachdenklich das Bild, das vor ihnen auf dem Boden stand. Im Licht der letzten Kerzen begann das Gemälde allmählich zu verlöschen. Schatten krochen über die gemalten Körper und sonnigen Landschaften.

»Ach Elin, dich werde ich am meisten vermissen, wenn ich nicht mehr hier bin«, seufzte Kristina.

»Sie … du willst auf Reisen gehen?«

Kristina streckte die Hand nach Elins Haar aus und ließ eine Strähne durch ihre Finger gleiten.

»Ich spreche davon, Schweden für immer zu verlassen«, sagte sie leise. Elin hatte das Gefühl, dass die Flammen plötzlich Kälte abstrahlten.

»Schweden verlassen? Das kannst du nicht! Du bist die Königin!«

»Meine Güte, ich werde ja auch nicht sofort aufspringen und wegreiten! Nein, aber eines Tages möchte ich dieses Land verlassen. Nichts wünsche ich mir mehr!«

Elin kämpfte mit den Tränen. Sie würde allein zurückbleiben – allein in Stockholm, mitten im Wolfsrudel der Adligen, das nur darauf wartete, sie zu zerreißen.

»Und … deine Krone? Du wirst nächstes Jahr offiziell gekrönt!«

»Eine Krone kann man ablehnen oder sie später wieder ablegen. Zumindest habe ich jetzt endlich einen offiziellen Nachfolger«, gab Kristina zu bedenken. »Auch wenn der Rat und die Stände ihn nur zähneknirschend anerkannt haben. Karl wird ein guter König sein.« Sie lächelte und prostete Elin zu. Elin war nicht mehr nach Wein zumute.

»Und was wird … aus mir? Lässt du mich zurück?«

»Ich kann nicht meinen ganzen Hofstaat mitnehmen.« Als sie Elins enttäuschtes Gesicht sah, lachte sie laut auf. Ebba regte sich auf ihrer Bank, wachte jedoch nicht auf. »Ach Elin Trollkind!«, fuhr Kristina leiser fort. »Sollte ich jemals wirklich in den Süden gehen, in das Land der Musik und des Tanzes – dann nehme ich dich natürlich mit!« Elin hatte nicht gewusst, wie gut sich Erleichterung anfühlen konnte.

»Aber Italien – das ist doch ein katholisches Land«, sagte sie nach einer Weile.

»Na und? Viele große Geister und bemerkenswerte Menschen sind Katholiken. Monsieur Descartes gehört dazu, Monsieur Tervué …« Sie lächelte. »… und auch Henri de Vaincourt.« Elin versuchte den Stich, den sie bei der Erwähnung von Henris Namen spürte, zu ignorieren.

»Aber du bist Lutheranerin«, beharrte sie. »Du hast für die Glaubensfreiheit der Protestanten gekämpft. Für die Schweden wäre es Verrat.«

»Dieselben Schweden hatten nichts dagegen, katholische Bündnispartner wie Frankreich zu haben. Katholiken kämpfen auf der Seite von Protestanten gegen Katholiken, wenn es um Gewinne geht – ebenso wie Lutheraner gegen Lutheraner kämpfen würden.«

Elin schwieg. Der Wein hatte ihre Wahrnehmung getrübt und gaukelte ihr das Bild von Henri vor, der am Boden lag und aus einer Schusswunde blutete. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt – und Elin hatte Angst um sein Leben. Mühsam rief sie sich in Erinnerung, dass Henri nur wenige Gassen vom Schloss entfernt in seinem Bett lag und wohlauf war.

»Zum Teufel mit solchen Gedanken«, sagte Kristina. »Die Regeln machen die Menschen, nicht die Priester – und ich bin sicher, dass wir dafür nicht ins Höllenfeuer kommen, wie unsere lutherischen Kanzelritter es behaupten. Glaubst du vielleicht daran, dass Gottes geschriebenes Wort alles ist, was zählt?«

Elin räusperte sich. Noch nie hatte sie mit jemandem über ihren Glauben gesprochen. Aber es schien das Selbstverständlichste der Welt zu sein, hier – im Schutz der gemalten heidnischen Götter – ihren ketzerischen Gedanken auszusprechen.

»Um es mit deinen Worten zu sagen: Ich denke, die Seele kennt keine Religion, die Seele kennt nur Gott. Und sobald ich weiß, dass Emilia gesund und glücklich ist, werde ich mit dir gehen, Kristina. Von mir aus auch ans Ende der Welt bis nach Terra Australis.«

Kristina lachte und drückte Elins Hand.

»Immer einen Schritt nach dem anderen«, sagte sie leise. »Zuerst einmal fahren wir nach Uppsala.«

Ketzerkind

Im Licht des Morgens verflog die Magie der Nacht und der Zauber eines ganz neuen Tages umfing Elin. Der Tag, an dem sie nicht mehr zweifelte. Irgendwann würde sie ins rosenfarbene Land reisen – mit Kristina und Ebba. Vorerst aber bereitete sich Elin auf eine Reise vor, die im Augenblick weitaus aufregender war als der Gedanke an fremde Länder. Drei Wochen lang würde die Königin im alten Schloss in Uppsala residieren. Mehrere Unterredungen mit dem Bischof und viele öffentliche Audienzen standen ihr bevor. Seit Tagen wurde gepackt und vorbereitet.

»Was willst du denn noch alles mitnehmen?«, stöhnte Lovisa beim Anblick von Elins Bücherberg.

»Nur noch die Behälter mit den Arzneien.« Elin machte sich daran, die kostbaren Flaschen einzuwickeln und in der gepolsterten Truhe zu verstauen. Beim Gedanken daran, Emilia wieder zu sehen, sang ihr Herz. Lovisa seufzte.

»Ach, wenn Tilda nicht ausgerechnet jetzt ihr Kind bekäme, würde ich mit nach Uppsala fahren. Was um Himmels willen ist dieses stinkende Zeug hier?«

»Pulver aus zerriebenen Mumien. Es soll sogar gegen die Pest helfen. Wogegen es aber auf jeden Fall hilft, sind die Motten in den Kleidertruhen.«

Der Konvoi, der wenig später nach Uppsala aufbrach, bestand nur aus vierzig Gardisten und vier Karossen. Sobald das Gepäck sicher verstaut war, schwang sich Elin in den Sattel. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen humpelnden Mann, der zu einem hellgrauen Pferd ging. Ohne den Kopf zu wenden, erkannte sie ihn – Henri. Als sie glaubte, dass er sie nicht beachtete, wagte sie einen vorsichtigen Blick. Der junge Graf zog sich mühsam auf sein Pferd und verzog dabei das Gesicht, als bereite ihm diese Anstrengung Schmerzen. Erst als er im Sattel saß, entspannten sich seine Züge und er sah sich um. Rasch senkte Elin den Blick und nestelte an ihrem Sattel. Endlich setzte sich der Konvoi in Bewegung. Elin ritt neben der königlichen Kutsche an der Spitze des Zuges. Die Karosse war mit Kristinas Symbol – einer Sonne – geschmückt. An einem Türbeschlag prangte auch das Zeichen ihres Vaters: der nordische Löwe, der einen Blitz in der Klaue hielt. Durch das Fenster konnte Elin Kristina direkt auf den Schoß sehen. Die Königin hatte keinen Blick für den Himmel, der heute einem taubenblauen Seidentuch glich, sondern war ganz in ein Buch vertieft. Bald ließen sie Stockholm hinter sich. Elin ritt in leichtem Trab, bis der Tross den Waldrand erreichte, dann überholte sie in zügigem Tempo die Gardisten vor der ersten Karosse. Scharen von Vögeln stoben aus dem Dickicht. Elin lächelte und fühlte sich, als würde sie auf dem Rücken des Pferdes selbst davonfliegen. Hinter ihr ertönte Hufschlag und sie warf einen Blick über die Schulter. Es überraschte sie kaum, Henri zu sehen. Geschickt lenkte er sein Pferd neben sie. Doch er grüßte sie nicht, wie es die Höflichkeit erfordert hätte. Wie auf ein geheimes Zeichen trieben sie ihre Pferde zu einem schnelleren Trab an und ritten nebeneinanderher. Die Rufe und das Rumpeln der Kutschräder hinter ihnen wurden immer leiser. Schließlich erreichten sie die nächste Wegbiegung und waren endgültig aus dem Sichtfeld der Gardisten verschwunden. Während sie weiterritten, musterten sie sich betont gleichgültig aus den Augenwinkeln. Elin konnte Henris Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie hatte mit einem Mal unbändige Lust, etwas zu tun, wofür Lovisa sie sicher rügen würde. Unmerklich wurde der Trab noch schneller. Dann, an einer großen Birke, gab sie Enhörning frei. Der Hengst spannte die Muskeln und stürmte los. Darauf hatte Henri offenbar nur gewartet. Das Rennen begann. Die Pferde streckten sich und sprangen wie Spiegelbilder über einen Haufen von Zweigen auf dem Weg. Elin genoss diesen Moment des Schwebens, bis Enhörnings Hufe wieder aufsetzten. Weiter ging die Jagd am Waldrand entlang. Elin trank die Luft und war glücklich. Vor ihr lag die Welt. Und als sie sich nach Henri umsah, fühlte sie sich noch leichter. Henri lachte! Sie hatten den Konvoi meilenweit hinter sich gelassen, als sie endlich langsamer wurden und ihre Pferde schließlich in den Schritt fallen ließen. Schaum tropfte von den Pferdemäulern auf den Boden, Schweiß glänzte auf den Flanken. Henri klopfte seinem Hengst den Hals.

»Enhörning ist immer noch ein guter Läufer, Mademoiselle.«

»Und Sie sind ein besserer Reiter geworden, Monsieur Henri.« Noch während sie diese unbedachten Worte sagte, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Seine Fröhlichkeit verwehte wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze.

»Tja«, meinte er trocken. »Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages besser reiten als laufen kann.«

»Es tut mir sehr Leid, dass Sie verwundet wurden«, sagte Elin. »In Monsieur Chanuts Haus wusste ich noch nichts von Ihrem Unglück. Es war nicht meine Absicht …«

Mit einer schroffen Geste winkte er ab.

»Danke, Mademoiselle«, sagte er heiser. »Es ist nicht nötig, jemandem, der am Boden liegt, auch noch höhnisch ins Gesicht zu treten.«

»Sie unterstellen mir, dass ich mich über Ihr Leid lustig mache? Da redet der Richtige, Monsieur Riksdaler!«

Henri fluchte, wendete sein Pferd und galoppierte den Weg zurück. Mit gemischten Gefühlen sah Elin ihm nach.

»Ist dir ein Troll über den Weg gelaufen?«, fragte Kristina, als sie wenig später Rast machten.

»So etwas Ähnliches«, murmelte Elin.

Am zweiten Tag der Reise kam ihnen eine Delegation des Bischofs entgegen, um die Kutschen zum Schloss zu begleiten. Ein junger Mann ritt direkt auf Elin zu und schwenkte seinen Hut.

»Einen Gruß von meinem Freund Hampus!«, rief er.

»Erik? Sind Sie Erik Gyllenhielm?«

Der Reiter dirigierte sein Pferd näher an Enhörning heran und ergriff Elins Hand. Galant beugte er sich über den Handschuh und grüßte sie mit einem angedeuteten Handkuss. »Hampus hat mir schon viel von Ihnen erzählt, Mademoiselle. Und dabei schamlos untertrieben.« Sein Blick schweifte anerkennend über ihr Gesicht und streifte ihr Dekolletee. »Sind Sie sicher, dass Sie einen Bleikopf wie meinen Freund heiraten wollen? Ich würde mich opfern, für ihn einzuspringen.«

Eriks Grinsen verdarb Elin auf der Stelle die Laune. Was hatte Hampus ihm erzählt?

»Hören Sie lieber auf, Gerüchte zu schüren«, erwiderte sie etwas zu barsch.

Je näher sie dem Schloss kamen, desto mulmiger wurde Elin zumute. Es war, als würde sie mit jedem Schritt, den sie auf Uppsala zuritt, ein wenig kleiner werden, als würden ihre Gewänder immer armseliger und schäbiger. Als sie das Tor zum Schlosshof passierten, war sie wieder die unscheinbare Scheuermagd und starrte mit klopfendem Herzen zu den Fenstern hoch. Es fühlte sich unwirklich an, die Treppe, die zum Eingang führte, zu betreten. Das Seltsamste jedoch war das Greisengesicht von Victor. Der Diener ging ihr kaum noch bis zur Schulter – ein winziges, faltiges Männchen stand vor ihr.

»Victor!«, rief Elin. »Ich bin es! Oh, ich freue mich so, dich zu sehen! Wie geht es den anderen? Was macht Olof? Und Greta? Ist sie immer noch so garstig?«

Die trüben Augen sahen sie lange an, dann lächelte der alte Diener und verbeugte sich.

»Guten Tag, Fräulein Asenban. Danke, es geht allen gut. Wenn ich um Ihren Mantel bitten dürfte?«

Elin schluckte und schämte sich, dass sie den alten Diener in die Verlegenheit gebracht hatte, sie auf ihren neuen Platz verweisen zu müssen.

»Natürlich«, sagte sie kleinlaut. »Danke, Victor.«

Noch unwirklicher war es, die Treppe zu den oberen Stockwerken hinaufzugehen – in die Gemächer, die mit ihren Gobelins und Holzvertäfelungen im Vergleich zum französischen Prunk von Tre Kronor altertümlich und rührend unmodern wirkten. Behutsam, als würde sie in ein verbotenes Zimmer eindringen, öffnete Elin eine Tür. Der Sessel, in dem Madame Joulain vor so langer Zeit gestickt hatte, sah ein wenig schäbig aus. Goldene Webfäden schimmerten durch den abgenutzten Stoff.

»Nein«, sagte Kristina schon zum dritten Mal. »Du reitest mit den Gardisten oder gar nicht.« Wie immer, wenn sie Briefe las, ging sie in ihrem Kabinett auf und ab. Hier in Uppsala knarrte der Holzboden noch mehr als auf Tre Kronor.

»Es sind nur zehn Meilen. Ich möchte nicht mit der halben Kavallerie in das Dorf reiten und die Leute scheu machen«, erwiderte Elin.

»Es ist mir egal, was du möchtest oder nicht. Ich möchte es nicht. Nur das zählt. Du denkst, nur weil du die Armbrust überlebt hast, bist du unverwundbar. Was sagt denn dein Freund Hampus dazu?«

»Ich habe ihn noch nicht getroffen, er kommt erst übermorgen von einer Reise zurück. Aber das spielt auch gar keine Rolle, ich will einfach …«

»Es treibt sich eine Menge Gesindel herum – und eine ausgeraubte oder geschändete Hofdame ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.«

Elin wollte etwas erwidern, doch die Königin scheuchte sie von ihrem Stuhl auf und schob sie unsanft zur Tür.

»Genug. Raus jetzt! Ich habe zu tun. Der Überseehandel organisiert sich nicht von allein.« Ihre Stimme wurde noch tiefer. »Und sollte ich hören, dass du ohne mindestens zwei Begleiter weggeritten bist, lasse ich dich zurückholen und du kannst bis zum Tag unserer Rückreise in deinem Gemach sitzen und sticken. Verstanden?«

»Ja, Majestät«, murmelte Elin. Sie machte einen wütenden Knicks und stürzte aus dem Raum. Auf dem Weg zu ihrem Gemach verfluchte sie Kristinas Dickköpfigkeit. In dem Zimmer, das man für sie hergerichtet hatte, nahm sie ihre Ledertasche und packte alles ein, was sie für Emilia mitgebracht hatte: zwei Kleider, die Medikamente, ein paar warme Handschuhe für den Winter und gute, feste Schuhe. Die Tasche war schwer, es war ein gutes Stück Arbeit, sie in den Stall zu schleppen. Mit geübten Griffen sattelte Elin Enhörning und schnallte das Gepäck hinter dem Sattel fest. Gerade überlegte sie, wie sie ungesehen vom Hof kommen konnte, als sie Henri bemerkte. Lässig lehnte er an der Stalltür.

»Was haben Sie vor?«

»Wonach sieht es denn aus?«, erwiderte Elin schnippisch.

Henri zog den rechten Mundwinkel hoch.

»Wenn ich ehrlich bin, könnte man den Eindruck bekommen, Sie würden dem Befehl der Königin nicht gehorchen.«

»Das geht Sie gar nichts an.«

»Möglicherweise doch. Zumindest, wenn es nach der Königin geht. Sie ließ mir gerade ausrichten, dass ich mich um Ihre Begleitung kümmern solle.«

Elin verkniff sich einen Fluch und funkelte ihn an.

»Beleidigt Sie die Vorstellung nicht, in ein schäbiges Dorf zureiten?«

»Sie haben sich sehr verändert, Mademoiselle.«

Elin antwortete ihm nicht, sondern führte Enhörning aus der Box. Vor dem Stall atmete sie die kalte Morgenluft ein und versuchte ihr kochendes Blut wieder zu beruhigen. Natürlich warteten bereits zwei Gardisten im Hof. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben.

Der Weg zu Emilias Dorf war schwieriger zu finden, als sie gedacht hatte. Mehrmals mussten sie Bauern fragen, die mit Heukarren, Hühnerkäfigen und Ziegen auf dem Weg in die Stadt waren. Elins Aufregung übertrug sich auf Enhörning, der zweimal versuchte durchzugehen. Die Flaschen und Tiegel im Beutel waren offenbar aus ihren Stoffhüllen gerutscht, denn sie klapperten und klirrten bei jedem Schritt.

Endlich kam ein Dorf in Sicht – eine Ansammlung von niedrigen Hütten aus rot gestrichenem Holz. Von den grasbewachsenen Dächern blickten Ziegen und Hühner auf die Reiter herab. Elin sprang von Enhörnings Rücken. »He, du!«, rief sie einem Bauern zu. »Emilia suche ich! Wo wohnt sie?«

Der Bauer starrte sie mit großen Augen an und deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Das Haus dahinten. Gleich beim Tümpel.« Einer der Gardisten nahm Enhörnings Zügel und wartete, bis Elin den Beutel vom Sattel genommen hatte.

Elin vergaß, dass eine Dame nicht rennen durfte, und achtete nicht darauf, dass der Saum ihres Kleides über nasses Gras und Schlamm schleifte. Von weitem sah sie eine Frau neben der Hütte stehen. Ihr rotes Haar hob sich von ihrem schwarzen Kleid ab wie ein Heiligenschein aus Kupfer.

»Emilia!« Die Frau fuhr herum. Vor Überraschung wäre Elin beinahe gestolpert. Im letzten Augenblick aber fing sie sich und blieb stehen.

»Wer sind Sie?«, fragte die fremde Frau.

»Elin. Elin Asenban.«

Die Frau war sichtlich erschrocken. Zu Elins Bestürzung eilte sie zu ihr, griff nach ihrer Hand und küsste sie.

»Sie sind es«, flüsterte die Frau. »Ich danke Ihnen so sehr! Ich bin Emilias Schwester – Frida. Oh, dass Sie gekommen sind!«

Angst legte sich um Elins Brust wie eine Klammer.

»Wo ist Emilia?«

Die Kammer, die sie gleich darauf betraten, war niedrig und von Kerzenwärme erfüllt. Elin kniff die Augen zusammen und sah sich um. Tisch und Stühle waren an die Wand gerückt, um einer Kiste Platz zu machen. Nach und nach schälten sich im spärlichen Kerzenschein die Umrisse einer Gestalt aus dem Halbdunkel der Hütte. Eine Frau lag hier in einem Sarg, das Kinn trotzig vorgereckt. Die Wangen waren eingefallen, die Haut gelb wie Wachs. Fassungslos starrte Elin Emilia an – einen fremden Leichnam mit verblichenen Sommersprossen und strengen Gesichtszügen. Das Würgen kam so plötzlich, dass sie beide Hände vor den Mund schlagen musste. Der Beutel entglitt ihr. Mit einem Klirren zerbrach eine Flasche, Sandelholzaroma verbreitete sich im Raum. Das Zimmer schien sich zu drehen. Gesichter drängten sich an der Tür und starrten sie an – offene Münder, aufgerissene Augen, wie die verdammten Seelen auf einem Gemälde, das die Hölle darstellte.

»Sie war krank«, sagte Frida leise. »Schon lange. Ohne Ihre Unterstützung wäre sie schon viel früher gestorben. Wir danken Ihnen sehr.«

»Sie ist … trotz der Medizin gestorben? Und die Ratschläge, die ich ihr geschickt habe?«

Frida knetete verlegen ihre Hände und senkte den Blick.

»Von Medizin weiß ich nichts. Und auch nicht von Ratschlägen. Ich weiß nur von dem Geld.«

»Die Briefe! Sie hat doch meine Briefe gelesen!«

Erst als sie das Raunen hörte, wurde ihr bewusst, dass sie die letzten Worte herausgeschrien hatte. Die Fratzen am Fenster starrten sie nun drohend an. Unregelmäßige, eilige Schritte erklangen, dann erschien Henris besorgtes Gesicht in der Tür. Frida räusperte sich und deutete zum Tisch.

»Vielleicht finden Sie dort, was Sie suchen.«

Elin ging zum Tisch hinüber und vermied es, die strenge Gestalt im Sarg anzuschauen. Die schäbige Kassette, die sie mit zitternden Händen öffnete, roch nach altem Pergament. Da waren ihre Briefe. Dutzende. Versiegelt und unberührt.

»Sie hat sie gehütet wie einen Schatz«, sagte Frida.

»Bitte, darf ich allein mit ihr sein?«, bat Elin heiser. Sie nahm kaum wahr, dass die Dorfbewohner sich langsam entfernten. Henri trat leise in die Stube und blieb neben der Tür stehen. Elin war ihm dankbar dafür, dass er nichts sagte.

Scheu trat sie an den Sarg heran. Es kostete sie mehr Überwindung als alles, was sie bisher in ihrem Leben getan hatte, die Hand auszustrecken und die kalte Haut zu berühren.

Es war ähnlich wie in ihrem Fiebertraum – nur viel erschreckender. Als ihre Fingerspitzen über die Hände strichen, fühlte Elin noch etwas. So behutsam, als würde Emilia ihre Bewegungen spüren, ließ sie ihre Fingerspitzen über eine seltsam ausgebeulte Stelle unter dem Schlüsselbein wandern. Die Geschwulst, die sie unter dem Totenhemd ertastete, war so groß wie eine knochige Männerfaust. Elin biss die Zähne zusammen. Erst als Henri neben sie trat und ihr die Hand auf den Arm legte, bemerkte sie, dass sie auf Schwedisch fluchte. »Du verdammte Närrin«, zischte sie Emilia zu. »Du hast es gewusst. Und du hast nichts getan! Du … Feigling!« Aber die eingefallenen Lider der Toten regten sich nicht.

»Mademoiselle«, versuchte Henri sie sanft zu beruhigen.

»Lass mich in Ruhe!«, fuhr Elin ihn an.

Henri schluckte und zog die Hand zurück.

»Natürlich«, sagte er respektvoll und trat zur Tür, wo er stehen blieb und schwieg. Elin schniefte. Die Kerzen flackerten und ließen Emilia in einem Moment so aussehen, als ob sie lächelte. Gleich darauf verliehen sie ihr einen unglücklichen Ausdruck. Elin stand verloren in der Kammer. Sie wollte nicht gehen – noch nicht. Einige lange Minuten ertrug sie es, dass die Briefe sie verhöhnten, dann drehte sie sich zum Ofen um und suchte nach dem Stapel mit dem Feuerholz. Es waren Handgriffe aus einer längst vergangenen Zeit, die sie immer noch beherrschte wie ein Schlafwandler seine Schritte. Sie schämte sich nicht, wieder Elin von den Königsgräbern zu sein, sondern entfachte gewissenhaft das Feuer im Ofen und schürte die Glut. Seltsamerweise störte es sie nicht einmal, dass Henri sie bei diesem Magddienst beobachtete. Sobald das Feuer brannte, setzte sie sich davor und brach das Siegel ihres ersten Briefes. Ihre Handschrift war noch unbeholfen und fahrig. Sie konnte kaum glauben, dass sie diese Worte selbst geschrieben hatte:

Liebe Emilia,

Ich hoffe, Dein Herz schmerzt nicht mehr.

Mir geht es gut.

Brief um Brief öffnete sie, las die Zeilen und verbrannte das Schriftstück. Mit jedem Schreiben wurde ihre Schrift gerader, die Worte zahlreicher.

Sie las die Rezepte und Ratschläge, betrachtete ihre Zeichnung eines Herzens, sie durchlebte noch einmal die Suche nach ihrer Mutter und staunte darüber, wie genau sie Karl Gustavs Ernennung zum Oberbefehlshaber in Deutschland beschrieben hatte. Es war der Brief einer Hofdame, verfasst mit Witz und Scharfsinn. Nur für Emilia war sie immer Elin aus Gamla Uppsala geblieben. Als sie vom letzten Brief aufblickte, war das Feuer bereits heruntergebrannt. Frida kam zu ihr und zündete neue Kerzen an. Henri stand immer noch in der Tür und hielt Wache.

»Setzen Sie sich doch zu mir«, bat Elin ihn. Zögernd löste er sich aus dem Dunkel und ging mit seinen unregelmäßigen Schritten zum Sarg.

»Sie konnten sie nicht retten«, sagte er leise.

»Ich weiß.« Elins Stimme klang bitter. »Ich kann niemanden retten.«

Er zog sich einen Stuhl heran und hielt mit Elin die Totenwache.

Im Morgengrauen kamen zwei Männer, um den Sarg zum Friedhof zu bringen. Elin blinzelte, als sie in die Helligkeit des Morgens trat, und erschrak. Im selben Moment hatte Kester Leven sie auch schon entdeckt. Der Sekretär des Bischofs wurde erst bleich, dann rot.

»Elin?«, fragte er.

»Für Sie Mademoiselle Asenban«, erwiderte sie eisig. »Was führt Sie hierher?«

»Ähnliches wie Sie«, sagte er. »Als ich noch Pfarrer in Gamla Uppsala war, hat sich Emilia mir oft anvertraut. Und nun war es ihr Wille, dass ich sie auf ihrem letzten Weg begleite.«

Elin konnte ihre Verblüffung kaum verbergen. Mit. einem Mal kam sie sich vor wie ein Eindringling. Leven dagegen, so wurde ihr klar, war offenbar Emilias Vertrauter gewesen. Frida und die Dorfbewohner begrüßten ihn unterwürfig. Vor Verwirrung wusste sie kaum, was sie sagen sollte. Das Gefühl von Verrat schmerzte mehr als die Trauer. Kester Leven blickte zu Henri hinüber und runzelte die Stirn.

»Ich kann nicht erlauben, dass ein Herr katholischen Glaubens an der Beerdigung teilnimmt.«

»Das hat er nicht vor«, erwiderte Elin.

Der Geistliche musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den sie schwer deuten konnte.

»Ich kann auch nicht erlauben, dass Sie bei der Beerdigung zugegen sind.«

»Wie bitte?«, zischte sie. »Sie wagen es, einer Hofdame der Königin den Zutritt zur Beerdigung einer Verwandten zu verwehren?«

Levens Lächeln war schmal wie eine Messerschneide.

»Eine ehemalige Nachbarin, Mademoiselle, keine Verwandte.«

»Darf ich fragen, was der Grund für Ihre Verweigerung ist?«

»Emilias Wunsch«, sagte er schlicht.

Frida trat vor und legte Elin die Hand auf den Arm.

»Es stimmt«, bestätigte sie leise. »Emilia hat darum gebeten, dass nur Herr Leven und ich sie beerdigen. Nicht einmal ihre Kinder wollte sie am Grab haben. Bitte nehmen Sie es uns und ihr nicht übel.«

»Das haben Sie ihr eingeredet, nicht wahr?«, fuhr Elin Leven an. »Warum?«

Aber Leven verschloss sich wie eine Muschel bei der Berührung eines Feindes.

»Wenden Sie sich mit der Beschwerde an den Bischof«, sagte er nur und ließ sie einfach stehen.

Auf dem Rückweg brütete Henri vor sich hin. Schweigend ritten er und Elin nebeneinanderher, bis die ersten Häuser von Uppsala in Sicht kamen. Immer noch fühlte sich Elin wie betäubt. Kester Leven und Emilia, flüsterte es ständig in ihrem Kopf. Beim Schloss angekommen eilte sie direkt zum Arbeitskabinett der Königin. Die Königin war mit neuen Plänen für Seidenfabriken beschäftigt und grübelte über Bauskizzen und Berechnungen. Sie war nicht begeistert, dass Elin sie störte, aber als sie ihr Gesicht sah, schickte sie die Sekretäre aus dem Raum und hörte sich die Geschichte an.

»Es tut mir aufrichtig Leid, dass Emilia gestorben ist«, sagte sie schließlich. »Aber bei Kester Leven kann ich dir nicht helfen.«

»Aber Kristina! Er hat mich von der Beerdigung fortgeschickt! Das hätte Emilia nie gewollt!«

Kristina winkte ab.

»Wer weiß schon, was Emilia wollte«, sagte sie sanft. »Bedenke, sie war eine kranke Frau. Bestimmt war sie sogar ein wenig verwirrt.«

»Vielleicht … hat es etwas mit mir zu tun? Möglicherweise wusste Emilia doch mehr über meine Familie und hat es Leven erzählt. Und er hat ihr daraufhin geraten, mich von der Beerdigung auszuschließen. Und dann die Unterlagen über meine Familie, die bei einem Brand vernichtet wurden. Langsam habe ich den Verdacht, dass es kein Zufall …«

Kristina funkelte sie über den Tisch hinweg an.

»Gib endlich Ruhe damit, Elin. Ich werde dem Bischof eine Bitte um Stellungnahme zukommen lassen. Mehr kann ich nicht tun.«

Niedergeschlagen verließ Elin das Arbeitszimmer. Zu ihrer Überraschung wartete Henri am Fuß der Treppe.

»Gehen Sie ein Stück mit mir spazieren«, sagte er leise. »Ich muss Sie etwas fragen, was für Sie von höchster Wichtigkeit sein könnte.« Bevor sie ihm eine Antwort geben konnte, hatte er sich umgedreht und humpelte die Treppe hinunter. Schweigend gingen sie an Victor vorbei und nahmen den Weg über den Hof.

»Ihre Königin wird Ihnen nicht helfen, habe ich Recht?«, fragte er schließlich.

»Das dürfte Sie wohl kaum interessieren.«

Henri blieb stehen. Elin bemerkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.

»Wenn Sie aufhören würden, sich mir gegenüber wie eine Küchenmagd zu benehmen, würden Sie uns beiden die Konversation erleichtern«, zischte er.

»Ach, neulich sagten Sie noch, ich hätte mich verändert.«

Sein Blick verdüsterte sich.

»Vielleicht bin ich es, der sich viel mehr verändert hat. Das Schlachtfeld zeigt vieles in einem neuen Licht.« Nachdenklich betrachtete er ihr Gesicht. Elin widerstand der Versuchung, ihm eine scharfe Antwort zu geben.

»Kättare«, sagte er plötzlich. Elin zuckte bei dem schwedischen Wort aus seinem Mund zusammen.

»Das bedeutet … Ketzer«, sagte sie. »Woher haben Sie das?«

»Als dieser Pfarrer ins Dorf kam, hat er mit den Dorfbewohnern gesprochen. Dabei fiel Ihr Name – und dann sagte er etwas zu einem seiner Begleiter. Ich verstehe noch nicht genug Schwedisch, aber ich denke, den Satz habe ich mir richtig gemerkt: ›Denna papistunge har inget pä den här begravningen att göra!‹«

Fassungslos starrte Elin ihn an.

»Das Papistenkind hat bei der Beerdigung nichts verloren«, flüsterte sie. »Papist – das ist das Schimpfwort für einen Katholiken. Warum nennt er mich so?«

»Kurz bevor wir fortritten, gab die rothaarige Frau demselben Bediensteten einige Papiere.«

Elin hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Es ist wichtig für Sie, etwas über Ihre Verwandten und diesen Geistlichen herauszufinden, nicht wahr?«, bohrte Henri weiter. Elin biss sich auf die Lippe und nickte. Einen Moment zögerte sie, dann begann sie zu erzählen. Sie berichtete von den unzähligen Nachforschungen und den Briefen, von dem Brand im Pfarrhaus und ihrer zerstörten Hoffnung, ihre Mutter zu finden. Als sie fertig war, nickte Henri. »Wie steht es mit den Leuten, bei denen Sie gelebt haben?«

»Ein Freund hat dort bereits nachgefragt. Sie wissen von nichts.«

Henri zupfte nachdenklich an seinem Kragen.

»Eins habe ich im vergangenen Jahr gelernt«, sagte er nach einer Weile. »Manchmal kommt es nicht darauf an, was man fragt, sondern wie man seine Frage formuliert.«

Er schenkte Elin ein verhaltenes Lächeln, verbeugte sich und ging davon.

Beim Abendessen fühlte sich Elin so unbehaglich dabei, von Olof bedient zu werden, dass sie den Zettel, den ihr jemand in die Serviette gesteckt hatte, beinahe übersehen hätte. Überrascht sah sie sich um und traf Erik Gyllenhielms Blick. Verschwörerisch grinste er ihr zu. Elin entfaltete den Zettel vorsichtig unter dem Tisch und las:

Monsieur de Vaincourt und ich erwarten Sie heute Nacht an der Stelle, an der wir nach Fräulein Spanes Medaillon gesucht haben. Elf Uhr. Tragen Sie Handschuhe und Schmuck.

Erik zog verschmitzt eine Braue hoch und beugte sich wieder über seinen Teller. Elin zählte die Stunden, bis sie sich endlich davonstehlen konnte. Der Nachtwind war selbst für eine Sommernacht sehr warm und die dünnen Seidenhandschuhe fühlten sich ungewohnt an. An der Stelle, an der sie vor fast zwei Jahren Schnee für die Küche geholt hatte, erkannte sie die Umrisse zweier Pferde.

»Ich hoffe, Sie können auch im Damensattel reiten«, flüsterte Henri ihr zu.

»Was haben Sie vor?«

Sein Lachen verwehte in der Nacht.

»Seien Sie würdevoll«, sagte er nur. »Alles andere erledigen wir.«

Es war gar nicht so einfach, auf der prächtigen Paradestute im Damensitz zu reiten. Nicht weit vom Schloss entfernt hörten sie Hufschläge. Elin erschrak, als sie die zehn schwer bewaffneten Soldaten sah, die ihnen entgegengaloppierten. Angeführt wurden sie von Erik Gyllenhielm! Und da war noch ein weiterer Reiter. Elin fuhr ein freudiger Schauer in den Magen.

»Hampus! Seit wann bist du wieder da?«

»Seit ein paar Stunden erst. Und wenn Erik mich nicht sofort von der Kutsche gezerrt hätte, hätte ich nichts lieber getan, als dich sofort zu begrüßen!«

»Was habt ihr vor?«

»Wir sind eine Delegation«, sagte Hampus geheimnisvoll.

Den Weg nach Gamla Uppsala legten sie in gestrecktem Galopp zurück. Die Pferde schnaubten bereits, als die Hügel der Königsgräber in Sicht kamen. Zu Elins Entsetzen hob einer der Soldaten seine Trompete an die Lippen und blies eine Fanfare. Das winzige Dorf erwachte auf der Stelle. Menschen im Nachtgewand erschienen in den Türen und schrien vor Schreck auf.

»Die Königin!«, rief jemand. »Die Königin ist da!«

Bauer Gudmund rannte als einer der Letzten auf den Hof. Elins Hände krampften sich um die Zügel. Hampus sprang vom Pferd und trat vor. Jetzt erst, im Fackelschein, sah Elin, dass er einen goldbestickten Mantel trug – er gehörte Henri! Mit wichtiger Miene entrollte er ein offiziell aussehendes Schriftstück in seiner eigenen Handschrift.

»Hampus Lundell«, stellte er sich vor. »Sekretarius für besondere Angelegenheiten Ihrer Majestät, Königin Kristina von Schweden.« Elin schnappte unwillkürlich nach Luft. »Mit Wirkung des heutigen Beschlusses hat der königliche Rat einen Richtspruch gefällt. Isak Gudmund! Tritt vor!«

Gudmund stand da wie vom Blitz getroffen. Die Nachbarn wichen vor ihm zurück, als hätte er die Pest. Nur seine Frau blieb bei ihm stehen und drückte sich ängstlich an seinen Rücken.

»Hier«, sagte Gudmund heiser. Hampus nickte mit strenger Miene.

»Isak Gudmund wurde für schuldig befunden, falsche Aussagen über Gräfin de la Feinte getätigt zu haben.« Bei diesen Worten deutete er auf Elin. Alle Blicke wandten sich ihr zu. »Widerruft er die Falschaussage nicht, habe ich den Befehl, ihn zu verhaften.« Die Soldaten schauten grimmig. »Elin?«, flüsterte Frau Gudmund entsetzt. »Unsere Elin … eine … Gräfin?«

»Keiner wage es, die Gräfin despektierlich anzusprechen«, wies Hampus sie zurecht. Henri sprang vom Pferd und machte eine tiefe Verbeugung vor Elin.

»Erlauben Sie mir, Ihnen vom Pferd zu helfen, Madame de la Feinte«, sagte er laut auf Französisch. Elin schluckte und ließ es zu, dass Henri sie vom Pferd hob. Ihre Schuhe sanken im Schlamm vor dem Hof ein. Sofort wurden Bretter herbeigeschafft und ein Holzweg ausgelegt.

»Ich möchte allein mit den Gudmunds sprechen«, sagte Elin leise. Gudmunds Frau rannte ins Haus, Truhendeckel klapperten. Henri reichte Elin den Arm. An seiner Seite schritt sie zum Haus, das so viele Jahre ihre Heimat gewesen war. Beim Anblick der rauchgeschwärzten Kate und dem Geruch nach gärendem Sauerhering schnürte es ihr die Kehle zu. So klein und schäbig war der Hof, so verwahrlost!

»Wo ist Madda?«, fragte sie.

Frau Gudmund senkte den Kopf.

»Verstorben, Gräfin de … de …«

»Lasst es gut sein«, sagte Elin. Mit einem Mal taten ihr die Bauern Leid. Sie schämte sich für diese Maskerade, schämte sich dafür, den armen Teufeln Angst einzujagen. Hampus ergriff das Wort.

»Die Anklage …«

»Hampus«, unterbrach sie ihn. »Lass mich selbst sprechen.«

Sie ging zu Frau Gudmund und betrachtete ihr graues Gesicht.

»Sagen Sie mir, was Sie über meine Eltern wissen«, bat sie und fügte auf gut Glück hinzu: »Ich weiß von Emilias Geheimnis und von Kester Leven. Ihnen wird nichts geschehen und das Vergangene ist vergessen. Aber sagen Sie mir die Wahrheit.«

Frau Gudmund ließ den Blick zu den glänzenden Waffen der Soldaten vor der Tür huschen und schnappte nach Luft.

»Wir mussten es schwören …«, flüsterte sie.

»Wem haben Sie geschworen?«

Frau Gudmund schluckte.

»Deiner seligen Tante«, sagte Herr Gudmund. »Sie fürchtete sich so, dass es herauskäme und sie verhaftet würde. Sie würden sein Andenken schänden und …« Sie verstummten und sahen sich an. Elins Herz schlug bis zum Hals.

»Warum verhaftet?«, fragte sie ruhig. Die Gudmunds zögerten. Schließlich drehte sich Frau Gudmund um und ging hinaus. Spinnweben klebten an ihren Fingern, als sie wenig später zurückkam. Ihre Hand zitterte, während sie Elin eine Kette aus geschliffenen Halbedelsteinen reichte. Es war ein Rosenkranz.

»Der hat ihm gehört«, sagte Frau Gudmund. »Wir wollten ihn vernichten, aber er ist zu wertvoll.«

Elin starrte immer noch die Kette an. Schwer wie ein Mühlstein lag sie in ihrer Hand. Frau Gudmund leckte sich wohl schon zum hundertsten Mal über die Lippen. Tränen standen in ihren Augen.

»Emilia hatte ein Schriftstück an sich genommen. Nach dem Tod deiner … Ihrer Tante. Das ist alles, was wir wissen.«

»Wirklich alles?«

Die Gudmunds nickten wie Kinder, die froh waren, den Schlägen entronnen zu sein. Es kostete Elin viel Beherrschung, sich umzudrehen und die Hütte würdevoll zu verlassen. Der Rosenkranz hatte sich in ihrem festen Griff erwärmt und glühte in ihrer Hand. Hampus sprang herbei und begleitete sie zu ihrem Pferd. Mit unbewegtem Gesicht sah Henri zu, wie der Student ihr tröstend den Arm um die Schulter legte und wie Elin die Umarmung ihres Freundes erwiderte, bevor sie auf das Pferd stieg.

Kristina starrte sie an, als hätte sie verkündet, dass sie Kester Leven heiraten wolle.

»Bist du sicher?«, rief sie.

»Nein«, antwortete Elin. »Aber es sieht ganz danach aus, als wäre mein Vater in Deutschland heimlich konvertiert. Wenn meine Vermutung richtig ist, starb er als Katholik. Seine Schwester hat versucht, es zu verheimlichen. Emilia war die Einzige, die davon wusste.«

Kristina holte Luft und stützte sich auf dem Schreibtisch auf.

»Der Rosenkranz beweist gar nichts. Er kann auch Kriegsbeute sein. Für einen einfachen Soldaten ist er einiges wert.«

»Warum hat er ihn dann nicht zu Geld gemacht?«

»Er könnte auch deiner Mutter gehört haben. Es ist gut möglich, dass sie katholisch war.«

»Und warum hüten die Gudmunds das Geheimnis um meinen Vater um jeden Preis? Was ist mit dem Dokument?«

»Weißt du, was es bedeutet, wenn ein schwedischer Bürger katholisch wird?«, sagte Kristina. »Hochverrat. Wäre dein Vater nicht gestorben, hätte man ihn in Stockholm hingerichtet. Bei der Religion verstehen unsere hohen Herren keinen Spaß. Und wie bringst du jetzt Kester Leven ins Spiel?«

»Er nannte mich Papistenkind. Das … könnte bedeuten, dass … ich ebenfalls katholisch getauft wurde. Wie meine Eltern. Emilia hat das Geheimnis bewahrt – sie war die Freundin meiner Tante. Ich bin überzeugt, dass sie sich vor ihrem Tod Kester Leven anvertraut hat. Er hat jetzt alle Unterlagen.«

Kristina stöhnte und vergrub ihre kräftigen Finger in ihrem Haar. »Guter Gott«, sagte sie.

»Was werden Sie tun, Kristina?«

Die Königin zog überrascht die Brauen hoch.

»Tun? Gar nichts. Sollen wir das zu einem Skandal hochspielen? Soll ich einen Bediensteten des Bischofs beschuldigen, Dokumente zu unterschlagen? Emilia hat sie ihm gegeben, alles andere zählt nicht.«

»Aber es sind meine Dokumente, was auch immer darin steht! Es geht um meine Eltern!«

»Deine Eltern sind unwichtig«, sagte Kristina hart. »Es geht um dich. Wenn ich Kester Leven richtig einschätze, wird er Emilias Geheimnis hüten – er mag eitel und dünkelhaft sein, aber er ist mit Herz und Seele Geistlicher und hat hohe moralische Prinzipien. Und du bist heute eine Lutheranerin wie wir alle, gleichgültig, wie deine Eltern dich auf dem Schlachtfeld getauft haben mögen.«

»Aber Kristina!«

»Leven untersteht direkt dem Bischof. Ich kann ihm nicht befehlen, seine Schubladen vor uns auszuleeren.«

Als sie sah, wie Elin mit den Tränen kämpfte, wurde ihr Gesicht ein wenig weicher.

»Versteh mich doch, Elin«, bat sie sanft. »Ich werde versuchen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, das verspreche ich dir. Aber der direkte Weg ist zu gefährlich. Nehmen wir an, jemand zettelt eine Intrige gegen dich an und behauptet, du seist schon immer katholisch gewesen und hättest dich bei Hof eingeschlichen, um deinen Glauben zu verbreiten. Oder du seist eine Spionin der Papisten. Nehmen wir an, die Gudmunds lassen sich bestechen, jeden Eid zu schwören, dass deine Feinde die Wahrheit sprechen. Dann könnte selbst ich dich nicht davor schützen, dass dein Kopf eines Tages am Südtor aufgespießt wird.«

Elin fröstelte. Kristina hatte Recht. Trotzdem brannten Wut und Enttäuschung in ihrer Brust. Die Königin griff zur Feder – ein Zeichen dafür, dass die Unterredung für sie beendet war. »Und nun zu eurer ›Delegation‹«, sagte sie. »Solche Dinge dulde ich auf gar keinen Fall. Du wirst die Gudmunds mit einem angemessenen Betrag aus deinem Privatvermögen großzügig für den Schreck entschädigen. Und Henri de Vaincourt und seine Freunde will ich auf Tre Kronor nicht mehr sehen.«

Elin verabschiedete sich in den frühen Morgenstunden vor der Rückkehr nach Stockholm von Hampus. Er nahm sie in den Arm, drückte ihre Hand. Sie sprachen nicht viel und zur Enttäuschung über Kristinas Reaktion gesellte sich das Gefühl der Einsamkeit. Wer wusste schon, wann sie ihren Freund wieder sehen würde?

»Schreib mir aus Leyden«, bat sie.

Hampus lächelte. »Sooft ich kann.« Er machte eine scherzhafte Verbeugung. »Auf bald, Gräfin de la Feinte.«

Die Albträume kehrten zurück und verfolgten sie noch, als sie längst wieder in Stockholm war. Nachts hielt sie den Rosenkranz in der Hand, als könnte der kleine Goldjesus am Kreuz ihr die Zweifel nehmen.

Ein glühender Sommer hatte sich über das Land gesenkt, Helga stellte aus den säuerlichen, gelben Multbeeren aus dem Nordland eine köstliche Konfektfüllung her, aber Elin hatte jeden Appetit verloren. Lovisa wunderte sich kaum über Elins Niedergeschlagenheit, als sie von Emilias Tod, dem Abschied von Hampus und Henris Hausverbot im Schloss erfuhr. Kristina hielt es offenbar für das Beste, Elin mit Arbeit abzulenken. Schon bei Tagesanbruch stellte Elin Listen auf, prüfte die Berechnungen für neue Regale und katalogisierte Bücher.

Sooft sie konnte, besuchte sie Monsieur Chanut in der Hoffnung, Henri zu sehen. Mürrisch saß er im Haus des Botschafters, vergrub sich in seinen Büchern über Sternkunde und trank zu viel Wein. Als hätte Uppsala nicht existiert, verwandelte er sich wieder in den arroganten Grafensohn, der sich mit Elin bissige Wortgefechte lieferte. Nur auf ihre Herkunft sprach er sie nicht länger spöttisch an.

»Sind Sie wütend, weil Sie wegen mir Hausverbot im Schloss haben?«, fragte Elin ihn einmal.

Henri zeigte sein arrogantes Lächeln.

»Sollte ich das sein? Für einen Lahmen wie mich ist der Weg zum Schloss ohnehin zu beschwerlich.«

Elin konnte offenbar nichts Richtiges sagen. Umso einfacher war es, die Wut auf Henri wieder aufflackern zu lassen.

Und manchmal war sie sogar froh darum, sich mit ihm streiten zu können, auch wenn sie ihm viel lieber ihre Zweifel anvertraut hätte. Das Band, das in Emilias Haus zwischen ihnen bestanden hatte, schien wieder gerissen zu sein. Trotzdem ertappte sich Elin dabei, wie sie öfter als nötig bei Monsieur Chanut zu Gast war. Manchmal blieb sie im Empfangszimmer sitzen, während der Hauskaplan im Keller die katholische Messe las – über ein Buch gebeugt lauschte sie und stellte sich vor, mit den Katholiken zu beten. Mit scheuer Faszination betrachtete sie die geweihten Gegenstände, die Kelche, die Madonnenbilder und die goldene Monstranz.

Mitten in diesen angespannten Wochen kam die Nachricht aus Holland. Monsieur Descartes hatte zugesagt, nach Stockholm zu kommen und die Königin zu unterrichten. Trotz aller Sorgen gab diese Mitteilung Elin für kurze Zeit ihre gute Laune zurück.

An einem Augusttag, der vor Farben glühte, nahm sie sich ein Herz und klopfte an Henris Kammertür.

Der junge Graf hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt, überall lagen Bücher herum. Ein halbvolles Weinglas stand auf dem Nachttisch. Für einen Augenblick leuchtete Henris Gesicht auf, als er Elin erblickte, dann aber verschwand sein Lächeln und ließ Elin umso einsamer zurück.

»Machen Sie doch das Fenster auf, Henri!«, sagte sie ärgerlich. »Draußen ist ein Sommer, wie Sie ihn sicher noch nie gesehen haben.«

»Das mag für Sie etwas Besonderes sein, aber kein schwedischer Sommer kann sich mit einem in Frankreich vergleichen.«

»Wenn es so ist, wundere ich mich, warum Sie hier sind.«

»Weil es für mich keinen Unterschied macht. Verliebte sehen überall die Sonne – und für die Hoffnungslosen ist es überall Nacht.« Mürrisch griff er nach dem Weinglas und leerte es in einem Zug.

Elin verschränkte die Arme. Sie wusste wieder einmal nicht, ob sie ihn schlagen oder umarmen wollte.

»Solche pathetischen Worte, Monsieur Henri«, spottete sie. »Wissen Sie, Sie sind unterhaltsamer, wenn Sie reiten statt zu sprechen. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie mich auf einen Ausritt begleiten wollen.« Jetzt schlug ihr Herz bis zum Hals. Henris Augen schienen zu glühen.

»Ach, kaum sind die Kavaliere aus dem Haus, ist der Krüppel wieder gut genug.«

Das beantwortete Elins Frage. Sie hatte eindeutig Lust, ihn zu schlagen.

»Warum sind Sie so verletzend?«

Seine Antwort war scharf.

»Warum spielen Sie mit den Menschen?« Er stellte das Weinglas so hart auf dem Nachttisch ab, dass Elin fürchtete, es würde zerbrechen. »Erik hat mir von Ihrer Verlobung mit Hampus erzählt. Was würde Ihr Verlobter dazu sagen, dass Sie mit anderen Männern ausreifen?«

»Wenn Erik so etwas behauptet, ist er ein Großmaul. Ich habe niemandem versprochen, ihn zu heiraten! Sie scheinen es noch nicht bemerkt zu haben, Monsieur Henri – aber es existiert auf der Welt so etwas wie Freundschaft. Andererseits wundert es mich nicht, dass Sie diese Regung nur sehr selten antreffen.«

»Für Sie ist es einfach, über andere Menschen zu richten«, sagte er heiser. »Sie haben noch ein Leben. Meines ist vorbei. Wer will schon einen Krüppel?« Er räusperte sich. Der Wein vernebelte seinen Blick. »Sie doch sicher nicht, Mademoiselle.«

Der scharfe Spott in seiner Stimme fachte Elins Wut noch mehr an.

»Bilden Sie sich nur nichts auf Ihr Elend ein«, zischte sie ihm zu. »Jeder trägt seine Wunden. Sie sind weiß Gott überhaupt nichts Besonderes, Henri.«

Der Weinduft musste ihr zu Kopf gestiegen sein, anders konnte sie es sich kaum erklären, wozu sie sich nun im Zorn hinreißen ließ. Henri errötete, als er sah, wie sie zu der Schnürung ihres Mieders griff. Mit wütenden Bewegungen löste sie Band um Band, setzte sich zu ihm an den Bettrand und wandte ihm den Rücken zu. Dann zerrte sie das Mieder auf und streifte sich entschlossen das leinerne Unterkleid über die Schultern. Ihre Narbe pochte, als würde Henris Blick sie erwärmen. Sie wusste, was er sah. Mithilfe eines zweiten Spiegels hatte sie die Narbe schon oft betrachtet – eine rote, verzerrte Sonne. Nie hätte sie Hampus einen Blick darauf werfen lassen und selbst bei Lovisa schämte sie sich, so viel Hässlichkeit zu zeigen, aber hier, in Henris Gegenwart, fühlte es sich seltsamerweise richtig an. Das erschreckte sie noch mehr als ihre Kühnheit. Henri schwieg, während ihr Herz so heftig schlug, dass die Narbe pulsierte und wieder zu schmerzen begann. Elin schämte sich unendlich. »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie. »Ich benehme mich wie ein Barbar. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.« Gerade wollte sie das Hemd wieder über ihre Schulter streifen, als eine Berührung sie innehalten ließ. Ein leichter Atemhauch strich über ihre Haut und ließ sie frösteln. So behutsam, als könnte jede Berührung sie verletzen, küsste Henri erst ihre Narbe und dann ihren Nacken. Elin wagte kaum zu atmen, als er die Arme von hinten um sie legte. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, ließ sich ganz in diese Umarmung fallen. Sie schwiegen lange, als hätten sie Angst, ein einziges Wort könne diese Nähe zerstören. Schließlich zog Elin ihr Unterkleid wieder über die Schultern, drehte sich um und sah Henri ins Gesicht. In seinen Augen fand sie Schmerz. Er betrachtete Elin wie eine Kostbarkeit, die er nie besitzen würde. Trotz des bitteren Zugs um seinen Mund waren seine Lippen unendlich schön. Vorsichtig strich sie ihm das schwarze Haar aus der Stirn. Ihre Finger schienen auf einmal alles viel intensiver zu fühlen. Schließlich beugte sie sich zu ihm und küsste ihn. Und selbst wenn er sie dafür verspotten würde – in diesem Augenblick war es unwichtig, wichtig war nur diese Sehnsucht, seine Lippen zu berühren.

Es fühlte sich ganz anders an als Kristinas Kuss oder Hampus’ Umarmung. Das hier war Sehnsucht und gleichzeitig das Gefühl, das Ersehnte endlich gefunden zu haben. Henri zog sie an sich und erwiderte ihren Kuss wie ein Ertrinkender. Als sie sich nach einer Ewigkeit voneinander lösten, verwirrt, mit pochenden Lippen und rasenden Herzen, lächelten sie sich verlegen an.

Erst als die Tür zuklappte, fuhren sie ertappt auseinander.

Als Elin auf Tre Kronor ankam, wartete bereits Lovisa auf sie. Ihr Gesicht war vor Zorn verzerrt. Ohne ein weiteres Wort packte sie Elin grob am Arm und stieß sie in das nächstbeste Zimmer.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Elin antwortete nicht, sondern senkte nur den Kopf. Sie brauchte nicht zu fragen, wovon Lovisa sprach. Die Hofdame wetterte ohnehin schon los.

»Monsieur Tervué war bei den Chanuts zu Besuch und hat dich gesehen! So gut wie nackt auf Monsieur Henris Bett! Bist du noch zu retten? Ist dir klar, dass du deine Zukunft ruinierst?«

»Ich war nicht nackt«, murmelte Elin. »Es war nur …«

»Schweig!« Lovisa rang die Hände. »Und noch dazu mit einem Katholiken. Herr Nilsson wird dich nicht einmal mehr mit der Schmiedezange anfassen. Ganz zu schweigen von …«

»Ich lege keinen Wert auf Herrn Nilsson.«

Die Ohrfeige traf sie so unerwartet, dass Elin erschrocken zurücktaumelte. Entsetzt tastete sie nach ihrer brennenden Wange. Lovisa hatte sich umgewandt.

»Das Traurige ist nicht, dass du ein Hurenkind bist«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Das Traurige ist, dass du dich wie ein solches benimmst.«

Der Abend an der Festtafel verlief für Elin wie ein Besuch am Pranger. Ebbas mitleidiger Blick war die harmloseste Reaktion. Monsieur Tervué verließ demonstrativ den Tisch. Die Gerüchteküche kochte offenbar gut. Vor allem die adligen Mädchen, inzwischen fast alle anständig verheiratet, schienen nur auf die Gelegenheit gewartet zu haben, das Feuer zu eröffnen. Kristina ließ sich nichts anmerken, sie plauderte mit Ebba und Elin, obwohl Elin der scharfe Unterton nicht entging. Auf Silberplatten wurden rote Flusskrebse serviert. Mit brennenden Wangen beugte sich Elin über ihren Teller und bemühte sich, das Getuschel hinter den Fächern zu überhören. »Hure«, zischte es über den Tisch. Ungerührt griff die Königin zu ihrem Weinglas. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, raunte sie Elin zu.

Natürlich war es nicht das letzte Wort, das in dieser Sache gesprochen wurde. Am nächsten Tag zitierte Kristina Elin in ihre Kanzlei.

»Du kannst dir hier einiges erlauben, aber kein unzüchtiges Verhalten. Ich lege Wert auf Tugend und Anstand.«

»Warum werde ich behandelt wie eine Verbrecherin? Wenn Monsieur Tervué sich als Moralapostel aufspielen will, müsste man auch über Henri tuscheln. Wir waren immerhin zu zweit.«

»Stellst du dich so dumm? Du bist eine Frau. Und du hast dein Mieder aufgeschnürt und ihn geküsst.«

»Was ist dabei, jemanden zu küssen? Ausgerechnet Sie machen mir Vorwürfe!«

Kristinas Mundwinkel zitterten, dann konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Seufzend schüttelte sie den Kopf.

»Die Liebe, Elin. In deinem Fall ist es nur die Verbindung von Sommerluft und deiner Jugend. Aber ich verstehe dich besser, als du denkst. Als ich siebzehn war, habe ich Karl Gustav leidenschaftlich geliebt – trotzdem glaube ich nicht, dass Henri die richtige Wahl für solche Eskapaden ist. Was ist mit deinem Hampus?«

»Er ist ein Freund! Wie oft muss ich das denn noch wiederholen? Und was ist mit den Grenzen, von denen Sie mir erzählt haben? Wir schaffen sie uns selbst.«

Plötzlich sah die Königin müde aus.

»Ach, Elin. An den Wänden alter Konventionen wirst du dir nur den Kopf einrennen. Lerne nach den Regeln zu spielen, bevor du sie brichst.«

»Aber …«

»Ich werde die Gerüchte dementieren und Monsieur Tervue bitten, über den Vorfall zu schweigen. Dann muss ich darauf bestehen, dass du Monsieur Henri nicht mehr triffst. Du wirst sehen, das Gefühl verfliegt, der Rausch geht vorbei. Und ich brauche dich hier in der Bibliothek.«

Elin dachte an Henri und schluckte schwer. Das war nicht die Kristina, die ihr nahe stand – unmerklich hatte sich etwas zwischen sie geschoben. Es war nicht dicker als ein Theatervorhang, dennoch fühlte sich Elin ausgegrenzt und allein.

»Hast du verstanden?«

»Ja, Majestät«, sagte sie leise.

Die Wogen glätteten sich nur langsam. Während draußen die Sonne schien, erledigte Elin ihre Arbeit in der Bibliothek und lernte verbissener denn je. Nachts träumte sie von Henri, sehnte sich so sehr nach ihm, dass es schmerzte, und fragte sich, ob er auch an sie dachte. Eines Tages, als sie Enhörning für einen Ausritt mit Lars sattelte, trat ein Stallknecht neben sie. »Schauen Sie in das Geheimfach Ihres Sattels«, flüsterte er. Elin klappte das Leder zurück. Ein ganzer Schmetterlingsschwarm erhob sich in ihrem Bauch, als sie einen Brief fand. Er war von Henri.

Wie vereinbart, hatte sich Elin nach Mitternacht aus dem Schloss geschlichen. Es war nicht schwer gewesen, durch die Gewölbekeller über den Bootsanleger nach draußen zu gelangen. Eine glühende Sommernacht ließ den Mälarsee leuchten. Elin war sogar noch aufgeregter als damals, als sie den Brief an Adler Salvius überbringen sollte. Sie lief durch die Gassen zum Hinterhof in der Skomakargatan. Dort hatte sie einen Diener erwartet, aber die Gestalt im Mauerschatten war Henri! Als er Elin entdeckte, ging in seinem Gesicht die Sonne auf. Er ließ die Zügel der beiden Pferde los und umarmte Elin so fest, dass ihr die Luft wegblieb. Ohne ein Wort zu wechseln stiegen sie auf die Pferde, passierten die Wachen an der Brücke, die Henri offenbar gut dafür bezahlt hatte, das Tor zu öffnen, und galoppierten bald darauf in den mitternächtlichen Wald. Elin kamen all die Feenmärchen in den Sinn, die Emilia ihr einst erzählt hatte. Ein wenig fühlte sie sich selbst wie eine Fee, als sie neben Henri hergaloppierte, während Tre Kronor längst hinter dunklen Vorhängen schlief. An einer Lichtung brachten sie ihre Pferde zum Stehen, stiegen ab und ließen sich auf das Gras sinken. Farne leuchteten in der hellen nordischen Nacht. Eine Weile saßen sie einfach nur da, betrachteten die Waldschatten und lauschten auf das Knacken im Unterholz. Dann fanden sich ihre Hände und sie rückten so nah zusammen, dass sie den Herzschlag des anderen spürten. Es war einfacher zu küssen als zu sprechen, und so schwiegen sie. Jeder Streit war vergessen.

»Ich habe dich so oft beobachtet«, flüsterte er ihr zu – viel später, als sie durch den Wald zurück zu den Pferden gingen, die Finger ineinander verflochten. »Damals, als du reiten gelernt hast. Erinnerst du dich? Das Pferd hat dich an diesem einen Nachmittag mindestens zwanzigmal abgeworfen – und du bist immer wieder aufgestiegen. Ich habe dich für deine Hartnäckigkeit und deinen Mut gehasst. Aber heute …« Er lächelte ihr zu und küsste sie, als würden sie sich nach diesem heimlichen Ausritt nie wieder sehen.

Aber sie sahen sich wieder. Elin verlebte die Tage wie eine Schlafwandlerin die Nächte. Sie lernte mit Feuereifer und machte ihre Arbeit in der Bibliothek so gut, dass die Gelehrten sie lobten und die Gerüchte langsam in Vergessenheit gerieten. Nachts aber verwandelte sie sich in eine andere Elin, eine Elin, die leuchtete wie ein Sommerfeuer und die keinen Schlaf brauchte. Und während die anderen Mädchen, wie es Brauch war, für die Mittsommernacht neun verschiedene Blumen sammelten und sie unter das Kissen legten, um von ihrem zukünftigen Ehemann zu träumen, träumte Elin mit offenen Augen von Henri und schlich sich wie ein Dieb aus dem Schloss.

Während dieser nächtlichen Ausritte ließen sie sich in einem Meer von Farnblättern treiben und küssten sich, bis ihre Lippen pochten. Nach und nach fanden sie zwischen ihren Umarmungen ihre Sprache wieder – und Elin lernte den Henri kennen, der ihr bis zu dem Tag in Chanuts Haus nur selten begegnet war.

»Mein Land unterscheidet sich gar nicht so sehr von Schweden«, erzählte er flüsternd. Elin lag auf der Wiese. Henris Hände spielten mit ihrem Haar und unter ihrer Wange fühlte sie sein Herz schlagen. Bei Henri hatte sie nie Angst davor, die Augen zu schließen. »Es ist nicht so warm wie Italien, aber die Farben über dem Meer sind wunderschön! Unsere Kirchen sind aus Granit gemacht – wie die Klippen auf Södermalm hier. Es ist ein raues Land mit rauen Leuten.«

»So rau wie dein Vater?«, murmelte Elin.

Henri schwieg lange, bevor er antwortete.

»Nicht alle sind wie er«, sagte er schließlich leise. »Meine Mutter ist anders – sie hat ein großes Herz. Mein Vater dagegen ist ein Soldat, den der Krieg viel zu hart gemacht hat. Und er ist dünkelhaft, weil er ehrgeizig ist und dennoch seine politischen Ziele nicht erreichen konnte. Am Hof hat er sich durch seinen Ehrgeiz viele Feinde gemacht. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er Paris verlassen muss. Außerdem kann er sich die Hochzeit mich meiner Mutter nie verzeihen.«

»Warum?«

»Ihr Erbe hat ihm nicht das Geld gebracht, das er sich erhoffte. Er ist der Meinung, unter seinem Stand geheiratet zu haben. Jeden Tag lässt er sie spüren, dass sie eine schlechte Wahl war.« Er machte eine Pause. »Uns alle lässt er es spüren.«

»Ist … er denn so arm?«

Henri seufzte.

»Arm unter den Reichen. Er hat viel in einem Erbschaftsstreit mit meinem Onkel verloren. Meine Familie besitzt nur noch ein kleines Schloss in der Bretagne, einige Landgüter und Tuchwebereien, außerdem Äcker, auf denen Flachs und Hanf angebaut wird. Die Tücher für die Segelschiffe bringen gutes Geld.«

»Nur ein kleines Schloss«, spottete Elin. »Und du bist nur ein armer Edelmann, der sich über Flachsanbau Gedanken macht.«

»Besser als über den Krieg nachzudenken«, gab Henri zurück. Er richtete sich halb auf und fuhr mit den Fingern die Linie ihres Wangenbogens nach. Sie liebte diesen Ausdruck von Verletzlichkeit in seinem Gesicht. »Als ich … auf dem Schlachtfeld war, habe ich nicht besonders viel Mut bewiesen. Ich dachte immer, wir wären edel von Geburt, so hatte mein Vater es mich gelehrt. Aber als ich … verwundet war … ließ mein Vater mich liegen. Versorgt hat mich ein Soldat. Ich glaube, dort habe ich begriffen, dass die Welt nicht aus hohen und niederen Menschen besteht. Sie besteht aus Kriegern und Bürgern. Und die Krieger zogen nach der Schlacht plündernd und zerstörend durch Bayern – Schweden und Franzosen, Adlige und Söldner, es machte keinen Unterschied.« Er räusperte sich und sah zu den Pferden hinüber. »Mein Vater nennt mich Memme, weil ich ein Krüppel bin und mich nicht zu einer militärischen Karriere berufen fühle.«

Elin dachte an den Schmerz ihrer Verletzung durch den Bolzen der Armbrust und schauderte. Sie nahm Henris Hand und drückte sie an ihre Lippen. »Ich halte dich für einen klugen Mann«, sagte sie. In solchen Augenblicken, in denen sie Henri besonders liebte, wurde ihr bewusst, dass die Tage bereits kühler wurden und schon bald die letzten Schiffe Kurs auf die Ostsee nehmen würden.

»Was wirst du am meisten vermissen, wenn du wieder in Frankreich bist?«, fragte sie. Henri lachte.

»Nichts. Weil ich nicht nach Frankreich zurückgehe.«

»Du kannst nicht ewig in Schweden bleiben.«

»Mich ruft nichts zurück«, erwiderte Henri. »Was soll ich in einem Haus, in dem ich Feigling genannt werde?«

Seine Stimme bekam einen bitteren Klang. »Ich kann es nicht verstehen – so sehr habe ich versucht, ihm zu gefallen. Ich führte mich auf wie er, ich prügelte mich und zog mit den anderen Kavalieren herum, aber es gelang mir nie, so zu sein wie er. Ich weiß nicht, warum er mich so sehr hasst.«

»Weil du Henri bist«, sagte Elin. »Er hasst dich für all das, was ich … an dir liebe.«

Der Herbst kam in diesem Jahr früh und war golden. Voller Ungeduld wartete Kristina auf die Ankunft von Herrn Descartes. Immer noch war sie damit beschäftigt, den Frieden durchzusetzen, der zwar auf dem Papier bestand, aber weitere Verhandlungen erforderte. Marodierende Söldnerhorden zogen durch die deutschen Städte, der Krieg hatte die Staatsfinanzen geschwächt und die Königin musste nun in ihrem eigenen Land Ordnung schaffen. Dafür beorderte sie deutsche Handwerker nach Schweden, verbesserte die Verwaltung und Infrastruktur ihres Landes und verbot endgültig jegliche Hexenverfolgung. Inzwischen plante sie auch die Errichtung einer wissenschaftlichen Akademie auf Tre Kronor. Zu Elins Kummer diskutierte sie darüber am liebsten mit Monsieur Tervué. Seltsamerweise bestand zwischen ihr und der Königin seit dem Gespräch über Henri immer noch eine unterschwellige Spannung, die sich Elin nicht erklären konnte. Bisher hatte Kristina nichts über Kester Levens Papiere in Erfahrung bringen können und vertröstete sie stets aufs Neue.

Es war Anfang September, als Henri zum ersten Mal wieder das Schloss betreten durfte und zu den Jagden eingeladen wurde. Elin und Henri achteten darauf, sich ihre Vertrautheit nicht anmerken zu lassen, und verfielen in ihre alte Gewohnheit, sich spöttische Sätze zuzuwerfen. Es war erstaunlich einfach – und Elin erkannte mit Verwunderung, wie haarfein die Linie zwischen Liebe und Hass war. So mühelos beherrschte Henri es, in die Rolle von Monsieur de Vaincourt zu wechseln, dass es Elin manchmal nicht geheuer war. Nur Freinsheim lächelte wissend, wenn sie in der Bibliothek Schach spielten, und gab vor, nicht zu bemerken, wie sich verstohlen ihre Hände berührten, wenn eine der Spielfiguren zu Boden fiel. Tervué beobachtete Elin in diesen Wochen ebenso genau wie Lovisa. Elin wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, und immer wieder sagte ihr eine gemeine Stimme, die der von Kristina erschreckend ähnlich war, dass ein Graf, mochte er auch ein Armer unter den Reichen sein, niemals eine Reiche unter den Armen lieben konnte.

Der zerbrochene Spiegel

Das Schiff mit Passagieren aus Holland kam in Stockholm an, als schon die ersten Herbststürme die Blätter von den Bäumen fegten. Elchschinken hingen in den königlichen Räucherkammern; Fässer mit eingelegten Pilzen, Fisch und Zwiebeln lagerten bereits als Wintervorrat in den Kellern.

»Monsieur Descartes ist da!«, rief Kristina Elin zu, die eben die Weisungen für ein neues Schulhaus überprüfte. »Ausgerechnet jetzt, wo Chanut für ein paar Wochen in Frankreich ist! Gib Herrn Freinsheim Bescheid und geh mit ihm zum Hafen!«

Elin sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl beinahe umfiel. Wenig später verließ sie mit ihrem weiten Dominomantel bekleidet das Schloss und eilte zur Anlegestelle. Ein schneidender Herbstwind heulte um die Häuser am Hafen. Blinzelnd sah sich Elin nach Herrn Freinsheim um, aber natürlich brauchte er einige Zeit, um mit der Kutsche nachzukommen. Währenddessen gingen bereits die ersten Passagiere von Bord. Elin hielt den Mantel mit den Händen zu und spähte zu den gebeugten Gestalten, die im Gänsemarsch das Schiff verließen. Vor Aufregung wurde ihr Mund ganz trocken.

»Monsieur Descartes?«, rief sie auf gut Glück. Fünf Gestalten hoben den Kopf – eine winkte. Descartes war nicht besonders groß, dicklich und unscheinbar. Es war nichts Strahlendes an ihm. Nie hätte sie vermutet, einen der größten Philosophen ihrer Zeit vor sich zu haben. Eine Zornesfalte teilte seine Stirn. Er hatte dunkle, ausdrucksstark geschwungene Brauen und tiefe Falten um den Mund. Seine Augen waren hellwach.

»Monsieur Freinsheim wird gleich mit der Kutsche hier sein, um Sie zur Botschaft zu bringen«, sagte Elin.

»Nach der langen Fahrt hätte ich auch nichts dagegen, einige Straßen zu Fuß zu gehen«, gab der Philosoph zurück und schenkte ihr ein liebenswertes, schlaues Lächeln.

Schon am nächsten Tag ließ Kristina Monsieur Descartes ins Schloss bitten. Zu Elins Überraschung erschien der unscheinbare Mann herausgeputzt wie ein Edelmann mit spitzengeschmückten Handschuhen, geschlitzten Ärmeln und frisch gewelltem Haar in der Bibliothek.

»Griechisch, Mademoiselle?«, fragte er tadelnd und tippte mit spitzem Finger auf das Buch, das aufgeschlagen vor Elin lag. »Zeitverschwendung. Lassen Sie die klassische Philologie hinter sich und vertrauen Sie lieber auf Ihren Verstand. Wie Madame Chanut mir in ihren Briefen mitteilte, haben Sie genug davon.«

Verlegen klappte Elin das Buch zu.

»Aber man muss doch die alten Sprachen können.«

»Überflüssig! Gedankenspiele für Kinder. Bestimmt beschäftigen Sie sich auch mit Geschichte, nicht wahr?«

Sie nickte. Descartes lachte nachsichtig.

»Sie sind jung, Mademoiselle. Aber Sie werden feststellen, dass uns die Geschichte keine Antworten liefern kann. Es sind nur Ansammlungen fremder Gedanken und Behauptungen. Die wahren Antworten liegen in uns selbst.«

Elin wollte gerade etwas erwidern, als schon Kristina in Begleitung von Herrn Freinsheim auftauchte. Sie strahlte wie ein Mittsommertag, als sie den Philosophen begrüßte.

»Mein lieber Herr Cartesius!«, rief sie. »Ich hoffe, Sie fühlen sich in der Botschaft wohl, auch wenn die Chanuts nicht da sind?«

»Vielen Dank für Ihre Sorge, Majestät«, erwiderte Descartes. »Der junge Monsieur de Vaincourt tut alles, um mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Bei den Kenntnissen, die er sich in der Astronomie angeeignet hat, würde er einen guten Kapitän abgeben.«

»Ich bin sicher, Sie werden sich schnell einleben und sich hoffentlich dazu entschließen, recht lange bei uns zu bleiben. Der Winter mag einem Mann aus den wärmeren Ländern grau erscheinen, aber den Sommer hier müssen Sie erleben!«

Elin entging nicht, wie der Philosoph kaum merklich zusammenzuckte.

»Bedauerlicherweise bleibe ich nur ein paar Wochen, Ihre Majestät, um Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.

Kristinas Antwort war ein Lächeln, das Elin nur allzu gut kannte.

Für die Philologen und anderen Gelehrten bei Hofe war die Ankunft des Philosophen wie ein Wind, der die sorgfältig auf einem Tisch angeordneten Papiere durcheinander wirbelte. Descartes dachte gar nicht daran, seinen Widerwillen gegen das Studium der alten Sprachen zu verbergen. Gerne stritt er sich auch mit Tervué und zog dessen mathematisches und theologisches Wissen in Zweifel. Und auch mit den protestantischen Geschichtswissenschaftlern verscherzte er es sich, allen voran mit Herrn Gesenbek.

Je dunkler die Wintertage wurden, desto frostiger wurde auch das Klima am Hof. Nur Königin Kristina schien davon nichts zu bemerken. Die Regierungsgeschäfte beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit. Der Rat drängte darauf, dass sie endlich den offiziellen Krönungstermin bekannt geben sollte, und Karl Gustav versuchte immer noch, sie zur Heirat umzustimmen.

An einem kalten Morgen beorderte sie Descartes zu einer Audienz. Inzwischen war der erste Schnee gefallen und hatte die Stadt mit eisigem Samt bedeckt. Als Elin an die Tür der Botschaft klopfte, war es kurz nach vier Uhr in der Frühe. Descartes tat ihr Leid, offenbar war er ein so zeitiges Aufstehen nicht gewöhnt. Er sah steinalt aus, hatte noch den Abdruck einer Kissenfalte auf der Wange und nuschelte eine unverständliche Begrüßung. Henri, der ebenfalls aufgestanden war, nutzte die Zeit, in der der Philosoph seine Bücher zusammensuchte, um mit Elin einige Worte zu wechseln. In Augenblicken wie diesen fehlten Elin die Sommernächte besonders – die lächerlich wenigen gestohlenen Momente, die sie für sich hatten, vergrößerten ihre Sehnsucht und ließen sie beide umso hungriger nach Nähe zurück.

Pünktlich um fünf Uhr morgens begann der Unterricht in der zugigen Bibliothek des Schlosses. Zu ihrer maßlosen Enttäuschung durfte Elin nicht daran teilnehmen.

»Ärgern Sie sich nicht, Fräulein Elin«, tröstete Herr Freinsheim sie. »Sie werden noch genug Gelegenheit haben, mit Monsieur Descartes zu sprechen.«

Wie Recht der Bibliothekar mit dieser Vermutung hatte, durfte Elin schon in den nächsten Wochen erfahren. Denn obwohl der Philosoph von der Königin und ihrem Wissen begeistert war und der nächsten Unterrichtsstunde entgegenfieberte, schien Kristina ihn mit einem Mal vergessen zu haben und wies ihn an, die folgenden Wochen erst einmal dazu zu nutzen, sich in Stockholm einzuleben. Währenddessen wurde das Kesseltreiben der Gelehrten bei Hofe immer schlimmer. Gegen Descartes wurden Gerüchte geschürt. Er wurde angefeindet und beschuldigt, atheistische Lehren zu verbreiten. Unterlagen verschwanden, gefälschte Briefe waren im Umlauf. Gekränkt zog sich Descartes schließlich in die Botschaft zurück.

»Diese Königin hat alles gesehen, alles gelesen – ihr Geist ist wirklich außerordentlich und sie weiß alles!«, bemerkte er, als er mit Freinsheim, Henri und Elin am Tisch saß. »Aber sie geht mit Menschen so um wie mit Büchern, die sie sich beschafft und in ihrer Bibliothek abstellt. Offenbar sammelt sie Wissenschaftler wie andere Leute Kuriositäten.«

Elin schwieg, aber insgeheim gab sie dem Philosophen Recht. In letzter Zeit war das Verhältnis zwischen Kristina und ihr noch angespannter geworden. Es war beinahe so, als hätte ihre Liebe zu Henri die feste Mauer der Freundschaft zu Kristina an einigen Stellen beschädigt. Steinchen für Steinchen löste sich, Lücken wurden sichtbar, durch die Elin jetzt Details wahrnahm, die sie früher nicht gestört hatten. Umso schöner waren die Abende im obersten Stock der Botschaft, wo Descartes Henri und ihr mit dem Blick auf einen samtfarbenen und diamantbestickten Himmel den Lauf der Gestirne erklärte, über Astronomie und Arithmetik sprach und neue Welten der Vernunft und des Verstandes an den Himmel malte, die alle nach mathematischen Prinzipien erfasst werden konnten. Verstohlen betrachtete Elin Henris Gesicht, wenn er in den Himmel schaute – und er gefiel ihr besser denn je. Doch auch mit Henri ging in diesen Wochen eine Veränderung vor. Er war schweigsamer geworden und grübelte viel vor sich hin. Seinen Kummer wollte er Elin nicht verraten, und so erklärte sie sich sein Verhalten mit den langen dunklen Nächten und der Einsamkeit in der verwaisten Botschaft.

Nach und nach verlor sie ihre Scheu vor Descartes und kam zu dem Schluss, dass er ein liebenswürdiger und väterlicher alter Mann war – ein wenig verhärtet durch sein Schicksal, aber ein unerschütterlicher Menschenfreund. Nur wenn er von der menschlichen Maschine sprach, erinnerte sich Elin an Emilia und zweifelte daran, dass der Mensch wie ein Uhrwerk repariert werden konnte. Verstohlen strich ihr Henri dann über den Arm.

Als hätte das Kesseltreiben gegen Descartes auch den Blick auf Elin gelenkt, flammten überraschend die Gerüchte über sie und Henri wieder auf – erst unmerklich, schließlich immer offener. Schmähbriefe machten die Runde, und einige Wissenschaftler, die Elins Dienste bis vor kurzem hoch geschätzt und sie für ihre Wissbegierde gelobt hatten, weigerten sich nun, sie zu unterrichten. Ganz offen ließ Tervué in der Bibliothek unverschämte Bemerkungen fallen, mit denen er darauf anspielte, dass Elin als Descartes’ Spionin arbeite. An dem Tag, an dem das erste Mal offen das Wort »Franzosenhure« fiel, klopfte es energisch an der Tür zu Elins Gemach, in das sie sich geflüchtet hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Kristina die Tür und trat ein. Instinktiv verbarg Elin den noch verschlossenen Brief, den ihr Henri hatte zukommen lassen, hinter dem Rücken.

»Nun?«, sagte Kristina barsch. »Gibst du deinen Feinden Recht, indem du dich hier verkriechst?«

»Und Sie?«, konterte Elin. »Lassen Sie meinen Feinden freie Hand, indem Sie die Beleidigungen überhören?« Sie ärgerte sich darüber, wie kläglich ihre Stimme klang, und hoffte, der Königin würden ihre geröteten Augen nicht auffallen. Mit wenigen Schritten war Kristina bei Elins Bett und ließ sich darauffallen.

»Deshalb bin ich hier«, sagte sie. »Weil ich mich nicht länger taub stellen kann. Und weil ich dir gegenüber nicht länger stumm bleiben will.« Sie machte eine Pause, in der sie sich ein weiteres Kissen heranzog und unter ihren Kopf schob. »Du hast mir besser gefallen, als du Henri noch gehasst hast«, meinte sie schließlich in freundlichem Plauderton. »Erinnerst du dich noch an den Brief, den ich Monsieur Descartes vor einem Jahr geschrieben habe? Wir diskutierten darüber, was den größeren Schaden verursacht: falsch angewendete Liebe oder Hass. Nun, ich sagte ihm, meiner Meinung nach sei es die Liebe. Diese Leidenschaft führt uns zu weit größeren Exzessen. Denn der Hass richtet sich nur auf das gehasste Objekt, während die gestörte Liebe nichts verschont – nur ihr Objekt. Allen anderen um sie herum schadet sie ohne Bedenken.«

Elin hatte schon bei den ersten Worten der Königin Herzklopfen bekommen. Die Kanten von Henris Brief drückten in ihre Handfläche.

»Dann sprechen wir hier von zwei unterschiedlichen Dingen, Kristina«, sagte sie. »Sie von falsch angewendeter Liebe. Ich von der Liebe zwischen Henri und mir.«

Die Königin lachte auf – es war ein zynisches Lachen. Elin konnte wieder einmal durch die Lücke in der Mauer sehen und erkannte in Kristina eine verbitterte junge Frau, gefangen in ihren Ängsten und Leidenschaften, die sie auch durch alle Vernunft nicht besiegen konnte.

»Wie du meinst, Elin. Dann will ich jetzt ehrlich zu dir sein, auch wenn es grausam klingen mag: Wo, denkst du, soll das, was du für Liebe hältst, hinführen? Meinst du etwa, Graf de Vaincourt heiratet eine Scheuermagd? Und noch dazu einen Bastard?«

»Einen gelehrten Bastard«, erwiderte Elin würdevoll. »Sie sollten wissen, dass mich solche Worte schon lange nicht mehr treffen. Und niemand sagt, dass ich je daran gedacht habe zu heiraten.«

Das war nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit war ihr elend vor Angst. Wie immer hatte Kristina das Messer direkt in die Wunde gestoßen.

»Denke daran, dass du nicht die Privilegien hast, die einer Königin gebühren.« Kristina musterte Elin mit einem Ausdruck von Mitleid, der Elin wütend machte. »Weißt du, dass Henris Vater gedroht hat, ihn zu enterben?«

Zu ihrem Ärger konnte Elin ihre Überraschung nicht verbergen. »Aha«, meinte Kristina trocken. »Da haben meine Zuträger also bessere Arbeit geleistet als die Liebe. Kannst du dir vorstellen, was der Grund für diese Drohung ist?«

»Zwischen ihnen … gibt es immer Streit. Sie sind sehr verschieden.«

»Nun, ich wünschte aufrichtig für dich, das wäre der einzige Grund. Nein, Henri ist derzeit nicht gerade entzückt von seiner adligen Verlobten in Frankreich, die dem Haus de Vaincourt einen Aufstieg garantieren würde.«

Die Nachricht traf Elin wie ein Schlag ins Gesicht. Dennoch riss sie sich zusammen.

»Falls es in dieser Hinsicht etwas zu bereden gibt, wird Henri es mir selbst sagen.«

»Oh, hör doch auf, die Eisprinzessin zu spielen!« Wütend setzte Kristina sich auf und schlug mit der flachen Hand auf das Bett. »Glaubst du wirklich an ein Wunder? Es ist eine Sache, vor einer ungeliebten Hochzeit nach Schweden zu fliehen. Eine ganz andere Sache aber ist die Verpflichtung der eigenen Familie gegenüber. Es geht um sein Erbe! Du glaubst doch nicht, dass Henri wegen dir darauf verzichtet!« Ihre Stimme wurde leiser und noch schneidender. »Aber natürlich hat eine Heirat wenig mit Liebe zu tun. Er könnte dich als seine Mätresse nach Frankreich mitnehmen.«

Elin stand da wie betäubt. Der Brief in ihrer Hand war längst zerknittert. Aber Kristina hatte noch einen weiteren Trumpf in der Hand.

»Er hat dir doch wenigstens gesagt, dass er in zwei Wochen nach Frankreich reist, oder?«

Elin spürte kaum, wie ihre Knie einknickten, als sie sich auf den Stuhl sinken ließ. Sie holte Henris Brief hervor und faltete das Schreiben auseinander. Stumm las sie, ohne die Buchstaben richtig wahrzunehmen. Nur so viel verstand sie: Henri hatte sie verraten.

»Nun, mir soll es gleich sein«, schloss Kristina. »Entscheide, was dir wichtiger ist – die Liebe oder die Gelehrsamkeit. Beides gleichzeitig kann und werde ich dir zu deinem eigenen Wohl nicht gestatten. Es gibt zu viel Gerede und Unruhe hier am Hof. Fehlt nur noch, dass du verdächtigt wirst, eine Agentin der Katholiken zu sein, die den Auftrag hat, mich zu bekehren.«

Elin kämpfte gegen die Tränen. Die Stille im Raum war so kalt wie das Winterwasser des Mälarsees. Nur langsam gewann ihre Wut wieder die Oberhand. Es tat unendlich gut, den Brief zu zerknüllen und ihn in die Ecke zu schleudern, was Kristina ein triumphierendes Grinsen entlockte.

»Ich entscheide mich dafür, mich weiterhin um Monsieur Descartes zu kümmern, wenn Sie erlauben«, sagte Elin. »Und bitte Sie, mich von der Arbeit in der Bibliothek bis auf weiteres zu entbinden, Majestät.«

Natürlich hatte sie erwartet, dass Henri sie früher oder später finden würde, aber dass er sie ausgerechnet im Stall aufspürte, wo sie Enhörnings geschwollenes Sprunggelenk mit Tabaktinktur und Branntwein einrieb, überraschte und verunsicherte sie. Die vergangenen paar Stunden hatte sie damit zugebracht, sich Antworten zurechtzulegen, aber als sie nun Henris Gesicht direkt vor sich sah, versetzte ihr sein Anblick einen solchen Stich, dass alle Sätze in ihrem Kopf zu sinnlosen Gedankenfetzen zerfielen. Sie stieß grob seinen Arm weg, als er sie an sich ziehen wollte. Henri runzelte verwirrt die Stirn.

»Elin?«

»Fass mich nicht an!«, zischte sie.

Seine Verwunderung verwandelte sich in Bestürzung.

»Du hast den Brief gelesen«, stellte er fest. »Aber warum bist du so wütend?«

Sie zuckte mit den Schultern und klopfte Enhörnings Hals.

»Du verlässt uns in zehn Tagen. Viel Glück.«

Henri starrte sie so fassungslos an, als hätte sie ihm ohne Grund einen Fausthieb versetzt. Dann machte er den Mund wieder zu und seufzte.

»Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen sollen. Mein Vater ist schwer erkrankt. Meine Mutter bittet mich, nach Frankreich zurückzukehren – zumindest, bis einige Dinge geklärt sind. Aber ich komme so schnell wie möglich nach Stockholm zurück. Vielleicht schon im nächsten Sommer.«

»Um der Königin deine französische Frau vorzustellen? Herzlichen Glückwunsch übrigens zur Verlobung.«

Elin gab Enhörning einen Klaps, damit er sein Gewicht auf das andere Bein verlagerte. Erst als er scheute und zur Seite sprang, wurde ihr bewusst, wie fest sie zugeschlagen hatte. Henri war rot geworden und senkte schuldbewusst den Kopf.

»Es ist die Königin, nicht wahr? Unsere Liebe ist ihr ein Dorn im Auge. Deshalb redet sie dir ein, ich würde mich tatsächlich auf diesen Kuhhandel einlassen.«

Elin warf das Tuch hin und drehte sich zu Henri um.

»Auf den Handel hast du dich längst eingelassen«, sagte sie kalt. »Wie lange bist du schon verlobt?«

Die Antwort kostete ihn viel Überwindung, das konnte sie sehen, und es machte ihr sogar auf eine grausame Weise Spaß, ihn leiden zu lassen.

»Seit ich fünfzehn bin«, antwortete er schließlich. »Es war ein Arrangement, gegen das ich mich damals nie aufgelehnt hätte.«

»Und mir sagst du nichts davon. Sondern machst mir Vorwürfe wegen Hampus. ›Wer nimmt schon einen Krüppel, Mademoiselle?‹ – Mein Gott, und ich habe dir jedes Wort geglaubt.«

Erstaunlicherweise blieb er völlig ruhig und steckte all ihre Schläge ein.

»Du hast Recht«, gab er leise zu. »In allem hast du Recht – aber vielleicht verstehst du wenigstens, dass ich dich liebe, dass ich Angst hatte, dich zu verlieren …«

»Soll ich dich etwa bemitleiden?«, sagte sie scharf. »Ich bin nicht länger deine Mätresse. Was willst du noch von mir?«

Einen Augenblick lang war sie sich nicht sicher, ob er sie umarmen oder zurückstoßen wollte. Sie fürchtete und ersehnte seine Berührung, aber dann gewann ihr Stolz. Sie wich aus dem Verschlag zurück und hob abwehrend die Hand.

Henri hielt in seiner Bewegung inne und blinzelte.

»Was ich von dir will?«, murmelte er. »Das kann ich dir sagen. Ich … habe es satt, mich in Kammern und Ställen herumdrücken zu müssen, um dich zu sehen. Es ist ein offenes Geheimnis – und wenn ich aus Frankreich zurückkomme, würde ich gerne … dich … heiraten.«

»Nein.« Die Pferde scharrten in den Boxen und äugten zu ihnen herüber. Elin räusperte sich und gab sich alle Mühe, vernünftig und beherrscht zu klingen. »Hör auf, in die Sterne zu schauen, Henri. Ich weiß, wer ich bin, und du weißt, wer du bist. Im Wald am Mälarsee spielte es keine Rolle, aber …«

»Was aber?« Jetzt war es Henri, der die Geduld verlor und wütend wurde. Seine Augen funkelten im Halbdunkel des Stalls. »Ich bin bereit, ins Kreuzfeuer zu gehen und diese Verlobung zu lösen.«

»Das sagst du jetzt, aber wenn du erst wieder zu Hause bist, ist Schweden tausende von Meilen entfernt. Und wenn dein Vater mit deinem Erbe winkt …«

»Natürlich, wir Adligen sind käuflich! Sobald wir Geld und Ruhm sehen, werfen wir sogar die Menschen, die wir lieben, einfach weg«, zischte er. »Du bist es, die feige und voller Misstrauen ist, Elin! Du lernst die Landkarten auswendig und träumst davon, zu reisen und ein eigenes Leben zu führen. Und nun hast du jemanden gefunden, der dieselben Träume hat, der dich aufrichtig liebt und alles für dich wagen will, und den stößt du weg, um weiter an diesem Hof deine Wunden zu lecken und zu träumen.«

»Du hast mich angelogen!«

»Ich habe geschwiegen, weil es nicht wichtig ist, wen ich heiraten soll. Es zählt nur, wen ich heiraten will.«

»Da irrst du dich. Es zählt, dass ich dich auf keinen Fall heiraten will.«

Sein spöttisches, arrogantes Lächeln, das sie nur zu gut kannte, leuchtete auf.

»Das werden wir noch sehen«, stellte er fest. »Schließlich liebst du mich – und zwar sehr!«

»Wirklich? Vielleicht hatte ich nur Mitleid mit dir.«

Er ballte die Hände zu Fäusten. Als er wieder zu sprechen anfing, bebte seine Stimme, als müsste er sich mühsam beherrschen, Elin nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.

»Was muss ich mir noch alles anhören und tun, um für dich gut genug zu sein?«, zischte er. »Hast du schon einmal das Wort ›Vertrauen‹ gehört, Elin?«

»Vertrauen muss man sich verdienen, statt es zu verspielen, Henri.«

»Du hast mein Wort.«

»Dein Wort genügt mir nicht.«

»Was, verdammt noch mal, genügt dir dann?«

»Beweise«, sagte sie.

Sie verschränkte die Arme und hob das Kinn. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie das Gefühl, einen Kampf gewonnen zu haben.

Henri fluchte und schlug mit der Faust auf die Trennwand der Box. Enhörning legte die Ohren an und schnappte nach seinem Arm. Henri drehte sich um und ging. Sie hätte ihm hinterherlaufen sollen, stattdessen trat sie zu ihrem Pferd und fuhr mit den Fingern durch die schwarze Mähne des Tieres, immer und immer wieder, bis das Mähnenhaar glatt war wie ein Band aus Seide.

Seltsamerweise war es ausgerechnet Lovisa, die in dieser Zeit am engsten zu ihr hielt. Als sie Elins verweintes Gesicht sah, verbiss sie sich einen Kommentar und schloss sie einfach in die Arme.

»Kopf hoch, Kind«, murmelte sie. »Alles Schöne geht irgendwann vorbei – aber auch alles Schlechte, jetzt musst du den Kopf stolz erhoben tragen.«

Die nächsten Tage blieb Elin der französischen Botschaft fern und verkroch sich auch am Tag von Henris Abreise im Bett. Sie zog die Vorhänge zu und starrte die Stoffbahnen an, die sie von der Welt, die sie bisher zu kennen glaubte, vollständig abschlossen. Als hätte der Kummer ihr Blut vergiftet, bekam sie Fieber und träumte davon, wie Henri in einem Bett aus leuchtenden Farnen eine französische Herzogin umarmte. Kristina war sehr besorgt und versuchte sie aufzuheitern, indem sie ihr aus dem Trost der Philosophie vorlas, doch auch diese Worte erschienen Elin hohl und bitter. Nachdenklich betrachtete sie die Karten von Terra Australis und der französischen Küste, die sie vor langer Zeit über ihren Tisch gehängt hatte. Trotz des Mitgefühls, das die Königin ihr gegenüber zeigte, hatte Elin den Eindruck, dass Kristina über Henris Abreise erleichtert war. Und manchmal, wenn sie die Königin betrachtete, die gebogene Nase, die wachen Augen und die energischen Bewegungen, fragte sie sich, wann genau der Vorhang zwischen ihnen zu einer Wand geworden war. Längst waren sie und die Königin keine Spiegelbilder mehr – eher zwei unterschiedliche Porträts, die sich zufällig dieselbe Kunstkammer teilten. Elin begann, ihre Worte gegenüber Kristina sorgfältiger zu wählen und ihre Geheimnisse für sich zu behalten. Hampus schrieb aus Leyden von anatomischen Studien und schilderte eine Blasensteinoperation, der er beigewohnt hatte, und Helga brachte ihr Konfekt in Form von kleinen Häusern, in die sie mit einer Nadel Fenster und Türen geritzt hatte. Als Elin das erste Mal wieder zur Botschaft ging, war Descartes so erfreut sie zu sehen, dass er über das ganze Gesicht zu strahlen begann.

»Wie schön, dass Sie wieder da sind!«, rief er. »In dieser kalten Botschaft bin ich so einsam wie ein Gletscher. Fast hätte ich das Sprechen verlernt! Monsieur Henri lässt Sie übrigens grüßen. Er hat sich den Abschied sehr schwer gemacht.«

»Wie bedauerlich für ihn«, erwiderte Elin steif. Descartes lächelte und bat den Diener um zwei Becher Wein. »Die Vernunft überwindet Leidenschaften und Laster«, war sein trockener und etwas ironischer Kommentar. Elin machte es nichts aus, dass der Philosoph mit Angelegenheiten, die die Gefühle betrafen, nicht besonders viel anfangen konnte und wenig Takt zeigte. Im Gegenteil – sein mangelndes Mitleid machte es ihr leichter, ihre Sorgen in einer Kammer zu verschließen und sich stattdessen ganz auf die mathematische Betrachtung der Wissenschaften einzulassen, die Descartes zu seiner »Methode« erhoben hatte. Dennoch stellte sie fest, dass sich Kummer nicht in mathematische Formeln und logische Gesetzmäßigkeiten fassen ließ. Es war nicht einmal das Schlimmste, die Liebe unter dem Winterschnee zu begraben. Das Schlimmste war, den Anblick des Nachthimmels mit den von Henri so geliebten Sternen nicht mehr ertragen zu können. Ihre Melancholie schien Descartes anzustecken, denn er wurde immer unzufriedener und klagte: »Was soll ich hier in diesem Land der Bären, in dem die Menschen im Winter zufrieren wie die Flüsse?« Immer noch hatte Kristina ihn nicht zur Audienz gebeten. Neben den Staatsgeschäften übte sie ein großes Ballett zu Ehren des Westfälischen Friedens ein und schlug Descartes lediglich vor, sich am Tanz zu beteiligen. »Um Himmels willen, Majestät!«, antwortete er ihr in seiner direkten Art. »Ich bin über fünfzig – Sie wollen doch kein lahmes Ross zum Rennen schicken?« Kristina lachte und beauftragte ihn kurzerhand damit, stattdessen ein Libretto für das Ballett zu verfassen. Elin sah ihm an, wie unglücklich er über diesen Auftrag war.

»Ich hätte nicht übel Lust, so bald wie möglich nach Holland zurückzukehren«, brummte Descartes, als er sich mit Feder und Papier an den Tisch setzte. »Aber besser dichten als untätig herumsitzen, nicht wahr, Mademoiselle?«

Das Ballett wurde am Geburtstag der Königin, dem achten Dezember, aufgeführt. Elin hatte die Finanzen für die Beschaffung der Kostüme, der Hintergrundmalereien und die Dekoration geführt. Die Kostüme, die die ungeheure Summe von 16850 Riksdalern verschlungen hatten, waren aus Atlasseide genäht und mit silbernen und goldenen Borten verziert. Allein für das Gewand der Königin hatte man zweiundzwanzig Ellen Silberborte und achtundzwanzig Ellen Silbergaze benötigt. Von allen Balletten, die Elin bisher auf Tre Kronor gesehen hatte, war dies eindeutig das prachtvollste. Kristina tanzte mit einer Leidenschaft, die sogar den strengen Oxenstiernianern ein Lächeln entlockte. Descartes’ Ballett-Gedicht mit dem Titel »La naissance de la paix – Die Geburt des Friedens« wurde während des Tanzes verlesen und erntete viel Applaus. Das Publikum war begeistert, aber Elin sah nur schweigend zu. An diesem Abend war das rosenfarbene Land tot, eine Ansammlung von Farben ohne Seele und Leben.

Kurz nach dem Julfest kehrten die Chanuts nach Stockholm zurück. Elin war sicher, dass Madame Chanut von dem Zerwürfnis zwischen ihr und Henri gehört hatte, denn sie ging besonders herzlich und behutsam mit ihr um und vermied es sorgfältig, in ihrer Gegenwart über Henri zu sprechen. Das Haus füllte sich allmählich mit Besuchern und Abendgesellschaften. Selbst Monsieur Tervué war wieder oft zu Gast und unterhielt sich bei diesen Gelegenheiten sogar einmal mit Descartes. Es verwunderte Elin, dass die beiden Männer diesmal nicht in Streit gerieten. Die Anspannung war jedoch trotzdem zu spüren.

Endlich schien sich auch Kristina an den eigentlichen Grund zu erinnern, warum sie den Philosophen nach Stockholm berufen hatte, und bestellte ihn zum Unterricht in die Bibliothek. Descartes blühte bei dieser Nachricht auf wie eine Winterrose und war am Morgen schon um vier Uhr hellwach. Als ihn Elin um halb fünf Uhr bei der Botschaft abholte, war sie überrascht, dass er ihr persönlich öffnete – fertig angekleidet, herausgeputzt und reisebereit. Beherzt schritt er durch den frisch gefallenen Schnee. »Auf zur Methode!«, rief er, sobald er Platz genommen hatte. »Was werden Sie heute machen, Mademoiselle? Reiten Sie aus?«

»Oh nein. Mein Pferd lahmt leider immer noch ein wenig – ein Ausritt würde ihm nur Schmerzen bereiten.«

Descartes winkte ab und rieb sich die klammen Hände.

»Sie wissen doch: Tiere haben keine Seele und somit auch keine Empfindungen. Diese vermeintlichen Schmerzenslaute sind nichts anderes als das Quietschen eines schlecht geölten Wagenrads und somit ohne Bedeutung.«

»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie jemals das Stöhnen eines verwundeten Tieres gehört hätten.«

Er zeigte ihr ein breites Lächeln, das in ein Gähnen überging, und schüttelte den Kopf.

»Ich wusste, in Ihnen steckt keine besonders begabte Philosophin, dafür sind Ihre mathematischen Fähigkeiten umso bemerkenswerter. Aber natürlich steht es Ihnen frei, an allem zu zweifeln – auch an den Worten eines Philosophen.«

Elin sah Kristina an diesem Morgen nur kurz – und wenn sie ehrlich war, war sie froh darum, die Königin nicht sprechen zu müssen. Stattdessen betrat sie ihr kaltes Gemach, das ihr in den vergangenen Monaten immer fremder geworden war. Sie rief keinen Diener, um Feuer im Kamin zu machen, sondern erledigte diese Arbeit selbst. Auf dem Tisch hatte sich Staub angesammelt und die Fensterscheiben waren über und über mit Eisblumen bedeckt. Stumm setzte sich Elin an den Kamin und betrachtete ihr Porträt, das darüber hing. Ein wenig erinnerte die grünäugige Frau auf dem Bild heute an eine spöttische Jagdgöttin. Allerdings an eine, die nicht besonders glücklich aussah. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Elin endlich dazu aufraffte, sich an den Tisch zu setzen und nach der Feder zu greifen. Diese Zeilen würden sie mehr Arbeit kosten als alle Briefe, die sie jemals an Emilia geschrieben hatte. Nie hätte sie gedacht, wie viel Mut es erforderte, Hampus zu erklären, dass sie ihn niemals heiraten werde – auch wenn sie ihn als Freund liebte und es aus Vernunftgründen sicher die bestmögliche Verbindung wäre. Als sie nach einer Ewigkeit endlich den letzten Punkt setzte, stellte sie erstaunt fest, dass sie zwölf Seiten geschrieben hatte. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, faltete sie den Papierstapel und versiegelte ihn. Dann machte sie sich auf den Weg zu Herrn Freinsheim. Sie fand den Bibliothekar in seinen Privatgemächern, wo er auf einer Leiter stand und gerade dem Wissenschaftler Herrn Gesenbek einen dicken Band aus der obersten Regalreihe reichte.

»Guten Morgen«, sagte sie. Gesenbek gönnte ihr nur einen kurzen feindseligen Blick und riss das Buch an sich, als würde er befürchten, dass sie es ihm entreißen wollte. Mit einem unverständlichen Brummen bedankte er sich bei Freinsheim und entfernte sich hastig.

Der Bibliothekar stieg von der Leiter und lächelte Elin zu.

»Nimm es ihm nicht übel. Seit die Königin bei Herrn Descartes Unterricht nimmt, fürchten so einige der Herren, dass die klassischen Wissenschaften am Hof bald nichts mehr gelten und somit auch ihre Posten überflüssig werden könnten. Was hast du da?«

»Einen Brief an Hampus«, antwortete Elin leise. »Ich möchte Sie bitten, ihn einem der Sendboten mitzugeben.«

Freinsheim nickte und nahm das Schreiben an sich.

»Ist die Königin noch beim Unterricht?«, fragte er dann.

»Oh ja – die Tür zur Bibliothek ist noch verschlossen.«

»Nun, falls du die Königin vor mir siehst, richte ihr doch bitte aus, dass ich sie darum ersuche, mir heute ein paar Minuten ihrer Zeit zu schenken.« Etwas beunruhigte Elin am betont munteren Tonfall von Freinsheims Stimme. Seine tiefen Falten auf der Stirn sprachen eine ganz andere Sprache.

»Was ist, Herr Freinsheim?«, fragte sie geradeheraus. »Sie machen sich Sorgen – worüber?«

Der Bibliothekar seufzte und rieb sich müde die Augen.

»Ach, das Übliche«, murmelte er. »Es geht um Herrn Descartes. Irgendjemand hier im Hause gibt sich große Mühe, immer neue Schmähungen und Gerüchte zu verbreiten. Neuerdings heißt es sogar, Descartes habe vor, die Königin dazu zu überreden, einen Großteil der Wissenschaftler am Hof zu entlassen.«

»Was? Das ist doch Unsinn!«

»Das wissen wir beide – aber sag das jemandem wie Herrn Gesenbek, der ernsthaft um seine Existenz fürchtet. Und es ist nun einmal leider wahr, dass Monsieur Descartes mit Kritik gegenüber den Sprachwissenschaftlern und anderen Gelehrten nicht gerade geizt.«

»Das stimmt allerdings«, gab Elin zu. »Aber er macht es nicht, um die anderen vor den Kopf zu stoßen. Er scheint sich nicht bewusst zu sein, wie viele Feinde er sich mit seiner Offenheit schafft. Ich werde mit ihm reden.«

»Tu das«, seufzte Herr Freinsheim. »Tu das.«

Wie begründet Freinsheims Sorge war, wurde Elin klar, als sie bei der Bibliothek ankam. Mehrere Wissenschaftler und Sekretäre hatten sich dort eingefunden und warteten darauf, die Bibliothek betreten zu können. Elin fühlte sich unbehaglich und betrachtete die Männer aus sicherer Entfernung. Sie sah missgünstige und besorgte Gesichter und hörte Getuschel und gezischte Gerüchte. Tervué brütete dumpf vor sich hin und Herr Gesenbek sah todunglücklich aus und hielt das schwere Buch an seine Brust gepresst, als wäre es ein schützender Schild. Endlich ging die Tür der Bibliothek auf und eine strahlende Kristina betrat den Gang, gefolgt von Descartes.

»Ah, die Herren warten schon!«, rief sie den Wissenschaftlern zu. Dann wandte sie sich sofort wieder Descartes zu und verabschiedete ihn herzlich. Elin schauderte, als sie den Blick bemerkte, mit dem Tervué den Philosophen musterte. Blanker Hass blitzte darin auf.

Elins Gespräch mit Descartes hatte nicht den gewünschten Erfolg. Der Philosoph lächelte über ihre Besorgnis und schüttelte nur nachsichtig den Kopf.

»Die Wahrheit hört nun einmal niemand gerne«, sagte er leichthin. »Und ein Raum voller Wissenschaftler ist immer auch eine Schlangengrube. Lassen Sie die Bestien zischen!« Seit die Königin ihn zum Unterricht ins Schloss bat, hatte sich seine Schwermut merklich gebessert.

Mitten im kältesten Januar seit langem erhitzte dann ein neuer Skandal die Gemüter. Kristina bot Descartes ganz offiziell an, Präsident der Königlich Schwedischen Akademie zu werden, die sie schon seit längerem zu gründen plante. Nun liefen nicht nur die Wissenschaftler gegen Descartes Sturm, sondern auch die lutherische Geistlichkeit. Doch diesmal schienen die Schmähreden, die hämischen Kommentare und die feindseligen Blicke Descartes’ Segel nur zu blähen wie ein lange erwarteter Wind nach einer Flaute. Voller Eifer machte er sich daran, die Statuten für die Akademie zu entwerfen.

In diesen Tagen pfiff der Schneesturm durch die Gassen. Im Haus des Botschafters hallte dumpfes Husten durch die Gänge. Monsieur Chanut erkrankte an einer Lungenentzündung und schwebte einige Tage zwischen Leben und Tod.

Fräulein Ebba, aber auch Freinsheim kamen zu Besuch, außerdem Tervué, Gesenbek und andere Wissenschaftler. Selbst Axel Oxenstierna zeigte sich besorgt und ließ dem Botschafter Genesungswünsche ausrichten. Monsieur Chanut gelang das Kunststück, von allen – ob Katholiken oder Protestanten – gleichermaßen geschätzt zu werden. Nachts wachte Descartes am Bett seines Freundes und ging morgens unausgeschlafen und mit grauem Gesicht wieder an die Arbeit oder zum Unterricht ins Schloss. Es verwunderte kaum jemanden, als er ebenfalls erkrankte und Anfang Februar das Bett hüten musste. Zwei Tage schlief er wie ein Bewusstloser. In den wenigen Stunden, die er wach war, weigerte er sich zu essen oder zu trinken.

»Mir ist übel, Fräulein Elin«, flüsterte er. »Schaffen Sie das Essen aus meinem Blickfeld!«

Am dritten Tag waren alle im Hause Chanut so besorgt, dass Elin ins Schloss ging und die Königin bat, van Wullen ins Haus des Botschafters zu schicken. Zu ihrer Erleichterung ließ die Königin die Sekretäre warten und hörte sich Elins Anliegen an.

»Das klingt wirklich nicht gut«, murmelte sie, nachdem Elin Bericht erstattet hatte. »Natürlich muss van Wullen ihn untersuchen. Aber wie ich Monsieur Descartes kenne, wird er darauf bestehen, sein eigener Arzt zu sein.«

»Im Moment wird er kaum in der Lage sein, sich dagegen zu wehren«, antwortete Elin. Gerade wollte sie sich schon zum Gehen wenden, als Kristinas Stimme sie zurückhielt. »Ach, hast du übrigens schon die Neuigkeiten aus dem Haus de Vaincourt gehört?«

Elin erstarrte. Kristina blätterte in einem Buch und seufzte. »Der alte Marquis ist gestorben«, sagte sie. »Vor einem Monat bereits. Es tut mir sehr Leid um den Haudegen – er war zwar nicht der netteste Mensch, aber sicher einer der besten Strategen, die ich kannte. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.«

»Sie irren sich, Kristina«, sagte Elin leise. »In erster Linie interessiert mich nicht meine Vergangenheit, sondern Herrn Descartes’ Zukunft.«

In dem Maß, in dem Monsieur Chanut genas, verschlimmerte sich Descartes’ Zustand. Nach der langen Bewusstlosigkeit war er nun hellwach und unruhig, sein Blick irrte umher. Elin tat dieser Anblick im Herzen weh. Innerhalb weniger Tage war er entsetzlich abgemagert und hatte sich von dem stolzen Philosophen in einen störrischen alten Mann verwandelt, der unendlich litt. Van Wullen, der mit Elin den Kranken besuchte, warf einen kurzen Blick auf ihn und runzelte die Stirn. Entschlossen stellte er seinen Koffer auf dem Tisch ab. Skalpelle und Rippenheber klirrten. Descarte setzte sich mühsam im Bett auf. Seine Augen waren fiebrig und gerötet.

»Kein Aderlass«, befahl er mit schwacher Stimme. »Schonen Sie französisches Blut!« Und zu Elin gewandt flüsterte er matt: »Wenn ich schon sterben muss, dann bitte ohne einen Arzt in meiner Nähe.« Van Wullen wurde blass, aber er ließ sich seine Wut nicht anmerken.

»Sie werden nicht sterben«, erwiderte Elin.

Descartes ließ sich zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab.

»Ich möchte noch ein oder zwei Tage abwarten, um die Krankheit auszubrüten. Meist kommt die Krisis nach sechs Tagen – und wenn ich sie überwunden habe, wird es besser.«

Aber es wurde nicht besser, im Gegenteil! Descartes’ Zustand verschlechterte sich in den nächsten Tagen rapide. Ein plötzliches Fieber schüttelte ihn so stark, dass Elin kaum wagte, ihn alleine zu lassen, um in ihren Aufzeichnungen und Büchern nach dem Grund dieser Krankheit zu forschen. Sie verlief ganz anders als die Lungenentzündung, die Monsieur Chanut inzwischen überwunden hatte. Der Philosoph klagte über Schwindel, sein Blick war so unstet, dass er nirgendwo mehr Halt fand. Erst am siebten Tag ließ er es zu, zur Ader gelassen zu werden, eine Behandlung, die Elin mit gemischten Gefühlen verfolgte. Monsieur Tervué erkundigte sich mehrfach nach Descartes’ Gesundheitszustand. Und auch die anderen Gelehrten, darunter der Mathematiker Björn Strat und sogar der lutherische Theologe Kasimir Bielke, machten Monsieur Chanut ihre Aufwartung. Elin beobachtete die Gelehrten mit Unbehagen. Wie eine Horde von Krähen schienen sie über dem Lager ihres Konkurrenten zu kreisen. Die Spannung, die über dem Haus lag, wurde immer unerträglicher. Streit wallte auf, kaum eine Stunde verging ohne Diskussionen und Dispute.

Elin zog sich so oft wie möglich aus dem Empfangszimmer zurück. Mit der Erlaubnis von Monsieur Chanut setzte sie sich in dessen Arbeitszimmer, wo sie manchmal nichts anderes tat, als den Kopf in die Hände zu stützen und die Augen zu schließen, bis ihre wirbelnden Gedanken ein wenig zur Ruhe kamen.

An einem dieser chaotischen Tage klopfte ein Bote an die Tür und übergab Madame Chanut einen Brief. Elin, die nach einer langen Nacht an Descartes’ Krankenbett gerade in einem Sessel ausruhte, blickte von ihrem Becher mit heißem Wein auf. Seit Henris Abreise hatte Madame Chanut sicher schon vier Briefe von der Familie de Vaincourt erhalten, aber Elin hatte nie zu fragen gewagt, was darin stand. Dieser hier war erstaunlich dick und Elin sackte schon bei seinem Anblick das Herz in den Bauch.

Diesmal öffnete Madame Chanut das Schreiben in Elins Gegenwart. Ein kleinerer Brief rutschte heraus, den Madame Chanut gerade noch auffangen konnte, bevor er zu Boden fiel. Mit gerunzelter Stirn las sie das größere Schreiben. Für Elin dehnten sich diese Minuten zu einer Ewigkeit. Sie wusste, dass sie heute fragen würde – gleichgültig, ob die Nachricht von Henris Hochzeit ihr das Herz brach. Alles war besser als die Ungewissheit! Endlich hob Madame Chanut den Blick. Elin wusste nicht, ob es ein wissendes oder mitleidiges Lächeln war, das um die Lippen der Diplomatenfrau spielte.

»Für Sie, Elin!« Die Französin streckte ihr den kleineren Brief, der noch versiegelt war, entgegen.

Da war es – das kalte Fieber. Es ergriff Elin von einem Moment zum anderen, Eis in ihrer Kehle, Frost in ihrem Genick. Statt den Brief anzunehmen, klammerte sie sich an den Weinbecher und schüttelte krampfhaft den Kopf.

»Nein, bitte«, brachte sie schließlich mit kläglicher Stimme heraus. »Ich kann nicht. Würden … Sie ihn mir vorlesen?«

Madame Chanut zog eine Augenbraue hoch, doch dann öffnete sie das Schreiben und faltete es auseinander. In ihrem melodiösen Französisch begann sie zu lesen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Sinn der Worte erhaschte, bevor sie den Satz ausgesprochen hatte:

»Meine liebe Tochter,

sicher hast Du von dem Schicksalsschlag gehört, der vor kurzem unsere Familie erschütterte. Längst sind noch nicht alle Angelegenheiten geordnet, aber wir blicken trotz aller Trauer vertrauensvoll in die Zukunft. Ich freue mich darauf, Dich bald in die Arme zu schließen und in unser Heim aufzunehmen.

Herzlichst,

Charlotte de Vaincourt«

Die Stille, die auf diese Worte folgte, dröhnte in Elins Ohren. Madame Chanut kniff die Augen zusammen und ließ den Blick zum Ende des Briefs schweifen.

»Oh – ich sehe gerade: Henri hat auch noch eine Notiz hinzugefügt: ›Genügt das als Beweis, Küchenkönigin? ‹«

Sie ließ das Blatt sinken und betrachtete Elin amüsiert.

»Und?«, fragte sie. »Genügt es?«

»Er hat nicht geheiratet«, flüsterte Elin.

»Nein, geheiratet hat er nicht«, bestätigte Madame Chanut. »Aber ich denke, es ist eindeutig, dass er es noch vorhat. Wie ich hörte, befindet er sich bereits auf dem Weg nach Stockholm.«

Elin schluckte und starrte gedankenverloren in ihren Weinbecher. Tausend Nächte, so schien es ihr, hatte sie davon geträumt, aber jetzt fühlte sie nur eine seltsame Erleichterung.

In der roten Flüssigkeit spiegelte sich ihr Gesicht. Krank sah es aus, und unendlich müde.

»Der Wein!«, rief sie plötzlich. Der Gedanke blitzte so abrupt auf, dass er Henri und den Brief für einen Moment beiseite wischte. Im nächsten Augenblick rannte sie an der verdutzten Madame Chanut vorbei zur Treppe. Descartes war aufgewacht und litt schreckliche Qualen. Er hatte sich erbrochen. Klumpen von schwarz verfärbtem Blut tränkten die Decke, schwarzer Speichel rann ihm aus dem Mund. Er atmete unregelmäßig und sein Blick irrte hektisch hin und her.

Johann van Wullen stand mit hängenden Schultern an seinem Bett. Ohne auf die Gebote der Höflichkeit zu achten, stürzte Elin zu ihm und zog ihn am Ärmel zum Fenster.

»Es ist der Wein«, flüsterte sie. »Er ist vergiftet! Gestern hat er welchen getrunken – er wurde ihm in einem Becher gebracht, der unten zubereitet wurde und dort stand, wo alle Gäste ihn erreichen konnten. Vermutlich bekommt er das Gift schon seil einigen Tagen verabreicht.«

Der Leibarzt zog die Brauen zusammen, bis sie sich über seiner Nasenwurzel berührten.

»Was sagen Sie dazu?«, flüsterte sie. Van Wullen blinzelte nicht einmal, als er ihr die Antwort gab.

»Ich habe den Patienten aufgegeben«, sagte er sehr sachlich. »Seine Schmerzen kann ich versuchen zu lindern, ansonsten halte ich meine Hand von ihm fern.« Seine Stimme wurde leiser und bekam einen warnenden Unterton. »Und wenn Sie klug sind, Fräulein Elin, dann lassen Sie einen solchen ungeheuren Verdacht nicht verlautbaren. Eine Vergiftung lässt sich nicht beweisen.«

Fassungslos starrte Elin ihn an.

»Aber sehen Sie ihn sich doch an!«, beharrte sie. Der Arzt war blass geworden und sah mit einem Mal sehr erschöpft aus. Elin hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Es schnürte ihr die Kehle zu, auszusprechen, was ihr endlich klar wurde.

»Sie wissen es längst.«

»Manchmal weiß oder vermutet ein Arzt einiges, aber aus Gründen der Staatsräson muss er Stillschweigen bewahren. Vor allem, wenn es sich um bloße Vermutungen handelt.«

Van Wullen wandte sich brüsk ab, packte seine Instrumente ein und verließ das Zimmer. Elin blieb zurück – gefangen im Chaos ihrer eigenen Geschichte und mit Monsieur Descartes’ Leben, das ihr durch die Finger rann. Sobald sie Descartes’ Leibburschen damit beauftragt hatte, neues Feuerholz und frische Tücher zu holen, kniete Elin sich neben das Bett und zwang den Philosophen sie anzuschauen.

»Monsieur Descartes! Verstehen Sie mich?«

Schwach nickte er.

»Gut. Hören Sie mir genau zu. Ich habe den Verdacht, dass jemand versucht Sie zu vergiften. Ab heute nehmen Sie nur noch den Wein zu sich, den ich Ihnen bringe. Und ebenso ist es mit dem Wasser, dem Brot und den anderen Speisen. Haben Sie verstanden?«

Descartes zog einen Mundwinkel hoch und schluckte schwer. Er musste mehrere Versuche machen, bevor er endlich seinen Satz herausbrachte: »Ich werde diesen Feind austreiben. Bringen Sie mir Wein, vermischt mit Tabak.«

Lars wunderte sich nicht, als Elin im Stall erschien und ihn um einen Gefallen bat. Der sonst so laute und harsche Stallmeister hörte sich ihren geflüsterten Verdacht an und nickte. »Einverstanden. Dann werde ich mich auf Mäusejagd begeben. Wo ist das Brot?«

Elin reichte ihm das befleckte Taschentuch, in dem sie das in Wein getunkte Brot aus Descartes’ Kammer aufbewahrte.

»Wasch dir die Hände, nachdem du das Brot angefasst hast«, ermahnte sie ihn. »Ich habe damit den Rest aus Descartes’ Weinbecher aufgesaugt.«

»Weiß die Königin es schon?«

»Noch nicht, aber ich gehe gleich jetzt ins Schloss, um mit ihr zu reden.«

Da Kristina an diesem Tag nicht zu sprechen war, beschloss Elin, stattdessen Freinsheim einzuweihen, und bat ihn, unter strengster Geheimhaltung die Königin zu informieren. Die Chanuts sagten allen Besuchern ab, nur Elin blieb in der Botschaft und wachte Tag und Nacht an Descartes’ Bett. Hier, in der Dunkelheit, in der sie nur die unregelmäßigen, gequälten Atemzüge des Kranken hörte, kam sie zum ersten Mal seit Monaten wirklich zur Ruhe. In Gedanken ließ sie jeden Besucher der letzten zehn Tage noch einmal Revue passieren. Tervué natürlich, mindestens sechs weitere Wissenschaftler, ausländische Gäste aus Tre Kronor, ja selbst Doktor van Wullen hätte Descartes unbemerkt ein Gift verabreichen können, obgleich Elin beim besten Willen nicht wusste, was ihm der Tod des Philosophen nützen könnte. Bei den Wissenschaftlern lag die Antwort dagegen auf der Hand. Descartes hatte sich seit seiner Ankunft in Stockholm viele Feinde gemacht.

Dann gab es noch den Hauskaplan und die Bediensteten – jeder hätte sie bestechen können, das Gift zu verabreichen. Niedergeschlagen lehnte sich Elin in ihrem Sessel zurück und schloss die Augen. Seit Tagen hatte sie kaum geschlafen und nun glitt sie langsam in einen Dämmerschlaf hinüber. Henri hatte nicht geheiratet – und hier, neben einem Kranken, in der größten Sorge, schlich sich unbemerkt die Freude darüber an, dass ihr Geliebter auf dem Weg nach Stockholm war.

Van Wullen hatte mit seiner Prognose Recht gehabt. Elin wusste es, noch bevor sie die Augen öffnete. Als sie am zehnten Tag von Descartes’ Erkrankung mit steifen Gliedmaßen im Sessel erwachte, war das rastlose Atmen verstummt. Stattdessen hörte Elin nur noch das Kratzen einer Feder.

»Gegen vier Uhr hat er Gott seine Seele zurückgegeben«, sagte van Wullen. Aschgrau im Gesicht saß er am Tisch neben dem Fenster, wo er einen Brief schrieb. »Ich wollte Sie nicht wecken.«

Obwohl Elin es insgeheim erwartet hatte, war der Schmerz über den Verlust heftig und unerwartet.

»Sie wissen, dass er nicht an einer Lungenentzündung gestorben ist«, flüsterte sie. »Sie müssen es bezeugen, damit der Mörder gefunden wird!«

Van Wullen legte die Feder nieder und knetete seine Hände, als würden sie schmerzen.

»Ich werde gar nichts bezeugen. Und nun lassen Sie mich meinen Brief an einen Freund in Holland zu Ende schreiben.« Beim Blick in Elins Gesicht seufzte er und tippte viel sagend auf das zur Hälfte beschriebene Papier. »Es kommt nicht darauf an, was wir wissen«, sagte er eindringlich. »Wer wissen will, wird zwischen den Zeilen lesen.«

Die Königin war blass und hatte verquollene Augen. Bei der Todesnachricht war sie in Tränen ausgebrochen. Nun betrachtete sie angewidert den Eimer, den Elin zu ihrer Unterredung mitgebracht hatte. Elin hob das Gitter, mit dem der Eimer abgedeckt war. Die Maus lag verendet am Boden – ihre verkrampften Gliedmaßen zeigten, dass der Tod qualvoll gekommen war.

»Was soll ich nun mit dem Vieh?«, fragte Kristina.

»Sie hat das gefressen, was Monsieur Descartes am sechsten Tag seiner Krankheit zu sich genommen hat. Er wurde vergiftet.«

»Und das beweist du mit einer einzigen Maus? Nicht sehr wissenschaftlich.«

Elin wurde rot.

»Ich weiß«, gab sie zu. »Ich hatte Lars gebeten, mindestens zwei Mäuse zu fangen, um zu sehen, ob sie beide eingehen, aber die zweite ist leider entwischt.«

»Dann tut es mir Leid, Elin«, erwiderte Kristina eine Spur zu schnell. »Das reduziert deinen Beweis zu einer reinen Vermutung.«

»Aber der Auswurf hier …«

»Guter Gott, die Maus kann an allem Möglichen verreckt sein – vielleicht war sie bereits krank. Dafür spräche, dass Lars schnell genug war sie zu fangen. Oder sie hat vor Schreck Krämpfe bekommen. Jemand könnte sie sogar im Stall unbemerkt erschlagen haben.«

»Dennoch – Descartes’ Symptome sprachen nicht für eine Lungenentzündung. Und selbst wenn er erkältet gewesen ist, könnte jemand seine geschwächte Konstitution ausgenutzt haben, um ihm das Gift in mehreren Dosen zu verabreichen. Sie waren nicht da, Majestät – aber seit seiner Erkrankung gaben sich die Gelehrten in der Botschaft seltsamerweise plötzlich die Klinke in die Hand.«

»Nur weil es möglicherweise ein Motiv gibt, heißt das noch lange nicht, dass es auch eine Tat geben muss.«

»Eben deshalb muss der Todesfall genauer untersucht werden«, beharrte Elin. »Ich habe bereits eine Liste der Gäste erstellt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sowohl Monsieur Tervué als auch Herr Gesenbek …«

Kristina hob abwehrend die Hand. Sie war noch blasser geworden und stützte sich mit der anderen Hand schwer auf die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand. »Doktor van Wullen hat ein offizielles Kommunique verfasst und darin bestätigt, dass Monsieur Descartes an einer Lungenentzündung verschieden ist«, sagte sie mit Nachdruck. »Das ist auch mein letztes Wort.«

Elin kam sich vor, als wäre sie soeben in vollem Lauf gegen eine Mauer geprallt. Benommen stand sie da und begriff nur langsam. In diesem Augenblick, als die Enttäuschung sie überschwemmte wie eine kalte Woge, fühlte sie sich auf Tre Kronor nicht länger zu Hause. Sie hob das Kinn und warf der Königin einen herausfordernden Blick zu. Es wunderte sie, wie ruhig ihre Stimme klang.

»Sie sprechen so mutig, Majestät, wenn es um Tugend und Freiheit und Gerechtigkeit geht – um die Pflichten eines Fürsten gegenüber seinem Volk. Aber wo sind die mutigen Taten, wenn es darum geht, einen Tod zu rächen?«

»Ich handle damit durchaus zum Wohl meiner Untertanen«, erwiderte Kristin^ ebenso ruhig. »Ein Wissenschaftler kommt in meine Obhut und wird vergiftet. Begreifst du denn nicht, was das bedeuten würde?«

»Ich begreife sehr wohl.«

»Nein, du begreifst es ganz und gar nicht. Ich werde nicht zulassen, dass mein Hof in Europa als Mördergrube bekannt wird. Nicht nur, dass es einen Skandal gäbe, es würde auch politische Verstrickungen nach sich ziehen, deren Konsequenzen wir uns besser nicht vorstellen.«

»Sie schützen also den Ruf Ihrer Gelehrten zum Preis von Monsieur Descartes’ Leben und nennen es Pflicht.«

»Du bist nicht mein Richter!«, schrie die Königin sie mit einem Mal an.

Ihre blauen Augen glühten vor Zorn. Mit einer blitzschnellen Handbewegung griff sie nach dem Tintenfass auf dem Tisch. Es geschah so schnell, dass Elin nicht reagieren konnte und erschrocken stehen blieb. Das Fass verfehlte ihre Schulter nur knapp, zerschellte an der Holztäfelung der Tür und hinterließ eine schwarz blutende Wunde. Für ein paar Sekunden war Ruhe, dann richtete sich Kristina sehr gerade auf und biss sich auf die Lippen. Elin fühlte sich, als wäre gerade der letzte Faden, der sie beide noch verband, gerissen. Der Spiegel war zersplittert – und mit ihm Elins Spiegelbild. Sie betrachtete Kristina und sah nur noch eine Fremde.

»Ich verbiete dir, über diese Angelegenheit zu sprechen«, sagte die Königin leise. »Schwöre es!«

Elin senkte den Kopf und dachte an Doktor van Wullens verschlüsselten Brief.

»Wenn ich das schwöre, kann ich unmöglich länger am Hof bleiben. Erlauben Sie mir, das Land zu verlassen.«

»Wo zur Hölle willst du hin?«

»Nach Frankreich. Zu … Henri de Vaincourt.«

»Sieh an.« Jetzt war es die Königin, die ihre Betroffenheit kaum verbergen konnte. »Bedenke, er ist keine besonders gute Partie mehr, seit sein Vater ihn noch auf dem Sterbebett enterbt hat. Er kann von Glück sagen, dass ihm ein Onkel mütterlicherseits noch etwas hinterlassen hat.«

»Das ist mir gleichgültig, Majestät. Ich habe mich soeben dazu entschlossen, sein Heiratsangebot anzunehmen.«

»Elin, du bist mein Mündel – und noch nicht einmal volljährig.«

»Ich werde schweigen, aber ich will das Land verlassen«, beharrte Elin. Die Königin erschien ihr mit einem Mal noch kleiner. Verletzlichkeit schimmerte durch die herrische Fassade. »Und was ist mit Italien? Eines Tages – und vielleicht früher, als man denkt – werde ich meine Rolle hier zu Ende gespielt haben und Schweden verlassen. Du hast mir versprochen, mich zu begleiten.«

Nun konnte sich Elin ihren Sarkasmus nicht verkneifen.

»Ich war jung, als ich das Versprechen gab.«

Kristina zog die Luft scharf durch die Nase ein und hob das Kinn. »Überlege es dir gut. Wenn du jetzt gehst, werden sich unsere Wege für immer trennen.«

Elin schluckte. Gegen ihren Willen stiegen ihr Tränen in die Augen. »Das weiß ich, Majestät.«

»Mein Gott«, sagte Kristina mit einer Stimme, die nun vor Verachtung und verletztem Stolz bebte. »Du bist tatsächlich eine gewöhnliche Frau geworden – allzu gewöhnlich. Wie konnte ich nur jemals denken, du wärest mir ähnlich!« Sie sah Elin an, als wartete sie verzweifelt auf etwas – eine Entschuldigung, einen Widerspruch vielleicht. Doch Elins Schweigen war Antwort genug. »Dann verschwinde!«, schrie Kristina. »Lass mich allein – folge der Liebe, wenn du dich unbedingt unglücklich machen willst!«

Elin krampfte ihre Finger ineinander, um Kristina nicht zu zeigen, wie sehr ihre Hände zitterten.

»Wie Sie befehlen, Majestät. Aber vorher möchte ich noch den Wunsch geltend machen, dessen Erfüllung Sie mir versprochen haben, als ich an Ihrer Stelle verwundet wurde.«

»Was willst du?«

Elin holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen.

»Meine Papiere«, sagte sie mit fester Stimme. »Alle Unterlagen, die in Kester Levens Besitz sind.«

Tag für Tag ging Elin in der Botschaft auf und ab, räumte ihre Bücher von einer Truhe in die nächste und konnte vor Ungeduld kaum schlafen. Auch jetzt war es wieder Lovisa, die bei ihr war, obwohl sie Elins Entscheidung, Henri zu heiraten, ebenso wenig billigte wie Kristina.

»Ach Kind«, seufzte sie nur. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt – aber ein wenig mehr Besonnenheit würde dir das Leben leichter machen. Was wirst du denn nur ohne mich machen?«

Meistens aber verbrachten sie die Nachmittage in der Botschaft ohne viele Worte. Nach und nach ließ Lovisa Elins persönliche Habe in die Botschaft bringen und bereitete die Reise vor. Elin hielt sich in diesen Wochen am liebsten in ihrer Kammer auf. Madame Chanut hatte ihr das Gemach gegeben, in dem auch Henri vor einigen Monaten gewohnt hatte, und Elin schmiegte sich nachts in die Kissen und stellte sich vor, wie es sein würde, Henri wieder umarmen zu können. Längst waren die Gespenster aus ihren Träumen verschwunden, dafür war es nun Descartes, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ. In einem Brief an Hampus hatte sie den Verlauf der Krankheit beschrieben – schließlich hatte sie Kristina geschworen, nicht über den Vorfall zu sprechen. Von Schreiben hatte die Königin dagegen nichts gesagt – und Hampus war ihr Freund. Beinahe ebenso sehr wie um den Philosophen trauerte Elin um ihre Freundschaft zu Kristina. Insgeheim hoffte sie, dass die Königin ebenfalls schlaflos in ihrem Gemach lag und über ihren Streit nachdachte. Trotz des Zerwürfnisses und Monsieur Descartes’ Tod, der immer zwischen ihnen stehen würde, fehlte ihr Kristina unendlich.

Nach dem langen Winter brach das Eis erst Anfang April und verwandelte das Hafenwasser in eine Ebene aus glitzernden Eistrümmern. Elin erinnerte dieser Anblick an einen Spiegel, der in tausend Scherben zerbrochen war, in denen sie nicht mehr Kristina, sondern nur noch Bruchteile ihrer eigenen Vergangenheit sah. Schiff um Schiff lief im Hafen ein, aber Henri kam nicht. In ihren Träumen sah Elin ihn von Wegelagerern überfallen, ausgeraubt, ertrunken bei einem Schiffbruch oder schwer erkrankt. Sie wagte kaum mehr, zu Enhörning und Lars zu gehen, aus Angst, seine Ankunft zu verpassen. Statt einer Nachricht von Henri brachte ein Bote Ende April einen Brief von Hampus. Elin bekam Herzklopfen, als sie ihn entgegennahm. Rasch entschuldigte sie sich bei den Chanuts, mit denen sie eben beim Souper saß, und eilte in ihre Kammer. Sie hatte Angst, den Brief zu öffnen, aber schließlich fasste sie Mut. Hampus’ schöne, regelmäßige Schrift zu sehen, war ein wenig so, als würde ihr Freund bei ihr sein. Der Brief war in einem sehr höflichen Ton gehalten, aber Elin konnte zwischen den Zeilen immer noch seine Enttäuschung und seinen Kummer hindurchschimmern sehen. Umso mehr liebte sie Hampus für seine Größe, ihr so herzlich und aufrichtig zu gratulieren.

Ich wünsche Dir und Henri tausend Nächte voller Sterne und Tage voller Rosenduft, Und ich hoffe, Euch beide eines Tages wieder zu sehen – wer weiß, wo sich unsere Wege kreuzen werden. Nur in Schweden, glaube ich, sicher nicht mehr …

Elin war so in diese Worte vertieft, dass sie nicht hörte, wie jemand leise an ihre Tür klopfte. Langsam schwang die Tür auf. Elin sprang von ihrem Stuhl hoch.

Der Mann, der in der Tür stand, war sicher nicht der Henri, den sie vor bald einem halben Jahr das letzte Mal geküsst hatte, aber immerhin ein junger Mann, der ihm sehr ähnlich sah. Beinahe erschreckend erwachsen war er geworden. Um seinen Mund hatten sich Falten eingegraben, er war abgemagert und völlig erschöpft von der Reise. Regen hatte sein Haar durchnässt und tropfte auf seinen Kragen. Zögernd trat er in ihr Zimmer, aber Elin wagte nicht, ihm um den Hals zu fallen, so ernst war sein Blick. Er räusperte sich und rieb sich die Hände.

»Nun, der Ärmste unter den Reichen steht vor Ihnen, Mademoiselle. Enterbt bis auf ein halb zerfallenes Landgut, zwei Webereien und ein paar schäbige Hanffelder. Reich werden wir damit nicht.«

Das »wir« entfachte ein Lächeln auf Elins Gesicht. Ihr wurde warm – jetzt wusste sie, was Henri so fremd wirken ließ: Von Wams und Mantel waren die kostbaren Goldborten verschwunden. Er atmete noch einmal tief durch und sprach weiter.

»Ein zukünftiger Marquis war dir nicht gut genug. Aber vielleicht gibst du dich mit einem einfachen Landadligen zufrieden. Ich jedenfalls kehre nicht ohne dich nach Frankreich zurück. Dafür war der Beweis zu teuer erkauft. Die Verlobung zu lösen war beinahe schlimmer als der Schuss ins Bein!«

Elin war mit zwei Schritten bei ihm und umarmte ihn. Seine Lippen waren rau und sein Kuss eiskalt von der nordischen Frühlingsluft. Trotzdem wärmte er Elin wie ein lang verschüttet geglaubtes Feuer.

Die Verlobung wurde nachts in Chanuts Botschaft gefeiert. Es duftete nach Helgas Marzipan und heißem Kräuterwein. Im Salon hatte Madame Chanut das beste Gedeck aufgelegt.

Draußen in den Gassen war es vollkommen still, die Mainacht war schwarz und undurchdringlich. Kristina hatte ihr Versprechen gehalten. Am Morgen hatte Herr Freinsheim Elin eine versiegelte Mappe mit Schriftstücken überreicht, dazu einen Brief mit der Aufforderung, ihn sogleich zu lesen. Darin gab die Königin Elin, ihrem Mündel, nun auch die offizielle Erlaubnis, sich zu verloben und Schweden zu verlassen. Elin war überrascht, dass Kristina sie »in absentia« nobilitiert hatte. Ohne den Schutz eines Titels werde ich mein Mündel nicht in eine ungewisse Zukunft ziehen lassen, hatte der Sekretär Bengt die Worte der Königin niedergeschrieben. Eine Baronesse kann ich aus ihr nicht machen, aber sie darf sich von nun an zu den Edelfrauen zählen und sich Fräulein von Asenban nennen. Elin stellte sich vor, wie Kristina mit ihrer nüchternen Stimme die Zeilen diktierte und dabei in ihrem Kabinett umherging – in der Hand bereits ein anderes Schriftstück, mit dem sich ihr Auge und ihr Geist beschäftigten. Außerdem wird Frau Lovisa – ob sie nun Schiffe mag oder nicht – auf meinen Befehl hin Fräulein von Asenban begleiten und prüfen, ob mein Mündel gebührend empfangen wird und standesgemäß lebt. Als Gratifikation für ihre Treue und ihre geleisteten Dienste erhält Fräulein von Asenban zudem 8000 Riksdaler, die ihr in schweren Stunden, die sie zweifellos auf ihrem Weg erwarten, nützen mögen.

Seltsamerweise machte das Geldgeschenk Elin im ersten Moment traurig. Es war ein erkaufter Friede – und Elin hätte es trotz allem lieber gesehen, wenn Kristina in die Botschaft gekommen wäre, um ihr ein letztes Mal die Hand zu geben. Noch mehr Überwindung, als Kristinas Brief zu lesen, hatte es sie gekostet, die Mappe mit den Dokumenten aufzuschlagen. Viel lag nicht darin – mehrere Blätter mit Kritzeleien und ein Brief. Vermutlich hatte ihr Vater ihn nicht selbst geschrieben, sondern auf dem Feld einen Schreibkundigen dafür bezahlt. Elin beugte sich über den Brief und las ihn Zeile für Zeile genau durch. Und noch ein zweites und ein drittes Mal. Erst dann sah sie sich die verschmierten Blätter an. Mit ungelenker Hand hatte ihr Vater eine Gestalt gezeichnet, mit dem Stück eines verkohlten Astes vielleicht, irgendwo auf dem Feld. Eine Frau, mit langem, hellem Haar, das ihr bis auf die Hüfte fiel.

»Der erste Gast hat schon geklopft!«, rief Madame Chanut ihr zu.

Elin, die eben noch nachdenklich den Rosenkranz ihres Vaters betrachtet hatte, blickte auf. Es war Lars. Der alte Reitmeister hatte seine Uniform angelegt. Stolz und ernst wie ein Brautvater trat er vor und schloss Elin in die Arme. Es klopfte wieder – und gleich darauf noch einmal. Vier Lastenträger schleppten ächzend Lovisas prall gefüllte Reisetruhen in den Raum. Die alte Kammerfrau war beim Gedanken an die Schifffahrt, die ihr bevorstand, bleich wie ein Gespenst, aber sie lächelte Elin tapfer zu und bat um einen Wein. Als Nächstes kam Helga und überreichte Elin eine schwedische Brautkrone. »Ich weiß, dass es bei einer französischen Hochzeit nicht der Brauch ist, eine Krone zu tragen«, erklärte sie. »Aber wenn du erst einmal in deinem neuen Land bist, wirst du froh sein, ein Stück Heimat mitgenommen zu haben.«

»Es wird Elin eine große Ehre sein, Ihre Krone auf unserer Hochzeit zu tragen«, sagte Henri mit einem Lächeln. Kaum hatten sie am Tisch Platz genommen, klopfte es wieder. Mäntel rauschten im Flur, fröhliches Lachen erklang – dann betraten Magnus de la Gardie, seine Frau und Ebba den Raum – gefolgt von Herrn Freinsheim. Madame Chanut schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ließ noch mehr Teller holen.

»Herr van Wullen konnte sich beim besten Willen nicht davonstehlen!«, rief Ebba mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber er schickt dir Grüße und Glückwünsche.«

»Haben Sie sich etwa alle aus dem Schloss geschlichen?«, fragte Henri.

Magnus zwinkerte ihm zu. »Nun, wir sind eher schlafgewandelt. Morgen werden wir uns nicht mehr daran erinnern.«

Es wurde ein Fest, das Elins Herz noch lange wärmen würde. Seit Ewigkeiten war sie nicht mehr so fröhlich gewesen – Magnus erzählte die Geschichte von Henris Unfall mit Enhörning in einer Weise, dass sogar Henri Tränen lachte. Die vergangenen zwei Jahre wurden wieder lebendig, zogen an Elin vorbei – funkelnde Geschichten, die sich wie Perlen an einer Kette aneinander reihten. Böse und gute, traurige und lustige. Als die Mitternacht längst vorbei war und von Helgas Konfekt kein Krümel mehr auf der Silberplatte lag, stand Elin auf und erhob ihr Glas.

»Ich möchte auf zwei Frauen trinken. Eine davon kennt ihr sehr gut – die Königin, der wir alle viel zu verdanken haben. Die andere … kenne ich nicht, aber ich weiß zumindest ihren Namen. Es ist meine Mutter. Sie hieß Elisabeth Krieschen und war die Tochter eines Gerbers aus München.«

»Das ist nur drei Tagesreisen von meiner Heimatstadt Ulm entfernt!«, rief Freinsheim dazwischen.

Elin nickte. »Da mein Vater sie auf der Insel Usedom kennen lernte, ist es nicht verwunderlich, dass ich dort keine Spuren über sie und ihre Familie fand. Ob sie eine Hure war, weiß ich immer noch nicht. Tatsache ist jedoch, dass mein Vater und sie geheiratet haben – in einem Feldlager. Meine Mutter war Katholikin. Ihr zuliebe ist mein Vater zum Katholizismus konvertiert – heimlich, als Hochverräter an Schweden. Ich … bin katholisch getauft worden – ebenso heimlich, in einer zerstörten Kirche am Rand des Schlachtfelds.«

Die Stille dauerte nur einen Moment, dann scharrten die Weingläser über die Tafel und die Stuhlbeine über den Boden. Lars hob feierlich sein Glas.

»Auf unsere Königin und auf Elisabeth Krieschen!«

Henri nahm einen tiefen Schluck und griff nach Elins Hand. Doch Elin entzog sie ihm und räusperte sich.

»Und dann habe ich noch ein Anliegen«, sagte sie in die Runde. Sie griff zu ihrem Taschentuch und klappte es auseinander. Lovisa begann zu lächeln. Elin zwinkerte ihr zu und nahm das Geschenk für Henri heraus. Es fühlte sich so an wie an dem Tag, an dem Lovisa es ihr endlich gegeben hatte – nur war es blanker, weil Elin es seitdem unzählige Male betrachtet und hin und her gewendet hatte.

»Ihr Riksdaler«, sagte sie zu Henri. »Mit bestem Dank zurück.«

Viel später am Abend, als die letzte Weinflasche geleert war und alle Geschichten mehrmals erzählt, erhoben sich ihre heimlichen Gäste und umarmten Elin nacheinander zum Abschied. Lars drückte sie so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb.

»Leb wohl, zukünftige Madame de Vaincourt«, brummte er und küsste sie auf die Stirn. »Falls du mich brauchst, um Lovisa zu fesseln, damit sie morgen mit dir aufs Schiff geht, weißt du ja, wo du mich findest.«

Fesseln mussten sie Lovisa nicht, aber sobald das Schiff in Sicht kam, gab Elin ihr die Hand, die Lovisa ergriff wie ein Ertrinkender das Seil.

»Ich muss verrückt sein«, murmelte Lovisa immer wieder vor sich hin.

Von weitem konnten sie sehen, wie ihre Ledertruhen und zwei silberbeschlagene Kisten an Bord verladen wurden. Enhörning tänzelte, als er in den Frachtraum unter Deck geführt wurde. Und während sich das Schiff, das sie über die Ostsee bringen würde, mit Passagieren und Handelsgütern füllte, wurde nicht weit von ihnen ein anderes Schiff entladen. Für die Krönungsfeierlichkeiten, die im Sommer stattfinden sollten, trafen bereits die ersten Lieferungen ein. Feuerwerk wurde an Land geschafft.

»Also los«, flüsterte Lovisa. »Lassen wir die Gräber endlich hinter uns!« Hand in Hand betraten sie und Elin das Schiff. Die Hofdame war blass und schwitzte. An Deck angekommen, klammerte sie sich hilfesuchend an die Reling. Henri gesellte sich zu ihnen und legte seine Arme um Elin. Vor ihnen erhob sich Tre Kronor – der alte Drache aus Stein mit unzähligen Fensteraugen, in denen sich das Morgenlicht spiegelte. Irgendwo im Schloss wurde bereits am Triumphbogen für die Krönungsfeierlichkeiten gebaut.

Elin ließ ihren Blick über die Mauern schweifen und suchte nach dem Fenster, aus dem Kristina und sie oft auf den Hafen geschaut hatten. Sie war sich sicher, dass die Königin dort oben stand und zu ihr hinunterblickte. Noch einmal atmete sie tief durch, bevor sie Stockholm endgültig den Rücken kehrte und das Wasser betrachtete. Die Zukunft lag vor ihr wie eine mit glitzerndem Schnee bedeckte Ebene – unberührt und voller Verheißungen neuer Wege, die es darunter zu entdecken galt. Neue Länder, neue Studien, neue Herausforderungen erwarteten sie. Sie würde dem lutherischen Glauben abschwören und in einer Kirche aus Granit heiraten. Gemeinsam mit Henri würde sie die Segeltuchwebereien seiner Familie ausbauen. Und irgendwann, in einem vergessenen Winkel, würde sie vielleicht eines Tages eine Scherbe des zerbrochenen Spiegels finden und darin Kristinas Lächeln sehen.

Nachwort

Kristina wurde im Jahr 1650 gekrönt, dankte jedoch vier Jahre später ab. Wie es ihr Wunsch gewesen war, folgte Karl Gustav ihr auf den Thron. Bald darauf verließ sie Schweden und trat zum katholischen Glauben über. Sie starb in ihrer Wahlheimat Rom am 19. April 1689.

Der Philosoph Rene Descartes verstarb am 11. Februar 1650 in Stockholm. Als Todesursache wird bis heute eine »verderbliche Lungenentzündung« angegeben. Doch schon am Tag seines Todes verbreitete sich in Stockholm das Gerücht, der Gast der Königin sei ermordet worden. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Kristinas Leibarzt, Doktor van Wullen, tatsächlich einen verschlüsselten Brief mit dem im Roman beschriebenen (und für eine Arsenvergiftung typischen) Krankheitsverlauf an den befreundeten Arzt Dr. Willem Piso schickte.

Ich habe die These von einer möglichen Vergiftung als Gedankenspiel aufgegriffen und mich bei der Beschreibung von Descartes’ letzten Lebenstagen auf den Inhalt dieses Schriftstücks bezogen. Der Originalbrief ist im Buch »Der (Mord-) Fall Descartes – Eine kriminologisch-medizinische Untersuchung« von Dr. Eike Pies in voller Länge abgedruckt.

Viele von Kristinas Kommentaren zum Leben und zur Liebe, zum Krieg und dem Geschlecht der Seele sind aus ihren Memoiren und dem von ihr verfassten Schatz an Aphorismen entlehnt.

Und zum Schluss noch ein Hinweis für die Stadtkundigen: Die im Roman angesprochene Insel »Skeppsholm« ist heute der Stadtteil Blasieholm bzw. Blasieholmen. Damals befand sich darauf die Werft.

Nina Blazon, Jahrgang 1969, wuchs in Neu-Ulm auf und studierte in Würzburg Slawistik und Germanistik.

Nach dem Studium unterrichtete sie an mehreren Universitäten und absolvierte ein Redaktionsvolontariat. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Stuttgart und schreibt als Journalistin unter anderem für die Stuttgarter Zeitung. Ihr Romandebüt »Im Bann des Fluchträgers« wurde im Jahr 2003 mit dem Wolfgang-Hohlbein-Preis ausgezeichnet. Für die Recherche zum Roman »Der Spiegel der Königin« reiste sie nach Stockholm und begab sich dort auf die Spuren der rebellischen Barockkönigin.