Wir schreiben das Jahr 2312: Die Menschheit hat Teile des Sonnensystems bevölkert, hat Habitate auf Asteroiden errichtet, hat auf dem Merkur eine bewegliche Stadt gebaut. Und sie hat auf all diesen neuen Welten neue Gesellschaftsformen ausprobiert, die miteinander im Konflikt stehen. Es ist das Jahr 2312, und die menschliche Zivilisation steht vor ihrer größten Herausforderung – denn soweit sich die Mensch heit auch entwickelt hat, so tief kann auch ihr Sturz sein. Ein Mord auf dem Merkur ist erst der Anfang eines planetenumspannenden Komplotts, das nur auf eines abzielt: die Zerstörung aller Welten.

Kim Stanley Robinson

2312

Prolog

Es ist immer kurz vor Sonnenaufgang. Der Merkur dreht sich so langsam, dass man der Dämmerung voraus bleiben kann, wenn man schnell genug über die steinige Oberfläche geht. Und viele tun genau das. Viele haben es zu ihrer Lebensweise gemacht. Sie gehen in grob westlicher Richtung, immer vor dem überwältigenden Tagesanbruch her. Manche hasten von Ort zu Ort, um die angesammelten Gold-, Wolfram- oder Uranrückstände aus Felsspalten zu kratzen, in denen sie zuvor Biolauge absondernde Metallophyten ausgebracht haben. Doch die meisten sind dort draußen, um einen Blick auf die Sonne zu erhaschen.

Das uralte Gesicht Merkurs ist derart ramponiert und zerklüftet, dass der Terminator des Planeten, der Bereich der Dämmerung, wie ein breites, schwarz-weißes Schattengemälde wirkt – kohlschwarze Furchen und Senken, aus denen hier und dort weiße Glanzflecken hervorstechen, die immer größer werden, bis das Land schließlich hell wie geschmolzenes Glas glänzt und der lange Tag beginnt. Dieser Bereich, in dem sich Sonne und Schatten mischen, ist oft bis zu dreißig Kilometer breit, obwohl der Horizont auf einer flachen Ebene nur ein paar Kilometer entfernt liegen würde. Aber auf dem Merkur gibt es praktisch keine flachen Ebenen. All die alten Krater sind noch da, auch einige langgezogene Klippen, die noch aus der Abkühl- und Schrumpfungsphase des Planeten stammen. In einer derart zerklüfteten Landschaft kann das Licht mitunter weit über den östlichen Horizont hinaus nach Westen fallen, wenn es dort auf eine emporragende Landmarke trifft. Jeder, der diese Welt bereist, muss darauf gefasst sein, muss wissen, wann und wo das Sonnenlicht seine Finger am weitesten streckt – und wo man Schatten suchen kann, wenn es einen im Freien erwischt.

Oder wenn man absichtlich auf die Sonne wartet. Denn viele Wanderer auf dem Merkur halten bei bestimmten Klippen und Kraterrändern inne, an Stellen, die von Stupas, Steinmalen, Petroglyphen, Inuksuit, Spiegeln, Mauern und Goldsworthys markiert werden. Neben diesen Wegmarken stellen die Sonnenläufer sich mit dem Gesicht nach Westen auf und warten.

Der Horizont, den sie betrachten, besteht aus schwarzem Raum über schwarzem Fels. Die extrem dünne Neon-Argon-Atmosphäre, die vom auf den Fels knallenden Sonnenlicht erzeugt wird, fängt nur einen ganz leisen Vorschein der Dämmerung ein. Doch die Sonnenläufer kennen den richtigen Zeitpunkt, also warten sie und schauen zu … bis …

… ein orangefarbenes Flackern wie ein Delfin über den Horizont springt und das Blut in ihren Adern schneller fließt. Dann flattern weitere bunte Banner, lecken empor, bilden Bögen und Schleifen, lösen sich von der Oberfläche und schweben frei in den Himmel empor. Gleich, oh, gleich wird der Stern über sie hereinbrechen! Ihre Visiere haben sich bereits verdunkelt und polarisiert, um ihre Augen zu schützen.

Immer mehr der orangefarbenen Banner leuchten auf, als würde ein Feuer am Horizont sich nach Norden und Süden ausbreiten. Dann erscheint ein Stück der Photosphäre, die eigentliche Oberfläche der Sonne, zunächst zögerlich flackernd, wird dann breiter und rinnt nord- und südwärts. Je nachdem, welche Filter man für sein Helmvisier benutzt, kann das Gestirn wie ein blauer Mahlstrom, wie eine orangefarbene, pulsierende Masse oder auch einfach nur wie ein weißer Kreis aussehen. Immer weiter verbreitert sich die Sonne, über jedes normale Maß hinaus, bis einem sehr deutlich wird, dass man ganz nahe bei einem Stern auf einem winzigen Kieselstein steht.

Zeit, sich umzudrehen und zu laufen! Wenn es den Sonnenläufern schließlich gelingt, sich loszureißen, taumeln sie benommen, stolpern und stürzen, nur um wieder aufzustehen und in ungekannter Panik nach Westen davonzurennen.

Aber vorher – ein letzter Blick auf den Sonnenaufgang des Merkur. Im Ultraviolettbereich sieht er aus wie ein anhaltendes, immer heißer werdendes blaues Fauchen. Blendet man die Scheibe der Photosphäre aus, tritt das fantastische Wirbeln der Korona deutlich hervor, all die magnetisch geladenen Lichtbögen und Entladungen, die Massen brennenden Wasserstoffs, die in die Nacht herausgeschleudert werden.

Andererseits kann man auch die Korona abdunkeln und nur die Photosphäre der Sonne betrachten. Man kann sie sogar vergrößern, bis man in der wabernden Glut die Gipfel der Tausenden von Konvektionszellen erkennt, jede einzelne eine feurig tosende Gewitterwolke. Zusammen verbrennen sie fünf Millionen Tonnen Wasserstoff pro Sekunde – womit der Stern noch weitere vier Milliarden Jahre zu leben hat. All diese langen Flammenspitzen umtanzen in kreisförmigen Mustern die kleinen schwarzen Pfützen, bei denen es sich um Sonnenflecken handelt – bewegliche Strudel im Feuersturm. In Massen strömen die Flammenspitzen zusammen, wie Seetang, der von den Meeresströmungen aufgehäuft wird. Es gibt nicht-biologische Erklärungen für diese verschlungenen Bewegungsprozesse – aber trotzdem sieht es lebendig aus, sehr viel lebendiger als manches, was wirklich lebt. Wenn man den apokalyptischen Sonnenaufgang auf dem Merkur betrachtet, ist es praktisch unmöglich, sich vorzustellen, dass es sich nicht um Zeichen von Leben handelt. Der Stern lässt einem die Ohren klingen, er spricht zu einem.

Die meisten Sonnenläufer probieren nach und nach all die verschiedenen Filter aus und entscheiden sich schließlich für den, der ihnen am besten gefällt. Bestimmte Filter oder Folgen von Filtern werden zu Formen der Anbetung, persönlichen oder gemeinsamen Ritualen. Man kann über diesen Ritualen sehr leicht die Zeit vergessen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein Sonnenläufer an seinem Aussichtspunkt durch etwas in diesem Spektakel in den Bann geschlagen wird – durch ein nie zuvor gesehenes Muster, durch das Strömen und Pulsieren, das den Verstand umgarnt. Mit einem Mal kann man das Knistern der feurigen Ausläufer hören, es schwillt zu einem wilden Tosen an – das ist das Blut, das einem durch die Ohren rauscht, aber es klingt wie die brennende Sonne. So kommt es, dass manche zu lange bleiben. Manche verbrennen sich die Netzhaut; manche erblinden; andere sterben sofort, wenn ihr überlasteter Raumanzug sie im Stich lässt. Manche werden in Gruppen von einem Dutzend oder mehr bei lebendigem Leib gekocht.

Hältst du diese Leute für Dummköpfe? Meinst du, dass dir selbst niemals ein solcher Fehler unterlaufen würde? Sei dir da nicht so sicher. Du machst dir nämlich überhaupt keine Vorstellung davon. Es ist mit nichts vergleichbar, was du je gesehen hast. Kultiviert und gebildet, wie du bist, glaubst du vielleicht, du seist gegenüber derartigen Eindrücken unempfänglich, dass nichts außer der Welt des Geistes dich noch interessieren könnte. Aber das wäre ein Irrtum. Du bist ein Geschöpf der Sonne. Ihre Schönheit und ihr Schrecken, aus solcher Nähe gesehen, kann jeden Verstand leerfegen, jeden Menschen in Trance versetzen. Es ist, als würde man Gottes Antlitz schauen, sagen manche Leute, und die Sonne versorgt ja tatsächlich alle Lebewesen im Sonnensystem mit Energie; in diesem Sinne ist sie unser Gott. Ihr Anblick vermag jeden Gedanken im Kopf eines Menschen auszuradieren. Genau deshalb halten die Leute nach ihr Ausschau.

Es gibt also gute Gründe, sich Sorgen um Swan Er Hong zu machen, die mehr als die meisten Menschen dazu neigt, Dinge einfach nur um eines Anblicks willen auszuprobieren. Sie geht oft Sonnenlaufen, wobei sie sich immer am Rande der Gefahr bewegt und manchmal zu lange im Licht bleibt. Die gewaltige Himmelsleiter, das körnige Pochen, der Strom der Flammenspitzen … sie hat sich in die Sonne verliebt. Sie betet sie an; in ihrem Zimmer hat sie einen Schrein für Sol Invictus errichtet und führt jeden Morgen, wenn sie in der Stadt aufwacht, zur Begrüßung der Sonne die Pratahsamdhya-Zeremonie durch. Ein Großteil ihrer Landschafts- und Performancekunst ist der Sonne gewidmet, und dieser Tage verbringt sie ihre Zeit hauptsächlich damit, Goldsworthys und Abramovics draußen auf dem Land und auf ihrem Körper anzufertigen. Die Sonne ist also Teil ihrer Kunst.

Und jetzt ist sie auch das, was ihr Trost spendet, denn Swan Er Hong ist zum Trauern draußen. Von der Promenade auf der großen Dämmerungsmauer der Stadt Terminator aus könnte man sie im Süden stehen sehen, dicht am Horizont. Sie muss sich beeilen. Die Stadt gleitet auf ihren Schienen durch die Talsohle einer riesigen Delle zwischen Hesiod und Kurasawa, und bald wird sich eine Flut von Sonnenlicht bis weit nach Westen ergießen. Swan muss es in die Stadt schaffen, bevor es so weit ist, und trotzdem steht sie dort. Von der Dämmerungsmauer aus sieht sie aus wie eine kleine silberne Puppe. Ihr Raumanzug hat einen großen, runden, durchsichtigen Helm. Ihre Stiefel sehen riesig aus und sind schwarz von Staub. Eine kleine Silberameise in Stiefeln, die dort steht und trauert, obwohl sie doch eigentlich zum Bahnsteig westlich der Stadt eilen sollte. Eben das tun die anderen Sonnenläufer. Manche ziehen kleine Karren oder Stangenschleifen auf Rädern mit ihren Vorräten oder sogar Schlafgefährten darauf hinter sich her. Sie haben den Rückweg knapp kalkuliert, da die Stadt ausgesprochen zuverlässig ist. Sie kann gar nicht von ihrem Zeitplan abweichen. Durch die Hitze des anbrechenden Tages dehnen sich die Schienen aus, und der Trägerschlitten der Stadt gleitet passgenau über sie hinweg. So treibt das Sonnenlicht die Stadt auf ihrem Weg nach Westen an.

Die heimkehrenden Sonnenläufer versammeln sich auf dem Bahnsteig, während die Stadt näher kommt. Manche von ihnen sind seit Wochen draußen, manche sogar seit Monaten, lange genug, um den ganzen Planeten einmal zu umwandern. Wenn die Stadt an ihnen vorbeigleitet, öffnen sich die Tore, sodass sie eintreten können.

Bald ist es so weit, und eigentlich sollte auch Swan mit dabei sein. Doch sie steht noch immer auf ihrem Felsvorsprung. Mehr als einmal hat sie ihre Netzhaut wiederherstellen lassen müssen, und oft war sie gezwungen, wie ein Hase zu laufen, um nicht umzukommen. Das wird sie gleich wieder tun müssen. Sie befindet sich unmittelbar südlich der Stadt und steht mitten im Licht der horizontalen Strahlen, wie eine silbrige Trübung der Sicht. Man möchte sie anschreien für ihren Leichtsinn, auch wenn es nichts bringen würde. Swan, du Trottel! Alex ist tot – daran lässt sich nichts ändern! Lauf um dein Leben!

Und dann tut sie es. Das Leben – der Drang zu leben – gewinnt die Oberhand; sie dreht sich um und rennt. Merkurs Schwerkraft, die fast genau der des Mars entspricht, wird oft als perfekter G-Wert für schnelles Laufen bezeichnet, weil Menschen, die daran gewöhnt sind, in gewaltigen Sätzen durch die Landschaft jagen können, dabei mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und so springt und rudert Swan – einmal verfängt sie sich mit einem Stiefel und schlägt lang hin, kommt aber sogleich wieder auf die Beine und rennt weiter. Sie muss den Bahnsteig erreichen, solange die Stadt sich noch daneben befindet. Die nächste ist erst zehn Kilometer weiter westlich.

Sie erreicht die Treppe, die zu dem Bahnsteig emporführt, packt das Geländer und schwingt sich hoch. Von der äußersten Kante des Bahnsteigs springt sie durch die sich bereits schließende Luftschleuse.

Swan und Alex

Alex’ Trauerfeier hatte bereits begonnen, als Swan sich Terminators große Haupttreppe empormühte. Die Einwohner der Stadt waren auf die Straßen und Plätze hinausgetreten und standen schweigend da. Auch eine große Anzahl auswärtiger Besucher war anwesend; eigentlich hätte gerade eine Konferenz beginnen sollen, zu der Alex eingeladen hatte. Am Freitag hatte sie die Besucher begrüßt. Jetzt, am Freitag darauf, hielt man ihr Begräbnis ab. Ein plötzlicher Zusammenbruch, und es war nicht gelungen, sie wiederzubeleben. So trauerten sie: die Einwohner der Stadt, die diplomatischen Gesandten, Alex’ Angehörige.

Auf halbem Weg die Dämmerungsmauer hinauf hielt Swan inne. Sie konnte nicht weiter. Unter ihr Dächer, Terrassen, Veranden, Balkone. Zitronenbäume in riesigen Tonkübeln. Ein sanfter Abhang, wie ein kleines Marseille, mit vierstöckigen weißen Mietshäusern, Balkonen mit schwarzen Eisengeländern, breiten Straßen und schmalen Gassen, am Fuße eine Promenade, von der aus man freie Sicht auf den Park hatte. Alles voller Menschen, die sich vor ihren Augen ausdifferenzierten, jedes Gesicht einzigartig und gleichzeitig einem Typus zugehörig – olmekische Kugelform, Beil, Schaufel. An einem Geländer standen drei Kleine, jeder etwa einen Meter groß, alle in Schwarz. Tief unten am Fuß der Treppe hatten sich die soeben eingetroffenen Sonnenläufer versammelt. Sie sahen verbrannt und staubig aus. Ihr Anblick versetzte Swan einen Stich – selbst die Sonnenläufer waren zu diesem Anlass erschienen.

Sie machte kehrt und stieg die Treppe wieder hinunter. Als die Nachricht sie erreicht hatte, war sie sofort aus der Stadt gerannt, getrieben vom Bedürfnis nach Einsamkeit. Auch jetzt ertrug sie es nicht, in dem Moment, in dem man Alex’ Asche verstreute, von anderen gesehen zu werden, und genauso wenig wollte sie ihrerseits Mqaret sehen, Alex’ Lebenspartner. Hinaus in den Park also, um sich dort unter die Menge zu mischen. Die Leute standen alle reglos da und blickten nach oben, die Bestürzung war ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie hielten einander fest. So viele Menschen hatten sich auf Alex verlassen. Die Seele des Systems. Diejenige, die einem half, die einen beschützte.

Manche der Anwesenden erkannten Swan, aber sie ließen sie in Frieden. Das rührte sie mehr als jede Beileidsbekundung, und mehrmals wischte sie sich mit den Fingern übers tränennasse Gesicht. Dann hielt jemand sie an. »Sie sind Swan Er Hong? Alex war Ihre Großmutter?«

»Sie war mein Ein und Alles.« Swan wandte sich ab und ging. Da sie hoffte, dass es auf der Farm leerer sein würde, verließ sie den Park und ließ sich durch die Bäume weitertreiben. Aus den Lautsprechern der Stadt tönte ein Trauermarsch. Unter einem Busch schnoberte ein Reh in dem heruntergefallenen Laub.

Sie hatte die Farm noch nicht erreicht, als die großen Tore der Dämmerungsmauer sich öffneten und das Sonnenlicht in die Kuppel fiel, wie üblich in Form von zwei horizontalen, gelb schimmernden Balken. Swan starrte auf die Wirbel in den Lichtbalken, auf das Talkumpuder, das man in die Luft geworfen hatte, als die Tore geöffnet wurden. Die gefärbten Staubteilchen stiegen mit den Aufwinden empor und verflüchtigten sich. Dann schwebte ein Luftballon von einer der höher gelegenen Terrassen aus nach Westen. Unter ihm baumelte ein kleines Körbchen: Alex; unvorstellbar, dass sie das war. Mit einem Mal steigerten die Bässe der Musik sich zu einem trotzigen Aufwallen. Als der Luftballon einen der gelben Lichtbalken erreichte, zerplatzte der Korb, und Alex’ Asche sank herunter, heraus aus dem Licht und in die Luft über der Stadt. Auf ihrem Weg nach unten scheint sie sich aufzulösen, wie Nebelschwaden in der Wüste. Im Park brandete tosender Applaus auf. Für einen kurzen Moment riefen ein paar junge Männer irgendwo »A-lex! A-lex!« Der Applaus wurde zu einem steten Rhythmus, der mehrere Minuten lang anhielt. Die Leute wollten nicht aufhören. Irgendwie würde es damit zu Ende sein. Im selben Moment, in dem sie aufhörten, würden sie sie verlieren. Schließlich gaben sie doch auf und traten in die Phase ihres Lebens ein, die auf Alex folgte.

Sie musste hinauf und sich zu Alex’ anderen Angehörigen hinzugesellen. Bei dem Gedanken daran stöhnte sie laut auf und irrte weiter durch die Farm. Schließlich ging sie zur Großen Treppe, steif und ohne etwas um sich herum wahrzunehmen. Einmal hielt sie inne und sagte eine Weile immer wieder »Nein, nein, nein.« Aber das war sinnlos. Mit einem Mal begriff sie es: Alles, was sie von nun an tat, war sinnlos. Sie fragte sich, wie lange dieses Gefühl anhalten würde – es kam ihr vor, als würde es nie wieder weggehen, und mit einem Mal durchfuhr sie Angst. Was musste sich ändern, damit sich dieses Gefühl änderte?

Schließlich riss sie sich zusammen und stieg zur Familiengedenkfeier auf der Dämmerungsmauer empor. Sie musste all die Leute begrüßen, die Alex am nächsten gestanden hatten, Mqaret kurz umarmen und den Ausdruck in seinem Gesicht ertragen. Man sah, dass bei ihm eigentlich niemand zu Hause war. Das sah ihm gar nicht ähnlich, aber sie konnte voll und ganz nachvollziehen, dass er sich verabschiedet hatte. Tatsächlich war sie darüber sogar erleichtert. Wenn man bedachte, wie schlecht es ihr selbst ging, dass Mqaret Alex noch weit näher gestanden und viel mehr Zeit mit ihr verbracht hatte – wie lange die beiden ein Paar gewesen waren –, konnte sie sich keine Vorstellung davon machen, wie er sich fühlte. Oder vielleicht doch. Da stand Mqaret also und starrte in eine andere Wirklichkeit, aus einer anderen Wirklichkeit – als erwiese er ihr eine Höflichkeit. Damit sie ihn umarmen und ihm versprechen konnte, ihn später zu besuchen, um sich anschließend unter die übrigen Anwesenden auf der höchsten Terrasse der Dämmerungsmauer zu mischen und später an ein Geländer zu treten und auf die Stadt hinabzuschauen, durch die transparente Blase um sie herum auf die schwarze Landschaft außerhalb. Sie fuhren gerade durch den Kuiper-Quadranten, und zur Rechten sah sie den Hiroshige-Krater. Vor langer Zeit einmal war sie mit Alex dort hinaus bis zu den Hiroshige-Ausläufern gegangen, damit sie ihr bei einem ihrer Goldsworthys half, einer Steinwelle, die sich auf eines der berühmtesten Bilder des Japaners bezog.

Sie hatten eine ganze Reihe erfolgloser Versuche unternommen, den Stein auszubalancieren, der den Kamm der brechenden Welle bildete, und wie so oft, wenn sie mit Alex zusammen war, hatte Swan lachen müssen, bis sie Bauchschmerzen bekam. Heute konnte sie die Steinwelle ausmachen. Sie war noch immer dort draußen – von der Stadt aus gerade so zu sehen. Doch die Steine, die den Wellenkamm gebildet hatten, waren verschwunden. Vielleicht hatten die Vibrationen der vorbeifahrenden Stadt sie zu Fall gebracht oder einfach nur der Ansturm des Sonnenlichts. Oder sie waren heruntergefallen, als sie die Nachricht gehört hatten.

Ein paar Tage später besuchte sie Mqaret in seinem Labor. Er war im Sonnensystem führend auf dem Gebiet der synthetischen Biologie, und sein Labor war voller Geräte, Inkubatoren, Glaskolben und Bildschirme, auf denen knotige, bunte Diagramme erblühten – das Leben in all seiner wuchernden Vielfalt, Basenpaar für Basenpaar zusammengesetzt. Hier drin hatten sie das Leben von Grund auf neu entworfen und viele der Bakterien erschaffen, die nun die Venus, Titan und Triton verwandelten – all die neuen Welten.

Nichts von alledem spielte nun eine Rolle. Mqaret war in seinem Büro, saß auf einem Stuhl und starrte durch die Wand ins Leere.

Er erhob sich und schaute sie an. »Ach Swan – schön, dich zu sehen. Danke, dass du vorbeikommst.«

»Kein Problem. Wie geht es dir?«

»Nicht so gut. Und dir?«

»Scheußlich«, gestand Swan, obwohl sie sich dabei schuldig fühlte. Mqaret noch zusätzlich zu belasten war das Letzte, was sie wollte. Aber in Zeiten wie diesen hatte es keinen Sinn zu lügen. Mqaret nickte ohnehin nur, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Es war offensichtlich, dass er so gut wie gar nicht anwesend war. Die Würfel auf seinem Schreibtisch enthielten Darstellungen von Proteinen, die bunten Falschfarben ohne jede Hoffnung auf Entwirrung ineinander verstrickt. Er hatte versucht zu arbeiten.

»Das Arbeiten fällt dir sicher schwer«, sagte Swan.

»Tja, schon.«

Nach kurzem, ausdruckslosem Schweigen fragte sie: »Weißt du, was ihr zugestoßen ist?«

Er schüttelte knapp den Kopf, als käme es darauf überhaupt nicht an. »Sie war hunderteinundneunzig.«

»Ich weiß, aber trotzdem …«

»Was trotzdem? Wir halten nicht ewig, Swan. Früher oder später ist der Punkt erreicht, an dem wir zerbrechen.«

»Ich habe mich bloß gefragt, warum.«

»Nein. Es gibt kein Warum.«

»Dann eben wie …«

Erneut schüttelte er den Kopf. »Es kann alles Mögliche sein. In diesem Fall handelte es sich um ein Aneurysma in einer lebenswichtigen Hirnregion. Aber es kann auf so viele Arten geschehen. Das Erstaunliche ist, dass wir überhaupt für eine Weile am Leben bleiben.«

Swan setzte sich auf die Schreibtischkante. »Ich weiß. Aber … was hast du jetzt vor?«

»Arbeiten.«

»Aber du hast doch gerade gesagt …«

Er blickte sie aus seinem Loch heraus an. »Ich habe nicht behauptet, dass es zu nichts gut wäre. Das wäre nicht richtig. Zuerst einmal haben Alex und ich siebzig gemeinsame Jahre gehabt. Und wir haben uns kennengelernt, als ich hundertdreißig war. Das ist das eine. Und außerdem interessiert mich die Arbeit auch, einfach als zu lösendes Problem. Und es ist ein ziemlich großes Problem. Genau genommen zu groß.« Er hielt inne und brachte für eine Weile kein weiteres Wort heraus. Swan legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er vergrub das Gesicht in den Händen. Swan blieb neben ihm sitzen und hielt den Mund. Er rieb sich fest die Augen und nahm ihre Hand.

»Man wird den Tod nicht besiegen«, sagte er schließlich. »Er ist zu stark. Zu sehr im natürlichen Lauf der Dinge verankert. Im Prinzip handelt es sich um das zweite Gesetz der Thermodynamik. Die einzige Hoffnung, die wir uns machen können, ist, ihn aufzuschieben. Ihn zurückzudrängen. Damit sollten wir eigentlich zufrieden sein. Ich weiß nicht, warum wir es nicht sind.«

»Weil es alles nur noch schlimmer macht!«, klagte Swan. »Je länger man lebt, desto schlimmer wird es!«

Er schüttelte den Kopf und wischte sich erneut durch die Augen. »Nein, das glaube ich nicht.« Er atmete gedehnt aus. »Es ist immer schlimm. Aber es sind die noch Lebenden, die es zu spüren bekommen, und deshalb …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, was du meinst, ist, dass es einem heutzutage wie eine Art Fehler vorkommt. Wenn jemand stirbt, fragen wir warum. Ob man das nicht hätte verhindern können. Und manchmal hätte man es wirklich verhindern können. Aber …«

»Es ist auch ein Fehler!«, erklärte Swan und streckte erneut die Hand nach seiner Schulter aus. »Die Wirklichkeit hat einen Fehler gemacht, und du bringst sie jetzt in Ordnung!« Sie deutete auf die Bildschirme und Würfel: »Stimmt’s?«

Er lachte und weinte zugleich. »Klar!« Schniefend rieb er sich durchs Gesicht. »Das ist doch blöd. Diese Hybris. Die Wirklichkeit reparieren zu wollen, meine ich.«

»Aber es ist gut«, erwiderte Swan. »Du weißt, dass es gut ist. Es hat dir siebzig Jahre mit Alex verschafft. Und es gibt dir etwas zu tun.«

»Das ist wahr.« Er seufzte schwer und blickte zu ihr auf. »Aber … ohne sie wird es nicht dasselbe sein.«

Diese Wahrheit erfüllte Swan mit einem Gefühl der Trostlosigkeit. Alex war ihre Freundin gewesen, ihre Beschützerin, ihre Lehrerin, ihre Stief-Großmutter, ihre Ersatzmutter, all das – aber auch eine Art zu lachen. Ein Quell der Freude. Ihre Abwesenheit erzeugte eine innere Kälte, tötete Swans Gefühle ab und hinterließ nichts als eine öde Leere. Pures, dumpfes Bewusstsein. Ich bin da. Das hier ist die Wirklichkeit. Niemand entkommt ihr. Geht nicht weiter, muss weitergehen; hier blieben sie immer stecken.

Also ging es weiter.

Es klopfte an der Tür zum Labor. »Herein«, rief Mqaret etwas harsch.

Die Tür öffnete sich, und im Durchgang stand ein Kleines. Sehr gut aussehend, auf diese besondere Art, die man bei Kleinen oft sieht – schon älter, schlank, in einer lässigen blauen Jacke, der ordentliche blonde Pferdeschwanz wippte auf Höhe von Swans Hüfte, die Augen blickten wie die eines Langurs oder Seidenäffchens zu ihnen auf.

»Hallo Jean«, sagte Mqaret. »Swan, das ist Jean Genette aus den Asteroiden, ursprünglich wegen der Konferenz hier. Jean war eng mit Alex befreundet und ermittelt dort draußen für die Liga. Ich denke, Jean hat einige Fragen an uns. Ich hatte bereits erwähnt, dass du vielleicht hier vorbeikommen würdest.«

Jean legte die Hand aufs Herz und nickte Swan zu. »Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust. Ich bin allerdings nicht nur hier, um das zu sagen, sondern auch, weil nicht wenige von uns besorgt sind. Alex hat bei vielen unserer wichtigsten Projekte eine zentrale Rolle gespielt, und ihr Tod kam unerwartet. Wir möchten sicherstellen, dass diese Projekte weiterlaufen, und ehrlich gesagt wollen einige von uns sich auch dringend Gewissheit darüber verschaffen, ob sie eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Ich habe Jean bereits versichert, dass dem so ist«, teilte Mqaret Swan mit, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

Genette wirkte nicht gänzlich überzeugt von dieser Beteuerung. »Hat Alex Ihnen gegenüber jemals Feindschaften oder Drohungen erwähnt – Gefahren irgendwelcher Art?« Die Frage war an Swan gerichtet.

»Nein.« Swan überlegte. »So jemand war sie nicht. Ich meine, sie war immer sehr positiv eingestellt. Sie hat darauf vertraut, dass alles gut gehen würde.«

»Ich weiß. Sie haben ja so recht. Aber gerade deshalb würden Sie sich vielleicht daran erinnern, wenn Alex einmal etwas gesagt hätte, das nicht ihrem gewöhnlichen Optimismus entsprach.«

»Nein. An etwas Derartiges kann ich mich nicht erinnern.«

»Hat sie ein Testament hinterlassen, oder einen Trust? Oder eine Nachricht, die im Falle ihres Todes geöffnet werden sollte?«

»Nein.«

»Einen Nachlass-Trust hatten wir«, sagte Mqaret kopfschüttelnd. »Aber der enthält nichts Besonderes.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich mal in ihrem Arbeitszimmer umsehe?«

Alex hatte ihr Büro in einem Zimmer gegenüber von Mqarets Labor eingerichtet, und Mqaret nickte nun und führte den kleinen Inspektor über den Korridor. Swan hängte sich an sie dran. Sie war überrascht, dass Genette von Alex’ Arbeitszimmer wusste und dass Mqaret es so bereitwillig zeigte; und sie war überrascht und verstört von der Vorstellung, dass Alex Feinde gehabt haben könnte, von dem Ausdruck »natürliche Todesursache« und seinem implizierten Gegenteil. Alex’ Tod wurde von einer Art Polizeibehörde untersucht? Sie konnte es nicht fassen.

Während sie in der Tür saß und versuchte, die Bedeutung von all dem zu begreifen, damit fertigzuwerden, durchsuchte Genette sorgfältig Alex’ Büro, zog Schubladen auf, lud Dateien herunter und strich mit einem dicken Stab über alle Oberflächen und Gegenstände. Mqaret schaute die ganze Zeit ungerührt zu.

Schließlich war Genette fertig, baute sich vor Swan auf und musterte sie neugierig. Da Swan auf dem Boden saß, befanden sie sich etwa auf Augenhöhe. Anscheinend wollte der Inspektor ihr noch eine Frage stellen, überlegte es sich dann jedoch anders. Schließlich sagte Genette nur: »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was mir weiterhelfen könnte, wäre ich dankbar, wenn Sie es mir sagen.«

»Natürlich«, antwortete Swan voll Unbehagen.

Darauf bedankte sich der Inspektor und ging.

»Was sollte denn das?«, fragte Swan Mqaret.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mqaret. Swan sah ihm an, dass er ebenfalls verstört war. »Ich weiß, dass Alex bei einer Menge Dinge ihre Finger mit im Spiel hatte. Sie hat von Anfang an zu den führenden Persönlichkeiten im Mondragon-Bund gehört, der eine Menge Feinde da draußen hat. Ich weiß, dass sie sich wegen gewisser Probleme im System Sorgen gemacht hat, aber Einzelheiten hat sie mir nicht erzählt.« Er deutete Richtung Labor. »Sie wusste, dass mich das nicht besonders interessieren würde.« Grimmig verzog er das Gesicht. »Dass ich meine eigenen Probleme hatte. Wir haben nicht besonders viel über unsere Arbeit gesprochen.«

»Aber …«, setzte Swan an und wusste nicht, wie sie fortfahren sollte. »Ich meine … Feinde? Alex?«

Mqaret seufzte. »Ich weiß nicht. Man könnte durchaus sagen, dass bei einigen dieser Angelegenheiten viel auf dem Spiel stand. Du weißt doch, dass es Kräfte gibt, die gegen den Mondragon sind.«

»Trotzdem.«

»Ich weiß.« Er hielt kurz inne. »Hat sie dir etwas hinterlassen?«

»Nein! Warum sollte sie das getan haben? Ich meine, sie hat ja nicht damit gerechnet zu sterben.«

»Wer tut das schon? Aber wenn es ihr um Geheimhaltung ging oder um die Sicherheit gewisser Informationen, dann kann ich mir vorstellen, dass sie dich als jemanden betrachtet hätte, zu dem sie Zuflucht nehmen konnte.«

»Wie meinst du das?«

»Tja … kann es nicht sein, dass sie etwas in deinem Qube hinterlassen hat, ohne es dir zu sagen?«

»Nein. Pauline ist ein geschlossenes System.« Swan tippte sich hinter das rechte Ohr. »Derzeit lasse ich sie meistens abgeschaltet. Außerdem würde Alex so etwas ohnehin nie tun. Sie würde nicht mit Pauline reden, ohne mich vorher zu fragen, da bin ich mir sicher.«

Erneut seufzte Mqaret schwer. »Tja, wie dem auch sei. Soweit ich weiß, hat sie mir auch nichts hinterlassen. Ich meine nur, dass es zu Alex passen würde, irgendwo etwas zu verstecken, ohne uns davon zu erzählen. Aber es ist nichts aufgetaucht. Ich bin mir einfach nicht sicher.«

Swan sagte: »Bei der Autopsie ist also nichts Ungewöhnliches ans Licht gekommen?«

»Nein!«, antwortete Mqaret. Trotzdem dachte er noch einmal darüber nach. »Ein zerebrales Aneurysma ist geplatzt, wahrscheinlich erblich bedingt. Es gab eine intraparenchymale Blutung. So was kommt vor.«

»Wenn jemand eine … eine solche Blutung gezielt ausgelöst hätte, würdest du es auf jeden Fall erkennen?«

Mqaret runzelte die Stirn.

Dann hörten sie es erneut an der Labortür klopfen. Sie schauten einander an und erschauerten beide für einen kurzen Moment. Mqaret zuckte mit den Schultern. Er erwartete niemanden.

»Herein!«, rief er einmal mehr.

Die Tür ging auf und gab den Blick auf eine Gestalt frei, die in etwa das Gegenteil von Genette war: ein sehr großer Mann. Prognathisch, kallipygisch, Exophthalmus – Kröte, Molch, Frosch –, selbst die Worte klangen hässlich. Kurz ging es Swan durch den Kopf, dass lautmalerische Begriffe vielleicht häufiger vorkamen, als einem bewusst war, dass die Sprachen der Menschen ein Echo der Welt waren, wie Vogelstimmen. Swan hatte selbst einen kleinen Spaßvogel im Kopf. Kröte. Einmal hatte sie in Amazonien eine Kröte an einem Teich sitzen sehen, mit feuchter, warziger, bronzegoldener Haut. Der Anblick hatte ihr gefallen.

»Ah«, sagte Mqaret. »Wahram. Willkommen in unserm Labor. Swan, das ist Fitz Wahram vom Titan. Er gehörte zu Alex’ engsten Mitarbeitern, und sie hat ihn geschätzt wie kaum jemanden sonst.«

Swan, die ein wenig überrascht von dem Gedanken war, dass so jemand ohne ihr Wissen Teil von Alex’ Leben hatte sein können, runzelte die Stirn.

Wahram neigte den Kopf zu einer autistischen Verbeugung. Er legte die Hand aufs Herz. »Es tut mir so leid«, sagte er mit einer Stimme wie Froschquaken. »Alex hat mir viel bedeutet, und nicht nur mir. Ich habe sie geliebt, und bei unserer gemeinsamen Arbeit war sie diejenige, auf die es ankam, die Anführerin. Ich weiß nicht, wie wir ohne sie zurechtkommen sollen. Wenn ich daran denke, wie ich mich fühle, kann ich mir kaum ausmalen, wie es Ihnen gehen muss.«

»Danke«, sagte Mqaret. Die Leute redeten bei solchen Gelegenheiten immer so seltsames Zeug. Swan brachte nichts dergleichen heraus.

Jemand, den Alex gemocht hatte. Swan tippte sich unterhalb des rechten Ohrs an den Kopf, um ihren Qube zu aktivieren. Sie hatte ihn zur Bestrafung abgeschaltet. Pauline würde sie als leise Stimme in Swans rechtem Ohr auf den neuesten Stand bringen. Swan hatte sich in letzter Zeit sehr über Pauline geärgert, aber jetzt wollte sie Informationen.

Mqaret sagte: »Also, was wird nun aus der Konferenz?«

»Man ist sich einig, dass wir sie aufschieben und einen neuen Termin vereinbaren sollten. Im Moment sind alle zu entmutigt. Wir gehen unserer Wege und kommen zu einem späteren Zeitpunkt zusammen, wahrscheinlich auf Vesta.«

Ah ja: Ohne Alex kam der Merkur nicht länger als Versammlungsort infrage. Nicht besonders überrascht nickte Mqaret. »Also kehren Sie zum Saturn zurück.«

»Ja. Aber bevor ich aufbreche, wüsste ich gerne, ob Alex etwas für mich hinterlassen hat. Irgendwelche Informationen oder Daten, in welcher Form auch immer.«

Mqaret und Swan wechselten einen Blick. »Nein«, sagten sie gleichzeitig. Mqaret hob hilflos die Hände. »Inspektor Genette hat uns gerade das Gleiche gefragt.«

»Ah.« Der Krötenmensch sah sie aus seinen Glupschaugen an. Dann betrat einer von Mqarets Assistenten das Zimmer, er brauchte Mqarets Hilfe. Der entschuldigte sich, und mit einem Mal war Swan alleine mit dem Besucher und seinen Fragen.

Wirklich massig, dieser Krötenmensch: massige Schultern, massiger Brustkorb, massiger Bauch. Kurze Beine. Menschen waren schon seltsam. Er schüttelte den Kopf und sagte mit tiefer, rauer Stimme – eine schöne Stimme, das musste sie zugeben, zwar irgendwie froschartig, aber entspannt und volltönend wie ein Fagott oder ein Basssaxofon: »Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie gerade jetzt belästige. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt. Ich bewundere Ihre Landschaftsinstallationen. Als ich gehört habe, dass Sie mit Alex verwandt sind, habe ich sie gefragt, ob sie uns vielleicht miteinander bekannt machen könnte. Ich wollte Ihnen sagen, wie sehr mir Ihr Werk am Rilke-Krater gefällt. Es ist wirklich außerordentlich schön.«

Swan fühlte sich überrumpelt. Sie hatte am Rilke-Krater einen Kreis aus Göbekli-T-Steinen errichtet, die sehr zeitgenössisch wirkten, obwohl ihre Form auf etwas zurückging, was vor über zehntausend Jahren erschaffen worden war. »Danke«, sagte sie. Anscheinend handelte es sich um eine kulturell bewanderte Kröte. »Sagen Sie, wie kommen Sie darauf, dass Alex Ihnen eine Nachricht hinterlassen haben könnte?«

»Wir haben gemeinsam an einer Reihe von Sachen gearbeitet«, antwortete er ausweichend. Sein glasiger Blick wanderte weiter. Man sah, dass er nicht darüber reden wollte. Und trotzdem war er hergekommen, um danach zu fragen. »Und, tja, sie hat immer in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen. Es war klar, dass Sie beide einander nahegestanden haben. Nun … sie hat ihre Sachen ungern in der Cloud abgelegt oder in digitale Form gebracht – eigentlich hat sie nur ungern überhaupt Aufzeichnungen über unsere Projekte aufbewahrt. Sie bevorzugte es, Informationen im Gespräch weiterzugeben.«

»Ich weiß.« Swan verspürte einen Stich. Sie konnte den Klang von Alex’ Stimme hören: Wir müssen reden! Es ist eine Welt der Gesichter! Mit ihren leuchtend blauen Augen, ihrem Lachen. Alles weg.

Der massige Mann sah, wie sich ihre Miene veränderte, und streckte eine Hand aus. »Es tut mir so leid«, sagte er einmal mehr.

»Ich weiß«, sagte Swan und fügte hinzu: »Danke.«

Sie setzte sich auf einen von Mqarets Stühlen und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Nach einer Weile sagte der Mann sanft brummend: »Was haben Sie jetzt vor?«

Swan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich werde wohl wieder an die Oberfläche gehen. Das ist der Ort, an dem ich … mich wieder auf die Reihe kriege.«

»Zeigen Sie es mir?«

»Was?«, fragte Swan.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich nach draußen mitnehmen. Vielleicht könnten Sie mir eine Ihrer Installationen zeigen. Oder, wenn es Ihnen nichts ausmacht – mir ist aufgefallen, dass die Stadt sich dem Tintoretto-Krater nähert. Meine Fähre legt erst in ein paar Tagen ab, und ich würde wahnsinnig gerne das dortige Museum sehen. Ich habe einige Fragen, die sich auf der Erde nicht beantworten lassen.«

»Fragen über Tintoretto?«

»Ja.«

»Tja …« Swan zögerte unsicher.

»So könnten Sie die Zeit rumbringen«, gab der Mann zu bedenken.

»Ja.« Sie war ein wenig verärgert über seinen anmaßenden Ton, aber andererseits war sie tatsächlich auf der Suche nach einer Ablenkung, nach etwas, was sie nun, da alles vorbei war, tun konnte, und bislang war ihr nichts eingefallen. »Tja, das stimmt wohl.«

»Tausend Dank.«

Listen (1)

Ibsen und Imhotep; Maher, Matisse; Murasaki, Milton, Mark Twain;

Homer und Holbein, berühren sich an den Rändern;

Ovid ein Sprenkel am Rand des sehr viel größeren Puschkin;

Goya überlappt sich mit Sophokles.

Van Gogh berührt Cervantes, direkt neben Dickens. Strawinski und Vyasa. Lysipus. Equiano, ein westafrikanischer Sklave und Schriftsteller, nicht in Äquatornähe.

Chopin und Wagner direkt nebeneinander, gleich groß.

Tschechow und Michelangelo, beides Doppelkrater.

Shakespeare und Beethoven, riesige Becken.

Al-Dschahiz, Al-Achtal. Aristoxenos, Ashvagosha. Kurosawa, Lu Xun, Ma Zhiyuan, Proust und Purcell. Thoreau und Li Bai, Rumi und Shelley, Snorri und Pigalle. Valmiki, Whitman. Bruegel und Ives. Hawthorne und Melville.

Es heißt, die Mitglieder des namensgebenden Komitees der Internationalen Astronomischen Union hätten sich eines Abends bei ihrer Jahresversammlung hemmungslos betrunken, ein kurz zuvor eingetroffenes Mosaik der ersten Fotos vom Merkur herausgeholt und es als Dartscheibe missbraucht. Dabei hätten sie einander die Namen berühmter Maler, Bildhauer, Komponisten und Schriftsteller zugerufen, die Dartpfeile beschriftet und auf die Karte geworfen.

Es gibt eine Abbruchkante namens Pourquoi Pas.

Swan und Wahram

Zum verabredeten Zeitpunkt stand der Titan an der südlichen Schleuse der Stadt. Sie sah ihn schon von Weitem, er wirkte kugel- oder kastenförmig und war so groß wie Swan, die ziemlich groß war. Sein schwarzes Haar war dicht gelockt wie Schafwolle und kurz geschnitten.

Swan trat auf ihn zu. »Los geht’s«, sagte sie umstandslos.

»Ich möchte mich nochmals bedanken.«

Terminator begann, an dem Bahnsteig der Tintoretto-Tramstation vorbeizuziehen. Durch die Luftschleuse betraten sie direkt eine wartende Tram, zusammen mit etwa einem Dutzend anderer Personen.

Die Tram bewegte sich sehr viel schneller fort als Terminator. Sie sauste auf ganz gewöhnlichen Schienen westwärts und erreichte bald eine Geschwindigkeit von mehreren Hundert Stundenkilometern.

Swan erkannte eine lang gestreckte Erhebung am Horizont als die Außenwand des Hesiod-Kraters. Wahram schaute auf sein Armpad. »Wir fahren zwischen Hesiod und Sibelius hindurch«, verkündete er mit einem kleinen Lächeln. Seine Glupschaugen hatte braune Iriden mit schwarzen und kürbisgelben Streifen. Da er einen Armbandcomputer besaß, hatte er vermutlich keinen Qube im Kopf, und wenn doch, dann sicher nicht so ein Miststück, das ihm den Tag vermiesen wollte. Pauline murmelte ihr irgendwelches Zeug ins Ohr, und als Wahram aufstand, um auf der anderen Seite der Tram aus dem Fenster zu schauen, knurrte Swan: »Nerv nicht, Pauline. Unterbrich mich nicht, lenk mich nicht ab.«

»Die Exergasia ist eines der schwächsten rhetorischen Mittel«, wandte Pauline ein.

»Sei still!«

Nach einer weiteren Stunde hatten sie einen ordentlichen Vorsprung vor Terminator. Die Tram fuhr am Außenrand des Tintoretto-Kraters empor, und schließlich führten die Schienen in einen Tunnel durch die zerklüftete Mauer aus alten Auswürfen. Als sie ausstiegen, wurde durchgesagt, dass sie zwei Stunden hatten, bevor die Tram zur Stadt zurückkehren würde. Sie durchquerten die Eingangshalle des Museums und erreichten eine lange, bogenförmige Galerie. Die Innenkrümmung der Halle bestand aus einer einzigen Fensterfront, von der aus sie einen hervorragenden Blick in den Krater hatten. Es handelte sich um eine kleine, aber steile Senke, ein hübsches kleines rundes Feld unter den Sternen.

Aber ihr Saturnianer schien sich nicht für den Merkur zu interessieren. Er hielt das Gesicht zur Außenwand der Galerie gekehrt und ging langsam von einem Gemälde zum nächsten. Vor jedem Bild blieb er stehen und betrachtete es mit unbewegter Miene.

Die Formate reichten von Miniaturmalereien bis zu Leinwänden, die über die ganze Höhe der Wand reichten. Die italienische Renaissance zeigte dicht gedrängte Szenen aus der Bibel: das Abendmahl, die Kreuzigung, das Paradies und derlei mehr. Dazwischen war ein wenig klassische Mythologie eingestreut – einschließlich einer Darstellung von Merkur persönlich, mit flotten goldenen Schuhen an den Füßen, die Schlitze für die Flügel aufwiesen. Es gab auch zahlreiche Porträts von Venezianern des 16. Jahrhunderts, die so lebensecht wirkten, dass man sich kaum gewundert hätte, hätten sie zu sprechen begonnen. Die meisten Gemälde hier waren Originale, die man zur sicheren Verwahrung hergeschafft hatte. Bei den übrigen handelte es sich um derart perfekte Kopien, dass man sie nur mit einer chemischen Analyse von den jeweiligen Originalen hätte unterscheiden können. Wie auch bei vielen der Museen des Merkur, die nur einem Künstler gewidmet waren, hoffte man, alle Originalbilder an diesem Ort versammeln zu können, während auf der Erde nur Kopien verbleiben sollten. Auf der Erde waren die Werke höchst unberechenbaren Umweltbedingungen ausgesetzt – Oxidierung, Korrosion, Rost, Feuer, Diebstahl, Vandalismus, Smog, Säure, Tageslicht. Hier hingegen herrschten zuträgliche und kontrollierte Bedingungen – hier war es sicherer. Das behaupteten zumindest die Kuratoren vom Merkur. Die Terraner waren sich da nicht unbedingt so sicher.

Der Krötenmann kam nur langsam voran. Lange blieb er vor den Gemälden stehen und hielt seine Nase manchmal nur wenige Zentimeter vor die getrocknete Farbe. Tintorettos Paradies war zwanzig Meter breit und zehn Meter hoch – laut Begleittext handelte es sich um das größte jemals auf Leinwand gebannte Gemälde – und voll dicht gedrängter Figuren. Wahram trat bis an die durchsichtige Innenwand zurück, um es für eine Weile zu betrachten, ehe er seine übliche Haltung mit der Nase dicht an der Leinwand einnahm. »Interessant, dass er die Engelsflügel schwarz gemacht hat«, murmelte er und brach damit sein Schweigen. »Sieht gut aus. Und sehen Sie mal, wie die weißen Linien auf den schwarzen Flügeln dieses Engels hier Buchstaben bilden. C E R, sehen Sie? Der Rest des Wortes ist in einer Falte verborgen. Das wollte ich nachsehen. Ich frage mich, was es damit auf sich hatte.«

»Eine Art Code?«

Er antwortete nicht. Swan fragte sich, ob das seine normale Reaktion auf Kunst war. Er schlenderte zum nächsten Gemälde weiter. Möglicherweise brabbelte er bloß vor sich hin. Ihre Meinung zu diesen Gemälden interessierte ihn überhaupt nicht, obwohl er wusste, dass sie Künstlerin war. Sie ging ohne ihn weiter und betrachtete die Porträts. Die Massenszenen waren zu viel für sie, sie kamen ihr vor wie epische Filme, die man in eine einzige Einstellung gezwängt hatte. Die Leute auf den Porträts hingegen schauten sie mit Gesichtern an, deren Ausdruck sie sofort wiedererkannte. »Ich bin immer ich selbst, ich bin immer neu, ich bin immer ich selbst« – seit acht Jahrhunderten sagten sie das schon. Einfach nur Frauen und Männer. Die linke Brustwarze einer Frau lag entblößt direkt unterhalb der Krümmung einer Halskette. Swan meinte sich zu erinnern, dass so etwas in den meisten historischen Zeiten als ungehörig betrachtet worden wäre. Fast alle Frauen hatten sehr kleine Brüste und breite Hüften. Wohlgenährt und schlecht trainiert; stillten ihre Kinder nicht selbst; nicht die Körper von Frauen, die arbeiteten, sondern von Edeldamen. Beginnende Ausdifferenzierung. Tintorettos Leda wirkte durchaus hingerissen von dem Schwan, der sie schändete, tatsächlich versuchte sie sogar, ihn vor einem Eindringling zu beschützten. Swan war selbst das eine oder andere Mal der Schwan für eine Leda gewesen, natürlich ohne dabei Gewalt anzuwenden – zumindest keine körperliche Gewalt –, und sie erinnerte sich, dass das einigen Ledas gut gefallen hat. Anderen nicht so sehr.

Sie kehrte zu Wahram zurück, der einmal mehr das Paradies betrachtete, diesmal von so weit weg wie möglich und damit aus einer schrägen Perspektive. Auf Swan wirkte es nach wie vor wie ein Riesendurcheinander. »Es ist ziemlich überfüllt«, sagte sie. »Die Figuren sind zu symmetrisch angeordnet, und Gott und Christus sehen aus wie Dogen. Eigentlich wirkt das Ganze wie eine venezianische Senatssitzung. Vielleicht hat sich Tintoretto das Paradies ja so vorgestellt.«

»Hmm«, sagte er.

»Sie sind anderer Meinung. Ihnen gefällt es.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er und entfernte sich einige Meter von ihr.

Er wollte nicht darüber reden. Swan ging weiter, um sich noch ein paar Venezianer anzusehen. Für sie war Kunst in erster Linie etwas, das man machte, und danach etwas, worüber man redete. Wortlose ästhetische Reaktionen, die Vereinigung mit einem Werk – das kam ihr zu geziert vor. Eines der Porträts schaute finster drein, ein anderes versuchte, ein ironisches kleines Lächeln zu unterdrücken; sie waren der gleichen Meinung wie Swan, nämlich dass sie mit einer stocksteifen alten Kröte hier draußen war. Mqaret hatte gesagt, dass Alex diesen Mann verehrt hätte, aber inzwischen bezweifelte sie, dass das wahr sein konnte. Wer war er, was war er?

Eine gedämpfte Ansage informierte sie darüber, dass sie bald zurück in die Tram nach Terminator einsteigen mussten. Die Stadt würde in Kürze auf ihrem Längengrad eintreffen – genau wie die Sonne. »O nein!«, rief Wahram leise aus, als er die Durchsage hörte. »Wir haben doch gerade erst angefangen!«

»Hier gibt es über dreihundert Gemälde«, bemerkte Swan. »Ein Besuch reicht nie. Sie werden noch einmal kommen müssen.«

»Das hoffe ich«, antwortete er. »Die sind wirklich großartig. Ich verstehe, warum man ihn Il Furioso nannte. Er hat wahrscheinlich jeden Tag gearbeitet.«

»Ich glaube schon. Er hat sein Haus in Venedig nur selten verlassen. Eine geschlossene Werkstatt. Als Gehilfen hatte er vor allem seine eigenen Kinder.« Das hatte Swan gerade in einem der Begleittexte gelesen.

»Interessant.« Mit einem Seufzer folgte er ihr zur Tram.

Auf der Fahrt zurück zur Stadt kamen sie an einer Gruppe Sonnenläufer vorbei. Als Swan auf sie zeigte, erwachte ihr Gast aus seiner Andacht und schaute hinaus.

»Sie müssen also in Bewegung bleiben«, sagte er. »Wie ruhen sie sich aus, wann essen und schlafen sie?«

»Wir essen im Gehen und schlafen in Karren, die unsere Gefährten ziehen«, sagte Swan. »Dabei wechseln wir uns ab, und so geht es weiter.«

Er warf ihr einen Blick zu. »Also werden sie ständig angetrieben. Ich verstehe, warum das seinen Reiz hat.«

Sie hätte fast gelacht. »Brauchen Sie einen solchen Antrieb?«

»Ich glaube, alle Menschen brauchen einen solchen Antrieb. Sie nicht?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Aber Sie begleiten diese Wilden«, sagte er.

»Nur um der Sache willen. Um das Land und die Sonne zu sehen. Ich schaue nach meinen Skulpturen und baue hier und da etwas in den Spalten ab. Ich muss mir keinen Grund suchen, um mich beschäftigt zu halten.«

Sie redete nicht weiter, als ihr mit einem Mal klar wurde, dass es sich in Wirklichkeit genau andersherum verhielt.

»Sie haben Glück«, sagte er. »Die meisten Menschen müssen genau das tun.«

»Meinen Sie?«

»Ja.« Er deutete auf die Sonnenläufer, die schnell hinter ihnen zurückblieben. »Was passiert, wenn man auf ein Hindernis stößt, das einen daran hindert, weiter westwärts zu gehen?«

»Um solche Hindernisse muss man einen Bogen machen. An manchen Stellen haben die Leute kleine Rampen angelegt, die Steilhänge hochführen, oder Pfade, auf denen man schnell durch chaotisches Gelände kommt. Es gibt gängige Routen. Manche Leute halten sich an eine davon, manche gehen alle ab. Andere erkunden lieber neues Gelände. Es ist üblich, den Planeten einmal zu umrunden.«

»Haben Sie das getan?«

»Ja, aber es dauert mir zu lange. Normalerweise gehe ich für ein oder zwei Wochen raus.«

»Ich verstehe.«

Es war ziemlich offensichtlich, dass er das nicht tat.

»Wir sind dazu geschaffen, wissen Sie«, sagte sie unvermittelt. »Unsere Körper sind die von Nomaden. Menschen und Hyänen sind die beiden Raubtiere, die ihre Beute hetzen, bis sie erschöpft ist.«

»Ich gehe auch gerne zu Fuß«, räumte er ein.

»Und was ist mit Ihnen? Wie verbringen Sie Ihre Zeit?«

»Ich denke«, antwortete er ohne Zögern.

»Und das genügt Ihnen?«

Er warf ihr einen Blick zu. »Es gibt eine Menge Dinge, über die man nachdenken kann.«

»Aber was machen Sie?«

»Ich lese wohl. Reise. Höre Musik. Schaue mir visuelle Kunstwerke an.« Er überlegte. »Ich arbeite am Titanprojekt, was ich sehr interessant finde.«

»Und laut Mqaret arbeiten Sie auch in der übrigen Saturn-Liga. System-Diplomatie.«

»Tja, bei der Lotterie ist mein Los gezogen worden, und ich musste meine Zeit absitzen, aber das ist jetzt fast vorbei. Danach will ich auf den Titan zurückkehren und wieder in meinen Waldo steigen.«

»Und – woran haben Sie und Alex gearbeitet?«

Ein erschreckter Ausdruck trat in seine Glupschaugen. »Tja, bei einigen Sachen hätte sie nicht gewollt, dass ich darüber rede. Aber sie hat viel von Ihnen gesprochen, und jetzt, wo sie fort ist, dachte ich einfach, dass sie Ihnen vielleicht eine Nachricht hinterlassen hat. Oder es vielleicht sogar arrangiert hat, dass Sie in ihrer Abwesenheit ein bisschen für sie einspringen können.«

»Wie meinen Sie das?«

»Tja, Sie haben viele der Terrarien da draußen entworfen, die jetzt den Löwenanteil des Modragon-Bund bilden. Da man weiß, dass Sie eine von Alex’ engsten Vertrauten waren, würde man vielleicht auf Sie hören. Also … vielleicht könnten Sie mich ja begleiten, um ein paar dieser Leute kennenzulernen.«

»Wie, zum Saturn?«

»Genau genommen zum Jupiter.«

»Nein, das möchte ich nicht. Mein Leben und meine Arbeit sind hier. Ich habe das System in meiner Jugend genug bereist.«

Er nickte betrübt. »Und Sie sind sich ganz sicher, dass Alex Ihnen nichts hinterlassen hat? Etwas, das Sie mir geben sollen, falls Ihnen etwas passiert?«

»Ja, ich bin mir sicher! Es gibt nichts! So etwas hat sie nicht gemacht.«

Betrübt schüttelte er den Kopf. Eine Weile saßen sie schweigend da, während die Tram über die dunkle Oberfläche des Merkur glitt. Im Norden funkelten einige Hügelkuppen bereits weiß im Licht der aufsteigenden Sonne. Dann erschien die Spitze der Kuppel von Terminator über dem Horizont wie eine durchsichtige Eierschale. Als die Stadt schließlich über den Horizont gestiegen war, sah sie aus wie eine Schneekugel oder ein Flaschenschiff – ein Ozeandampfer auf einem schwarzen Meer, gefangen in einer Blase aus grünem Licht. »Tintoretto hätte Ihre Stadt gefallen«, sagte Wahram. »In gewisser Weise ähnelt sie Venedig.«

»Nein, das tut sie nicht«, sagte Swan verärgert, während sie angestrengt Nachdachte.

terminator

Terminator umrundet Merkur genau wie die Sonnenläufer. In derselben Geschwindigkeit, in der der Planet sich dreht, gleitet die Stadt über zwanzig gigantische erhöhte Schienenstränge, die eine Stadt tragen und westwärts schieben, die größer ist als Venedig. Die zwölf Schienenstränge verlaufen einmal um den Merkur herum wie ein schmaler Ehering, immer dicht am fünfundvierzigsten südlichen Breitengrad, wenn auch mit deutlichen Abweichungen in Richtung Norden und Süden, um zumindest den steilsten Klippen und Abbrüchen auszuweichen. Die Stadt bewegt sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fünf Stundenkilometern. Die Schlitten an der Unterseite der Stadt sind so exakt an die Schienen angepasst, dass die Wärmeausdehnung des rostfreien Austenit-Stahls die Stadt beständig Richtung Westen schiebt, auf die schmaleren Schienen, die noch im Schatten liegen. Das geringe Maß an Reibung bei dieser Bewegung erzeugt einen Großteil der Elektrizität der Stadt.

Von der Dämmerungsmauer aus, die wie eine silberne Klippe das östliche Ende der Stadt bildet, kann man über die ganze Stadt sehen, die sich zum Westen hin erstreckt, grün unter ihrer durchsichtigen Kuppel. Die Stadt erhellt die umliegende dunkle Landschaft wie eine vorbeiziehende Lampe. Dieses Licht ist weithin sichtbar, außer dann, wenn hohe Bergkämme westlich von Terminator das horizontale Sonnenlicht reflektieren. Selbst dieses winzige Aufblitzen der Morgendämmerung überstrahlt die künstliche Beleuchtung innerhalb der Kuppel. Wenn die Klippenlichter aufscheinen, hat nichts einen Schatten, und der Raum nimmt eine seltsame Qualität an. Dann ist die Stadt mit einem Mal an den reflektierenden Flächen vorbei, und das Licht verblasst. Dieser Wechsel der Lichtverhältnisse ist hauptverantwortlich für das Gefühl von Bewegung, das man in Terminator erlebt, denn die Stadt gleitet ohne Erschütterungen über ihre Schienen. Die Veränderungen des Lichts und winzige Variationen im Neigungswinkel erzeugen ein Gefühl wie auf einem Schiff, das über ein schwarzes Meer mit gewaltigen Wellen segelt, in den Tälern dazwischen in die Nacht hinabstürzt und auf den Kämmen ans Tageslicht zurückkehrt.

Majestätisch gleitet die Stadt dahin und umrundet so den Planeten einmal in 177 Tagen. Runde für Runde verändert sich nichts außer dem Land selbst; und das Land verändert sich nur deshalb, weil es unter den Sonnenläufern Landschaftskünstler gibt, die dort draußen Felswände zu Spiegelflächen abschleifen, Petroglyphen schneiden, Steinmale und Dolmen und Inuksuit aufstellen und Metallblöcke und -bänder so platzieren, dass sie im Tageslicht schmelzen. Derart gleiten und wandern die Bürger von Terminator unentwegt über ihre Welt und schaffen sie täglich neu, sodass sie immer mehr zum Ausdruck ihres Denkens wird. Alle Städte und all ihre Einwohner bewegen sich in genau dieser Weise.

Swan und Alex

Am nächsten Tag kehrte Swan in Mqarets Labor zurück. Auch diesmal saß er in seinem Büro und starrte ins Leere. Mit einem Mal wurde Swan klar, dass es eine Erlösung war, etwas zu haben, worüber man sich aufregen konnte.

Mqaret erhob sich. »Wie war dein Ausflug mit Wahram?«

»Er ist dumm und ungehobelt und autistisch. Er ist langweilig.«

Mqaret lächelte ein wenig. »Eigentlich klingt das, als ob du ihn interessant findest.«

»Unsinn.«

»Nun ja, ich kann dir versichern, dass Alex ihn interessant fand. Sie hat ziemlich oft von ihm gesprochen. Ein paarmal hat sie durchblicken lassen, dass sie sich mit Dingen beschäftigten, die in ihren Augen von größter Wichtigkeit waren.«

Das brachte Swan ins Grübeln, so wie es Mqaret auch beabsichtigt hatte. »Opa, kann ich mich noch mal in ihrem Arbeitszimmer umschauen?«

»Natürlich.«

Swan ging über den Korridor zu Alex’ Zimmer am anderen Ende, trat ein und machte die Tür hinter sich zu. Durch das einzige Fenster blickte sie hinaus auf die Stadt, die von hier aus wie eine Ansammlung von Dachziegeln und grünem Blattwerk aussah.

Sie ging im Arbeitszimmer umher und schaute sich um. Mqaret hatte hier bisher nichts verändert. Sie fragte sich, ob er das noch tun würde, und wenn, wann. Alex’ Sachen lagen wie eh und je im Zimmer verteilt. Ihre Abwesenheit war eine Art von Anwesenheit, und einmal mehr spürte Swan den Stich des Kummers am ganzen Leib, und sie musste sich setzen.

Nach einer Weile stand sie auf und begann mit einer methodischeren Untersuchung. Wenn Alex ihr etwas hatte hinterlassen wollen, wo würde es sich befinden? Swan hatte nicht die geringste Ahnung. Alex hatte ihre Angelegenheiten immer so weit wie möglich offline geregelt, außerhalb der Cloud, ohne Aufzeichnungen, direkt und in Echtzeit. Sie musste sich also etwas Ausgefallenes überlegt haben. Wie Swan sie kannte, handelte es sich um etwas beiläufig Offensichtliches; eine auf Papier geschriebene Nachricht mitten auf ihrem Schreibtisch zum Beispiel.

Also durchwühlte Swan kleine Papierstapel auf ihrem Schreibtisch, während sie weiter überlegte. Wenn Alex Informationen gehabt hatte, von denen sie wollte, dass Swan sie weitergab, ohne dass Swan dabei zwangsläufig erfuhr, womit sie es zu tun hatte … falls es sich um größere Datenmengen handelte … dann würde es wahrscheinlich nicht nur ein handschriftlicher Brief sein. Und wahrscheinlich würde sie wollen, dass nur Swan und niemand sonst es fand.

Sie begann, im Zimmer auf und ab zu gehen und Selbstgespräche zu führen, während sie sich weiter umsah. Die Kontroll-KI des Zimmers wusste, dass sich nur eine Person im Zimmer befand, und sicherlich konnte man sie so einstellen, dass sie diese Person anhand von Stimme und Netzhaut identifizierte.

Neben dem Arbeitszimmer befand sich eine kleine Toilette mit Waschbecken und Spiegel, die Swan nun betrat. »Ich bin hier, Alex«, sagte Swan traurig. »Wenn du etwas von mir willst, bin ich hier.«

Sie blickte in den Spiegel an der Wand und dann in einen kleinen, ovalen Spiegel am Waschbecken. Sah in ihre traurigen, blutunterlaufenen Augen.

Ein Schmuckkästchen neben dem ovalen Spiegel öffnete sich – Swan machte einen Satz nach hinten und prallte gegen die Wand. Sie riss sich zusammen und warf einen Blick in das Kästchen. Darin befand sich ein Einsatz, in dem der Schmuck lag, darunter fand sie drei kleine weiße Papierumschläge. Bei jedem stand auf einer Seite Im Falle meines Todes. Auf der anderen Seite stand einmal Für Mqaret, einmal Für Swan und einmal Für Wang auf Io.

Mit zitternden Fingern nahm Swan den Umschlag, auf dem ihr Name stand, und riss ihn auf. Zwei kleine Datenstreifen fielen heraus. Einer davon sagte leise: »Swan, Swan, Swan.« Swan hielt ihn sich ans Ohr. Sie hatte die Zähne fest zusammengebissen, und Tränen traten ihr in die Augen.

»Meine liebe Swan, es tut mir so leid, dass du das hören musst«, sagte Alex’ Stimme. Es war, als hörte man einen Geist, und Swan krallte sich die Hand in die Brust.

Die leise Stimme fuhr fort: »Es tut mir wirklich sehr leid, denn wenn du dies hörst, bedeutet das, dass ich nicht mehr bin. Die KI in meinem Zimmer hat von meinem Tod erfahren, und sie weiß, dass sie das Kästchen öffnen soll, wenn du hier alleine hereinkommst. Ein besserer Plan ist mir nicht eingefallen. Ich bedaure es, dich so damit zu überfallen, aber es ist wichtig. Das hier ist eine Art Versicherung, weil ich gewisse Projekte am Laufen habe, die auch im Falle meines Todes weitergehen müssen, und ich möchte niemandem sonst hier von ihnen erzählen. Und weil man in unserem Alter eigentlich jeden Tag abtreten kann, treffe ich lieber meine Vorbereitungen. Wenn du das hier hörst, bedeutet das, dass ich deine Hilfe brauche. Bitte bring den Umschlag für Wang nach Io und händige ihn ihm persönlich aus. Wang, ich und ein paar andere arbeiten gemeinsam an mehreren Projekten von größter Wichtigkeit, die wir vollständig offline zu halten versuchen, was sehr schwer ist, wenn man so weit voneinander weg wohnt. Es wäre mir eine enorme Hilfe, wenn du ihm seinen Umschlag bringst. Aber bitte behalte das ganz für dich. Könntest du außerdem den anderen Chip in deinem Umschlag von Pauline einlesen lassen und ihn anschließend zerstören, als Sicherheitskopie? Beide Dateien kann man nur einmal auslesen. Eigentlich fühle ich mich nicht mal damit wohl. Aber ich weiß, dass du Pauline normalerweise nicht mit anderen Qubes verbindest, und es wäre besser für unseren Plan, wenn du es dabei belässt. Wang wird dir Weiteres erklären, genau wie Wahram vom Titan. Lebe wohl, meine Swan. Ich liebe dich.«

Das war alles. Swan versuchte, es sich erneut anzuhören, aber die Aufzeichnung war inaktiv.

Sie hielt den anderen Streifen an Paulines Membran unter der Haut an ihrem Halsansatz. Als Pauline »fertig« sagte, steckte sie die inaktiven Streifen und die beiden verbleibenden Umschläge in ihre Tasche und ging Mqaret suchen.

Er war in seinem Büro und stocherte in einem 3D-Bild herum, das wahrscheinlich ein Protein darstellen sollte. »Sieh mal, was ich gefunden habe«, sagte Swan. Sie erklärte, was geschehen war.

»Das Kästchen war verschlossen«, sagte Mqaret. »Ich wusste, dass es ihren Schmuck enthielt und dachte, dass ich früher oder später schon über den Schlüssel stolpern würde.«

Er starrte ausdruckslos auf seinen Umschlag. Anscheinend hatte er es nicht eilig, ihn zu öffnen. Vielleicht hatte er sogar ein wenig Angst davor. Swan verließ das Zimmer, um ihm seine Ruhe zu lassen. »Pauline«, sagte sie draußen, »hast du den Inhalt dieses Datenstreifens gespeichert?«

»Ja.«

»Was war darauf?«

»Man hat mich angewiesen, die Informationen auf Wangs Qube auf Io zu übertragen.«

»Sag mir bloß, was er so in etwa enthielt.«

Pauline antwortete nicht, und nach einer Weile fluchte Swan auf sie und schaltete sie ab.

Beide Datenstreifen waren nun inaktiv. Alex’ Geist war fort. Das war vielleicht besser so. Sie zitterte immer noch von dem Schock, den der Klang von Alex’ Stimme bei ihr ausgelöst hatte.

Swan kehrte in Mqarets Büro zurück. Sein Gesicht war weiß, und seine Lippen waren zu einem kleinen Knoten zusammengezogen. Er blickte zu ihr auf.

»Hat sie dir etwas gegeben, was du nach Io mitnehmen sollst?«

»Ja. Weißt du, worum es dabei geht?«

»Nein. Aber ich weiß, dass Alex einen inneren Kreis von Mitarbeitern hatte, der ihr besonders nahestand. Wahram gehörte dazu, und Wang auch.«

»Und was hatten sie für Absichten?«

Mqaret zuckte mit den Schultern. »Mit solchen Sachen hat sie mich in Ruhe gelassen. Aber man hat ihr angemerkt, wie wichtig es ihr war. Ich glaube, es hatte etwas mit der Erde zu tun.«

Swan überlegte. »Wenn es wichtig war und sie darauf geachtet hat, nichts von alledem aufzuzeichnen, dann muss sie gewusst haben, dass ihr Tod Probleme zur Folge haben würde. Deshalb hat sie uns diese Nachrichten hinterlassen.«

»Es war, als hätte ich ihren Geist gehört«, sagte Mqaret zittrig. »Sie hat zu mir gesprochen.«

»Ja«, sagte Swan, die weiter nichts herausbrachte. »Tja. Dann werde ich wohl den dritten Umschlag, den sie hinterlassen hat, nach Io bringen, wie sie es wollte.«

»Gut«, sagte Mqaret.

»Dabei fällt mir ein, dass Wahram mich bereits darum geben hat, ihn dorthin zu begleiten. Und er hat dauernd gefragt, ob sie uns etwas für ihn hinterlassen hätte.«

Mqaret nickte. »Er hat dazugehört.«

»Ja. Und dieser Inspektor auch. Also werde ich ihn wohl begleiten. Aber ich glaube, ich erzähle ihm lieber nichts von den Nachrichten. Davon hat Alex nichts gesagt.«

»Er errät es vielleicht schon deshalb, weil du mitkommst.«

»Lass ihn raten.«

Mqaret kniff die Augen zusammen und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. »Du wirst dir selbst so gut es geht einen Reim auf alles machen müssen. Vielleicht musst du sogar für Alex einspringen und sie bei einigen ihrer Aufgaben ersetzen.«

»Wie soll das gehen? Niemand kann sie ersetzen.«

»Das weißt du nicht. Pauline wird dir helfen, und vielleicht auch dieser Titan. Außerdem – es hätte Alex gefallen, wenn du sie vertrittst.«

»Vielleicht.« Swan war sich da nicht so sicher.

»Alex wird einen Plan gehabt haben. Sie hatte immer einen Plan.«

Swan seufzte, erneut wurde ihr schmerzhaft Alex’ Abwesenheit bewusst. Diese geisterhaften Botschaften waren nicht einmal annähernd ein Ersatz. »Also gut. Ich werde diesen Wang aufsuchen.«

»Gut. Und sei darauf gefasst zu handeln.«

Swan erkundigte sich nach den noch in der Stadt befindlichen Diplomaten von anderen Planeten und begab sich zu der Terrasse, auf der die Gesandtschaft vom Saturn untergebracht war. Als sie den Hof betrat, entdeckte sie sofort Wahram, der sich gerade zu Jean Genette herunterbeugte. Anscheinend berieten sich die beiden. Der Anblick ließ Swan zusammenzucken. Etwas an der Körpersprache von Wahram und Genette verriet, dass sie einander gut kannten. Sie wirkten, als gehörten sie zu einer verschworenen Gemeinschaft.

Mit geröteten Wangen näherte Swan sich den beiden. »Was ist hier los?«, fragte sie forsch. »Ich wusste nicht, dass Sie beide sich kennen?«

Im ersten Moment antwortete keiner der beiden.

Schließlich wedelte Genette mit der Hand. »Fitz Wahram und ich arbeiten bei Systemfragen oft zusammen. Wir haben gerade beschlossen, einen gemeinsamen Bekannten zu besuchen.«

»Wang?«, fragte Swan. »Wang vom Io?«

»Ja, wieso?«, antwortete der Inspektor und schaute neugierig zu ihr auf. »Wang ist ein gemeinsamer Bekannter, und er war auch mit Alex gut bekannt. Wir haben zusammengearbeitet.«

»Wie ich bereits erwähnte«, sagte Wahram mit seiner tiefen, knarzenden Stimme. »Auf dem Rückweg vom Tintoretto-Krater.«

»Ja, ja«, erwiderte Swan bissig. »Sie haben mich gebeten, Sie zu begleiten, ohne mir eine vernünftige Erklärung dafür anzubieten.«

»Tja …« Ein Ausdruck des Unbehagens trat auf das breite Gesicht des Krötenmanns. »Das stimmt, aber wissen Sie, es gibt gute Gründe zur Verschwiegenheit …« Er schaute hilfesuchend zu Genette herunter.

»Ich komme mit«, sagte Swan in den Blickwechsel der beiden hinein. »Ich will mit.«

»Ah«, sagte Wahram mit einem weiteren kurzen Blick zu Genette. »Gut.«

Auszüge (1)

Man nehme einen Asteroiden mit einem Durchmesser von mindestens dreißig Kilometern auf der Längsachse. Welche Sorte ist egal – massiver Fels, Fels und Eis, metallisch, sogar ein reiner Schneeball, obwohl jede Sorte ihre eigenen Probleme mit sich bringt.

Man befestige eine selbst replizierende Abbaumaschinerie an einem Ende des Asteroiden, die ihn entlang der Längsachse aushöhlt. Mit Ausnahme des Eintrittslochs lässt man dabei zu allen Seiten zwei Kilometer Wand stehen. Die Stabilität der Wände gewährleistet man, indem man sie mit einer Innenhaut aus einem hinreichend belastbaren Material überzieht.

Bei der Aushöhlung des Asteroiden sollte man beachten, dass die Entsorgung des Aushubs (den man am besten in Richtung einer Lagrange-Bergungsstelle schießt, um sich eine Bergungsprämie zu sichern) die beste Gelegenheit ist, sein Terrarium, falls erwünscht, in eine andere Umlaufbahn zu verschieben. Überschüssigen Aushub lagert man zur späteren Verwendung an der Oberfläche.

Sobald der Asteroid vollständig ausgehöhlt ist, womit man einen Hohlzylinder von mindestens fünf Kilometern Durchmesser und zehn Kilometern Länge hat (größer ist besser!), kehrt die Abbaumaschinerie zum Eintrittsloch zurück, konfiguriert sich neu und wird zur Antriebseinheit des Terrariums. Je nach Masse der neuen Welt installiert man vorzugsweise entweder ein elektromagnetisches Katapult, einen Antimaterie-Fusions-Antrieb oder eine Orion-Prallplatte.

Vor dem vorderen Ende des Zylinders, also am Bug des neuen Terrariums, befestigt man auf der Längsachse eine Antriebseinheit. Letztlich soll sich das Terrarium mit einer Geschwindigkeit drehen, die so berechnet ist, dass auf den Innenflächen des Zylinders normale Schwerkraftverhältnisse herrschen. Man spricht dabei vom G-Äquivalent oder Gequivalent. Dann verbindet man die Antriebseinheit über ein Kegelradgetriebe mit dem Bug des Terrariums, damit die Einheit feststehen kann, anstatt mit dem Terrarium zu rotieren. In dieser Kammer am Bugspriet wird praktisch Schwerelosigkeit herrschen, aber viele Manöver des Terrariums lassen sich ohne das Drehmoment einfacher durchführen, darunter das Andocken, die Außensicht, die Navigation usw.

Man kann auch einen Innenzylinder bauen, der in einem nichtdrehenden Asteroiden frei rotiert – die sogenannte »Gebetsmühlen-Konfiguration« –, wodurch man sowohl einen Innenraum mit G-Effekt als auch einen sich nicht drehenden Außenraum hat, aber das ist teuer und kompliziert. Nicht zu empfehlen, obwohl wir schon gute Exemplare dieser Art gesehen haben.

Wenn Heck und Bug installiert und ausgerichtet sind und der Asteroid sich dreht, dann kann das Innere terraformt werden.

Man beginnt mit einem Hauch von Schwermetallen und seltenen Erden, deren genaue Zusammensetzung von dem Biom abhängen, das man erzeugen möchte. Man muss sich bewusst sein, dass kein terranisches Biom jemals mit den einfachen Zutaten seinen Anfang genommen hat, die einem auf einem Asteroiden zur Verfügung stehen. Biosphären brauchen von Anfang an ihre Vitamine, man muss also selbst dafür sorgen, dass die gewünschte Mixtur eingeführt wird. Normalerweise beinhaltet sie Molybdän, Selen und Phosphor. Diese Stoffe werden mittels entlang der Achse des Zylinderraums platzierter »Staubbomben« ausgestreut. Man achte darauf, dass man sich bei diesem Vorgang nicht selbst vergiftet!

Anschließend zieht man an der Zylinderachse den Sonnenstreifen seines Terrariums ein. Es handelt sich um ein Beleuchtungselement, dessen eingeschaltete Segmente sich in frei wählbarer Geschwindigkeit entlang der Achse bewegen. Die Leuchtsegmente lassen den Tag nach einer angemessenen Dunkelphase (in der die Straßenbeleuchtung der gegenüberliegenden Seite als Sternenhimmel dient) üblicherweise im Heck des Zylinders beginnen. Sie bewegen sich dann mit der richtigen Helligkeit entlang der Achse vom Heck zum Bug (oder von Osten nach Westen, wie manche es nennen). Das dauert normalerweise so lange wie ein normaler terranischer Tag, gemessen an dem Breitengrad, auf dem das gewünschte Biom auf der Erde liegt. Jahreszeiten an Bord des Terrariums werden dementsprechend festgelegt.

Nun kann man das gewünschte Gasgemisch ins Innere einleiten, typischerweise bei einem Druck zwischen 500 und 11000 Millibar, wobei man sich normalerweise an der terranischen Luft orientiert; möglicherweise mit einem Schuss mehr Sauerstoff, was die Brandgefahr allerdings deutlich erhöht.

Anschließend braucht man Biomasse. Die vollständigen Gencodes aller Geschöpfe, die man in sein Biom einführen will, hat man natürlich sowieso schon im Gewürzregal. Normalerweise baut man entweder ein terranisches Biom nach, oder man stellt eine neue Mischung zusammen. Solche Hybridbiome werden meistens als »Ascensions« bezeichnet, nach der Insel Ascension auf der Erde, dem Standort des ersten derartigen Hybriden (der unabsichtlich von Darwin selbst erzeugt wurde!). Alle Genome für alle Spezies des jeweiligen Bioms sind als Print-on-Demand-Funktion erhältlich, mit Ausnahme der beteiligten Bakterien, die zu zahlreich und genetisch zu labil sind, um sie zu katalogisieren. Für die muss man die richtige Impfung auftragen, normalerweise in Form von ein paar Tonnen eines Schlamms oder Schleims, der aus der gewünschten bakteriellen Suite besteht.

Glücklicherweise gedeihen Bakterien in leeren ökologischen Nischen sehr schnell, und genau das ist es, was man nun hat. Um die Umgebung sogar noch einladender zu machen, schabt man etwas Material von der Innenseite des Zylinders; das darin enthaltende Gestein wird dann zu einem Gemisch zermahlen, das zwischen grobem Kies und Sand liegt. Damit vermengt man ein essbares Aerogel und erhält so einen Grundstock für den Mutterboden. Das bei der Ausschabung abgebaute Eis hebt man für später auf, mit Ausnahme der Menge, die man braucht, um die krümelige Matrix des Mutterbodens zu befeuchten. Dann impft man den Boden mit den Bakterien und dreht die Heizung auf etwa 300 Grad Kelvin auf. Der Mutterboden quillt auf wie Hefeteig und verwandelt sich in jene köstliche und kostbare Substanz namens Erde. (Wer eine umfassendere Erklärung zur Herstellung von Erdboden möchte, sei auf meinen Verkaufsschlager Was Sie schon immer über Dreck wissen wollten verwiesen.)

Wenn man seinen Humusboden hat, dann ist das Biom bereits in vollem Schwange. Ab hier sind verschiedenste weitere Schritte möglich, je nachdem, welches Ergebnis letztlich gewünscht wird. Auf jeden Fall beginnen viele Terrariendesigner mit einem Sumpfland der einen oder anderen Art, weil das die schnellste Möglichkeit ist, Erdboden und Biomasse zu vermehren. Wenn man es also mit dem Einziehen eilig hat, ist das in vielen Fällen ein guter Anfang.

Hat man erst einmal ein warmes Sumpfland, sei es nun mit Süß- oder Salzwasser, ist man bereits gut im Geschäft. Erste Gerüche machen sich im Zylinder bemerkbar, und auch hydrologische Probleme. Nun können Fisch-, Amphibien-, Landtier- und Vogelpopulationen eingeführt werden, und das sollten sie auch, wenn man ein schnellstmögliches Anwachsen der Biomasse erreichen möchte. Doch hier muss man eine mögliche Gefahr beachten: Ist eine Sumpflandschaft erst einmal etabliert, verliebt man sich möglicherweise in sie. Das ist natürlich nett, aber es kommt ein bisschen zu häufig vor. Wir haben inzwischen zu viele Brackwasserbiome und nicht genug von den anderen Biomen, die wir hier draußen zusammenbrauen wollen.

An diesem Punkt sollte man also versuchen, Distanz zu wahren und seinen Sumpf beispielsweise nicht zu bevölkern oder sich während dieser Phase von ihm fernzuhalten. Oder man tritt einem Tauschring bei, bei dem man seine Asteroiden im Sumpfstadium gegen andere eintauscht, an deren Biomen man noch nicht hängt und die man weiter verändert.

Angesichts der durch den Sumpf erzeugten beträchtlichen Biomasse kann man dann unter Verwendung des Aushubs, den man für eben diesen Moment auf der Asteroidenoberfläche aufbewahrt hat, Festland anlegen. Hügel und Berge sehen toll aus und geben dem Gelände Charakter, also nur Mut! Durch diesen Vorgang wird das Wasser in neue Systeme umgeleitet, und das ist der beste Zeitpunkt, um neue Spezies einzuführen und überzählige an jüngere Terrarien weiterzugeben, die sie vielleicht gebrauchen können.

Im Laufe der Zeit kann man das Innere seines Terrariums so in eines der 832 bekannten terranischen Biome verwandeln, oder man kann seine eigene Insel Ascension erschaffen. (Man sollte allerdings bedenken, dass viele Ascensions in sich zusammenfallen wie missglückte Soufflés. Für ein erfolgreiches Ascension gibt es so viele Schlüsselfaktoren, dass ich ein eigenes Buch dazu schreiben musste, Biom-Kombinationen leicht gemacht, jetzt lieferbar.)

Am Ende muss man dann noch einmal zahlreiche Anpassungen an den Temperaturverhältnissen, Landschaftsformen und Spezies vornehmen, um den stabilen Endzustand zu erreichen, den man sich wünscht. Jede denkbare Landschaftsform kann erzeugt werden; manchmal sind die Ergebnisse schlichtweg atemberaubend. In jedem Fall krümmt sich die Landschaft um einen herum empor, bis beide Enden sich weit über einem treffen, sodass das Panorama einen wie ein Kunstwerk einhüllt – ein Goldsworthy im Innern eines Felsbrockens, wie ein Geode oder ein Fabergé-Ei.

Natürlich kann man auch völlig flüssige Innenräume erzeugen. Manche dieser Aquarien oder Ozeanarien enthalten Inselarchipele. Andere bestehen nur aus Wasser, einschließlich der Wände, die zuweilen wieder durchsichtig eingefroren sind, sodass sie wie durchs All treibende Diamanten oder Wassertropfen aussehen. Manche Aquarien haben nicht einmal Luft in der Mitte.

Was Aviarien angeht: Jedes Terrarium und die meisten Aquarien sind gleichzeitig Aviarien, die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit mit Vögeln vollgestopft sind. Es gibt fünfzig Milliarden Vögel auf der Erde und zwanzig Milliarden auf dem Mars; doch wir mit unseren Terrarien haben mehr als beide zusammen.

Jedes Terrarium ist ein Inselpark für die darin lebenden Tiere. Ascensions führen zu Hybridisierung und damit letztlich zum Entstehen neuer Arten. Die traditionelleren Biome bewahren Arten, die auf der Erde massiv gefährdet oder in freier Wildbahn ausgelöscht sind. Manche Terrarien sehen sogar wie Zoos aus, doch mehr von ihnen sind reine Refugien für wild lebende Arten. Die meisten bestehen sowohl aus Wildparks als auch menschenbewohnten Räumen, die einander in Form regelmäßig angelegter Habitatkorridore abwechseln, was die Artenvielfalt im Gesamtbiom maximiert. Solche Räume sind bereits jetzt lebenswichtig für die Menschheit auf der Erde. Und dann gibt es auch noch die stark landwirtschaftlich ausgerichteten Terrarien, Farmwelten, die einzig und allein dazu dienen, das zu produzieren, was mittlerweile einen Großteil der Nahrungsmittel ausmacht, von denen die Erdbevölkerung lebt.

All diese Tatsachen sollte man zur Kenntnis nehmen und sich an ihnen erfreuen. Wir brauen unsere kleinen Weltenblasen zu unserem eigenen Vergnügen zusammen, wie andere eine Mahlzeit kochen oder etwas bauen oder einen Garten anlegen – aber gleichzeitig handelt es sich dabei um einen historisch neuen Vorgang und das Herzstück des Accelerando. Ich kann diese Tätigkeit gar nicht wärmstens genug empfehlen! Die Anschubkosten sind zwar nicht zu verachten, aber dort draußen gibt es immer noch viele Asteroiden, auf die bislang niemand einen Anspruch erhoben hat.

Wahram und Swan

Obwohl es sich bei ihnen zweifellos lediglich um die technische Lösung für ein technisches Problem handelte, waren die Startschleudern des Merkur auch in ästhetischer Hinsicht interessant. Der Tunnel einer Magnetschwebebahn war zu einem Kegel gekrümmt, der auf der Spitze stand und nach oben breiter wurde. Die Kegelspitze war an einer Plattform befestigt, die sich auf einer Kreisbahn bewegte, der Durchmesser des Kreises entsprach in etwa der größten Breite des Kegels. Diese Drehung verstärkte sehr effektiv die Beschleunigung der Magnetschwebe-Fähren, während sie in die Höhe geschleudert wurden. Also saßen sie seitlich zum Boden in ihrer Fähre, aber während sie herumwirbelte, wanderte der Boden des Gefährts spürbar nach unten, ehe sie mit schwindelerregender Geschwindigkeit ins All geschossen wurden, so schnell, dass sie im selben Moment, in dem sie den Tunnel verließen, zu Holzkohle verbrannt wären, hätte es draußen eine Atmosphäre gegeben. Wenn man den Vorgang vom Raumhafen aus beobachtete, erinnerte er an eine Art Achterbahnfahrt auf einem Jahrmarkt aus alter Zeit. Im Innern der Fähre erlebte man deutliche Beschleunigungskräfte, die beinahe das bei Passagierreisen zulässige Maximum von 3,5 g erreichten.

Swan Er Hong hatte sich, kurz bevor sie abhob, im Sitz neben Wahram angeschnallt, und entschuldigend das Gesicht verzogen, um sich für ihre unvermeidliche Verspätung zu entschuldigen. Jetzt beugte sie sich zu ihm hinüber, um aus dem kleinen Fenster auf die rasch zurückfallende Kraterlandschaft ihrer Heimatwelt zu schauen. Schnell verwandelte sich das Land von einer Ebene zu einer Kugel, die aus einer dünnen, in Sonnenlicht gebadeten Sichel und einer geschwollenen schwarzen Nachtseite bestand. Der Merkur war ein interessanter Ort, aber Wahram hatte nichts dagegen, ihn zu verlassen. Obwohl die Einheimischen sich alle Mühe gaben, sie mit Kunst etwas reizvoller zu gestalten, war seine Oberfläche eine verkohlte Schlackewüste. Und wenn er ehrlich war, hatte ihn während seines Aufenthalts in dieser erstaunlichen fahrenden Stadt das plötzliche Aufblitzen auf westlich gelegenen Erhebungen immer wieder an die Sonne erinnert, die sie unerbittlich verfolgte und ständig kurz davor stand, den Horizont zu zerfetzen und alles in Schutt und Asche zu legen.

Ihre Fähre war zum Terrarium Alfred Wegener unterwegs, das sich so schnell bewegte, dass sie eine weitere Beschleunigungsphase bei 3 g durchlaufen mussten, um es einzuholen. Währenddessen stellte Wahram seinen Sitz zum Bett um und ließ die Andruckkräfte über sich ergehen wie alle anderen auch. Gegenüber stöhnte Swan und krümmte sich auf ihrer Liege zusammen. Wahram zwang sich, nicht an die Studien über die Auswirkungen von G-Kräften auf das menschliche Gehirn nachzudenken – dieses empfindliche Organ, das ungepolstert in seinem harten Gefängnis lag. Dann fing das Wegener-Terrarium sie ein, zog sie an sich und gab ihnen noch einen weiteren Schub, als wollte es ihn an seine Sorgen erinnern.

Anschließend mussten Wahram und die anderen Passagiere sich in der plötzlichen Schwerelosigkeit zurechtfinden und sich von der Fähre ins Dock des Terrariums hangeln, schließlich ging es durch den Flaschenhals und eine breite, gepolsterte Treppe zum Zylinderboden hinunter.

Das Innere von Wegener hatte beträchtliche Ausmaße. Das Terrarium war etwa zwanzig Kilometer lang und hatte einen Durchmesser von fünf Kilometern, und durch die Drehung wurde ein G-Äquivalent erzeugt. Der Großteil des Innenraums war ein Naturpark, mit einigen kleinen Ortschaften dazwischen, die größtenteils in Bug- und Hecknähe lagen. Die Mischung aus Savanne und Pampa war sehr schön anzusehen, dachte Wahram, während sie sich dem ersten Dorf näherten und dabei zum Land über ihren Köpfen aufblickten. Präriegras und Waldstückchen wölbten sich über ihnen wie die Kuppel einer gigantischen Sixtinischen Kapelle, in die Michelangelo das Bild eines denkbaren Gartens Eden gemalt hatte – eine Savanne, die erste Lebenswelt des Menschen, die etwas Tiefliegendes ansprach. Allerdings erzeugte die Topologie der Terrarien bei Wahram immer das Gefühl, sich in der Röhre einer aufgerollten Landschaft zu befinden. Wenn man an dem Längengrad entlangschaute, auf dem man sich befand, sah das Land immer wie ein gestrecktes, u-förmiges Tal aus, wobei weiter entferntere, höhere Bäume die näheren überragten und sich in einer immer steiler werdenden Krümmung dem Talboden entgegenneigten, bis die Seitenwände schließlich vertikal standen wie in manchen großen Glazialtälern – doch die Wände ragten noch weiter empor, bogen sich einwärts und brachen die Vertikalität auf eine unverkennbare Art und Weise auf. Ab diesem Punkt befand sich die Landschaft über einem und stand schlicht und einfach auf dem Kopf. Wie zum Beispiel in diesem Moment, als er hinter einer Wolke einen Vogelschwarm von oben sehen konnte, der über einen direkt überkopfhängenden See hinwegflog.

Wahram quartierte sich in einem kleinen Saturn-Gästehaus ein, das sich im nächstgelegenen Ort mit Namen Plum Lake befand. Im Erdgeschoss gab es ein kleines Restaurant, also meldete er sich zum Küchendienst (er mochte diese einfachen Arbeiten), und nachdem er geduscht hatte, machte er einen Spaziergang durch den Ort. Es war ein hübsches Städtchen, am See gelegen und mit einer Anhöhe in der Nähe und einer Tramstation am östlichen Ortsrand. Von dort aus fuhren Bahnen durch das Parkgelände zu anderen Städten. Der Hauptplatz in der Mitte war voller Venusianer, die sich wahrscheinlich auf dem Heimweg befanden: hauptsächlich große, breitschultrige junge Chinesen mit durchdringenden Augen und breitem Lächeln. Bei ihrer gefährlichen Arbeit auf der Venus standen sie hüfttief im Trockeneis. Zu Hause auf dem Titan verrichtete Wahram eine ähnliche Art von Arbeit, aber der Titan hatte nur 0,14 g, was ihm bei kleinen Missgeschicken oft das Leben gerettet hatte. Venus mit seinen 0,9 g schien im Vergleich höchst gefährlich..

Am Stadtrand stieß er auf eine Baumreihe und einen Zaun. Er meldete sich bei einem kleinen Laden an und las auf einer Plakette, dass seine neue Bekanntschaft Swan Er Hong das hiesige Biom vor etwa siebzig Jahren gestaltet hatte. Das war eine Überraschung: Er hatte gehört, dass sie früher Biome entwickelt hatte, aber bei ihrer Ankunft hatte sie keinerlei Interesse an Wegener gezeigt.

Wahram holte eine von mehreren kleinen Betäubungspistolen aus einer Schachtel, steckte sie sich in die Manteltasche und ging durch das Tor in den Park. Er wanderte schräg die Bodenkrümmung hinauf. Das Erdreich bestand aus schwerem, schwarzem Löss, teils tansanischen und teils argentinischen Ursprungs, wie er bei dem Laden gelesen hatte. Ein Wäldchen breitkroniger Akazien wies Schäden von Elefanten auf, die ihre Stoßzähne an den Stämmen gerieben hatten. Die Baumspitzen, die sich direkt überkopf befanden, sahen aus wie runde Flechtengewächse. Hohe Grasbüschel versperrten ihm die Sicht auf seine unmittelbare Umgebung; dort, wo der Park sich hinter den nahen Baumwipfeln krümmte, war mehr zu erkennen. Links oben, oberhalb der Bäume, befand sich eine kleine Felsformation, die ihm ein guter Aussichtspunkt schien. Auf diesen Gedanken mochte allerdings auch ein Puma oder eine Hyäne kommen, also näherte er sich den Felsen wachsam. Die meisten Tiere nahmen sich vor Menschen in Acht, aber er wollte keines erschrecken. Man braucht keine Gefahr, um Aufregung zu erleben, hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt. Das wäre dekadent, und Dekadenz kann ich nicht leiden! Seine restlichen Eltern waren weniger selbstgerecht gewesen. Vielleicht lag das daran, dass sie alle um den Saturn lebten und ihre Vorstellung von Gefahr deshalb eine gewisse Schieflage aufwies. Aber seine Mutter hatte sich klar ausgedrückt, und Wahram war nicht dekadent. Das Neue konnte ihn immer wieder aufrütteln, und auch jetzt pochte sein Herz ein wenig schneller.

Doch der Felsvorsprung war leer. Auf den Steinen wuchsen echte Flechten. Es sah aus, als seien sie mit einer Schicht Halbedelsteine bestreut, in Gelb und Rot und Blassgrün. Er kauerte sich in eine Spalte und schaute sich um.

Er sah eine Gepardin mit zwei Jungen zwischen den Grasbüscheln unter ihm. Die Aufmerksamkeit der Mutter war auf einige Kamphirsche gerichtet, die nicht weit von ihnen grasten. Wahram fragte sich, welchen Reim Kamphirsche sich auf Geparden machten – ob es in Südamerika wohl ein ähnlich schnelles Raubtier gab? Das erschien ihm unwahrscheinlich.

Er schätzte sich glücklich, einen wachen Geparden zu sehen, denn normalerweise schienen diese Tiere zu schlafen. Es sah aus, als versuchte diese Mutter, ihren Jungen das Jagen beizubringen. Sie drückte eines mit der Pfote herunter, damit es flach auf dem Boden lag. Der Chiralwind rauschte von links herab, sodass er auf der windabgewandten Seite der Raubkatzen saß; sie würden ihn nicht riechen. Zumindest machte es den Eindruck, obwohl die Sinne vieler Tiere genau genommen so scharf waren, dass Menschen im Vergleich taub und blind wirkten.

Er ließ sich nieder, um zuzusehen. Die Jungen, deren Fell noch scheckig war, wirkten verwirrt, als begriffen sie nicht, dass man ihnen etwas beibringen wollte. Sie kämpften miteinander und wollten wahrscheinlich viel lieber spielen. Der Zeitraum, in dem das Gehirn am stärksten wuchs, war auch der Zeitraum der größten Verspieltheit.

Auch die Geparden befanden sich auf der windabgewandten Seite der Hirsche, die kein bisschen beunruhigt wirkten, sich ihnen sogar näherten. Die Geparden-Mutter kauerte sich ins Gras, und nun taten ihre Jungen es ihr mit nervös zuckenden Schwänzen nach.

Dann schnellte die Mutter in einem Wirbel von Grashalmen los, und die Jungen setzten ihr hinterher. Die Hirsche stoben in weiten, hohen Sätzen auseinander und ließen die Geparden in einer Staubwolke zurück; doch dann mussten die Hirsche ein Baumgrüppchen umrunden, und die Gepardin erwischte das letzte Tier der Gruppe und riss es zu Boden. Die beiden verwandelten sich in ein Fellknäuel, bei dem die Gepardin schließlich oben lag, die Zähne fest in die Wirbelsäule des Hirschs geschlagen. Der Hirsch bäumte sich noch einmal kurz auf, dann lag er still. Der Anblick des roten Bluts war wie immer ein leiser Schock. Die Jungen kamen nach, und Wahram fragte sich, ob sie bei der Lektion etwas gelernt hatten, außer dass sie erwachsen werden und schnell rennen mussten.

Er stellte fest, dass er aufgestanden war. Im nächsten Moment sah er links von sich eine Bewegung und erkannte, dass es sich um einen Menschen handelte: Swan. Überrascht winkte er ihr zu, und sie hob das Kinn, während sie der Gepardin weiter beim Töten zusah. Nun zeigte die Mutter ihren Kätzchen, wie man einen Hirsch frisst. Nicht, dass sie dafür viel Anleitung benötigt hätten. Wahram beobachtete die Szene. Der erleuchtete Bereich des Sonnenstreifens befand sich derzeit weit vorne im Bug des Terrariums, das Licht fiel schräg ein und hatte eine Sonnenuntergangsfärbung. Die Grasbüschel wiegten sich im Wind. Es kam ihm vor, als habe er an etwas Uraltem teil.

Swan kam zu ihm herüber und stieg auf die Felsformation. Es war ihm unangenehm, dass man ihn hier allein antraf, was nicht in allen Parks legal war und im Allgemeinen als unvernünftig galt. Andererseits war sie schließlich auch allein.

Er nickte ihr zur Begrüßung zu, förmlich, aber nicht unfreundlich. »Man hat nur selten das Glück, so etwas zu beobachten«, bemerkte er, als sie sich näherte.

»Ja«, sagte sie. »Sind Sie allein hier?«

»Das bin ich. Und Sie?«

»Ja, allein.« Sie beäugte ihn neugierig. »Ich muss gestehen, dass es mich überrascht, Sie hier anzutreffen. Ich wusste nicht, dass Ihnen so etwas gefällt.«

»Auf dem Merkur gab es kaum eine Gelegenheit, das herausfinden.«

Sie deutete auf die Raubkatzen. »Machen Sie sich keine Sorgen?«

»Meiner Erfahrung nach haben sie Angst vor Menschen.«

»Aber wenn sie Hunger haben?«

»Den haben sie nie, das ist es ja. Es gibt so viel leichte Beute.«

»Das ist wahr. Aber wenn sie noch nie zuvor einem Menschen begegnet sind, würden sie Sie einfach für eine Art Schimpansen halten. Sicherlich sehr schmackhaft. Eine Delikatesse. Man hört, dass so etwas vorkommt. Sie haben es nie erlebt, gejagt zu werden.«

»Mir ist bewusst, dass wir für sie zu Beute werden könnten«, sagte Wahram. »Für den Fall habe ich eine kleine Betäubungspistole dabei. Sie nicht?«

»Nein, ich nicht«, gab sie nach kurzem Zögern zu. »Ich meine, manchmal habe ich eine dabei, aber in erster Linie, um nicht die Nacht im Gefängnis zu verbringen.«

»Allerdings.«

Sie legte den Kopf schief, als lauschte sie einer Stimme in ihrem Ohr. Ihr Qube war implantiert. Alex hatte ihm davon erzählt, damals, als die Idee gerade in Mode war. »Wo wir gerade beim Thema Essen sind«, sagte sie, »wollen wir uns etwas holen?«

»Mit Vergnügen.«

Sie kehrten zum Außenzaun zurück. Bei dem Häuschen hatte sich inzwischen eine kleine Gruppe eingefunden. Als die Leute Swan sahen, drängten sie sich um sie und begrüßten sie fröhlich. »Wie finden Sie es?«, fragten sie. »Wie gefällt es Ihnen, nun, wo alles erwachsen geworden ist?«

»Es sieht gut aus«, sagte sie ermutigend. »Wir haben gesehen, wie ein Gepard einen Kamphirsch erlegt. Ich hatte ein bisschen den Eindruck, dass es zu viel Wild gibt, wie kommt das?«

Einer aus der Gruppe sagte, dass es so viel Wild gäbe, weil die Zahl der Raubkatzen noch sehr gering sei, und Swan stellte noch einige weitere Fragen darüber. Soweit Wahram es mitbekam, entwickelten die Raub- und Beutetierpopulationen sich in einem gemeinsamen Sinuskurvenmuster, wobei die Raubtierkurve etwa einen Viertelzyklus nach der Beutetierkurve anstieg; es gab noch weitere Faktoren, die die Sache verkomplizierten, doch Wahram konnte dem Gespräch nicht mehr folgen.

Als Swan ihre Unterhaltung beendet hatte, ging sie mit ihm auf der Straße zurück Richtung Ortschaft.

»Die wussten also, dass Sie dieses Terrarium entwickelt haben«, sagte Wahram, während sie unterwegs waren.

»Ja. Es wundert mich, dass es noch jemand weiß. Ich erinnere mich selbst kaum daran.«

»Sie waren also Ökologin?«

»Ich war Designerin. Das ist lange her. Um ehrlich zu sein, viel von dem, was ich damals gemacht habe, mag ich nicht mehr besonders. Diese Ascensions sind einfach zu viel. Eigentlich müssten alle Terrarien dazu dienen, Arten von der Erde zu bewahren. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Aber den Leuten, die hier leben, würde ich das nicht sagen. Sie sind von der Sache überzeugt, und es ist ihr Zuhause.«

Sie wanderten mehrere Grade an der Zylinderkrümmung empor. Eine Wolke, die während des Sonnenuntergangs das Land über ihnen wie ein orangefarbener Schal umschmiegt hatte, war zu ihnen herübergezogen und umgab sie nun als diffuser Nebel. Im dunstigen Zwielicht verloren sich die Schatten, und das Land über ihren Köpfen geriet außer Sicht. Die wenigen Lichter, die von der anderen Seite herüberschienen, sahen aus wie verschwommene Sterne. Es war, als wäre die Welt eine andere geworden, eine Außen- statt einer Innenwelt.

Wahram erklärte, dass er sich zum Tellerspülen im Saturn-Restaurant gemeldet hatte, also kehrten sie zum Gästehaus in Plum Lake zurück und aßen dort. Swan hatte sich für keine Arbeit gemeldet. Das tat sie selten, erklärte sie. Während sie dort saßen, wurde Swan zunehmend schweigsam und gedankenverloren. Sie sah aus dem Fenster, ließ den Blick durch den Raum schweifen und bewegte sich dabei immer ein kleines bisschen, indem sie mit dem Fuß auf Boden klopfte oder die Fingerspitzen aneinanderrieb. Beim Essen sprach sie kein einziges Wort mehr. Zweifellos trauerte sie noch immer um Alex. Wahram, dem der Gedanke an ihren Verlust gelegentlich selbst einen Stich versetzte, blieb nichts anderes übrig, als schweigend mitzufühlen. Doch dann legte sie den Kopf auf die Seite und sagte: »Hör auf, mich vollzulabern, ich will nichts mehr von dir hören.«

»Wie bitte?«, fragte Wahram.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe mit meinem Qube geredet.«

»Kannst du ihn auch laut reden lassen?«

»Natürlich«, sagte Swan. »Pauline, du kannst laut reden.«

Eine Stimme aus Swans rechter Kopfhälfte sagte: »Ich bin Pauline, Swans treuer Quantencomputer.« Die Stimme klang wie die von Swan, allerdings war sie ein wenig gedämpft, da sie aus Lautsprechern unter ihrer Haut kam.

Swan zog eine Grimasse und fing an, sich Suppe in den Mund zu löffeln. Verblüfft konzentrierte auch Wahram sich aufs Essen. Dann blaffte Swan: »Dann rede halt mit ihm!«

Die Stimme aus ihrem Kopf sagte: »Ich habe gehört, dass Sie zum Jupiter-System unterwegs sind.«

»Ja«, antwortete Wahram misstrauisch. Er fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, dass Swan ihre Qube beauftragt hatte, an ihrer Stelle mit ihm zu reden. Aber er war sich nicht sicher, ob es das war, was hier vorging.

»Was für eine Art von künstlicher Intelligenz bist du?«, fragte er.

»Ich bin ein Quantencomputer, Modell Ceres 2196a.«

»Ich verstehe.«

»Sie ist einer der ersten und schlechtesten Qubes«, erklärte Swan. »Ziemlich zurückgeblieben.«

Wahram grübelte darüber nach. Zu fragen Wie klug bist du? war wohl niemals besonders höflich. Außerdem war niemand besonders gut darin, sich selbst in dieser Beziehung einzuschätzen. »Worüber denkst du gerne nach?«, fragte er stattdessen.

Pauline sagte: »Ich bin auf informative Konversation ausgelegt, aber normalerweise bestehe ich keinen Turing-Test. Möchten Sie gerne Schach spielen?«

Er lachte. »Nein.«

Swan schaute aus dem Fenster. Wahram betrachtete sie einen Moment und konzentrierte sich dann wieder auf sein Essen. Er brauchte eine Menge Reis, um das scharfe Chili auf seinem Teller zu verdünnen.

Verbittert murmelte Swan vor sich hin: »Immer musst du dich einmischen, immer musst du reden, immer musst du so tun, als wäre alles ganz normal.«

Die Qube-Stimme sagte: »Die Anapher ist eines der schwächsten rhetorischen Mittel, eigentlich handelt es sich um bloße Redundanz.«

»Du beschwerst dich bei mir über Redundanz? Wie oft hast du diesen Satz schon zergliedert, zehn Billionen Mal?«

»So viele Male waren nicht nötig.«

Stille. Keiner von beiden schien noch etwas zu sagen zu haben.

»Beschäftigst du dich mit Rhetorik?«, erkundigte sich Wahram.

Die Qube-Stimme sagte: »Ja, es handelt sich um ein nützliches Analysewerkzeug.«

»Gib mir doch bitte mal ein Beispiel.«

»Wenn man die Begriffe Exergasia, Synathroesmus und Incrementum aufzählt, dann liefert man meines Erachtens nach ein Beispiel für alle drei Techniken in diesem einen Satz.«

Swan schnaubte. »Und zwar, Sokrates?«

»Exergasia bezeichnet die Verwendung verschiedener Umschreibungen für denselben Gedanken, Synathroesmus bezeichnet Verstärkung durch Aufzählung und Incrementum bezeichnet die Anhäufung von Einzelargumenten für eine Aussage. Indem man sie also aufzählt, tut man alles drei, nicht wahr?«

»Und auf welche Aussage zielst du mit deiner Anhäufung von Einzelargumenten ab?«, fragte Swan.

»Auf die, dass ich dich mit der Vermutung, dass du mehrere verschiedene Techniken benutzt hättest, überschätzt habe und dir in Wirklichkeit nur die eine Methode zur Verfügung steht, da die Unterscheidungen zwischen diesen Techniken keine sind.«

»Haha«, sagte Swan sarkastisch.

Wahram konnte sich gerade noch das Lachen verkneifen.

Der Qube fuhr fort: »Man könnte außerdem behaupten, dass das klassische System der Rhetorik eine falsche Taxonomie darstellt, eine Art Fetischismus …«

»Es reicht!«

Eine gedehnte Stille folgte.

»Ich gehe in der Küche helfen«, sagte Wahram und stand auf.

Nach einer Weile kam sie ihm hinterher, räumte die Geschirrspülmaschinen neben dem Fenster aus und schaute in den Nebel hinaus. Dann goss sie sich ein Glas aus einer herumstehenden Flasche Wein ein. Das nasse Geklapper der Küchenarbeit war ihm seit jeher wie eine Art von Musik vorgekommen.

»Sag etwas!«, befahl sie schließlich.

»Ich denke gerade an diese Geparden«, sagte er aufgeschreckt. Er hoffte, dass sie ihn gemeint hatte, obwohl sich sonst niemand im Raum befand. »Hast du viel von ihnen mitbekommen?«

Keine Antwort. Sie gingen raus und wischten die Tische ab, was ein Weilchen dauerte. Swan brummte vor sich hin; es klang, als stritte sie sich erneut mit ihrem Qube. Einmal stieß sie mit Wahram zusammen und sagte: »Jetzt mach schon hin! Warum bist du so langsam?«

»Warum bist du so schnell?«

Natürlich handelte es sich bei dieser nervösen Hektik um eine berüchtigte Charaktereigenschaft der meisten Qube-Köpfe; aber das durfte man nicht laut sagen, und außerdem schien es bei ihr schlimmer zu sein als üblich. Vielleicht machte ihr ihr Kummer immer noch zu schaffen und sie brauchte eine Auszeit. Jedenfalls antwortete sie ihm nicht, sondern schmiss einfach ihre Schürze beiseite und ging in den Nebel hinaus. Er trat an die Tür und schaute ihr nach. Mit einem Mal bog sie in Richtung eines Feuers auf dem Marktplatz ab, um das Menschen herumtanzten. Als sie nur noch ein Schattenriss vor den Flammen war, konnte er beobachten, wie sie sich in den Tanz einreihte.

Gewohnheiten bilden sich schon ab der ersten Wiederholung. Mit ihr entsteht fast zwangsläufig ein Hang zur weiteren Wiederholung, weil es sich bei den Mustern, um die es geht, um Verteidigungsmechanismen handelt, Bollwerke gegen Zeit und Verzweiflung.

Wahram war sich dessen nur zu bewusst und hatte diesen Vorgang schon oft durchlebt; deshalb achtete er darauf, wie er sich auf Reisen verhielt, und suchte dabei nach jenen ersten Wiederholungen, die das Muster eines ganz bestimmten Lebensabschnitts hervorbringen würden. Allzu oft war das erste Mal, dass man etwas tat, von äußeren Umständen bestimmt, ein Versehen, das nicht unbedingt eine gute Grundlage für zukünftige Gewohnheiten darstellte. Man musste also die Augen offen halten und verschiedene Möglichkeiten antesten. Genau genommen handelte es sich um ein Interregnum, in dem man das Blätterkleid alter Gewohnheiten abwarf und nackt dastand, die Zeit, in der man ziellos umherstreifte und nach dem Zufallsprinzip handelte. Die Zeit ohne Haut, der Rohdaten, des In-der-Welt-Seins.

Für seinen Geschmack kamen diese Momente etwas zu oft. Die meisten Terrarien, die Passagierflüge durchs Sonnensystem anboten, waren extrem schnell, aber trotzdem dauerte eine Reise oft Wochen. Das war einfach eine zu lange Zeit, um sich bloß ziellos treiben zu lassen; wenn man das tat, konnte man leicht völlig teilnahmslos werden oder in eine andere Art von geistigem Winterschlaf verfallen. In den Siedlungen um den Saturn entwickelten die Leute aus so etwas sogar ganze Wissenschafts- und Kunstformen. Doch für Wahram war jede derartige hebephrene Schizophrenie gefährlich, wie er vor langer Zeit schmerzlich hatte erfahren müssen. Zu oft schon hatte bei ihm die Sinnlosigkeit an seiner Existenz genagt. Er brauchte Ordnung und ein Projekt; er brauchte Gewohnheiten. In der Nacktheit der abgeschüttelten Muster schwang in der Intensität des Erlebens auch ein leichtes Grauen mit – die Furcht, dass kein neuer Sinn anstelle des alten, nun verlorenen erblühen würde.

Natürlich wiederholte sich eigentlich nichts wirklich; das war schon seit den Vorsokratikern klar, seit Heraklit und seinem Fluss, in den man nicht zweimal steigen kann und so weiter. Gewohnheiten waren also nicht iterativ, sondern bloß pseudoiterativ. Mit anderen Worten, die Tagesabläufe mochten einander gleichen, aber die Einzelereignisse, die das Muster ausfüllten, waren jedes Mal ein wenig anders. Deshalb gab es sowohl Regelmäßigkeit als auch Überraschendes, und genauso wünschte Wahram es sich: Er wollte ein pseudoiteratives Leben. Aber es sollte auch ein gutes pseudoiteratives Leben sein, ein interessantes, und das Muster, nach dem es verlief, sollte wie ein kleines Kunstwerk sein. Ganz egal, wie kurz ein Ausflug und wie langweilig das Terrarium und seine Bewohner waren, kam es ihm darauf an, ein Muster und ein Projekt zu entwickeln und dieses mit all seiner Willens- und Vorstellungskraft zu verfolgen. Letztlich lief es darauf hinaus, dass alles Leben an Bord von Raumschiffen Stillstand war. Man musste jeden einzelnen Tag beim Schopf ergreifen.

Am nächsten Morgen verließ er nach dem Frühstück also das Saturn-Haus und ging erneut zum Park. Bei dem Häuschen schloss er sich einer Gruppe an, die einer kleinen Elefantenherde folgen würde. Nach einer Weile gesellte sich auch Swan zu ihnen. Sie war offenbar schon vorher weiter in den Park vorgedrungen und kehrte jetzt ein wenig erhitzt, als wäre sie gerannt, zu ihnen zurück. Die Gruppe hatte ein Gerät dabei, mit dem man die unterhalb der Hörschwelle liegenden Laute, die die Elefanten von sich gaben, in den für Menschen hörbaren Bereich verschieben konnte. Während Swan den Gesprächen oder Gesängen der Tiere lauschte, runzelte sie die Stirn, als würde sie ihre Sprache verstehen. Als die Elefanten schließlich verstummten, bat sie den Zoologen, der die Gruppe anführte, um eine Erklärung dafür, dass sich die Dämmerung am Abend zuvor so lange hingezogen hatte. Wahram begriff schnell, dass ein äquatoriales Biom wie dieses eigentlich eine sehr kurze Dämmerung hätte haben sollen, da die Sonne in den vergleichbaren Regionen der Erde unabhängig von der Jahreszeit beinahe lotrecht hinter dem Horizont versank. Überrascht, dass Swan das aufgefallen war, meinte der Zoologe offenbar, sich rechtfertigen zu müssen. Er erklärte, dass es sich um ein Experiment handelte – dass man das entsprechend dem 23. irdischen Breitengrad eingestellt hätte, da auf der nördlichen Erdhalbkugel große Bereiche um diesen Breitengrad mittlerweile so heiß waren wie die Äquatorzone vor der globalen Erwärmung. Wälder verwandelten sich in Grasland und weite Bereiche versteppten, weshalb die Bewegung für Migrationshilfe die Möglichkeit untersuchte, Populationen aus semiariden tropischen Regionen wie dieser auf solche Breitengrade zu verpflanzen. In der Hoffnung, der Bewegung erstes Datenmaterial verschaffen zu können, hatte man die Einstellung des Sonnenstreifens in Wegener entsprechend angepasst.

Swan schien nicht besonders zufrieden mit dieser Erklärung, und kurz darauf zog sie wieder alleine los, ohne die enttäuschte Miene des Zoologen und die Missbilligung einiger der anderen Besucher zu beachten. Später am selben Abend sah Wahram sie in seinem Restaurant; da auch sie viel reiste, praktizierte sie wahrscheinlich auch eine Form des Pseudoiterativs; das war ein ganz natürlicher menschlicher Drang. Wahram aß am Nachbartisch und ging anschließend Geschirrspülen, doch obwohl er ihr höflich zunickte, sprach sie kein Wort. Als er in der Küche fertig war und wieder rausging, um noch etwas zu trinken, war sie fort. Am anderen Ende der Straße brannte wieder das Freudenfeuer, und die Tänzer tanzten.

Der zweite Tag beinhaltete also einige Elemente neuer Gewohnheiten; doch am Tag darauf flog Wegener dicht an der Venus vorbei und benutzte sie als Gravitationsanker, um sich schneller in Richtung Jupiter zu katapultieren. Wahram fuhr mit der Tram Richtung Bug und zog sich an Handsprossen durch einen Gang, in dem praktisch Schwerelosigkeit herrschte, in den Aussichtsraum, der wie eine Blase am vorderen Ende des Asteroiden hing. In diesem Raum konnte man jederzeit das halbkugelförmige Sternenpanorama betrachten, das sich über einem erstreckte – und dort, sichtlich größer werdend, hing die Venus vor ihnen. Wahram, der zu Hause eine Menge Zeit in Mikrogravitationen wie dieser verbrachte, hielt sich ohne Schwierigkeiten mit nur einer Hand in einer Halteschlaufe im Gleichgewicht. Er konnte es kaum erwarten zuzusehen, wie der zweite Planet unter ihnen vorbeiziehen würde. Kurz vor dem letzten Stück ihrer Annäherung kam Swan herein, wie immer spät und in Eile.

Die Atmosphäre der Venus war im Vergleich zum ursprünglichen Zustand so ausgedünnt, dass sie nun durchsichtig war, und obwohl der gesamte Planet im Schatten eines Sonnenschilds lag, weshalb auf ihm permanent Nacht herrschte, konnte man die blassweißen Trockeneismeere und den schwarzen Fels der beiden Kontinente sehen, die mit Maschinen und Gebläsen teilweise freigelegt worden waren. Wolkenmuster, wie man sie von der Erde oder vom Mars kannte, wirbelten über verschneiten Ebenen und den Trockeneisozeanen und erzeugten so eine Art Graumelierung, deren Anblick der Verstand nicht so recht verarbeiten konnte, sosehr man sich auch anstrengte. Der Aussichtsraum hallte von erstaunt und verwirrt klingenden Ausrufen wider. Das menschliche Auge kam einfach nicht besonders gut damit zurecht, wenn die hoch gelegenen Regionen schwarz und die tiefer liegenden weiß waren, und außerdem war die ganze Sache ohnehin noch komplizierter. Selbst aus unmittelbarer Nähe handelte es sich bei der Venus nach wie vor um ein einziges Wirrwarr aus Sprenkeln. Sie näherten sich in schrägem Winkel der Planetenoberfläche, und dann sauste Wegener direkt oberhalb der Atmosphäre an ihm vorbei, um den Schleudereffekt voll auszunutzen. Unter ihnen zog eine Ansammlung von Lichtern vorbei, von denen einige behaupteten, dass es sich um Port Elizabeth handelte. Ganz in der Nähe befand sich eine Stadt namens Billie Holliday, wo Wahram einmal in einem riesigen Waldo gearbeitet und das Trockeneis in den Tälern mit Steinschaum bedeckt hatte. Ähnliches wurde derzeit auf dem Titan gemacht. Venus und Titan waren die beiden besten verbleibenden Kandidaten, um sie dem Mars als vollständig terraformte Welten beizustellen – manche bezeichneten sie als Hemdsärmel-Welten, mit für Menschen atembaren Atmosphären an der Oberfläche. Am Beispiel Mars sah man, wohin das führen konnte: zu einer unabhängigen neuen Welt, frei von all den Sorgen der alten.

Swan tanzte für sich allein. »Ich will zurück«, sang sie niemandem im Besonderen, oder vielleicht ihrem Qube, zu. »Ich will den giftigen Wind spüren, der über die giftige See peitscht.«

Die Venusianer waren vor dem Schleudermanöver von Bord gegangen, weshalb es in Wegener nun nicht mehr so interessant war, was die Menschen anging. Keine Freudenfeuer mehr, keine durchtanzten Nächte. Wahram verbrachte die meisten Tage im Naturpark; das wurde zum Herzstück dieses Pseudoiterativs. Sie versuchten, die Vögel und Säugetiere zu zählen. Oft sahen sie dort draußen Swan, die für sich allein umherlief. Offenbar schlief sie auch dort, und eines Abends in der Küche erklärte sie, dass sie, wenn es sich vermeiden ließ, niemals drinnen schlief, obwohl in gewisser Weise natürlich das ganze Terrarium ein Innenraum war. Draußen im Park entdeckte er auch Hinweise darauf, dass sie versuchte, sich einen Teil ihres Essens selbst zu fangen. Einmal stießen sie auf ein Kaninchen, das in einer kleinen Schlinge am Ufer des Bachs gefangen war, der sich spiralförmig durch den Park schlängelte. So etwas war illegal, und wichtiger noch, es gehörte sich nicht. Ein paarmal sahen sie auch Asche von Feuerstellen, in denen kleine, nicht vollständig verbrannte Knochen lagen. Kaninchen oder Rehe über dem Feuer braten … dabei musste man sich vor Hyänen in Acht nehmen. Das hervorragende südindische Essen in seinem Restaurant war da mit Sicherheit vorzuziehen.

Dann trafen sie eines Morgens auf Swan, als sie noch an ihrem kleinen Feuer hockte. Ihr Gesicht war noch immer fett- und ihre Hände blutverschmiert, und zwischen ihren Füßen lag ein kleines Fellknäuel. Mit einem Raubtierblick, der sehr dem ähnelte, den man von einer Hyäne geerntet hätte, hätte man sie in einem vergleichbaren Moment ertappt, schaute sie zu ihnen auf. Eine ganze Weile lang wusste niemand etwas zu sagen. Wilderei war bei den Behörden kein bisschen beliebter geworden als früher, das erkannte Wahram mit einem schnellen Blick auf den Zoologen sofort, auch wenn man Swan sicher nicht gleich hängen würde. Tatsächlich scharrten die anwesenden Einheimischen, die allesamt höchstens halb so alt waren wie Swan, angesichts ihres Gründerstatus mit den Füßen und suchten anscheinend einen Weg aus der verzwickten Lage.

»Ich schätze, das nennt man auf frischer Tat ertappt«, sagte Wahram so jovial wie möglich. »Aber bitte, ich möchte die Gelegenheit, die Elefanten zu sehen, nicht verpassen, und sie entfernen sich schnell von uns. Ich bin mir sicher, dass die Lage hier sich bald wieder normalisieren wird.« Damit ging er auf eine Art und Weise fort, die seine Führer mit ihm zog.

Besser, er setzte die Erforschung des Parks in einer anderen Richtung fort. Vielleicht konnte er sich auch auf die Suche nach der kleinen Gepardenfamilie machen. Einmal beobachtete er Swan eben dabei, doch er näherte sich ihr nicht. Inzwischen war deutlich geworden, dass ihr nach Einsamkeit zumute war. Wenn sie in der Stadt in sein Restaurant kam, aß sie allein. Das enttäuschte Wahram ein wenig.

Im Pseudoiterativ achtet man während des rituellen Tagesablaufs sowohl auf die Freuden des Vertrauten als auch auf den Schauer des Zufälligen. Es war wichtig, im Morgengrauen draußen zu sein. Der helle Bereich des Sonnenstreifens warf Schatten durch den Zylinder, und über seinem Kopf flogen Vogelschwärme von einem See zum nächsten. Die Zugvögel taten so, als zögen sie um die Welt, sagte man ihm; sie flogen im Morgengrauen los und waren den Großteil des Tages unterwegs, ehe sie wieder dort ankamen, wo sie losgeflogen waren. Vielleicht unterschieden sich all seine Bewegungen im Prinzip nicht von ihren.

Er begab sich einmal mehr in die Aussichtsblase, als Wegener den berühmten Asteroiden Programmfehler passierte. Hier hatte eine der Abbaumaschinen einen Befehl missverstanden. Manche vermuteten, die Fehlfunktion der KI sei durch einen unglückseligen Treffer kosmischer Strahlung verursacht worden, sodass die Maschine, nachdem sie den großen Eisen-Nickel-Asteroiden entkernt hatte und seinen Innenraum mit Stahl ausgekleidet hatte, umgekehrt war und den verbliebenen Fels des Asteroiden entlang der Röhre um die erste Höhlung aufzufressen begonnen hatte; jedes Mal, wenn sie die Oberfläche des Asteroiden durchbrochen hatte, war sie erneut umgekehrt und hatte so ein Netzwerk von Tunneln hinterlassen. Nach ein paar Jahren, als der ganze, sehr viel kleiner gewordene Asteroid bereits aussah wie ein geflochtenes und zu einem Knoten gebundenes Stahlseil, war klar geworden, dass sie niemals von alleine damit aufhören würde. Manche waren dafür, die Sache einfach weiterlaufen zu lassen, um zu sehen, was dabei herauskommen würde, aber dagegen hatte wohl irgendjemand Einwände gehabt, denn eine Explosion mit einem starken elektromagnetischen Impuls zerstörte die KI und ließ sie mitten in der Drehung innehalten, sodass ihre Grabschnauze aus der Oberfläche herausragte wie ein Schlangenkopf. Tatsächlich hatte der Asteroid sich inzwischen in eine Art Medusenhaupt verwandelt, eine Brezelskulptur, die manche für wunderschön und andere für grauenvoll hielten, ein Sinnbild der Dummheit von KIs oder der Eitelkeit menschlichen Strebens.

Das Wegener-Terrarium rauschte so schnell an dem Asteroiden vorbei, dass die Menschen in der Aussichtsblase kaum Gelegenheit zum Blinzeln hatten, wenn sie ihn nicht verpassen sollten: In der Zeit, die man brauchte, um einmal Atem zu holen, wuchs er von einem Punkt zu einem Basketball und wurde wieder zu einem Punkt. Die Leute schnappten nach Luft und begannen zu jubeln. Es handelte sich in der Tat um ein sehr gelungenes Zufallskunstwerk, fand Wahram, so voller Windungen, dass es regelrecht zu zappeln schien, als verfolgte der Kopf des Ouroboros einen unwilligen Schwanz – die Formulierung kam ihm in den Sinn, als er, wieder zurück in der Küche, den Anblick beschrieb. Wie ein Gewirr von Klein’schen Flaschen.

Am nächsten Tag sausten sie an einer weiteren berühmten Fehlleistung vorbei, und dieses Mal fanden sich mehr Zuschauer ein als bei Programmfehler, was Wahram deprimierend fand. Dieses Terrarium, Yggdrasil, hatte einen katastrophalen Hüllenbruch erlitten; ein unbemerkt gebliebener, eisgefüllter Spalt war aufgeplatzt. Das Resultat war weniger ein Leck, sondern eher eine Explosion gewesen. Nur einige wenige Bewohner hatten überlebt, etwa fünfzig von dreitausend. Das konnte jedem passieren, der nicht auf der Erde oder dem Mars lebte. Wahram wollte es sich nicht ansehen.

Listen (2)

Nackt unter einer Hitzelampe auf einem Eisblock liegen

Fünf Stunden in einem Raumanzug mit Sauerstoff für nur vier Stunden verbringen

Entlang des Äquators um den Merkur herum laufen

Sich mit einem Lasermesser ein Diagramm des Sonnensystems in die Brust schneiden

Langsam (den ganzen Tag lang) die Große Treppe herabstürzen, nackt, wie bei Duchamp

In einem Patronenschiff vom Terminator aus in eine Sonneneruption hineinfliegen, sich aus der Kapsel katapultieren und nur mit den Düsen des Raumanzugs eine Bruchlandung hinlegen

Auf einem Stuhl sitzen und jemanden in die Augen schauen, der ihr gegenübersitzt, ein Jahr lang

In einem feuerfesten durchsichtigen Ganzkörperanzug durch die Flammen tanzen

Bowlingkugeln über die Große Treppe von der Dämmerungsmauer herabrollen lassen, einen ganzen Tag lang (am Paschinko-Tag)

Eine Woche in einer Wurmkiste verbringen

In Kreuzigungsposition, mit dem Kopf nach unten, im Licht der Sonne hängen, wenn die Tore der Dämmerungsmauer geöffnet werden

Eine Woche lang in einem Haufen Zwiebeln sitzen und eine nach der anderen schälen

Den Schutzraum in einem Raumanzug mit Luftvorrat, aber ohne Heizung verlassen, um zu sehen, wie lange sie es draußen aushält (14 Minuten)

Den Schutzraum in einem Raumanzug mit Luftvorrat, aber ohne Heizung verlassen, um zu sehen, wie lange sie es draußen aushält, während sie im indirekten Sonnenlicht und dessen Strahlungswärme unterwegs ist (61 Minuten)

Den Schutzraum in einem Raumanzug mit Heizung, aber mit nur einem Helm voll Luft verlassen, um zu sehen, wie lange sie es draußen aushält (8 Minuten)

Swan und eine Raubkatze

Swan verließ Wegener, peinlich berührt von den grauenhaften Ideen ihrer Jugend, in diesem Fall für die Savannen-Pampa Ascension – ganz zu schweigen davon, dass sie eben dort auf frischer Tat beim Wildern ertappt worden war. Dieser Klugscheißer. Es war deprimierend. Aber es wurde sogar noch schlimmer, als ihre Fähre sie auf einem Terrarium ablud, das Richtung Jupiter unterwegs war und das sich als das Pleistozän erwies. Es handelte sich um eine weitere ihrer Jugendsünden, eine eiszeitliche Nordwelt voller arthritischer, gigantischer Kreaturen, die man wieder zum Leben erweckt hatte und die nun als jämmerliche Mutantenversionen ihrer selbst durch die Gegend stapften. Riesige Kurznasenbären, die sich mit verwirrt offen stehenden Mündern umblickten – dazu schrecklich anzuschauende Exemplare von Canis dirus, Säbelzahntiger, amerikanische Geparden, Mastodonten und Wollhaarmammuts. Die meisten dieser Tiere waren nicht ganz authentische Wiederherstellungen aus altem DNA-Material, eigentlich Kunstprodukte, die von Elefanten oder Kodiakbären zur Welt gebracht worden waren, und daher gänzlich unerfahren in der Lebensweise ihrer Art. Es war ein trauriger Anblick. Swan verfluchte sich selbst. Um die verbleibenden Wochen ihrer Reise zum Jupiter zu überstehen, lebte sie ausschließlich in der Wildnis und bezahlte fast mit dem Leben dafür; zum einen war es schrecklich kalt, und dann wachte sie auch noch eines Morgens in einer unsinnig unbequemen Haltung in einer Astgabel auf und stellte fest, dass der Baum vom Gewicht einer an ihm emporkletternden Raubkatze bebte, einer großen Katze von wer weiß welcher Art – wahrscheinlich handelte es sich schlicht und einfach um einen Berglöwen, vielleicht auch um einen Schneeleoparden, das Fell des Tiers war lang genug dafür. Jedenfalls hatte die Raubkatze es auf sie abgesehen, und da sie auch nicht schwerer war als Swan, konnte sie den Baum wahrscheinlich weit genug emporklettern, um sich ihren Wunsch zu erfüllen. Es waren etwa zwölf Meter bis zum Boden, und das Terrarium erzeugte durch seine Drehung etwa 1 g – einen kurzen Moment lang fluchte sie innerlich darüber, dass man die marsianische Gravitation, die früher in Terrarien die Norm gewesen war, schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, doch dann vertrieb die Angst jeden Gedanken aus ihrem Kopf. Sie musste raus aus ihrem Nest. Sie musste höher gelangen, als eine Katze es konnte, die genauso schwer war wie sie selbst. Das war offenkundig ein Problem. Sie zog sich auf den nächsthöheren Ast, der sehr viel steiler emporragte als der, auf dem sie geschlafen hatte. Die Katze beäugte sie ruhig. Bislang rührte sie sich nicht vom Fleck. Topasaugen in scheckigem weißem Fell; die weißen, hungrigen Zähne gebleckt. Keine Spur von Bosheit. Den steil nach oben zeigenden Ast empor, die Füße in die Gabeln gestemmt, schmerzhaftes Herauswinden, höher und höher. Im schwankenden Wipfel, all die Äste um sie gleichermaßen dünn und biegsam. Irgendeine Art von Eiche. Wenn sie dem Tier auf die Schnauze trat, sobald es sie ansprang, würde es sie vielleicht verfehlen und fallen. Vordertatzen würden sich an ihr festkrallen, sie würde sich mit ihrem Tritt wegdrehen müssen – vielleicht noch höher. Sie versuchte, weiter emporzuklettern, doch es ging nicht.

Sie war auf dem Pleistozän. Sie hatte eine Betäubungspistole dabei.

Aber sie hatte sie in ihrem Schlafnest gelassen. »Scheiße.«

Die Katze stieg nun auf Swans Ast. Ein ganz schönes Gewicht, so wie der Ast schwankte.

»Pauline, irgendwelche Vorschläge?«

»Mach ihr Angst«, sagte Pauline. »Schalt voll auf Adrenalin, und tu etwas Absurdes.«

Swan drehte sich herum, ließ los und fiel der Katze mitten ins Gesicht, wobei sie so laut wie möglich kreischte. Als ihre Füße irgendwo anstießen, umklammerte sie die Äste um sie herum und spürte, wie ihr etwas gegen die Rippen knallte. Alle Luft zum Schreien wurde ihr aus den Lungen gepresst. Hektisch suchte sie mit den Füßen Halt, fand keinen, blickte nach unten. Die Katze war am Boden und schaute zu ihr empor. Swan schrie erneut und verspürte einen Stich von einer gebrochenen Rippe. Sie verfiel in Wutgebrüll und stieß wüste Flüche gegen die Katze aus. Das Tier mit den Waffen des Archilochos töten. Ihre Stimme ein raues, schmerzhaftes Knurren, ein bitteres Kreischen, das ihr in der Kehle wehtat und dessen Klang sie selbst kaum ertrug. Das Geräusch machte ihr bewusst, dass sie endgültig durchgedreht war. Die Katze seufzte schwer und tappte davon.

Swan kletterte in ihr Nest zurück und holte die Betäubungspistole. Das Herabsteigen aus dem Baum gestaltete sich höllisch schmerzhaft.

Nach diesem Vorfall ging sie Wahram aus dem Weg, und als man sie auf Kallisto absetzte, hatte sie das Stechen in ihrer Seite ein wenig liebgewonnen. Tatsächlich fühlte sie sich besser damit; es war Ausdruck ihres Kummers und ihres Zorns. Den Moment des Schreckens, von dem es herrührte, hatte sie nicht vergessen, aber sie hatte ihn zu etwas anderem verarbeitet, zu einer Art Triumph. Beinahe wäre sie zu einer Frühstücksmahlzeit geworden! Sie hatte sich dumm verhalten und trotzdem einmal mehr überlebt – wie oft das schon vorgekommen war. Das war sicher Schicksal. Sicher würde es so weitergehen.

»Das ist der grundlegendste aller falschen Syllogismen«, versicherte Pauline ihr, als sie den Gedanken laut aussprach.

Die Jupitermonde waren riesig, und Jupiter selbst war ein gigantisches, genial überladenes Ölgemälde aus zähen Blasen, die von einem atemberaubenden Paisleymuster-Garten zum nächsten wirbelten – die Grenzstreifen zwischen diesen Bändern boten ein unvergleichliches Farbenspiel. Swan liebte den Anblick, und die Stadt, aus der sie ihn genoss, war auch nicht übel: Sie hieß Vierter Ring Walhallas und war auf dem namensgebenden Rand des großen Mehrfachkraters errichtet. Walhalla hatte sechs Ringe, die aus dem Mond Kallisto hochgeschlagen waren wie konzentrische Wellen auf einem Teich, in den man einen Stein geworfen hat. Die Stadt war auf dem Kamm des vierten Rings errichtet und lief einmal um ihn herum. Inzwischen waren auch auf dem dritten und dem fünften Ring Städte im Entstehen begriffen. Es hieß, dass man früher oder später ganz Walhalla überdachen würde und danach vielleicht den Rest von Kallisto; und es war eine große Welt. Manche behaupteten, dass man sie vernünftig terraformen konnte, obwohl keine Ausgangsatmosphäre vorhanden war.

Genau genommen handelte es sich um eine von vier großen Welten, denn alle Galilei’schen Monde waren gigantisch. Aber gleichzeitig hatte Swan den Eindruck, als lastete eine Art Fluch auf ihnen: Einer war praktisch nutzlos, ein weiterer umkämpft. Ios Umlaufbahn verlief so tief innerhalb von Jupiters tosenden Strahlungsgürteln, dass niemand jemals auf ihm wohnen würde, mit Ausnahme einiger Wissenschaftler in Schutzbunkern. Europa, ein großer, wunderschöner Eismond, besaß einen dicken Eispanzer, der einen gewissen Schutz vor der auch hier noch starken Jupiterstrahlung geboten hätte; wundersame Eispaläste mit dem Inferno des Jupiter am Himmel – so hatten es sich die Leute zumindest am Anfang vorgestellt. Aber es war nie so weit gekommen, weil man in dem Ozean unter dem Eis außerirdisches Leben gefunden hatte, eine vollständige Ökologie von Algen, Chemotrophen, Lithothrophen, Methanbildnern, Pflanzen- und Aasfressern, Saprobionten, die alle schwammen, dahinkrochen, die Oberflächen abgrasten oder das Gewässer filterten, sich in den Untergrund krallten oder hineingruben; und das war ein Problem. Manche waren der Meinung, dass man diesen Ozean bereits durch die ersten Forschungsexpeditionen kontaminiert hatte. Die Untersuchung mit einem Bohrer brachte das gleiche Dilemma wie beim Wostoksee mit sich, nur in einem größeren Maßstab. Immerhin hatte man bei der Sterilisierung der Sonden keine Mühen gescheut, und dann, nachdem man die gesamte Ökologie erforscht und Proben genommen hatte, hatte man das Loch versiegelt und saß nun in wissenschaftlichen Forschungsstationen an der Oberfläche, um die Proben weiter zu kultivieren und zu studieren und sich zu fragen, ob man dableiben oder verschwinden sollte und wie sich der weitere Aufenthalt im ersteren Fall gestalten sollte. Vielleicht gab es überhaupt kein Problem mit der Eispalast-Idee, solange das Leben in der Tiefe durch die zehn Kilometer dicke Glaziosphäre zwischen der Mondoberfläche und dem Ozean vollständig abgeschottet war. Andererseits fand das Leben bekanntermaßen stets einen Weg, sich Spermatozoen gleich auch durch schwierigste Passagen hin zu jeder erreichbaren Nische zu winden, und so würde jedwede Form der Besiedelung des Monds mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Kontamination nach sich ziehen. Da diese Geschöpfe andererseits ohnehin entfernte Verwandte des Erdenlebens zu sein schienen, eine Seitenlinie, vor langer Zeit nach einer Meteoritenreise abgezweigt – und durch den ersten Besuch bereits wieder aufs Neue mit ihrem Ursprung vermischt –, würde es tatsächlich so schlimm sein, über ihnen zu leben und sie weiterhin in kleinen Dosen zu kontaminieren? Wo es doch da draußen bereits Menschen gab, die das mikroskopische außerirdische Leben schluckten und es sich in die Adern spritzten? Und wo doch das Leben seit jeher im Sonnensystem umhersprang und dabei immer wieder Familientreffen stattfanden? Das waren offene und für die Europaner und Jupiteraner hochinteressante, für den Rest des Sonnensystems allerdings weniger bedeutsame Fragen. Von ihren Tagen als Designerin war Swan noch ein gewisses Interesse für das Dilemma geblieben, und sie hieß die jüngste Entscheidung gut, Europa nun doch zu besiedeln und sich dabei dezent oberhalb des einheimischen Wasserlebens zu halten.

Während sie auf ihren Flug nach Io wartete, verbrachte sie ihre Zeit damit, über die Hochstraße zu wandern, die einmal um den vierten Ring Walhallas verlief. Noch immer ging sie Wahram aus dem Weg, der sie mittlerweile mit einer so ängstlichen und sorgenvollen Miene ansah, dass es ihr unerträglich war. Über ihr leuchtete Jupiter in all seiner grellen Pracht. Vielleicht war die Egozentrik der Jupiteraner nicht ganz unberechtigt: Sie hatten hier ein eigenes kleines Sonnensystem, mit vielerlei Himmelskörpern. Zwischen den Kraterringen lag die Oberfläche Kallistos, eine weite, weiße, vernarbte Ebene, und Jupiter und die anderen drei Monde führten am Himmel ihren Tanz auf. Es war eine atemberaubende Weite.

Aber sie waren hier, um sich mit Wang zu treffen, und bald war Swan den Anblick des Himmels leid und wartete ungeduldig auf ihre Fähre nach Io. Jupiter, der am Himmel seine Possen riss – das war keine Kunst, sondern Chemie, ein schlichtes fraktales Wiederholungsmuster. Das einzig Gute daran war, dass man kürzlich große Gaslampen in der oberen Jupiteratmosphäre entzündet hatte, um mehr Licht für die Städte auf der dem Jupiter zugewandten Seite der Galilei’schen Monde zu haben. Man konnte zusehen, wie diese schmerzhaft hellen Diamanten die oberste Wolkendecke verwirbelten und neue Strudel und Strömungen erzeugten – dadurch wurde es Kunst, eine Art verrücktes Goldsworthy.

Schließlich war es an der Zeit für ihren Flug nach Io.

Swan sagte: »Pauline, kommst du dort unten zurecht?«

»Wenn du zurechtkommst, dann komme ich auch zurecht. Zur Sicherheit musst du auf jeden Fall innerhalb des Faraday’schen Käfigs bleiben. Das werden dir die Jupiteraner wahrscheinlich auch noch mal sagen.«

Und genau das taten sie im Verlauf der Reise, und zwar ausführlich. Wie russische Holzpuppen saßen sie in einer Kiste, die sich in einer Kiste befand: so stolz. Hinab zum Io, während ihr Raumschiff eine tosende Aura hinter sich herzog, einen Feuersturm aus durchscheinenden, blau-grün-elektrischen Bannern, Bannern und Flammenzungen, die in weiten Bögen in den Raum hinausleckten.

Io

Io, der innerste Mond des Jupiter, ist so groß wie Luna. Eine gelbe Welt aus Schlacke, der erstaunliche Auswurf von Mondeingeweiden, immer wieder aufs Neue verdaut und ausgespien. Schon seit Langem ist alles, was flüchtiger ist als Schwefel, verbrannt und verdampft. Schwefel, Schwefel überall, und kaum ein Fleck, auf dem man stehen kann. Vierhundert aktive Vulkane ragen aus der Schlacke wie entzündete Pocken und schleudern Schwefeldioxid Hunderte von Kilometern in die Höhe. Ein Mond, dessen Inneres heißer ist als das der Erde – und wer wissen will, wie heiß es im Innern der Erde ist, sollte seine Hand mal in den Dampf halten, der aus den Vulkanschloten auf Nea Kameni in der Caldera von Santorin dringt. Er sieht aus wie der Dampf auf einem Herd, aber man stellt schnell fest, dass er dreimal so heiß ist. Selbst wenn man die Hand sofort wegzieht, bekommt man Blasen. Und Ios Inneres ist dreißigmal so heiß.

Man sieht es Io an. Es ist eine Höllenwelt, die zwischen den enormen Gezeitenkräften von Jupiter und Europa hin und her gezerrt und beinahe zerrissen wird. Ein sichtbares Zeugnis der Graviationskräfte. Dazu kommt Jupiters weites, hartes Strahlungsfeld, in dem Io brutzelt; selbst Deinococcus radiodurans muss darin vergehen. Nichts lebt auf Io.

Mit Ausnahme der Menschen und dem kleinen Gefolge von Organismen, das sie überallhin mitnehmen. Denn man kann tatsächlich Inseln festen Gesteins in den höheren Regionen jener gewaltigen Vulkane auftreiben, Gänge in dieses Gestein treiben und eine kleine Station dort verstecken. Einen Kubus als Hülle für Wangs Qube. Alles dort muss dreifach abgeschirmt werden, einmal durch physische Wände, dann durch ein Magnetfeld, das stark genug ist, um die Strahlung vom Jupiter aufzuheben; aber dieses Feld genügt wiederum selbst schon, um einen Menschen zu töten, weshalb man darin einen Faraday’schen Käfig braucht, der einen vor dem Schutzschild schützt.

Sinkflug in einer blauen, magnetischen Aurora, einem Feuerwerk aus Elektronen. Unter ihnen weitet sich der Mond von einem Ball zu einer Ebene zu einer aufgewühlten Berglandschaft aus einander überlappenden Vulkanen, deren massige Kegel kaum auszumachen sind in all den Streifen von Gelb auf Beige auf Weiß auf Schwarz auf Ziegel- oder Bronzefarben, Streifen in allen Tönen des Gebrannten, aber vor allem in Gelb. Hier und dort verstreute schwarze oder rote oder weiße Ringe verweisen auf aktive Vulkanschlote, die die Eingeweide des Himmelskörpers um sich herum in unregelmäßigen Kreisen verteilen. Doch die meisten der Farbflecken sind noch weit unregelmäßiger, und insgesamt ist die Oberfläche von Io ein einziges Durcheinander, aus dem das menschliche Auge keine Topografie ableiten kann. Es ist das, wonach es aussieht, eine geschmolzene Welt, eine Welt in Flammen. Die Namen, die die Menschen ihr gegeben haben, sind redundant. Feuergötter, Donnergötter, Blitz- und Vulkangötter, jede brennbare Gottheit von Agni, dem Hindu-Gott des Feuers bis zu Völund, dem germanischen Götterschmied. All diese Namen versuchen, dem Mond ein menschliches Antlitz zu verleihen, und scheitern daran. Io ist kein Ort für Menschen. Die harte Kruste an seiner Oberfläche, allein durch die Berührung mit dem Vakuum des Alls abgekühlt, ist so dünn, dass sie an vielen Stellen nicht einmal einen Menschen tragen würde. Einige der ersten Entdecker haben das auf die harte Tour herausgefunden: Als sie sich zu weit von ihrem Landungsboot entfernt haben, sind sie durch den schwefligen Grund gebrochen und in der rot glühenden Lava verschwunden.

Wir glauben, dass wir auf festerem Grund stehen, weil wir auf kälteren Planeten oder Monden leben. Aber das ist ein Irrtum.

Swan und Wang

Die Station auf Io, die Wangs Qube und sein Versorgungsteam beherbergte, lag weit oben in der Flanke von Ra Patera, einem der größten Berge des Sonnensystems. Während ihres Sinkflugs mit der Fähre kam ihnen dessen fächerförmiger Ausläufer beinahe wie eine horizontale Fläche vor. Die Fähre wurde von einem Loch in einer Betonlandefläche verschluckt, und anschließend schloss sich ein Dach über ihnen. Ab dann waren sie die meiste Zeit unter der Erde. Alles, was sie auf den zahlreichen Bildschirmen der Station und durch die Fenster im kleinen Kommandoturm von dem Mond sehen konnten, gehörte zum Ausläufer des Ra.

Auf der Brücke im Kommandoturm befanden sich mehrere Personen. Keine davon blickte zu Swan und Wahram auf, und auch nicht zu Wang, als er hereinkam.

Wang Wei erwies sich als rundliche Person mit tadellosen Manieren. Eine echte Größe in seinem Feld, wie Mqaret wohl gesagt hätte: einer der wichtigsten Experten für Qubes im ganzen Sonnensystem. Manchmal herrschten solche Menschen über sehr bemerkenswerte kleine Ruritanier. Swan fragte sich, ob Alex mit ihrem Gedanken recht gehabt hatte, dass die Balkanisierung des Sonnensystems eine gezielte, wenn auch unbewusste menschliche Reaktion auf die Qubes war, eine Art Widerstand gegen ihre zunehmende Macht.

Wang begrüßte Swan und Wahram und nahm mit einem kurzen »Ah, danke« den Umschlag von Alex entgegen, den Swan ihm hinhielt. Anscheinend wusste er bereits davon. Er las den Brief und steckte den Datenstreifen, der herausfiel, in die nächstbeste Konsole. Eine ganze Weile las er aufmerksam und ließ dabei den Zeigefinger über den Monitor wandern.

»Es ist wirklich ein Jammer, dass wir Alex verloren haben«, sagte er schließlich zu Swan. »Mein herzliches Beileid. Sie war die Achse unseres kleinen Rads, und jetzt werden wir in alle Richtungen fortgewirbelt wie zerbrochene Speichen.«

Überrascht antwortete Swan: »Sie hat mir in ihrer Nachricht mitgeteilt, dass ich zu Ihnen kommen soll. Die Briefe hat sie mir in ihrem Arbeitszimmer hinterlassen. Eine Art Notfallplan, schätze ich. Und der Umschlag für Sie war ein Teil davon.«

»Ja. Sie hat mir gesagt, dass sie vielleicht etwas Derartiges tun würde. Und Sie haben auch einen Datenstreifen in Ihren internen Qube geladen, zumindest legt Alex das in ihrem Brief hier nahe.«

»Das stimmt. Aber mein Qube will mir nichts darüber erzählen.«

»Das entspricht zweifellos Alex’ Anweisungen. Das Datenmaterial ist für Spezialisten. Was Sie haben, ist eine Art Sicherungskopie«, erklärte Wang wie zur Entschuldigung.

Swan bedachte erst Wang und dann Wahram mit einem finsteren Blick. Die beiden steckten unter einer Decke, wie Wahram und Genette auf Merkur. »Sagen Sie mir, was hier vorgeht«, verlangte sie. »Sie beide haben mit Alex an etwas gearbeitet.«

Die beiden zögerten einen Moment, ehe Wang sagte: »Ja. Seit vielen Jahren. Alex stand wie gesagt im Zentrum. Wir haben mit ihr zusammengearbeitet.«

»Aber sie hielt nichts davon, sich in der Cloud zu bewegen«, erwiderte Swan und breitete die Arme zu einer Geste aus, die die Station umfasste. »Sie hat die Dinge im Kopf behalten, nicht wahr? Sie aber arbeiten mit Qubes, das stimmt doch auch? Wangs Qube, Wangs Algorithmus?«

»Ja«, antwortete Wang.

Wahram fügte hinzu: »Alex hat sich von Qubes ferngehalten, damit man sie nicht zurückverfolgen konnte. Und dafür brauchte sie Unterstützung von einem Qube. So ist das heutzutage nun einmal, und das wusste sie.«

Wang nickte. »Also hat sie sich für mich entschieden. Ich habe keine Ahnung warum. Möglicherweise hat sie gedacht, ich hätte mehr Kontakte zu dem, was sie immer als Liga der blockfreien Welten bezeichnete, als es wirklich der Fall war. Ich habe zwar ein solches Netzwerk, aber es ist nicht besonders weitreichend. Niemand hat eine vernünftige Beschreibung dieses Systems in seiner jetzigen Form.«

»Ist es das, worauf Alex aus war?«, fragte Swan.

Wahram schüttelte den Kopf. »Sie kannte das System so gut wie nur möglich. Wang kennt die Blockfreien, aber meiner Meinung nach ist es noch wichtiger, dass sein Qube hier abgetrennt ist. Jeder seiner Kontakte zum Rest des Systems wird von Wang kontrolliert. Das hat Alex gefallen, weil sie versucht hat, all ihre Geschäfte auf direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch umzustellen.«

»Aber sie hat uns diese Nachrichten hinterlassen«, sagte Swan. »Für den Fall, dass sie nicht mehr in der Lage sein würde zu reden. Also wollte sie, dass wir reden. Sie wollte, dass Sie beide mit mir reden.«

»Offensichtlich.«

»Dann sagen Sie mir, was Sie vorhaben!«

Die beiden Männer warfen einander einen Blick zu. Eine ganze Weile starrten sie zu Boden.

Dann schaute Wang ihr in die Augen, was Swan überraschte. Sein Blick war durchdringend. »Wir wissen alle nicht genau, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen, weil es hier unter anderem um Qubes geht und Sie einen eingebetteten Qube haben. Deshalb würde Alex Ihnen nichts über diesen Teil des Ganzen erzählen, und ich habe das auch nicht vor. Jetzt, wo Alex’ Liste mit Kontakten sicher hier angekommen ist, können wir, die wir mit ihr zusammengearbeitet haben, versuchen, ihre Pläne weiter voranzutreiben.«

Swan sagte: »Also haben Sie Informationen von Alex, und mein Qube hat Informationen von Alex, aber ich kann keine Informationen von Alex bekommen.«

Wang schaute zu Wahram. Wahrams breites Gesicht sah aus, als würde er mit Nadeln gepiesackt. Seine Glupschaugen und Wangs durchdringender Basiliskenblick: So standen sie dort und schauten Swan an. Sie wussten nicht, was sie zu ihr sagen sollten. Erzählen würden sie ihr nichts.

Mit einem plötzlichen Schnauben winkte Swan ab und verließ das Zimmer.

In der kleinen Station gab es keinen Ort, an den man sich zurückziehen konnte, um seine Ruhe zu haben, was Swan erst nach ihrem Abgang bewusst wurde. Sie musste dringend irgendwo durch die Landschaft rennen, um ihre Wut abzureagieren, und hier saß sie in einem Qube-Kubus, einem Kasten mit Zimmern, von denen nur einige wenige überhaupt Fenster hatten. Klaustrophobie lag bei ihr immer dicht unter der Oberfläche, und jetzt, mit ihrer Wut auf die beiden Männer und ihrem Kummer über Alex (und ihrer Wut darüber, dass Alex ihr etwas vorenthalten hatte, nur wegen Pauline), wurde sie von dem Gefühl des Eingeschlossenseins übermannt. Sie stampfte fluchend umher und stieg dann schließlich in den Kommandoturm hoch, zu einem Zimmer mit Aussichtsfenster, wo sie endlich die Tür zuknallen und für eine Weile mit den Fäusten auf den Tisch hämmern konnte. Ihre Rippe tat ihr dabei ziemlich weh, aber das war jetzt nur noch ein Teil der Gesamtmischung, des Stechens all der in ihr tobenden Gefühle. Es tat weh!

Dann fiel ihr eine Bewegung draußen ins Auge. Sie unterbrach ihren Wutanfall und trat ans Fenster. Durch einen Tränenschleier sah sie eine verschwommene, dann und wann aufblitzende menschliche Gestalt, die über die gelbe Schlacke zur Station wanderte. Sie bewegte sich seltsam, zuckte wankend und taumelnd von hier nach dort.

»Pauline, kann man hier auf der Mondoberfläche umherlaufen? Außerhalb der Station?«

»Dazu bräuchte man einen Anzug, der dieselbe Schutzwirkung wie diese Station hat«, antwortete Pauline. »Bitte – informiere den Sicherheitsdienst der Station sofort darüber, was du gesehen hast.«

»Sie werden es doch sicher selbst gesehen haben?«

»Dieser Anzug dort draußen kann in vielerlei Hinsicht abgeschirmt sein. Dein visueller Eindruck ist vielleicht der einzige Hinweis auf ihn, den es gibt. Bitte beeile dich. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um sich mit mir zu streiten.«

Mit einem Knurren verließ Swan das Zimmer. Nachdem sie eine Weile durch die Station gehetzt war und sich dabei verlaufen hatte, kam sie in den Raum, den sie und Wahram als Erstes betreten hatten.

»Jemand nähert sich eurer Station zu Fuß«, sagte sie zu den verblüfften Leuten, die sich dort aufhielten. Ein paar schauten sehr genau auf ihre Monitore. Swan konnte ihnen nicht sagen, in welche Richtung ihr Fenster gezeigt hatte und musste sie dorthin zurückführen (wobei sie sich nur mit Mühe und Not an den Weg erinnern konnte), um es ihnen zu zeigen. Mittlerweise sah man nichts mehr als die Schlackelandschaft, die sich von der Station aus hangabwärts erstreckte. Anscheinend sahen auch die Leute im Kontrollraum nichts.

»Pauline, sag es ihnen«, befahl Swan.

Pauline sagte: »Nordnordwest, 310 Meter hangabwärts. Die Fußabdrücke sollte man noch sehen könnten. Die Gestalt hat sich unregelmäßig bewegt …«

Wang kam ins Zimmer geeilt. Offenbar hatte ihm jemand Bescheid gegeben. »Abriegeln«, sagte er kurz angebunden zu seinen Leuten. Überall ertönten schmerzhaft hohe und laute Alarmsirenen. Schnell füllten sich die Gänge mit Menschen. Swan und Wahram wurden durch einen Korridor zu einem Schutzraum mitgezogen. Als sie dort ankamen, war er bereits überfüllt, und nachdem sie sich hineingedrängt hatten, wurde die Tür geschlossen. Anscheinend waren sie hier vollständig versammelt. Jetzt waren sie in der kleinsten Matruschka-Puppe von allen.

An den Wänden waren Bildschirme, und Pauline half der Stations-KI dabei, die Überwachungskameras einzustellen. Schon bald wurde auf einem der Bildschirme eine Ansicht des abfallenden Hangs herangezoomt. Dort, weit unten auf der zerknitterten und schrägen Schlackeebene, hopste eine winzige Gestalt bergab.

»Keine gute Idee«, sagte Wang. »Dort unten ist die Kruste dünn.«

Und dann versank die entfernte Gestalt in einem kurzen Aufflackern und war verschwunden.

»Haltet weiter um die Station herum Ausschau«, sagte Wang, nachdem eine Weile schockiertes Schweigen geherrscht hatte. »Schaut, ob dort draußen jemand ist. Und schickt eine Drohne hoch, um nach einem Hopper Ausschau zu halten.«

Es herrschte Grabesstille, während die Anwesenden auf die Bildschirme starrten. Falls der Faraday’sche Käfig ausfiel, würden sie sehr bald gekocht werden. Die Strahlung vom Jupiter würde jede einzelne Zelle ihrer Körper zum Platzen bringen.

Aber anscheinend war nichts weiter passiert. Die Energieversorgung der Station schien gesichert, und niemand sonst war in der Umgebung zu sehen.

Dann regte sich etwas am anderen Ende des Zimmers. »Ein Ruf von einem Schiff, das um Landeerlaubnis bittet«, sagte jemand.

»Um wen handelt es sich?«

»Es ist ein interplanetares Schiff, die Schnelle Gerechtigkeit

»Vergewissert euch, dass sie wirklich die sind, als die sie sich ausgeben.«

Das Bild eines sich nähernden Raumschiffs wurde auf einen größeren Monitor verschoben, und alle beobachteten, wie ein kleineres Raumschiff flackernd in das Loch in der Landeplattform sank. Kurz darauf erschien ein behelmter Kopf unmittelbar vor einer der Überwachungskamera in der Landebucht, kam näher und füllte während des Netzhaut-Scans den ganzen Bildschirm aus. Dann winkte der Besucher und hielt kurz den Daumen hoch. Anscheinend handelte es sich um Freunde.

Man ließ sie herein, und dort in der Tür standen drei Menschen ohne Helme, einer von kleiner Statur. Verblüfft erkannte Swan, dass es sich um den Inspektor handelte, der sie in Mqarets Labor besucht hatte: Jean Genette.

»Ihr kommt spät«, sagte Wang.

»Tut mir leid«, antwortete Genette. »Wir wurden aufgehalten. Erzähl mir, was passiert ist.«

Wang gab einen kurzen Bericht und schloss mit: »Anscheinend war der Eindringling allein. Er hat sich genähert, ist dann den Hang hinabgegangen und durch die Kruste gebrochen. Wir haben noch keinen Hopper gefunden.«

Genette neigte den Kopf zur Seite. »Er ist einfach hangabwärts in den Tod gerannt?«

»Sieht so aus.«

Der Inspektor wandte sich zu den anderen Neuankömmlingen. »Wir müssen seine Überreste aus der Lava ziehen.« Dann, an Wang und die anderen gewandt: »Bin bald zurück. Vielleicht solltet ihr die Abriegelung noch eine Weile aufrechterhalten.«

Damit verschwanden die drei wieder durch die Luftschleuse der Station.

»Also gut«, sagte Swan ernst und bedachte dabei insbesondere Wahram mit einem durchdringenden Blick. »Erzählen Sie mir, was hier los ist.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Wahram.

»Man hat uns gerade angegriffen!«

»Das nehme ich an.«

»Das nehmen Sie an?«

Wang sprach, ohne von den Monitoren aufzublicken. »Ein wenig wirkungsvoller Angriff, muss ich sagen.«

»Und wer würde Sie angreifen wollen?«, fragte Swan. »Und wie ist Genette so schnell hergekommen? Und hat all das etwas mit dem zu tun, was Sie zusammen mit Alex gemacht haben?«

Wahram sagte: »Das lässt sich an diesem Punkt nur schwer sagen«, und Swan unterbrach ihn, indem sie ihn gegen den Arm boxte.

»Schluss damit«, sagte sie böse. »Sagen Sie mir, was hier los ist!«

Sie schaute sich in dem vollgestopften Raum um: Zwölf bis fünfzehn Leute drängten sich darin, die sich jetzt jedoch alle demonstrativ mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigten und Wang und seine Besucher an einem kleinen Ecktisch allein ließen. »Sagen Sie es mir, sonst schreie ich los.«

Sie stieß ein kurzes Kreischen aus, um ihnen zu zeigen, was sie sich einhandeln würden, und die Leute im Raum zuckten zusammen und schauten entweder in ihre Richtung oder vermieden eben das angestrengt.

Wahram schaute zu Wang. »Lass mich es versuchen«, sagte er.

»Nur zu«, sagte Wang.

Wahram tippte auf den Tischmonitor und rief eine dreidimensionale Darstellung des Sonnensystems auf, die im Innern des Tisches zu schweben schien. Kugeln in bunten holografischen Farben bildeten etwas, das an altmodische mechanische Nachbildungen des Sonnensystems erinnerte, wobei Swan feststellte, dass diese Version sehr viel mehr bunte Kugeln und zahlreiche farbige Verbindungslinien zwischen ihnen enthielt. Darüber hinaus verhielten die Kugeln sich nicht maßstabsgetreu zu den wirklichen Planeten und Monden.

»Dieses Bild wurde auf Grundlage von Alex’ Analysen erzeugt«, erklärte Wahram Swan. »Es ist der Versuch, Macht darzustellen, und das Potenzial für Macht. Eine Art Menard-Grafik. Die Größe der Kugeln wird durch eine Funktion bestimmt, in die alle Faktoren eingehen, die Alex für bedeutsam hielt.«

In der Nähe der Sonne entdeckte Swan den Merkur, klein und rot. Die Mondragon-Mitgliedswelten waren alle rot und bildeten eine Konstellation von durch das ganze System verteilten Punkten – alle klein, aber es waren viele. Die Erde war riesig und vielfarbig, eine Ansammlung von Kugeln wie ein Strauß Heliumballons, die eine Faust nach oben ziehen. Der Mars war eine einzige grüne Kugel und fast so groß wie die Erde. Die bunten Linien, die die Kugeln miteinander verbanden, bildeten im ganzen Sonnensystem bis zum Saturn dichte Netze, die weiter draußen ausdünnten.

»Was für Faktoren?«, fragte Swan, die versuchte, sich zu beruhigen. Sie war noch immer durcheinander, wenn auch mehr durch die Ankunft Genettes als durch die Attacke.

Wahram sagte: »Angesammeltes Kapital, Bevölkerung, Gesundheit der Bioinfrastruktur, ob eine Welt terraformt ist und wie stabil, Mineralien und flüchtige Ressourcen, Bündnisse, militärische Ausrüstung. Die heuristischen Einzelheiten können wir Ihnen später geben. Man sieht jedenfalls sofort, dass Mars und Erde als kollektives Ganzes betrachtet derzeit ungeheuer viel größer sind als irgendwelche anderen Mächte. Und China, die große rosafarbene Kugel, stellt einen sehr großen Teil der Erdmacht dar. Derweil hat die Venus so großes Potenzial, dass es sich nur schwer darstellen lässt, weil sie gegenwärtig nicht mal ansatzweise über die Macht verfügt, die sie bald haben wird. Venus und China sind beide rosa eingefärbt, weil sie beide gute Beziehungen zum Mondragon haben. Man sieht, dass der China-Venus-Mondragon-Knoten das Potenzial hat, die größte Macht überhaupt zu werden. Alex hat oft gesagt, dass die chinesische Vorherrschaft der Normalzustand sei, in den die Geschichte immer wieder zurückfällt, mit Ausnahme der kurzen Phase, in der China hinter Europa zurückstehen musste. Das ist vielleicht etwas übertrieben, aber bezüglich der gegenwärtigen Lage spricht das Bild für sich.

Man beachte auch, wie klein all die anderen Weltraumsiedlungen sind. Selbst zusammengenommen sind sie immer noch klein. Wie dem auch sei, wenn man ihr Terraforming-Potenzial hochrechnet, wie ich es jetzt mache – schauen Sie: Venus, Luna, die Galilei’schen Monde außer Io sowie Titan und Triton werden sehr viel größer. Sie repräsentieren die größten Chancen auf Machtzuwachs im All. Die Asteroiden sind größtenteils gefüllt. In der näheren Zukunft werden also Venus und die großen Monde die neuen Hauptmächte sein. Venus wird bald voll bewohnbar sein und einen Wachstumsschub erfahren, weshalb die Lage dort seltsam wird, was wiederum die Erde destabilisiert.«

»Und warum interessierte sich Alex für all das?«, fragte Swan. »Und was wollte sie deswegen unternehmen?«

Wahram holte tief Luft und stieß den Atem wieder aus. »Sie hat ein instabiles System gesehen, das auf einen Zusammenbruch zusteuert, falls niemand korrigierend eingreift. Sie wollte die Lage stabilisieren. Und sie war der Meinung, dass die Probleme im Grunde genommen von der Erde ausgehen.«

Er schaute eine Weile auf das Bild, das diesen Gedanken sehr wirkungsvoll vermittelte: Dort, inmitten all der Primärfarben, schien das Partyballongewirr, das die Erde darstellte, regelrecht zu vibrieren.

»Und was wollte sie also tun?«, fragte Swan, die mit einem Mal einen Stich der Sorge verspürte. »Wollen Sie damit sagen, dass sie die Verhältnisse auf der Erde verändern wollte?«

»Ja«, antwortete Wahram bestimmt. »Das wollte sie. Sie wusste natürlich, dass dieser Wunsch ein berühmter Raumer-Fehler ist. Ein unmögliches, zum Scheitern verurteiltes Projekt. Aber sie hoffte, dass wir inzwischen genug Einfluss hätten, um etwas zu bewirken. Sie hatte einen Plan. Viele von uns hatten das Gefühl, dass man das Pferd damit von hinten aufzäumen würde, wissen Sie. Aber Alex konnte uns überzeugen, dass wir nie sicher sein werden, solange die Erde nicht in einem besseren Zustand ist. Also haben wir bei ihrem Plan mitgemacht.«

»Was soll das heißen?«

»Wir haben in den Terrarien Nahrungsmittel und Tiere gehortet und in uns freundlich gesonnenen Ländern auf der Erde terranische Büros eröffnet. Es gab Vereinbarungen. Aber all das wird nun durch Alex’ Tod verkompliziert, weil sie so viel von alledem persönlich getan hat. Es handelte sich um verbale Abkommen.«

»Sie hat den Qubes nicht getraut, ich weiß.«

»Genau.«

»Warum nicht?«

»Tja, ich … vielleicht sollte ich das im Moment lieber nicht sagen.«

Nach einer unbehaglichen Pause sagte Swan: »Sagen Sie es mir.« Als er den Kopf hob, um ihrem Blick zu begegnen, schaute sie ihn auf die gleiche Art an, auf die auch Alex ihn angesehen hätte – sie spürte, dass es ihr im Blut lag. Alex war dazu fähig gewesen, Leute mit einem Blick zum Sprechen zu bringen.

Doch es war Wang, der ihr antwortete. »Es hat etwas mit seltsamen Gerüchten über Qubes zu tun«, erklärte er zurückhaltend. »Auf der Venus und im Asteroidengürtel. Es sind diese Zwischenfälle, die von Inspektor Genettes Team untersucht werden. Und deshalb …« – er deutete Richtung Tür – »… hängt das vielleicht auch damit zusammen. Bis sie also mehr herausfinden, sollten wir das Thema erst einmal außen vor lassen. Außerdem – ich nehme an, Ihr interner Qube nimmt all das auf? In dem Fall wäre es am besten, wenn Sie ihn dazu veranlassen könnten, die Aufnahme zu sperren.«

Wahram sagte zu Wang: »Zeig Swan die Darstellung des Systems unter Einbeziehung der Qube-Macht.«

Wang nickte und tippte auf das Bild auf dem Tisch. »In dieser Version wurde versucht, sowohl Qubes als auch klassische KIs zu berücksichtigen. Es soll einem ein Bild davon vermitteln, ein wie großer Teil unserer Zivilisation von künstlichen Intelligenzen gesteuert wird.«

»Qubes steuern überhaupt nichts«, wandte Swan ein. »Sie treffen keine Entscheidungen.«

Wang runzelte die Stirn. »Tatsächlich treffen sie sehr wohl gewisse Entscheidungen. Zum Beispiel, wann eine Fähre ablegen soll oder wie die Güter und Dienste im Mondragon zu verteilen sind – all solche Dinge. Eigentlich erledigen sie den Großteil der Infrastruktur des Systems.«

»Aber sie entscheiden sich nicht, sie zu erledigen«, wandte Swan ein.

»Ich weiß, was Sie meinen, aber schauen Sie sich mal die Darstellung an.«

In dieser Version, so erklärte er, stellte Rot die Macht von Menschen dar und Blau die Macht von Computern, wobei hellblau für klassische Computer stand und dunkelblau für Quantencomputer. Ein großer, dunkelblauer Ball war neben dem Jupiter zu sehen, und weitere blaue Punkte waren überall sonst verteilt. Die meisten davon waren zu einem Gesamtnetz verbunden. Menschen tauchten als rote Ballungen auf, doch sie waren weniger und kleiner als die blauen Punkte, und es verliefen sehr viel weniger rote Linien zwischen ihnen.

»Was ist das für ein blauer Ball um den Jupiter?«, fragte Swan. »Sind Sie das?«

»Ja«, sagte Wang.

»Und jetzt hat also jemand diesen ziemlich gewaltigen blauen Ball angegriffen.«

»Ja.« Die Stirn tief in Falten gelegt starrte Wang auf den Tischmonitor. »Aber wir wissen nicht wer, und auch nicht warum.«

Nach kurzem Schweigen sagte Wahram: »Bilder wie dieses sind einer der Gründe dafür, dass Alex besorgt war. Sie hat gewisse Bemühungen angestoßen, die Lage in den Griff zu bekommen. Bitte, belassen wir es fürs Erste dabei. Ich hoffe, Sie verstehen.«

Sein flehender Appell an Swan ließ seine Froschaugen noch deutlicher hervortreten. Er schwitzte.

Swan starrte ihn einen Moment lang finster an und zuckte dann mit den Schultern. Sie wollte sich streiten, und einmal mehr wurde ihr klar, dass es sich gut anfühlte, etwas anderes als Alex’ Tod zu finden, worüber sie sich aufregen konnte. Dafür war ihr so ziemlich jeder Anlass recht. Aber letztlich würde ihr das nicht helfen.

Wahram versuchte, das Gespräch wieder auf das Thema Erde zu lenken. »Alex meinte, dass wir uns die Erde wie unsere Sonne vorstellen sollten. Wir drehen uns alle um sie, und sie übt eine gewaltige Anziehungskraft auf uns aus. Und weil jeder einzelne Raumer ab und an ein Sabbatjahr braucht, können wir nicht einfach so tun, als gäbe es sie nicht.«

»Eigentlich gibt es eine ganze Menge Gründe, warum wir das nicht können«, stellte Wang fest.

»Stimmt«, sagte Wahram. »Also. Wir sind fest entschlossen, Alex’ Projekte weiter voranzutreiben. Du kannst uns dabei helfen. Dein Qube hat jetzt ihre Liste mit Kontakten. Es wird nicht leicht sein, die ganze Gruppe an Bord zu halten. Wir könnten deine Hilfe gebrauchen.«

Swan, unbefriedigt von solch vagen Allgemeinplätzen, betrachtete einmal mehr das neue Bild in dem Tisch. Schließlich sagte sie: »Mit wem auf der Erde hat sie vor allem zusammengearbeitet?«

Wahram zuckte mit den Schultern. »Mit vielen Leuten. Aber ihre Hauptkontaktperson war Zasha.«

»Was?«, fragte Swan verblüfft. »Wirklich Zasha?«

»Was erstaunt Sie daran?«

»Nun ja, wir waren mal verpartnert.«

»Das wusste ich nicht. Tja, Alex hat sich jedenfalls ganz auf Zasha verlassen, um ein Bild von der Lage auf der Erde zu erhalten.«

Swan war sich vage bewusst gewesen, dass Zasha mit dem Merkur-Haus in Manhattan zu tun hatte, aber sie hatte niemals gehört, dass Alex von Zasha gesprochen hätte, oder umgekehrt. Schon wieder erfuhr sie etwas Neues über Alex, und mit einem Mal wurde Swan klar, dass es von nun an so weitergehen würde: Sie würde nicht mehr Neues von Alex erfahren, sondern Neues über sie. Das war die Art, auf die Alex weiterleben würde, und obwohl es nicht viel war, war es besser als nichts. Besser als die Leere. Und wenn Zasha mit ihr zusammengearbeitet hatte …

»Alles klar«, sagte Swan. »Sobald euer Inspektor uns hier rauslässt, fliege ich zur Erde.«

Wahram nickte zögerlich.

Swan fragte: »Was machen Sie?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich muss zum Saturn und Bericht erstatten.«

»Sehen wir uns wieder?«

»Ja, danke.« Trotz dieser Worte schien die Vorstellung ihm nicht ganz zu behagen. »Ich werde schon bald nach Terminator zurückkehren. Die Vulkanoiden haben sich mit dem Rat der Saturn-Liga in Verbindung gesetzt. Anscheinend haben sie auch irgendeine mündliche Abmachung mit Alex getroffen. Da sind vulkanoide Lichtübertragungen zum Saturn in Vorbereitung, und ich bin derzeit der Botschafter der Liga bei den inneren Planeten. Wir sehen uns also, wenn Sie zum Merkur zurückkehren.«

Auszüge (2)

die Geschichte zu vereinfachen bedeutet, die Wirklichkeit zu verzerren. Zu Beginn des 24. Jahrhunderts passierte zu viel auf einmal, um alles im Blick zu haben oder zu verstehen. Die emsigen Versuche zeitgenössischer Historiker, ein verbindliches Paradigma herauszuarbeiten, sind fehlgeschlagen; und bei uns, die wir heute auf sie zurückblicken, ist es nicht anders. Es ist schwer, auch nur genug Fakten und Einzelheiten für Spekulationen zusammenzutragen. Es gab dort draußen Tausende von Stadtstaaten, die durchs System sausten und von denen jeder seine eigene Präsenz in der Daten-Cloud hatte oder in eben dieser fehlte, und die zusammengenommen – was ergaben? Das gleiche Durcheinander, das die Geschichte seit jeher ausmacht, nur dass es nun voll entfaltet, mathematisiert, erblüht war – oder, wie man damals sagte, balkanisiert. Keine Beschreibung kann

Knotenpunkte der Instabilität, an denen zahlreiche Belastungsstellen auf einmal nachgeben – in diesem Fall der Rückzug des Mars aus dem Mondragon, seine gegenimperiale Kampagne auf der Erde und die Rückkehr der Jupitermonde auf die interplanetare Bühne. Als erste Siedler jenseits des Mars wurden die Jupiteraner nicht nur durch Pfadabhängigkeit von älterer, weniger leistungsstarker Siedlungstechnologie behindert, sondern auch von der Entdeckung von Leben im Inneren von Ganymed und Europa und von Jupiters harter Strahlung. Später führten leistungsstärkere Siedlungsstrategien und die Terraformingbemühungen auf Venus und Titan dazu, dass die Jupiteraner ihre Stationen, Kuppeln und Zelt-Luxemburgs für nunmehr unzureichend befanden. Obwohl Io auf Dauer unzugänglich blieb, stellten die drei verbleibenden Galilei’schen Monde potenziell eine gewaltige Gesamtoberfläche bereit. Es waren die Lösung ihrer internen Konflikte und ihre gemeinsame Hinwendung zum vollständigen Terraforming, die die launischen Märkte ins Chaos stürzten und die nichtlinearen Brüche der darauffolgenden zwei Jahrzehnte auslösten

damit waren sie zu ihrem eigenen, unvermeidlichen Experiment geworden, und sie machten vieles aus sich, was sie nie zuvor gewesen waren: verbessert, vielgeschlechtlich und vor allem sehr langlebig. Die Ältesten von ihnen waren damals um die zweihundert Jahre alt. Trotzdem waren sie kein Gran weiser oder auch nur intelligenter geworden. Traurig, aber wahr: Die individuelle Intelligenz hatte ihre Hochzeit wahrscheinlich im Jungpaläolithikum. Seitdem sind wir selbst domestizierte Geschöpfe, Hunde, die einmal Wölfe gewesen sind. Aber trotz dieses individuellen Absinkens fand man Wege zur Anhäufung von Wissen und Macht, sammelte Daten und auch Techniken, Praktiken, Wissenschaften

waren deshalb zwar möglicherweise als Spezies klüger, als sie es als Individuen waren, neigten aber dennoch zum Wahnsinn und verharrten im Jetzt, einem Jetzt, das für uns verloren ist – die Zeit, als die Menschen in der heute nahezu vergessenen Technologie und Kultur der Balkanisierung lebten, der Zeit unmittelbar vor dem Jahr 2312 …

Moment mal: So weit sind wir noch nicht

Listen (3)

Alkohol, Fasten, Dürsten, Schwitzhütten, Selbstverstümmelung, Schlafentzug, Tanzen, Bluten, Pilze, Untertauchen in Eiswasser, Kava, Flagellation mit Dornen oder Tierzähnen, Kaktusfleisch, Tabak,

sich den Elementen aussetzen, Langstreckenlauf, Hypnose, Meditation, rhythmisches Trommeln und Singen, Jimson-Kraut, Tollkirsche, Salvia Divinorum, ätherische oder duftende Öle, Krötenschweiß, tantrischer Sex,

sich im Kreis drehen, Amphetamine, Sedative, Opiate, Halluzinogene, Lachgas, Oxytocin, die Luft anhalten, von Klippen springen, Nitrite, Kratom, Kokablätter, Kakao, Koffein, Entheogene …

Äthylen, ein entheogenes Gas, entweicht unter Delphi aus dem Boden

Swan im Dunkeln

Als sie die Station auf Io verlassen durften, machte Swan sich Richtung Erde auf. Wie sich herausstellte, war das nächste Passagierschiff auf dem Weg ins Systeminnere ein Blackliner. Da Swan nach wie vor die schwarze Leere von Alex’ Abwesenheit in ihrem Innern spürte, entschied sie sich dafür. Wahram verabschiedete sie mit der besorgten Miene, die inzwischen typisch für ihn war.

In dem Blackliner herrschte Dunkelheit. Es war die denkbar schwärzeste Finsternis, wie man sie sonst nur in einer Höhle tief unter der Erde finden würde. Das Terrarium drehte sich kaum, weshalb die Gravitation überall an Bord sehr gering war. Die Leute schwebten in der Finsternis, nackt, bekleidet oder in Raumanzügen. Um die Gebäude und die schwebenden Gondeln herum trieb eine Gesellschaft von Blinden sacht durch eine Welt des Schalls. Fledermausmenschen. Manchmal gab es Interaktionen, Gespräche, Umarmungen; manchmal hörte man Hilferufe, und die Ordnungshüter, die mit ihren Infrarotbrillen als Einzige sehen konnten, waren unterwegs, um Hilfestellung zu geben. Doch den meisten Passagieren ging es gerade darum, für eine Weile blind zu sein. Für manche war es eine Buße und für manche eine Art spirituelle Reise; und für manche handelte es sich um eine neue Art von Sex. Swan wusste nicht, was sie sich davon versprach. Angesichts ihrer derzeitigen Gefühle hatte es einfach richtig geklungen.

So trieb sie also durch reine, völlige Schwärze. Sie hatte die Augen geöffnet, und trotzdem sah sie nicht das Geringste: nicht die Hand vor ihrem Gesicht und nirgendwo auch nur einen Schimmer von Licht. Der Raum, in dem sie sich befand, wirkte so grenzenlos wie der Kosmos selbst, oder wie ein Sack über ihrem Kopf. Hier und da hörte sie Stimmen, die aus verschiedenen Entfernungen an ihr Ohr drangen. Sie klangen alle gedämpft, als wäre es ganz natürlich, im Dunkeln zu flüstern – wobei, nach der schwachen Anziehungskraft zu urteilen, weiter vorne entlang der Mittelachse anscheinend eine Art Mannschaftsspiel gespielt wurde, mit Pfiffen und akustischen Signalen und lautem Gelächter. Aus einer anderen Richtung drangen die Klänge einer Gitarre und einer Oboe, die ein barockes Duett spielten. Vorsichtig stieß sie sich in diese Richtung ab, weil sie besser hören wollte. Wenn sie die Entfernung halbierte, verdoppelte sich die Lautstärke. Auf dem Weg vernahm sie die gemeinsamen Atemzüge eines Paars, das Sex hatte, oder zumindest machte es den Eindruck. Es war ein Geräusch, das genauso eine Menschenmenge anlocken konnte wie Musik oder ein Spiel. Es hatte schon Übergriffe in Blacklinern gegeben; Menschen hatten Unaussprechliches getan, zumindest erzählte man sich das. Schwer vorstellbar, dass jemand sich einem anderen auf solch drastische Weise aufdrängen würde. Was konnte so dringend daran sein? Wozu sollte das gut sein?

Nach einer Weile war die anhaltende vollkommene Dunkelheit vor ihren Augen mit Farbflecken übersät und dann von Erinnerungen an Bilder, die in ihren Augen gespeichert zu sein schienen. Sie schloss die Lider, und mit einem Mal war alles voller bunter Farbstreifen; es erinnerte sie daran, wie sie vor Jahren einmal die enceladanische Fremdwesen-Suite eingenommen hatte, eine Verrücktheit, an die sie normalerweise nicht bewusst zurückdachte. Die Gläubigen, die um die brennenden Kerzen herumsaßen; Pauline, die erst seit Kurzem Teil ihres Körpers war und sie bat, es nicht zu tun; der kleine Kelch, randvoll mit Enceladusea irwinii und anderen mikroskopischen enceladanischen Lebensformen; der Gläubige, der ihr den Kelch reichte und sagte: »Verstehst du?«, und Swan, die bejahte, die größte Lüge ihres Lebens; der Geschmack des Gebräus, wie Blut; wie ihr Magen sich aufgebäumt hatte; wie das Kerzenlicht nach einem Moment der Schwärze wiedergekehrt war und immer heller wurde, bis man nicht mehr hineinschauen konnte; wie das Tosen von Wellen am Strand ihren Leib durchspült hatte, wie alles sich zum Bersten mit buntem Glitzern angefüllt und der Saturn plötzlich wie ein Konfekt aus Minze und Melone ausgesehen hatte. Ja, eine Phase der Synästhesie, in der all ihre Sinne hell aufflackerten; und irgendwann hatte sie die Erkenntnis getroffen, dass sie nie wieder dieselbe sein würde. War es klug gewesen, sich mit einer fremden Lebensform zu infizieren? Nein, das war es nicht! Sie schrie wie eine Vergiftete; gefangen in einem Kaleidoskop, mit einem Rauschen auf den Ohren, rief sie immer wieder: Aber ich war … ich war Swan … ich war … ich war Swan …

Sie gab sich alle Mühe, die lebhafte Erinnerung auszutreiben, hinfort in die Finsternis. Vor Anstrengung hatte sich ihr Körper zusammengekrampft, sodass sie sich in der Schwerelosigkeit um die eigene Achse drehte. Dabei gewann sie den Eindruck, dass die Gitarre und die Oboe, die sie gehört hatte, in Wirklichkeit ein gutes Stück voneinander entfernt waren. Handelte es sich überhaupt um ein Duett? Wie war das möglich, wenn die beiden Musikanten einen halben Kilometer voneinander entfernt waren? Durch die Entfernung konnte jeder den anderen nur zeitverzögert hören. Sie versuchte sich auf die Musik zu konzentrieren und herauszuhören, ob sie zusammenspielten oder nicht. In der absoluten Schwärze würde sie es niemals erfahren.

Missmutig begriff sie, dass es für ihren gesamten Aufenthalt hier so weitergehen würde. Es gab keine Gesichter, an denen sich der Blick festhalten konnte, nicht das Geringste zu sehen – ihre Erinnerungen und ihr Vorstellungsvermögen würden Amok laufen, ihre ausgehungerten Sinne würden um sich selbst kreisen und Fantasiegebilde ersinnen –, nichts außer ihrem eigenen Elend würde ihr Gesellschaft leisten. Reines Sein, unverfälschtes Denken, in dem sich zeigte, was die Welt der Erscheinungen verbergen, aber nicht verändern konnte: die Leere im Herzen der Dinge.

Als ihr Magen knurrte, aß sie etwas aus ihrem Gürtel. Sie erleichterte sich in einen Beutel in ihrem Anzug, den sie anschließend versiegelt Richtung Boden warf; Putzroboter würden ihn aufspüren und beseitigen. Immer wieder sah sie Alex’ Gesicht vor sich, und sie klammerte sich an diese kostbaren Erinnerungen, die sie niemals aufgeben durfte, obwohl der Anblick sie gleichzeitig vor Schmerz aufstöhnen ließ. Unfähig, sich zu beherrschen, blökte sie wie ein verletztes Tier.

»Möglicherweise erlebst du gerade eine hypothypotische Episode«, sagte Pauline laut. »Die visuelle Einbildung von Dingen, die du nicht wirklich vor Augen hast.«

»Halt die Klappe, Pauline.« Doch kurz darauf sagte sie: »Nein, tut mir leid. Red bitte weiter.«

»In manchen Rhetoriken ist eine Aporie ein vorgeblicher Zweifel, der einer erneuten Attacke vorausgeht, wie bei Gilbert über Joyce. Aber für Aristoteles ist sie ein unlösbares Problem, das sich bei einer Fragestellung aus gleich glaubhaften, aber nicht miteinander vereinbaren Prämissen ergibt. Er schreibt, dass Sokrates Menschen gerne in derartige Widersprüche verwickelt hat, um ihnen zu zeigen, dass sie das, was sie zu wissen meinen, eigentlich nicht wissen. In seinem Buch über Metaphysik schreibt er: ›Zum Behufe der gesuchten Wissenschaft ist es nötig, zunächst die Gegenstände in Betracht zu ziehen, welche zunächst Zweifel erwecken müssen.‹ Derrida hat den Begriff der Aporien später aufgegriffen, um damit so etwas wie die Leerstellen in unserem Begreifen zu bezeichnen, von denen wir nicht einmal wissen, und nahegelegt, dass wir versuchen sollten, sie zu erkennen. Das ist ein etwas anderer Gedanke, der aber Teil einer Bedeutungskonstellation ist. Das Oxford English Dictionary führt ein Zitat aus J. Smiths Mystical Rhetoric von 1657 an, laut dem sich Aporien auf die Frage beziehen, ›was man in Hinsicht auf etwas Seltsames oder Ambivalentes tun oder sagen soll‹.«

»Wie zum Beispiel jetzt gerade.«

»Ja. Es kommt noch mehr. Das griechische Wort leitet sich aus dem a für ›nicht‹ und aus poros für ›Durchgang‹ her. Aber im platonischen Mythos beschließt Penia, das Kind der Armut, sich von Poros, der Personifikation des Überflusses, schwängern zu lassen. Ihr Kind ist Eros, der die Eigenschaften seiner Eltern in sich vereint. Hierbei wird für verwunderlich erachtet, dass Penia als findig dargestellt wird, während der Wohlstand betrunken und passiv ist …«

»Das ist kein bisschen verwunderlich.«

»Obwohl also Penia nicht Poros ist, ist sie gleichfalls auch nicht a-poria. Man beschreibt sie als weder männlich noch weiblich, weder reich noch arm, weder als bemittelt noch als mittellos. Was den Begriff aporia noch unübersetzbarer macht.«

»Ich bin eine Aporie. Und ich bin in einer Aporie. Diesem Blackliner.«

»Genau.«

All das Reden und Nachdenken war schön und gut – »Danke, Pauline« –, aber letztlich musste sie immer noch eine ganze weitere Woche überstehen, und Alex’ Tod blieb ihr ständig gegenwärtig. Sie schwebte in einem Zwischenreich und versuchte, das zu denken, was ein ungeborenes Kind denken würde. Voller Zweifel, Kind einer Armut. Um als andere Swan wiedergeboren zu werden.

Doch später – in dieser zeitlosen Schwebe, in der sie ihren unablässig zum selben Punkt zurückkehrenden Gedankenschleifen folgte, kam es ihr sehr viel später vor –, später, als ein Signalton in ihrem Anzug ihr mitteilte, dass ihre Reise zu Ende war, begriff sie, dass sie das Raumschiff als dieselbe Swan verlassen würde, als die sie es betreten hatte. Es gab kein Entrinnen.

»Pauline, erzähl mir mehr. Rede mit mir. Bitte rede mit mir.«

Pauline sagte: »Max Brod hatte einmal eine hochinteressante Unterhaltung mit Franz Kafka, von der er später Walter Benjamin berichtete …«

Auszüge (3)

Homo sapiens hat sich bei irdischer Schwerkraft entwickelt, und die Frage, welche Auswirkungen es auf ein Individuum hat, wenn es Zeit in Umgebungen mit weniger als 1 g verbringt, ist noch ungeklärt

Abnehmen der Knochenstärke von 0,5 Prozent bis zu 5 Prozent pro Monat in 0–0,1 g

Menschen, die sich wiederholt Werten von über 3 g aussetzen, haben erwiesenermaßen häufiger Mikro-Schlaganfälle, und es kommt vermehrt zu ernsthaften Schlaganfällen

die biomedizinische Forschung hat ihren Standpunkt zu diesen Fragen im Laufe der Jahre mehr als einmal geändert

Aerobic und Krafttraining kompensieren die physiologischen Auswirkungen von Langzeitaufenthalten in Umgebungen mit moderat niedrigen Gravitationswerten (laut Definition zwischen Lunas 0,17 g und Mars’ 0,3 g), aber nach wie vor gibt es ungelöste Probleme

ein körperlich aktiver Lebensstil verringert deutlich

unterhalb der g-Werte von Luna tritt bei manchen Organen und Geweben ein Etiolement auf, unabhängig davon, wie viel Bewegung

statistisch hochsignifikante Ergebnisse der Versicherungsmathematik lassen vermuten, dass Langlebigkeit jenseits der historischen Richtwerte ohne eine regelmäßige Rückkehr nicht nur in eine 1-g-Umgebung, sondern zur Erde selbst, unmöglich ist. Die Ursachen dafür sind noch unklar, die Fakten jedoch unbestreitbar. Wir möchten zeigen

alle sechs Jahre ein Jahr auf der Erde zu verbringen, und zwischen den Besuchen niemals mehr als zehn Jahre verstreichen zu lassen, erhöht die Langlebigkeit enorm. Wer diese Besuche versäumt, geht ein hohes Risiko ein, viele Jahrzehnte vor

übermäßig sterile Umgebungen sind nicht in der Lage

es wird vermutet, dass das berühmt-berüchtigte »Sabbatjahr« eine Hormesis oder eine Mithridatisation darstellt, bei der ein kurzer Kontakt mit Giftstoffen den Organismus stärkt, damit er größeren

der Griff, in dem die Erde die raumbewohnenden Menschen nach wie vor hält, ist physiologischer Natur und wird sich nicht lockern, solange er nicht vollständig beschrieben und all seine Bestandteile effektiv behoben sind

Impfungen mit Enthelminten (Eingeweidewürmern), Bakterien, Viren usw., die man unmöglich alle aufzählen kann, und dennoch

möglicherweise auch psychologische Auswirkungen, was enorme Schwierigkeiten in der Feststellung von Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten

anderen Fünfhundert-Jahres-Projekten an intrinsischer Schwierigkeit nicht nachstehen

sind kumulative Auswirkungen, die zu Funktionsstörungen

die Steigerung der Lebenserwartung ist ein statistisches Faktum, aber keine Garantie für Einzelpersonen. Entscheidungen über den Lebensstil verschieben die Wahrscheinlichkeiten für

regenerative Therapien werden ständig verbessert

den größten Sprung in den Grafiken zur Langlebigkeit sieht man zu Beginn des Accelerando, und viele vertreten die Meinung, dass es sich dabei nicht um einen Zufall handelt. Wenn man mit einem Mal begreift, dass man vielleicht sehr viel länger leben wird, als man es je für möglich gehalten hat, verleiht einem das neuen Antrieb. Spätere Probleme verkomplizieren das Gesamtbild, doch die traten erst in den Vordergrund, als

die Statistiken sind aufschlussreich, aber die Ursachen bislang noch nichtlinearen

Leben ist ein komplexes

Geschlechtskrankheiten, plötzlicher traumatischer Tod, unauflösliche

Wenn man seine Aussichten auf eine der neuen, verlängerten und stetig steigenden Normen entsprechende Lebensspanne maximieren will, sollte man die Zeit, die man bei besonders hohen oder besonders niedrigen g-Werten verbringt, minimieren

keine wirkliche Vorstellung davon, was möglich werden könnte, wenn weitere Verbesserungen

könnten wir Tausende von

machen die Menschen Kompromisse und nehmen Abkürzungen. Sie wollen etwas zu tun haben, sie wollen sich ihre Wünsche erfüllen, ihrer Abenteuerlust frönen

zur Erde zurückkehren zu müssen, diesem verdreckten, alten, bedrückenden Fehlschlag von einem Planeten. So sehr, dass dieser traurige Planet

sie schworen, dass sie nach dem Zufallsprinzip leben würden, aber damals waren sie so jung

die meisten älteren Raumer kehren wie empfohlen alle sieben Jahre für ein Jahr auf die Erde zurück, weil eben sie diejenigen sind, die am längsten leben und weil dieser Effekt sich von selbst verstärkt

die Jagd nach einer umfassenderen Erklärung geht weiter

Swan und Zasha

Die Waggons der siebenunddreißig Weltraumaufzüge der Erde waren ständig gut gefüllt, sowohl hoch als auch hinunter. Es setzten natürlich nach wie vor zahlreiche Raumfahrzeuge auf oder hoben ab, und Gleiter landeten, die anschließend in den Aufzügen wieder hochfuhren. Doch alles in allem erledigten die Aufzüge den Löwenanteil des Verkehrs zwischen Erde und Weltraum. Abwärts transportierten die Waggons Nahrungsmittel (die einen beträchtlichen Anteil am Gesamtbedarf der Erde ausmachten), Metalle, Waren, Gase und Menschen. Aufwärts fuhren Menschen und Industriegüter, außerdem Materialien und Dinge, die auf der Erde häufig und im All selten waren – davon gab es viele, darunter Tiere, Pflanzen und Mineralien, aber vor allem massenhaft Seltene Erdelemente, Holz, Öl und Humus. Die Gesamtmenge stellte einen beträchtlichen Massestrom dar, der fast ausschließlich von der Wechselwirkung zwischen Gravitation und Erdrotation angetrieben wurde, mit ein bisschen Sonnenenergie, um Reibungsverluste auszugleichen.

Die Ankerfelsen an den oberen Enden der Aufzugskabel ähnelten gigantischen Raumschiffen, da von ihren ursprünglichen Asteroidenoberflächen nicht mehr viel zu sehen war: Sie waren von Gebäuden, Generatoren, Ladebuchten und derlei mehr übersät. Im Endeffekt handelte es sich um riesige Häfen und Hotels und damit um Orte reger Geschäftigkeit. Swan kam über den Aufzug namens Bolivar an und war in einem der Hotelabteile untergebracht, ehe sie es auch nur bemerkte: Für sie hatte es sich einfach nur um eine komplizierte Folge von Türen, Schleusen und Gängen gehandelt, durch die sie eine Reihe weiterer Innenräume erreichte. Sie hatte sich bereits mit der langen Fahrt nach Quito hinunter abgefunden. Es war eine Ironie ihres Zeitalters, dass die Reise entlang des Aufzugskabels nach unten länger dauern würde als viele interplanetare Reisen, aber so war es nun einmal. Fünf Tage würde sie in dem Hotel festsitzen. Sie verbrachte die Zeit damit, Konzerte von Glass’ Satyagraha und Akhnaten sowie einen zermürbenden Tanzkurs zu besuchen, der darauf ausgelegt war, die Leute für die 1 g-Umgebung zu trainieren und der ihr ganz schön zusetzte. Während sie durch den durchsichtigen Boden hinabschaute, machte sie sich langsam wieder mit dem großen Tropfen Südamerika vertraut, der unter ihnen Gestalt annahm: die blauen Ozeane, die ihn umgaben; die Anden, die wie ein braunes Rückgrat aussahen; die kleinen, braunen, schneefreien Kegel, bei denen es sich um große Vulkane handelte.

Der Planet war inzwischen praktisch frei von Eis. Nur die Antarktis und Grönland hatten sich noch nennenswerte Mengen davon bewahrt, und Grönland schwand schnell dahin. Deshalb lag der Meeresspiegel mittlerweile elf Meter höher als vor dem Wandel. Die Überflutung der Küstenbereiche war einer der Hauptfaktoren der irdischen Katastrophe der Menschheit. Auf anderen Planeten gab es enorm leistungsstarke Terraforming-Technologien, die hier jedoch größtenteils nicht anwendbar waren. Man konnte beispielsweise keine Kometen auf die Erde pfeffern. Also wurde das Kielwasser der Schiffe mit Tensiden aufgeschäumt, um den Albedo-Effekt zu verstärken. Früher hatte man auch Schwefeldioxid in die Stratosphäre gepumpt, um Vulkanausbrüche zu simulieren; aber das hatte bereits einmal zu einer Katastrophe geführt, und nun konnte man sich nicht mehr einigen, wie viel Sonnenlicht man aussperren sollte. Viele Vorschläge und viele der kleineren Projekte, die bereits im Gange waren im Widerspruch zu anderen potenziellen oder bereits laufenden Projekten. Außerdem gab es nach wie vor mächtige Nationalstaaten, die zugleich Firmenkonglomerate waren – beides überlappte einander in keynesianischer Unordnung. Die nach wie vor einflussreichen Reste des kapitalistischen Systems herrschten über weite Teile des Planeten und bewahrten wiederum ihre feudalistischen Altlasten in sich, im ewigen Kampf gegen die Lohnsklaven begriffen und damit auch gegen die horizontalisierte Ökonomie, die sich mit dem Mondragon entwickelt hatte. Die Erde war ein einziger Schlamassel, ein trauriger Ort. Und trotzdem war sie nach wie vor das Herzstück der Geschichte. Man musste sich mit ihr auseinandersetzen, hatte Alex immer gesagt, denn ohne sie war nichts, was man im All tat, wirklich von Bedeutung.

In Quito angekommen fuhr Swan mit der Bahn zum Flughafen und ging an Bord einer Maschine nach New York. Die Karibik leuchtete kobalt-, türkis- und jadefarben; selbst die braunen Umrisse der versunkenen Halbinsel Florida unter der Meeresoberfläche schimmerten jaspisfarben. Der atemberaubende Glanz der Erde.

Ein eher stahlfarbener Ozean brandete weiß gegen Long Island, als sie zu einem ruckelnden Landeanflug ansetzten. Dann setzten sie auf einer Landebahn irgendwo auf dem Festland nördlich von Manhattan auf, und endlich war Swan raus aus all den Reisebehältnissen, den Innenräumen und Transportmitteln und Fluren und Korridoren und unter freiem Himmel.

Einfach nur draußen in der freien Luft zu sein, unter dem Himmel, im Wind – das war es, was sie an der Erde am meisten liebte. Heute ballten sich in etwa dreihundert Metern Höhe dicke Wolken über ihrem Kopf. Anscheinend wogte soeben eine marine Wetterlage heran. Sie rannte auf eine Art gepflasterten Parkplatz voller Laster und Busse und Anhänger hinaus, sprang umher, schrie zum Himmel empor, sank auf die Knie und küsste den Boden, stieß Wolfsgeheul aus und legte sich schließlich, nachdem sie ein wenig hyperventiliert hatte, mit dem Rücken auf den Boden. Auf einen Handstand verzichtete sie – vor langer Zeit schon hatte sie gelernt, dass es auf der Erde wirklich schwer war, einen Handstand hinzubekommen. Außerdem tat ihr noch die Rippe weh.

Durch die Lücken in der Wolkendecke konnte sie das feine, aber dunkle Blau des Erdenhimmels sehen, leicht und kräftig zugleich. Er wirkte wie eine blaue, in der Mitte abgeflachte Kuppel, die ein paar Kilometer über den Wolken schwebte – sie streckte die Hand danach aus –, obwohl sie wusste, dass seine Pracht einzig und allein von einer Art Regenbogeneffekt herrührte. Ein Regenbogen, der überall blau war und alles einhüllte. Das Blau selbst war eine komplexe Farbe, von geringer Bandbreite, aber innerhalb dieser Bandbreite unendlich vielfältig. Es war ein berauschender Anblick, den man regelrecht aufsaugen konnte – man tat das unweigerlich, man atmete ihn ein. Der Wind trieb ihn einem in die Lungen! Atmen und sich berauschen, o ja, von allen Fesseln befreit, kaum bekleidet auf der nackten Oberfläche eines Planeten liegen und seine Atmosphäre trinken wie ein Lebenselixier, in der Brust spüren, wie sie einen am Leben hielt! Kein Terraner, der ihr jemals begegnet war, wusste die Luft wirklich zu schätzen oder sah seinen Himmel in seiner ganzen Pracht. Tatsächlich schauten sie nur selten zu ihm empor.

Sie sammelte sich und ging zum Hafen. Eine große, brummende Wasserfähre nahm sie und zahlreiche andere an Bord, und nachdem sie sich ihren Weg durch einen überfüllten Kanal gebahnt hatte, waren sie schließlich auf dem Hudson River und fuhren Richtung Manhattan. Die Fähre machte einen Zwischenhalt bei den Washington Heights, aber Swan blieb an Bord, während sie sich weiter Richtung Innenstadt durch den Hudson River pflügte. Einige Teile Manhattans befanden sich noch über Wasser, aber der Großteil war überflutet. Die ehemaligen Straßen waren zu Kanälen geworden, und die Stadt hatte sich in ein langgestrecktes Venedig verwandelt, ein Wolkenkratzer-Venedig, ein Riesenvenedig – also in etwas sehr Schönes. Tatsächlich war es mittlerweile ein abgeschmacktes Klischee zu betonen, dass die Stadt durch die Überflutung aufgewertet worden sei. Die lange Reihe von Wolkenkratzern sah aus wie die Wirbelsäule eines Drachen. Die perspektivische Verkürzung ließ die Gebäude beim Näherkommen kleiner erscheinen, als sie es wirklich waren, aber trotzdem war ihre schiere Vertikalität beeindruckend. Ein Wald von Dolmen!

Am Pier an der 30th Street ging Swan von Bord und über den breiten Laufsteg zwischen den Gebäuden zum ausgebauten High-Line-Park mit seinen sich weit nach Norden und Süden erstreckenden Plätzen voller Menschen. Manhattan zu Fuß: Arbeiter schoben ihre kleinen Handkarren durch das Gedränge auf den Hochwegen zwischen den inselartigen Wohnvierteln, die in verschiedenen Höhen zwischen den Wolkenkratzern hingen. Die Dächer waren begrünt, aber in erster Linie bestand die Stadt aus Stahl, Beton und Glas – und Meer. Boote kräuselten das Wasser unter den Laufstegen und in den Straßen, die nun viel befahrene Kanäle waren. All die höher gelegenen Plätze und Laufstege waren voll dicht gedrängter Menschen. Manhattan war so überfüllt wie eh und je, hieß es. Swan wich den Menschen in der Menge aus, schlängelte sich zwischen den beiden Laufrichtungen hin und her und erfreute sich an den zahllosen Gesichtern. Sie waren ebenso vielfältig wie eine beliebige Ansammlung von Raumern, nur ihre Größe entsprach weit mehr dem Durchschnitt – der übrigens eher klein war –, und es waren nur wenige Kleine und Große zu sehen. Asiatische Gesichter, afrikanische, europäische – alles außer amerikanischen Ureinwohnern, wie es ihr in Manhattan immer wieder auffiel. Wenn das mal keine biologische Invasion war!

Ein Gebäude, an dem sie vorbeikam, hatte das alte Erdgeschoss leergepumpt und verwendete es nun als eine Art große Badewanne voll Luft. Sie hatte gehört, dass der Markt für unterseeische und Gezeitenbereichs-Grundstücke boomte. Man redete sogar davon, das U-Bahn-Netz leerzupumpen, das dort, wo es überirdisch verlief, immer noch funktionierte. Das Glucksen des Wassers unter ihr bildete eine allgegenwärtige Geräuschkulisse. Menschliche Stimmen und die Geräusche des Wassers, die Schreie der Möwen am Hafen und das Rauschen des Windes zwischen den Gebäudeschluchten; so klang die Stadt. Das Wasser unter ihr war von zahlreichen einander überschneidenden Kielwasserbahnen aufgewühlt. Hinter ihr, die Straße entlang Richtung Westen, tanzten kleine Flocken von Sonnenlicht über den großen Fluss. Das liebte sie an der Erde – sie war draußen, wirklich im Freien. Sie stand auf der Oberfläche eines Planeten. In der tollsten Stadt, die es gab.

Sie sprang ein paar Stufen hinunter und stieg in ein Vaporetto, das die 8th Avenue entlangtuckerte. Die Fähre war lang und lag tief im Wasser. An Bord gab es Sitzplätze für etwa fünfzig Personen und Stehplätze für weitere hundert. Alle paar Häuserblocks hielt sie. Swan beugte sich über die Reling und schaute auf den Kanal hinab: ein Fluss am Grunde einer Schlucht, links und rechts Gebäude statt Felswände. Sehr futuristisch. Dort, wo die 26th Street von einer langen Promenade überspannt wurde, die sich bis hinüber zum East River erstreckte, stieg sie aus. Ein Großteil der von Osten nach Westen verlaufenden Straßen hatten derartige Hochplattformen, sodass die geschäftigen Kanäle darunter fast den ganzen Tag über im Schatten lagen. Wenn das Sonnenlicht durch die Spalten dazwischen fiel, verlieh es den Dingen einen bronzefarbenen Glanz, und das blaue Wasser wurde metallisch weiß. Den Einwohnern New Yorks schien dieser Effekt nicht aufzufallen, aber andererseits lebten hier trotz der Wasser zwanzig Millionen Menschen, und Swan vermutete, dass die Schönheit dieses Orts dabei keine völlig unwesentliche Rolle spielte, auch wenn die Leute anscheinend lieber nicht darüber redeten. Der Gedanke daran, wie abgebrüht die Leute hier sich wahrscheinlich vorkamen, brachte sie zum Lachen. Swan war nicht abgebrüht, und sie stammte auch nicht aus New York, dieser Ort war einfach erstaunlich, und sie wusste, dass dessen Bewohnern das sehr wohl auch bewusst war. Wenn das mal keine Landschaftskunst war! »Die Geografie der Welt, allein durch menschliche Logik und Optik vereint«, sang sie, »durch kunstvollen Lichteinfall und Farbwahl, durch gefällige Anordnung, durch die Vorstellung vom Guten, Wahren und Schönen!« Man hätte Lowenthals ganzes Oratio auf den Laufstegen Manhattans singen können, ohne dass sich jemand darum geschert hätte.

Sie ging so viel wie möglich in der Sonne. Das waren die unmittelbaren Strahlen Sols, die auf ihre nackte Haut knallten. Es war erstaunlich, dass man im Licht der Sonne stehen konnte, ohne dabei umzukommen. Dies war der einzige Ort im Sonnensystems, wo das möglich war. Die Biohülle um einen Stern herum war dünn wie eine Seifenblase. Diese Blase des Lebens dicker zu machen – vielleicht war das das menschliche Projekt. Dass sie die Blase bis um den Mars herum ausgedehnt hatten, war bereits bemerkenswert. Wenn es ihnen gelang, sie nach innen bis zur Venus zu strecken, wäre das sogar noch bemerkenswerter. Doch die Erde würde immer der perfekte Ort bleiben. Kein Wunder, dass diese alte Welt so viele Geheimnisse bereithielt, dass all die Wechselfälle des Lebens so atemberaubend wirkten. Metamorphosen passten zur Erde, und sie ereigneten sich unablässig. Die große Flut war ein Sturz gewesen, der sich als Glücksfall erwiesen hatte, sie hatte zur Entfaltung auf einer höheren Ebene geführt. Die Welt war gegossen worden. Blüten sprossen aus dem Blätterzweig. Sie war zurück.

Das Merkur-Haus war unten beim Museum of Modern Art. Viele der Gemälde aus dem Museum befanden sich nun auf dem Merkur, und man hatte nur Kopien zurückgelassen. In einer ungewöhnlichen Geste hatte man hier einen Ausstellungsraum der Kunst vom Merkur gewidmet. Natürlich war die Gruppe der Neun prominent vertreten. Für Swans Geschmack war es ein bisschen zu viel Sonne und Felsgestein. Und sie hatte den Einsatz von Leinwand als Medium seit jeher seltsam gefunden. Es war ein bisschen, wie wenn man sich Elfenbeinschnitzereien oder andere antike Exotika ansah. Wenn man die Welt und seinen Leib als Leinwand hatte, warum sollte man sich dann mit Tapetenstückchen zufriedengeben? Das war wirklich eigenartig, aber im Endergebnis deshalb vielleicht ebenso interessant. Alex und Mqaret hatten einmal einen Empfang für die Neun abgehalten, und Swan hatte viele von ihnen kennengelernt und sich gerne mit ihnen unterhalten.

Oben auf der Dachterrasse des Merkur-Hauses, etwa dreißig Stockwerke über dem Wasserspiegel, traf sie eine Gruppe von Merkurianern an der Bar an. Die meisten trugen Exoskelette oder Leibhalter, was Swan selbst dort, wo sie durch Kleidung verdeckt waren, an der Art erkannte, wie ihre Träger standen, lässig und leicht zur Seite geneigt, wie im Wasser. Diejenigen ohne solche Stützen standen mehr oder weniger tapfer stramm und trugen die Last der Erde mit angestrengten Mienen. Swan selbst ging es ähnlich. Man konnte machen, was man wollte, die Belastung von 1 g machte einem erst einmal zu schaffen.

Das New Yorker Büro wurde von einem uralten Terraner namens Milan geleitet, der für jeden ein herzallerliebstes Lächeln übrig hatte. »Swan, mein Schatz, wie lieb von dir, dass du vorbeikommst.«

»Ach, es ist mir ein Vergnügen, ich liebe New York.«

»Gesegnete Unwissenheit, mein Kind. Ich bin froh, dass es dir gefällt. Und ich bin froh, dass du hier bist. Komm, ich will dich ein paar von meinen Neuen vorstellen.«

Und so lernte Swan einige Angehörige des örtlichen Teams kennen, ließ ihre Beileidsbekundungen wegen Alex über sich ergehen und gab einen kurzen, ungenauen Bericht über ihre Reise zum Jupiter ab. Die Leute hatten eine Idee nach der anderen zum Thema Mondragon, die sie ihr alle mitteilten.

Als sie fertig waren, sagte Swan zu Milan: »Ist Zasha noch hier?«

»Zasha wird diese Stadt niemals verlassen«, antwortete Milan. »Das wirst du doch wissen. Hast du nicht gesehen, was Z zuletzt ausgebrütet hat? Es ist auf einem der Hudson-Piers.«

Also nahm Swan die Fähre zurück zur 8th Avenue und stieg dort eine Treppe zu einem Laufsteg empor, der nach Westen führte.

Da all die alten Anlegestellen elf Meter unter Wasser lagen, hatte man neue bauen müssen. Teilweise handelte es sich um alte Piers, die man geborgen und auf Stelzen gestellt hatte; andere waren neu und nutzten die alten teilweise als Fundament. Kleinere Schwimmdocks füllten die Lücken und waren an Piers oder nahen Gebäuden befestigt, auf Höhe des ehemaligen vierten Stockwerks. Einige dieser Docks waren mobil und bewegten sich wie Kähne umher. Es war ein trügerisches Ufer.

Auf manchen der überfluteten Anlegestellen waren mittlerweile Aquakulturen angelegt worden, und Zasha betrieb anscheinend eine Pharm auf einem dieser Piers, stellte dort aus Fischen gewonnene Medikamente und Biokeramiken her und erledigte nebenher das eine oder andere für das Merkur-Haus – und für Alex.

Swan hatte vorher angerufen, und Zasha nahm sie an dem Zaun in Empfang, der zwischen dem Schwimmdock und der Reihe öffentlicher Plätze westlich der Gansevoort Street am südlichen Ende der High Lane verlief. Nach einer kurzen Umarmung führte Z sie ans äußerste Ende des Docks, von wo aus sie mit einem kleinen, leise tuckernden Boot auf den Hudson River hinausfuhren.

Alles hier bewegte sich mit der Geschwindigkeit des fließenden Gewässers. Der Hudson River war an dieser Stelle breit; die ganze Stadt Terminator hätte in den Hafen von New York gepasst. Überall waren Brücken zu sehen, selbst weit entfernt am südlichen Horizont. Swan konnte kaum glauben, wie viel Wasser es hier gab; nicht einmal auf offener See schien es ihr so viel gewesen zu sein. Dabei handelte es sich nicht einmal um einen der ganz großen Flüsse des Planeten. Die Erde!

Mit zufriedener Miene betrachtete Zasha das Panorama. Fensterfronten oben an den höchsten Wolkenkratzern blitzten im Sonnenlicht auf, und die Gebäude schienen zu leuchten. Die Insel der Wolkenkratzer: Es war der klassische Manhattan-Look, unwahrscheinlich und erlesen.

»Wie läuft es bei dir?«, fragte Swan.

»Ich mag diesen Fluss«, sagte Zasha, als wäre damit ihre Frage beantwortet. »Ich fahre mit dem Motor bis an die Spitze der Insel oder sogar bis zu den Palisaden und lasse mich dann einfach treiben. Dabei werfe ich eine Angelschnur aus. Manchmal fischt man das verrückteste Zeug hier raus.«

»Und das Merkur-Haus?«

Zasha runzelte die Stirn. »Heutzutage gibt man den Raumern die Schuld an allem Möglichen. Die Leute hier unten sind feindselig. Je mehr wir helfen, desto feindseliger werden sie. Aber sie investieren trotzdem weiter in uns.«

»Wie immer«, sagte Swan.

»Tja, beständiges Wachstum. Aber nichts hält für die Ewigkeit. Selbst das Sonnensystem ist ebenso endlich wie die Erde.«

»Meinst du, es wird zu voll? Dass seine Kapazität ausgelastet ist?«

»Eher, dass wir uns dem Punkt nähern, an dem die Erträge nicht mehr weiter wachsen. Aber möglicherweise gibt das den Menschen das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Jedenfalls verhalten sie sich so.«

Zashas Boot trieb in der Ebbeströmung an der Battery vorbei, und der Ausblick auf die Küste von Brooklyn wurde weiter. Die Wolkenkratzer am Fuße Manhattans sahen aus wie eine Gruppe riesiger Schwimmer, die sich im knietiefen Wasser versammelt hatten, um gemeinsam in die kalte Tiefe hinauszulaufen. Zwischen den Gebäuden war das Wasser glasglatt, und die Kanäle waren voller kleiner Boote; auch in der Hafenbucht herrschte reger, wenn auch nicht ganz so dichter Betrieb. Ständig hatte man Hunderte von Wasserfahrzeugen im Blick. Sie konnten beide Flüsse entlangblicken, den Hudson und den East River, und zwischen ihnen verliefen die kleineren, geraderen Flüsse in den Straßenzügen. Über alldem breitete sich ein wolkenverhangener Himmel aus. Wie eine Vision Canalettos. Das glänzende Wasser der Bucht war weiß von den sich spiegelnden Wolken. Es war so schön, dass Swan sich wie in einem Traum fühlte, und in dem schwankenden Boot begann sie leicht zu taumeln.

»Setzt die Schwerkraft dir zu?«, fragte Zasha.

»Irgendwie schon.«

»Möchtest du bei mir zu Hause übernachten? Ich bekomme langsam Hunger.«

»Na klar. Danke.«

Zasha lenkte das Boot über den Fluss zu einem Wasserlauf auf der Jersey-Seite, der westwärts führte. Es war schwer zu sagen, ob es sich um einen Kanal oder einen natürlichen Zufluss handelte. Landeinwärts verbreiterte sich das Gewässer nach Norden, und Zasha bog in diese Richtung ab und legte an einem hölzernen Steg an, der in etwas hineinragte, das nun wie ein seichter See aussah. Ganze am Hang gelegene Stadtviertel verschwanden hier unter Wasser. Nordamerika hatte seit jeher eine Senkungsküste, jetzt mehr als je zuvor.

Sie machten einen Spaziergang im Licht eines wilden Sonnenuntergangs, der geschmacklos orange und rosa am Himmel vermischte. Bei solchen Gelegenheiten war es der östliche Himmel, an dem die eigentliche Show stattfand, subtiler, aber prachtvoller. Doch in diese Richtung schauten die Leute nie.

Zashas Zuhause war ein winziger Verschlag bei ein paar Bäumen, der so selbstgebastelt und heruntergekommen aussah wie die Hütten irgendeiner Favela.

»Was ist das hier?«

»Es gehört zu den Meadowlands.«

»Und du darfst dir hier einfach ein Zuhause hinbauen?«

»Schön wär’s! Genau genommen zahle ich eine horrende Miete, aber die Leute vom Merkur-Haus schießen mir etwas zu, damit ich hier draußen bleibe, weit weg von ihnen.«

»Schwer vorstellbar.«

»Wie dem auch sei, es ist in Ordnung so. Ich pendele gerne.«

Swan ließ sich dankbar in einen ramponierten Sessel nieder und schaute im Zwielicht Zasha beim Herumwerkeln zu. Es war schon lange her, dass sie verpartnert gewesen waren, sich zusammen im Sonnensystem herumgetrieben, Terrarien gebaut und Zephyr großgezogen hatten; sogar Zephyrs Tod war schon lange her. Und sie waren nie besonders gut miteinander ausgekommen. Kurz nachdem Zephyr gegangen war, hatten sie sich voneinander getrennt. Trotzdem war Swan die Art vertraut, auf die Zasha sich über den Herd beugte und darauf wartete, dass das Teewasser kochte, mit einem verstohlenen, wissenden Blick, den Swan ebenfalls wiedererkannte.

Sie sagte: »Und, hast du mit Alex zusammengearbeitet?«

»Aber ja«, antwortete Zasha und warf ihr einen kurzen Blick zu. »Sie war meine Chefin. Du weißt doch, wie so was läuft.«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine, dass sie einen geliebt und sich um einen gekümmert hat, und dafür hat man genau das getan, was sie von einem erwartete.«

Swan konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Tja, stimmt.« Sie dachte über Zashas Worte nach, ohne den Schmerz zu beachten. »Irgendwie hat sie sich an die Bedürfnisse anderer Menschen angepasst. Mit ihrer Hilfe hat man immer bekommen, was man brauchte.«

»M-hm. Ich weiß, was du meinst.«

»Aber jetzt ist sie tot, und sie hat mir eine Nachricht hinterlassen. Im Prinzip hat sie mich als Kurier nach Io eingesetzt, zu Wang, und bei Pauline hat sie auch etwas abgeladen. Alles für den Fall, dass ihr etwas passieren würde, meinte sie.«

»Was willst du damit sagen?«

Swan beschrieb, wie Alex’ Geist sie heimgesucht hatte – die Sache mit den Umschlägen –, und erzählte von ihrer Reise zum Jupiter und dem Eindringling auf Io.

»Davon habe ich gehört. Ich wusste nicht, dass du dort warst«, erwiderte Zasha und blickte stirnrunzelnd auf den Teekessel, das Gesicht in das blaue Licht der Herdflamme getaucht.

»Woran haben du und Alex gearbeitet?«, fragte Swan. »Und warum hat sie mir in diesen Nachrichten, die sie hinterlassen hat, nichts davon erzählt? Sie … es kommt mir vor, als wäre ich bloß der Botenjunge für sie, und Pauline eine Art Safe.«

Zasha antwortete nicht.

»Komm schon, erzähl es mir«, sagte Swan. »Du kannst es mir sagen. Wenn es von dir kommt, halte ich das schon aus. Ich bin es gewohnt, dass du mir erzählst, was für ein schlechter Mensch ich bin.«

Zasha atmete aus und goss zwei Tassen Tee ein. Dampf stieg im Halbdunkel auf und fing von irgendwo ein wenig Licht ein. Z reichte ihr eine Tasse und setzte sich ihr gegenüber auf einen Küchenstuhl. Swan wärmte sich die Hände an ihrer Tasse.

»Es gibt Sachen, über die ich nicht reden kann …«

»Ach komm schon!«

»… und Sachen, über die ich durchaus reden kann. Sie hat mich in eine Gruppe mit reingeholt, die auf der Jagd nach ein paar seltsamen Qubes war. Das war interessant. Aber es war auch etwas, das sie vertraulich behandeln wollte, ebenso wie einige andere Sachen, die sie am Laufen hatte. Möglicherweise war sie der Meinung, dass du nicht besonders verschwiegen bist.«

»Warum sollte sie so etwas denken?«

Doch selbst Zasha wusste zwei oder drei Beispiele für Situationen, in denen Swan sich indiskret verhalten hatte, und Swan selbst wusste noch einige mehr.

»Das waren Versehen«, fügte Swan schließlich hinzu. »Und nicht mal besonders schlimme.«

Zasha nippte vorsichtig an ihrem Tee. »Tja, aber vielleicht sah es ja so aus, als ob solche Versehen bei dir häufiger wurden. Du bist nicht mehr die, die du einmal warst, das musst du zugeben. Du hast dein Gehirn mit Erweiterungen vollgestopft …«

»Das habe ich nicht.«

»Na ja, mit vier oder fünf. Das hat mir von Anfang an nicht gefallen. Wenn man den religiösen Teil des Temporallappens vergrößert, kann einen das zu einem ganz anderen Menschen machen, ganz zu schweigen von dem Epilepsie-Risiko. Und das war nur der Anfang. Jetzt hast du dieses Tierzeug da drin, und du hast Pauline da drin, die alles aufnimmt, was du siehst – das ist keine Kleinigkeit. Es kann Schaden anrichten. Am Ende bist du irgend so ein posthumanes Etwas. Oder zumindest eine andere Person.«

»Ach komm, Z. Ich bin immer noch dieselbe wie eh und je. Und alles, was man tut, kann einem schaden. Das kann kein Hinderungsgrund sein. Alles, was ich mit mir gemacht habe, betrachte ich als Teil meiner Existenz als menschliches Wesen. Warum sollte man so etwas denn bitte nicht tun, wenn man die Möglichkeit dazu hat? Ich würde mich schämen, es nicht zu tun! Es geht nicht darum, posthuman zu sein, sondern darum, voll Mensch zu sein. Es wäre dumm, all die guten Dinge, zu denen man in der Lage ist, nicht zu tun, es wäre antimenschlich.«

»Tja«, sagte Zasha, »du hast all das getan und anschließend damit aufgehört, Terrarien zu entwickeln.«

»Ich war fertig damit! Wir hatten die Entwicklungsphase sowieso hinter uns. Es ging ihnen nur noch darum, mehr von den Dingern zu bauen. Und viel von dem, was wir gemacht haben, war ohnehin dumm. Wir hätten zu dem Zeitpunkt eigentlich überhaupt keine Ascensions machen sollen, sondern lieber die traditionellen Biome über die Auslöschung hinwegretten. Das müssen wir nach wie vor! Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was wir uns dabei gedacht haben.«

Das überraschte Zasha. »Ich mag die Ascensions. Sie unterstützen die genetische Dispersion.«

»Und zwar zu sehr. Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass ich etwas anderes ausprobieren wollte, und das habe ich auch getan.«

»Du bist Künstlerin geworden.«

»Ich war seit jeher Künstlerin. Ich habe nur das Medium gewechselt. Und eigentlich nicht mal das. Ich habe den Fokus verstärkt. Das war es, was ich wollte. Komm schon, Zasha. Ich lebe ein ganz normales menschliches Leben. Wenn du all diese Möglichkeiten zurückweist, macht dich das nicht menschlicher, sondern nur rückwärtsgewandter. Ich gehe nicht mal ansatzweise so weit wie manch andere Leute. Ich habe kein drittes Auge, und ich breche mir bei einem Orgasmus nicht die Rippen. Ich will bloß …«

»Bloß was?«

»Ich weiß nicht. Dinge ausprobieren, die gut klingen.«

»Und, wie läuft es so?«

Swan saß im Halbdunkel da, irgendwo in New Jersey. Draußen war die freie Luft der Erde. »Nicht so gut.« Sie machte eine lange Pause. »Genau genommen habe ich Schlimmeres getan als das, wovon du gehört hast, wenn du es wirklich wissen willst.«

Zasha starrte sie an. »Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Haha. Jetzt, wo ich es mir überlege, fällt mir ein, dass Alex auch darüber Bescheid wusste, weil ich nämlich Mqaret davon erzählt habe.«

»Das heißt noch lange nicht, dass er es ihr weitererzählt hat.«

»Ich habe ihn nicht darum gebeten, es zu unterlassen.«

»Tja«, sagte Zasha. »Also wusste sie vielleicht davon. Etwas Schlimmeres als Tiergehirne? Etwas Schlimmeres als ein Qube in deinem Schädel? Vergiss es, ich will es gar nicht wissen. Aber vielleicht hat Alex es gewusst, und vielleicht gab es Sachen, die sie …«

»Die sie mir nicht anvertraut hätte.«

»Die sie für sich behalten musste. Und jetzt bist du hier und ziemlich übel zugerichtet.«

»Ich bin nicht übel zugerichtet!« Allerdings schmerzte ihre angeknackste Rippe, weil sie sich vor Empörung verkrampfte. Außerdem erfüllte sie Trauer um Alex – und ein kleines bisschen wütend auf sie war Swan nun auch.

»Nach dem, was du erzählst, klingt das aber so«, bemerkte Z. »Im Laufe der Jahre hast du fünf- oder sechs- oder siebenmal an deinem Kopf herumgedoktert, du hast einen Qube im Kopf – genau genommen hast du alles, was zum entsprechenden Zeitpunkt gerade in Mode war.«

»Ja, ja.«

»Denk doch mal darüber nach!«

Swan stellte ihre Teetasse auf den Tisch. »Ich glaube, ich mache mal einen Spaziergang.«

»Gut. Verlauf dich nicht. Ich koche uns was, während du unterwegs bist, in sagen wir fünfundvierzig Minuten gibt’s Essen.«

Swan verließ die Hütte.

Draußen vor der Tür zog sie ihre Slipper aus, stopfte sie sich in die Tasche, grub die Zehen ins Erdreich und wackelte mit ihnen. Wie eine Tänzerin beugte sie sich aus der Hüfte vor und grub auch ihre Finger in die Erde, hob dann die Hände ans Gesicht und atmete ein. Schmutz, das ultimative Ambrosia. Schmeckte nach matschigen Pilzen.

Es war bereits nach Sonnenuntergang. Neben einem grüngelben Sumpf verlief eine Asphaltstraße. Der Wind peitschte das Schilf. Sie ging am Straßenrand über den Erdboden und ließ den Blick an Sumpf und Himmel entlangschweifen. Auf der anderen Straßenseite kauerten ein paar alte Gebäude unter einer Baumgruppe. Weiter hinten sah man Reihen von alten Wohnblocks. Froschquaken. Sie saß am Rande des Sumpfes und sah die schwarzen Punkte weiter unten, halb über und halb unter Wasser. Ein Chor von quakenden Fröschen. Eine Weile hörte sie zu und betrachtete den Sumpf im Wind, und dann hörte sie mit einem Mal, dass die Frösche einander antworteten. Wenn ein Frosch »Ribit« machte, wiederholten die anderen das Geräusch eine Weile überall entlang der Straße, so weit sie es hören konnte, bis in einer kurzen Pause einer »Robot« machte, worauf alle diesen Laut wiederholten. Dann wurde »Limit« daraus, und wieder legte der Rest los, als spräche eine Art griechischer Chor in Gestalt von Fröschen zu ihr. So viele Limits! So viele Roboter. Der Klops, der am nächsten bei ihr saß, trug nur gelegentlich etwas bei, plusterte kurz seinen Kehlsack auf und quakte. Ansonsten verharrte er vollkommen reglos, bewegte nur die Augen, die sie im Dämmerlicht sehen konnte, ein gleitendes Blinzeln, immer wachsam. »Romper!«, quakte er in einer Pause, und Swan rief: »Schön für dich!«, und quakte das Wort eine Weile mit.

Der Oktober auf der Nordhalbkugel der Erde, prall und glänzend. All die Schnittstellen zwischen ihrem Körper und dem Planeten brummten. Mit einem Mal kam ihr das Leben im All wie das nackte Grauen vor, ein Exil im Vakuum, wo jeder unter Reizentzug in seiner Zelle saß, für sich, virtuell, angepasst. Hier war die Wirklichkeit wirklich.

»Röbber!«

»Röbber röbber röbber röbber …«

Die Magie des Augenblicks, die man ihnen geraubt hatte. Hier war sie, zog durchs All. Ein Fetzen Gegenwart. Dämmerung in einem Sumpf in einem flüchtigen Universum, so fremdartig, so geheimnisvoll. Warum existierte etwas Derartiges überhaupt? Der Wind war kühl, die Wolken hatten noch ein wenig Zwielicht bewahrt. Es sah nach Regen aus. Die Blätter der dornigen Ranken am Boden waren rot wie Ahorn. Der Sumpf war wie ein Mensch, der dort draußen lag und atmete. Krähen flogen krächzend über sie hinweg, in Richtung Stadt mit ihren Hitzeinseln. Swan kannte ein paar Worte in der Krähensprache. »Kräh, kräh, kräh«, sagten sie gerade zueinander, reines Geplapper, bis dann irgendwann eine ein Wort rief, das so klar verständlich war, dass es in die englische Sprache Einzug gehalten hatte – »Hork!«, Hawk, und dann stoben sie in alle Richtungen davon. Natürlich stammte das Worte Krähe ebenfalls aus der Krähensprache. In Sanskrit hatte es kaaga geheißen. Importierte Worte aus fremden Sprachen.

Bei den Häusern in der Nähe der Baumgruppe standen ein paar Leute. Irgendwie wirkten sie klein. Niedergedrückt. War das möglich, so dicht bei dieser großartigen Stadt? Gehörte es vielleicht sogar zur Stadt dazu, zu den Dingen, die sie am Laufen hielten, nicht nur die Feuchtgebiete, sondern auch die Legionen Armer und Marginalisierter, die in den halb überschwemmten Ruinen lebten? Das Gewicht des Planeten begann, sie runterzuziehen. Die Leute dort drüben waren wie Gestalten von Bruegel, Menschen aus dem 16. Jahrhundert, von der Zeit gebeugt. Vielleicht standen diese Menschen für das wirkliche Leben, und was Swan draußen im All betrieb, waren bloß die Spielereien einer Gaga-Aristokratin. Vielleicht wäre es am besten für sie, hier zu leben und Dinge zu bauen, Häuser vielleicht, klein, aber funktional, eine andere Art von Goldsworthy. Unter freiem Himmel, im unverfälschten Licht der Sonne – der totale Luxus des Realen. Die einzige wirkliche Welt. Die Erde, Himmel und Hölle zugleich – der Himmel der Natur, die Hölle des Menschen. Wie hatten sie nur etwas Derartiges tun können, warum hatten sie sich nicht mehr angestrengt?

Aber vielleicht hatten sie das. Vielleicht war ihr Aufbruch ins All ein Teil von ihren Bemühungen gewesen, eine Art verzweifelte Hoffnung. Wie eine Samenkapsel hatte man sie von der Erde fortgeschleudert, dorthin, wo sie mit Sicherheit erfrieren und verrotten und wieder zu Humus werden würden. Ein Klumpen Erde am Straßenrand. Sie lag im Dreck, achtete darauf, die dornigen Ranken nicht zu berühren; wand sich, als wollte sie sich eingraben. Eine Raumerin, die den Dreck fickte – das sahen die Leute hier wahrscheinlich dauernd, sodass es keinen Eindruck mehr auf sie machte. Diese armen Verirrten, dachten sie sich wahrscheinlich. So etwas gab es im All nämlich nicht, nicht wirklich. Nicht mit dem Wind und mit einem weiten Himmel, an dem es schon beinahe Nacht geworden war, und mit einer Feuchtigkeit in der Luft, die sich noch nicht ganz zu Wolken verdichtet hatte – wie sie das nur hatten zurücklassen können! Der Weltraum war ein Vakuum, ein Nichts. Sie konnten ihn nur bewohnen, indem sie ihn mit kleinen Schutzräumen übersäten, kleinen Blasen; die Stadt und die Sterne, ja doch, aber das genügte eben nicht! Man brauchte eine Welt dazwischen! Das war es, was die Stadtmenschen nicht bedacht hatten. Und tatsächlich vergaß man das im Weltraum auch besser, sonst drehte man durch. Hier konnte man sich daran erinnern und nicht gleich verrückt werden – nicht direkt zumindest.

Aber es war so jämmerlich. Schmuddelig, geschmacklos, niedergedrückt. Geradezu verstörend, sodass es einem einen Stich der Verzweiflung versetzte. Dass sie es so weit hatten kommen lassen. Dass sie all das wirklich mit sich gemacht hatte. Selbst Zasha war der Meinung, dass sie zu weit gegangen war, und Z war ein sehr toleranter Mensch. Vielleicht hätte ihre Beziehung sogar gehalten, wenn Swan nicht fortgegangen wäre. Und jetzt war sie nicht länger der Mensch, mit dem Zasha zusammen ein Kind großgezogen hatte, das spürte sie, obwohl sie nicht genau wusste, was sich verändert hatte. Es sei denn, es war dieses enceladanische Zeug in ihrem Körper … jedenfalls war sie eine seltsame Person. Eine Person, die am einzigen Ort, der sie wahrhaft glücklich machte, gleichzeitig in tiefste Trauer verfiel. Wie sollte sie das miteinander vereinen, was hatte es zu bedeuten?

Sie setzte sich auf. Saß dort auf dem Erdboden, spürte die Unebenheiten unter sich.

Aus dem Augenwinkel sah sie eine Bewegung. Sie versuchte aufzuspringen, vertat sich mit dem g-Wert und rasselte sofort wieder zu Boden. Swan spähte ins Zwielicht:

Ein Gesicht. Zwei Gesichter: Mutter und Tochter. Hier war das so klar erkennbar, dass es wie Parthenogenese aussah. In genau diesem Moment erschien der Mond über der schimmernden Stadt.

Die Jüngere näherte sich Swan. Sie sagte etwas in einer Sprache, die Swan nicht kannte.

»Was gibt es?«, fragte Swan. »Sprechen Sie kein Englisch?«

Die Frau schüttelte den Kopf und sagte noch etwas. Sie blickte sich um und rief leise etwas nach hinten. Zwei weitere Gestalten erschienen neben ihr, größer als sie und breiter. Zwei junge Männer. Sie beugten sich vor und sprachen murmelnd mit der Tochter.

»Haben Sie Antibiotika?«, sagte einer der beiden. »Mein Vetter ist krank.«

»Nein«, sagte Swan, »so was habe ich nicht dabei.« Obwohl in ihrem Gürtel vielleicht etwas war, sie war sich nicht mal sicher.

Sie kamen einen Schritt näher. »Wer sind Sie?«, fragte einer. »Was sind Sie?«

»Ich besuche Freunde«, erwiderte Swan. »Ich kann sie rufen.«

Die jungen Männer kamen kopfschüttelnd näher. »Sie sind eine Raumerin«, sagte der erste Sprecher, und der andere fügte hinzu: »Was machen Sie hier?«

»Ich muss los«, sagte Swan und wollte zur Straße gehen – doch die beiden packten sie bei den Armen. Sie packten so fest zu, dass Swan nicht einmal versuchte, sich loszureißen. »He!«, sagte sie laut.

Der, der zuerst gesprochen hatte, rief etwas in die Dunkelheit hinter den beiden Frauen: »Kiran! Kiran!«

Kurz darauf trat eine weitere Gestalt aus der Nacht hervor – noch ein junger Mann, der bislang größte, doch dieser war schlank. Der Griff der beiden, die Swan festhielten, fühlte sich an, als hätten sie so etwas schon einmal gemacht.

Der neue junge Mann erschrak, als er Swan sah, und sagte barsch etwas zu den beiden anderen, in einer Sprache, die sie nicht kannte. Zwischen ihnen fand eine kurze, hitzige Diskussion statt; dieser Kiran war nicht besonders erfreut.

Schließlich blickte er zu Swan. »Sie wollen dich behalten und Geld für dich fordern. Gib mir eine Sekunde.«

Ein weiterer hitziger Wortwechsel in der fremden Sprache. Anscheinend machte Kiran die anderen nervös. Sie wirkten in die Ecke gedrängt. Dann trat er an Swan heran, nahm sie beim Oberarm, drückte einmal fest zu, als wollte er ihr dadurch etwas mitteilen, und bedachte die beiden anderen mit einer knappen Kopfbewegung. Er gab ihnen Anweisungen. Die anderen beiden nickten schließlich, und derjenige, der als Erster mit ihr gesprochen hatte, sagte: »Sind bald zurück.« Dann verschwanden die beiden in der Nacht.

Swan schaute Kiran in die Augen, worauf er das Gesicht verzog und ihren Arm losließ. »Das sind meine Vettern«, sagte er. »Es war keine gute Idee von ihnen.«

»Eine dumme Idee«, erwiderte Swan. »Sie hätten mich einfach um Hilfe bitten können. Was hast du ihnen gesagt?«

»Dass ich dich festhalten würde, während sie das Auto ihrer Mutter holen. Du solltest besser von hier verschwinden.«

»Bring mich zurück«, sagte Swan. »Ich möchte dich dabeihaben, für den Fall, dass sie zurückkommen.«

Er riss verblüfft die Augen auf und musterte sie genauer. Nach einer Weile sagte er: »Na schön.«

Schnellen Schritts folgten sie der Straße. »Wirst du dafür in Schwierigkeiten geraten?«, fragte Swan einmal.

»Ja«, antwortete er düster.

»Was werden sie tun?«

»Sie werden versuchen, mich zu verprügeln. Und es den Alten erzählen.«

Ihre Arme brannten immer noch, wo man sie gepackt hatte, und ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Sie betrachtete den missmutigen jungen Mann, der neben ihr herging. Er sah gut aus. Und er hatte sie ohne einen Moment des Zögerns aus einer üblen Klemme befreit. Sie erinnerte sich an den barschen Ton seiner Stimme, als er mit seinen Vettern gesprochen hatte. »Willst du fort von hier?«

»Wie meinst du das?«

»Willst du in den Weltraum?«

Nach einer Pause sagte er: »Könntest du das bewerkstelligen?«

»Ja«, sagte sie.

Sie blieben vor Zashas Zuhause stehen, und Swan musterte ihn von oben bis unten. Sein Aussehen gefiel ihr. Er schaute sie mit neugieriger, fragender – mit eifriger Miene an. Ein Schauer überlief sie.

»Hier wohnt jemand, mit dem ich befreundet bin, jemand aus dem diplomatischen Dienst für den Merkur. Tja … wenn du willst, komm mit rein. Wir können dich nach dort oben bringen, wenn du möchtest.« Sie blickte kurz zum Himmel auf.

Er zögerte. »Du machst mir keine … keine Schwierigkeiten?«

»Natürlich mache ich dir Schwierigkeiten. Der Weltraum ist voller Schwierigkeiten.«

Sie ging auf Zashas Hütte zu, und einen Augenblick später folgte er ihr. Sie öffnete die Tür. »Zasha?«, sagte sie.

»Eine Sekunde«, rief Zasha aus der Küche.

Der Junge starrte sie an. Offensichtlich fragte er sich, ob man ihr trauen konnte.

Swan sagte: »Sie haben dich Kiran genannt?«

»Ja, Kiran.«

»Welche Sprache habt ihr gesprochen?«

»Telugu. Südindisch.«

»Was macht ihr hier?«

»Wir wohnen jetzt hier.«

Also war er bereits im Exil. Und auf der Erde gab es alle möglichen Bedingungen, damit man als Immigrant irgendwo leben durfte: Möglicherweise erfüllte er die nicht.

Zasha erschien mit einem Handtuch in der Hand in der Küchentür. »Oho. Wer ist das?«

»Das ist Kiran. Seine Freunde wollten mich entführen, und er hat mir zur Flucht verholfen. Im Gegenzug habe ich ihm versprochen, ihn von der Erde fortzubringen.«

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Oh doch. Also … da wären wir. Und ich muss mein Versprechen halten.«

Zasha musterte Swan skeptisch. »Was soll das, hast du so schnell ein Stockholm-Syndrom entwickelt?« Z schaute zu dem Jungen, der den Blick fest auf Swan gerichtet hielt. »Oder haben wir es mit einem Lima-Syndrom zu tun?«

»Was soll das sein?«, fragte Kiran, ohne den Blick von Swan abzuwenden.

Zasha verzog das Gesicht. »Stockholm-Syndrom heißt es, wenn Geiseln Mitgefühl für ihre Entführer entwickeln und sich für sie einsetzen. Lima-Syndrom ist, wenn die Entführer ihre Opfer zu mögen beginnen und sie gehen lassen.«

»Gibt es keine dritte Möglichkeit?«, fragte Swan unwirsch. »Vielleicht ist er einfach nur froh, heil aus der Sache rauszukommen? Komm schon, Z. Ich habe dir doch gesagt, dass er mich gerettet hat. Was für ein Syndrom soll das sein? Ich möchte ihm einen Gefallen vergelten, und dafür brauche ich deine Hilfe. Hör auf, die Situation an dich zu reißen, das machst du dauernd.«

Zasha wandte sich mit verärgerter Miene ab. Dann, nach einem Moment des Überlegens und mit einem Achselzucken: »Wir können ihn von der Erde wegbringen, falls du das wirklich willst. Ich müsste das über einen Freund arrangieren, der mir bei solchen Sachen hilft. Er arbeitet im Trinidad-Tobago-Aufzug. Der ist als Hawala organisiert. Wir haben so eine Art Transportvereinbarung, allerdings bin ich ihm was schuldig, wenn wir das machen. Was bedeutet, dass du mir was schuldig bist.«

»Ich bin dir sowieso immer was schuldig. Wie kommen wir nach Trinidad?«

»Mit einer Diplomatentasche.«

»Einer was?«

»Einem Privatflugzeug. Und eine Wurmkiste müssen wir uns auch besorgen.«

»Eine was?«

»Wir haben ein System. Wir geben die Ladung immer als eine Kiste Humus oder eine Kiste Würmer aus, die gemäß unserer stillschweigenden Übereinkunft nicht inspiziert wird.«

»Würmer?«, fragte Kiran.

»Ganz genau«, antwortete Zasha mit einem grimmigen kleinen Lächeln. »Ich bringe dich von diesem Planeten weg, wegen Miss Stockholm hier, aber in Anbetracht der Umstände können wir das nicht offiziell machen. Deshalb müssen wir auf unser System zurückgreifen. Es kann also sein, dass du in einer großen Kiste voller Würmer reisen musst, alles klar? Kommst du damit zurecht?«

»Kein Problem«, sagte Kiran.

Auszüge (4)

Am Ende des Zeitraums der Planetenbildung, vor etwa 4,5 Milliarden Jahren, gab es mehr Planeten als heute. Sie wirbelten allesamt durch die Sonne, kamen sich manchmal sehr nahe, ihre Flugbahn wurde durch die gegenseitige Anziehungskraft und die Bahnresonanzen verändert, und bisweilen prallten sie sogar aufeinander. Dieses Treiben dauerte etwa eine Milliarde Jahre, bis die letzte Phase der Planetenbildung durchlaufen und der heutige Zustand erreicht war. Während dieser Phase erlitt jeder der inneren Planeten mindestens einen großen Aufprall.

Ein Planet namens Theia wuchs am L5-Punkt der Erde, bis er etwa die Größe des Mars hatte, auf die Erde zutrieb und mit ihr zusammenstieß. Er schlug in einem Winkel von 45 Grad ein, mit einer Geschwindigkeit von etwas unter vier Sekundenkilometern – in astronomischen Begriffen ist das nicht besonders schnell. Theias Eisenkern ist in der Erde versunken und mit ihrem Kern verschmolzen, und Theias Mantel und ein Teil des Mantels der Erde wurden in eine Umlaufbahn geschleudert. Das durch den Aufschlag verursachte Drehmoment ließ die Erde in einem Fünfstunden-Tag um die eigene Achse wirbeln. Aus dem in die Umlaufbahn geschleuderten Material bildeten sich recht schnell zwei Monde: Die Schätzungen reichen von einem Monat bis zu einem Jahrhundert. Schließlich klatschte der kleinere Mond in den größeren und hinterließ dabei das zerklüftete Gebirge auf der erdabgewandten Seite des dabei entstandenen Gesamtmonds, Luna.

Etwa zur selben Zeit traf ein kleiner Planet mit einem Durchmesser von etwa dreitausend Kilometern den Mars und erschuf so das Borealis-Becken, bei dem es sich praktisch um die Nordhalbkugel des Mars handelt, die nach wie vor sechs Kilometer tiefer liegt als die Südhalbkugel.

Venus wurde von einem Planeten von der Größe des Mars getroffen, wodurch ein Mond namens Neith entstand, der dem Erdmond ähnelte. Zehn Millionen Jahre später versetzte ein weiterer Aufschlag die Venus in ihre langsame, gegenläufige Drehung. Diese Änderung des Drehmoments ließ Neith langsamer werden und schließlich in die Venus stürzen und mit ihr verschmelzen.

Merkur wurde von einem Protoplaneten getroffen, der halb so groß war wie er selbst. Durch die Geschwindigkeit und den Winkel des Aufpralls wurde die Außenhülle des Merkurs abgerissen und in seiner Umlaufbahn verteilt. Normalerweise hätte der Merkur diese Einzelteile wieder eingesammelt, aber im Laufe der vier Millionen Jahre, die dieser Vorgang gedauert hätte, wurde ein Großteil des Materials durch Sonnenstrahlung weggedrückt und schaffte es so nie zurück auf den Planeten. Etwa sechzehn Billiarden Tonnen Material von Merkurs Oberfläche landeten schließlich auf der Erde, und mehr auf der Venus. Letztlich blieben nur die schwersten 70 Prozent vom Merkur übrig, im Prinzip sein Kern. Deshalb hat der Planet den gleichen g-Wert wie der Mars, obwohl sein Durchmesser geringer ist als der des Titan.

Etwas später gerieten der junge Jupiter und Saturn in eine Eins-zu-zwei-Bahnresonanz, wobei der Jupiter für jedes Saturnjahr durch zwei seiner eigenen Jahre wirbelte. Das erzeugte eine starke gemeinsame Gravitationswelle, die mit unterschiedlicher Kraft durchs Sonnensystem brandete, je nachdem, wo die beiden Giganten sich im Verhältnis zueinander aufhielten. An ihrem stärksten Punkt erfasste sie den Neptun, der sich ein wenig abseits des Saturn gebildet hatte, und schleuderte ihn von der Sonne fort. Neptun flog am Uranus vorbei und zog ihn dabei mit sich. Erst dadurch landeten die beiden kleineren Gasriesen in den Umlaufbahnen, die sie heute einnehmen.

In Jupiters Umlaufbahn fing dieselbe Jupiter-Saturn-Bahnresonanz derweil Asteroiden ein und pfefferte sie wie Flipperkugeln überall durchs Sonnensystem. Diesen Zeitraum bezeichnet man als Großes Bombardement vor 3,9 Milliarden Jahren. All die inneren Planeten und Monde wurden von Aufschlägen durchgeschüttelt, was so weit ging, dass ihre Oberflächen oft nur noch Meere geschmolzenen Gesteins waren.

Das Zeitalter der schweren Einschläge! Das Große Bombardement! Niemand kann behaupten, dass der Riesen-Ringelpiez einem absolut festen und regelmäßigen Bewegungsablauf folgt – manchmal ähnelt er eher einer Autoscooter-Bahn. Die Gravitation, die geheimnisvolle Kraft, die unbeirrbar ihren eigenen Gesetzen folgt, tritt mit der Materie in Wechselwirkung, und irgendwie kommt es dabei zu komplexen Bewegungsabläufen. Unsichtbare Wellen, die Felsbrocken dahin und dorthin schleudern.

Was wäre, wenn es in der menschlichen Geschichte ebenfalls solche unsichtbaren Wellen gäbe? Denn letztlich wirken hier die gleichen Kräfte. Welcher große Einschlag hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind? Wird eine neue Bahnresonanz eine Welle erzeugen, die uns in eine andere Richtung schleudert? Beginnt gerade unsere eigene Ära des Großen Bombardements?

Kiran und Swan

Von dem Augenblick an, in dem Kiran die Frau im Griff seiner Vettern sah, war alles anders. Sie war alt, hochgewachsen, gut aussehend. Sie bewegte sich, als würde sie schwimmen. Er wusste sofort, dass sie eine Raumerin war und dass es eine schrecklich schlechte Idee sein würde, sie zu entführen. Danach ging alles ein bisschen zu schnell, um über die eigenen Handlungen nachzudenken. So war es bei ihm, wenn er in Schwierigkeiten geriet: Er beobachtete sich von schräg hinten bei dem, was er tat. Die Leute behaupteten, er wäre cool, aber eigentlich war er langsam im Denken. Und trotzdem schien es immer wieder gut für ihn zu laufen.

Ihr Haar war schwarz; sie sah chinesisch oder mongolisch aus. Ihre Augen waren braun, aber ein Auge hatte unten einen kleinen blauen Fleck; und eigentlich waren es ihre Augen gewesen, die ihn in ihren Bann geschlagen hatten. Ein Zufall – die Mädchen zu Hause hatten nämlich genau solche Augen, bei denen das Weiße aus einem dunklen Gesicht leuchtete, und das sprach ihn an. Als er sie beim Arm genommen hatte, hatte sie ihm mit nur einem Blick ihren sehnlichen Wunsch nach Freiheit signalisiert – es war ein leidenschaftlicher Blick gewesen, als wüsste sie, was Gefangenschaft bedeutete, und hätte Angst davor. Mit Schrecken hatte er ihr ins Gesicht geblickt, das so ausdrucksstark war, dass es ihn vollkommen in Beschlag nahm.

Diese Person namens Zasha hatte es als das Lima-Syndrom bezeichnet – Kiran war es egal. Dann war er eben ein inkompetenter Peruaner.

Aber ein Peruaner unterwegs in den Weltraum. Das bedeutete, dass er seine Verwandten verlassen musste – aber er würde ihnen Geld schicken können. Sie waren es ohnehin leid, ihn durchzufüttern. Jetzt konnte er all das sehen, wovon er schon immer geträumt hatte. Seit er ein kleiner Junge gewesen war, hatte er sich eigentlich vor allem fortgewünscht – egal wohin, aber eben am liebsten in den Weltraum. Mars, die Asteroiden – irgendwo weit hinaus. Alle kannten die Geschichten.

Die Frau fuhr sie nach Newark raus. Während er in den kleinen Sitz hinter den beiden gezwängt saß, wurde ihm langsam klar, dass das hier wirklich geschah – dass zumindest irgendetwas geschah. Seine bescheuerten Vettern konnten ihn nicht mehr finden und verprügeln. Ein neues Leben: Er begann leicht zu zittern, als wäre er die entführte Geisel. In gewisser Weise stimmte das beinahe. Der Anblick der Raumerin hatte ihn gefangen genommen, und jetzt saß er eingezwängt hinten auf dem Rücksitz eines Autos.

Sie kamen an einen Flughafen, der nicht nach Newark aussah, fuhren weiter zu einem Hangar und wurden eine Freitreppe hinauf in ein kleines Flugzeug eskortiert. Er war noch nie in einem derartigen Transportmittel gewesen und beeindruckt von der Geschwindigkeit, die es beim Abheben erreichte. Man wies ihm einen Platz am Fenster zu, sodass er Manhattan unter sich sehen konnte, wie ein großes Schiff aus Licht. Dann flogen sie in die Nacht davon.

Schließlich lehnte er den Kopf ans Fenster und schlief ein. Später erwachte er mit steifem Nacken und sah, wie ihnen das Meer entgegenkam. Das Flugzeug landete auf einer grünen Insel mit rötlichem Erdboden.

Hinaus in einen herb duftenden Abend. Die feuchte Luft roch wie Jersey Mitte August und erinnerte ihn zugleich an das Zuhause seiner Kindheit in Hyderabad. Reisfelder. Die Szenerie und die Gerüche ließen Kindheitserinnerungen aufblitzen, und einmal mehr stand Kiran ein wenig neben sich. Er nahm kaum wahr, wie sie ein Gebäude betraten. Merkur-Haus stand auf einem Schild.

Drinnen brachte man ihn in einen großen Raum, wo riesige weiße Plastikröhren wie die, die man in Industrieküchen verwendete, eingeschweißt und auf eine Palette verfrachtet wurden. »Alles klar, junger Mann«, sagte Zasha, offenkundig noch genervt davon, dass er sich von Swan zu dieser Sache hatte breitschlagen lassen. »Rein mit dir. Zieh erst den Raumanzug hier an und dann den Helm auf. Anschließend bedecken wir dich mit Erde und Würmern, und dann geht’s nach oben.« Zu Swan sagte Zasha: »Mein Freund wird die Kisten mit meinem Zeichen drauf nicht untersuchen. Er hat die nächste Schicht.«

»Wozu die Würmer?«

»Die beweisen, dass ich diese Einrichtung nicht leichtfertig benutze. Ich schicke nur ein oder zwei Leute im Jahr hoch. Und natürlich tue ich ihm dafür auch den einen oder anderen Gefallen.«

»Was ist mit den Inspektionen durch KIs?«

»Was soll mit denen sein? Wir erledigen eine Menge Arbeit abseits des KI-Systems.« Zasha grinste sie verwegen an. »Das hier ist ein Hawala-Aufzug, das ganze Ding ist darauf ausgelegt, sich an gewissen Kontrollen vorbeizumogeln.«

Kurz darauf war Kiran in einen knittrigen Einteiler geschlüpft, hatte einen Helm auf und atmete kühle, nach Kupfer schmeckende Luft. Die beiden anderen halfen ihm in die Kiste und legten ihn hinein wie in einen Sarg. Dann kippte man ihm eine Masse aus wimmelnden Würmern und schwarzer Erde über Rumpf und Gesicht. Er würde den Planeten unter einer Schicht von Würmern verlassen. »Danke!«, rief er den beiden noch zu.

Es war eine lange Reise. Kiran lag da und dachte nach. Er spürte, wie die Würmer überall auf ihm herumkrochen. Helm und Anzug schienen damit zurechtzukommen, wenn er durchdrehte und hyperventilierte. Notgedrungen beruhigte er sich jedes Mal früher oder später wieder. Es gab Wasser- und Nahrungsschläuche, die aus dem Kragen des Anzugs kamen, sodass er an ihnen saugen konnte, und obwohl es sich bei der Nahrung um eine Paste handelte, war sie sehr sättigend. Ihm war weder kalt noch heiß. Das Gefühl von Bewegung um ihn herum war verstörend, manchmal sogar grauenerregend. So musste es sich anfühlen, wenn man tot und begraben war. Dann fraßen einen die Würmer. Oder vielleicht war es mehr wie die Reinigungsrituale bei gewissen Festen – zum Beispiel wie die Durga-Puja, in der man mit Asche oder Dung bedeckt wurde, bis es Zeit für die Waschung war. Er mochte diesen Feiertag. Hier war er also. Da er essen und trinken und anschließend auch scheißen und pinkeln musste, und das alles in diesem Anzug, war er den Würmern im Moment eigentlich ziemlich ähnlich. Wir sind bloß arme Luftröhrenwürmer auf dieser Erde, hatte sein Großvater immer gesagt. Die Vögel picken uns auf.

Im Laufe der Zeit wurde er völlig schwerelos. Er hatte gehört, dass der Weg nach oben fünf Tage dauerte. Es kam ihm länger vor. Er begann sich zu langweilen. Als er einen Ruck nach oben verspürte und dann Licht durch die Erde flutete und der Deckel verschwand, grub er sich so behutsam wie möglich frei. Er fand, dass die Würmer in seiner Kiste es als seine Reisegefährten nicht verdient hatten, zu Schaden zu kommen. »Vorsichtig!«, befahl er den Leuten, die ihm aus der Kiste halfen, und Swan lachte ihn aus.

Sie führte ihn in ein kleines Badezimmer. Nachdem er seinen Anzug abgelegt hatte, duschte er. Unter dem heißen Wasser dachte er: Ah ja, das ist die Waschung. Als Nächstes würde die wahre Reinigung kommen. Wie würde die aussehen? War diese Frau, die sich seiner bemächtigt hatte, eine Manifestation von Durga, der Mutter Ganeshs – die sich manchmal auch als Kali manifestierte?

»Du siehst gut aus«, sagte Swan, als er aus dem Badezimmer kam. »Es war nicht zu traumatisch?«

Kiran schüttelte den Kopf. »Ich hatte Zeit zum Nachdenken. Wo geht es jetzt hin?«

Erneut lachte sie. »Dieses Schiff fliegt zur Venus«, erklärte sie ihm. »Ich bin auf dem Weg zum Merkur, also setze ich dich ab.«

Kiran sagte: »Ist die Venus nicht chinesisch?«

»Ja und nein«, antwortete Swan.

Kiran bohrte nach: »Ich werde also Chinese?«

»Nein. Es gibt dort alle möglichen Arten von Menschen. Meine Freunde werden dir eine Identität verschaffen. Danach kann alles passieren. Aber Venus ist ein guter Einstieg.«

Sie reisten an Bord eines Terrariums namens Delta der Venus, einem landwirtschaftlichen Asteroiden, in dem ausschließlich Nahrung für die Erde angebaut wurde – größtenteils verbesserte Reissorten, aber auch andere Getreide, die es gerne warm und feucht hatten. Die Gravitation im Innern fühlte sich wie die der Erde an: Kiran konnte nichts von dem berüchtigten seitlichen Druck der Corioliskraft spüren.

Sie verbrachten ihre Tage draußen auf dem emporgekrümmten Feld und schufteten inmitten von Wasserbüffeln, Traktoren, Kanalbooten und zahlreichen anderen Arbeitern, von denen die meisten Passagiere waren. Nach einer Stunde machte die Arbeit einem im Rücken zu schaffen, und da die Passagiere – von denen einige nur wenig größer als die Reistriebe waren, während es sich bei anderen um wahre Riesen handelte, was zu Beginn ein verwirrender Anblick gewesen war – die Reihen entlangwateten, unterhielten sie sich oft miteinander, um sich die Zeit zu vertreiben. Selbstverständlich klagten viele und wünschten sich weit weg. »Ich bin total erledigt von den Feiern.« »Ich habe sie schon alle durch.« »Der einzige Ort, an dem es wirklich aufs Terraforming ankäme, ist die Erde, und dort ist man wahnsinnig schlecht darin.« »Letztlich macht man nur mit Präsenz Geschäfte.« »Wir hätten die Grindewald nehmen und Bergsteigen gehen können. Der Mönch, der Eiger, die Jungfrau, die haben jede verdammte Spalte nachgebaut.« »Ich würde lieber mit einem Aquarium reisen und mich im Wasser tummeln. Eine Woche mit einer Seejungfrau.«

Strandwelten waren wunderbar, da waren sich alle einig. Jetzt, wo es die Strände der Erde nicht mehr gab, waren die in Aquarien sehr beliebt.

Andere sprachen sich für Wolkenwaldwelten aus: In denen konnte man einen Baumhimmel besuchen und ein früheres Stadium des Primatendaseins erleben. »Wie beglückend es ist, ein Affe zu sein!«

Jemand sagte: »Oder ein Bonobo. Ich wünschte, dass ich einen Sexliner genommen hätte.«

Diese Worte ließen einen kleinen Damm der Zurückhaltung brechen, und sofort wandte sich das Gespräch dem Sex in derartigen Sexlinern zu, die oft Urlaubsorten in der Karibik nachempfunden waren. Dionysische Tänze, endlose Tantra-Orgien, Kundalini Panmixia, alle hatten etwas zu erzählen. Einer sagte wehmütig: »Ich hätte die ganze Reise in einer Anfasskiste verbringen können, und hier stehe ich nun mit meiner Hacke in der Hand.«

»Anfasskiste?« Kiran musste einfach fragen.

»Man steigt in eine Kiste mit etwa handgroßen Löchern darin, und dann stecken Leute die Hände in die Löcher und machen, wozu sie Lust haben.«

»Es überrascht mich, dass die Leute so etwas wollen.«

»Die Leute stehen jedenfalls immer ziemlich Schlange, sowohl für die Plätze drinnen als auch für die draußen.«

»Daran hätte ich bei den Würmern denken sollen«, sagte Kiran zu Swan. »Dann wäre ich den ganzen Weg den Aufzug hoch glücklich gewesen.«

»Ich bin lieber hier als in einem von diesen Dingern«, rief ein anderer. »Landwirtschaft ist sexy! All die Besamung!«

Mehrere Leute stöhnten. Der Witz kam nicht gut an.

Jemand anders sagte: »Das letzte Mal, dass ich auf einem Sexliner war, ist so eine Gruppe Bisexueller zum Pool rausgerannt, etwa zwanzig Leute, alle mit den größten Titten und Schwänzen, die man sich vorstellen kann, und alle mit Erektionen, und sie haben sich einer hinter dem anderen im Kreis aufgestellt und ihn in ihren Vordermann reingesteckt, und rund ging’s. Es sah aus wie Insekten, die sich an einem Sommertag zusammenklumpen und ficken, bis sie umfallen.«

Daran schloss sich ein langes Schweigen an, bis schließlich jemand schwermütig sagte: »Ich wünschte, das hätte ich auch gesehen«, was einige zu Gelächter veranlasste, während andere laut ihren Unmut über die Bilder bekundeten, die sie jetzt nicht mehr aus ihrem Kopf bekamen. »Ich sage ja nur«, erwiderte der Augenzeuge beharrlich. »So etwas kommt vor. Das ist ein ganz gewöhnlicher Sport.«

Kiran hatte den Eindruck, dass die Arbeit auf den Feldern nach dem Gerede über die Sexliner leichter von der Hand ging. Und wenn die Leute ihr Tagewerk verrichtet hatten und in den Schlafsaal zurückkehrten, dann schien es so, als ob Landwirtschaft zu guter Letzt doch etwas Sexappeal bekommen hätte. In den Augen der Leute sah Kiran einen wohlvertrauten Ausdruck.

Auszüge (5)

Man nehme die Venus im Rohzustand. Eine CO2-Atmosphäre mit 95 bar, eine Oberflächentemperatur, in der Blei schmilzt und die sogar heißer ist als auf der Sonnenseite des Merkur. Ein Höllenloch. Andererseits hat sie 0,9 g und ist nur ein wenig kleiner als die Erde. Zwei Kontinente erheben sich aus ihrer Oberfläche, Ishtar und Aphrodite. Der Schwesterplanet der Erde. Hier gibt es echtes Potenzial für eine großartige Neuschöpfung.

Man nehme einen Eismond des Saturn – Dione eignet sich wunderbar. Dann zerlegt man ihn mit selbst replizierenden Von-Neumann-Abbaumaschinen zu Brocken mit einer Kantenlänge von etwa zehn Kilometern. Diese Brocken versieht man mit elektromagnetischen Katapulten und schickt sie zur Venus.

Währenddessen baut man einen runden Sonnenschild aus Luna-Aluminium, einem sehr dünnen Material von nur 50 Gramm pro Quadratmeter, aber mit 3 x 013 Kilogramm trotzdem das massereichste Objekt, das jemals von Menschen geschaffen wurde. Konzentrische Streifen verleihen dem Sonnenschild Flexibilität und gestatten es ihm, sich so in den Sonnenwind zu legen, dass er seine Position am L1-Punkt hält, sodass die Venus vollständig in seinem Schatten liegt. Ohne Sonneneinstrahlung kühlt der Planet mit einer Rate von fünf Grad Kelvin im Jahr ab.

Nach 140 Jahren ist die CO2-Atmosphäre auf die Oberfläche abgeregnet und -geschneit und zu einer Trockeneisschicht erstarrt. Alles Trockeneis, das auf Ishtar und Aphrodite gelandet ist, kratzt man ab und schiebt es in die Tiefebenen runter, wobei man darauf achtet, die Oberfläche glatt zu belassen. Während man die Kontinente frei räumt, setzt man eine weitere Van-Neumann-Suite aus selbst replizierenden chemischen Fabriken frei, die dazu dienen, Sauerstoff aus dem gefrorenen CO2 zu gewinnen. Das erzeugt eine 150-Millibar-Sauerstoffatmosphäre, was etwa genauso lange dauert, wie das gesamte CO2 zum Gefrieren gebraucht hat. Da eine reine Sauerstoffatmosphäre zu leicht entzündlich ist, fügt man ein Puffergas hinzu, vorzugsweise Stickstoff, um eine stabilere Mischung zu erhalten. Den überschüssigen Stickstoff vom Titan wollen vielleicht schon zu viele, deshalb sollte man sich rechtzeitig darauf einstellen, Ersatz zu suchen. Auf dem Mond abgebautes Argon dürfte es im Notfall auch tun.

Sobald man den gewünschten Sauerstoff hat und das Trockeneis flach auf den Tiefebenen ausgebreitet ist, bedeckt man Letzteres mit aufgeschäumtem Gestein, sodass das CO2 vollständig in der Lithosphäre eingeschlossen ist.

Jetzt schnappt man sich die Dione-Brocken, die man bislang aufgehoben hat, und schlägt sie in der Sauerstoff-Pufferstoff-Atmosphäre aneinander, und zwar genau in der richtigen Höhe, um Dampf und Regen zu erzeugen. Das führt dem Planeten, dessen Temperatur mittlerweile für menschliches Leben zu weit gesunken ist, wieder etwas Wärme zu. Eventuell kann man auch ein wenig Licht durch den Sonnenschild lassen, wenn man zusätzliche Hitze braucht. Nach nur zwei Jahren regnet und schneit der Großteil des beim Zusammenprall der Brocken entstandenen Wassers auf die Oberfläche ab, man muss sich also darauf einstellen, schnell zu arbeiten.

Das Oberflächenwasser wird nach dieser Dione-Beregnung etwa zehn Prozent der irdischen Wassermassen entsprechen. Es handelt sich um Süßwasser; nach Geschmack Salz hinzufügen. Das Wasser wird die Venus zu 80 Prozent bedecken, und zwar bei einer Durchschnittstiefe von 120 Metern sehr viel seichter als auf der Erde. Wenn man lieber tiefere Meere und gleichzeitig möglichst viel Land möchte, sollte man darüber nachdenken, mithilfe einiger der aufschlagenden Dione-Brocken einen Meeresgraben zu reißen. Dabei sollte man allerdings bedenken, dass das die CO2-Abschottung erschwert, man den Vorgang also entsprechend anpassen muss. Wenn man jedoch sorgfältig vorgeht, könnte die Venus letztlich mit etwa doppelt so viel Festland dastehen wie die Erde.

An diesem Punkt (140 Jahre zur Abkühlung und Vorbereitung, fünfzig Jahre schaben und köcheln, also Geduld!) könnte man meinen, dass der Planet bereit für biologische Bewohner ist. Aber man darf nicht vergessen, dass durch die Kombination des Venusjahrs mit seinen 224 Tagen und die tägliche Rotationsdauer von 243 Tagen eine völlig verrückte Kurve entsteht (gegenläufige Drehung, die Sonne geht im Westen auf), an jedem beliebigen Ort auf dem Planeten dauert ein Sonnentag 116,75 Tage. Wie man inzwischen weiß, können die meisten irdischen Lebensformen, modifiziert oder nicht, einen derart langen Tag nicht überleben. An diesem Punkt hat man zwei Möglichkeiten. Die erste besteht darin, den Sonnenschild so zu programmieren, dass er das Sonnenlicht abwechselnd zur Oberfläche durchdringen lässt und blockiert. Er müsste sich wie eine kreisförmige Jalousie öffnen und schließen, um einen erdähnlichen Tag-Nacht-Rhythmus zu erzeugen. Das würde es der neuen Biosphäre leicht machen, aber es würde auch voraussetzen, dass der Sonnenschild immer einwandfrei funktioniert.

Die zweite Möglichkeit bestünde in einem weiteren Bombardement, wobei die Aufschlagkörper den Planeten diesmal in einem Winkel treffen, der ihn in eine Rotation versetzt, die in etwa zu einem Fünfzig-Stunden-Tag führt, was nach allgemeiner Auffassung innerhalb der Toleranzgrenze für die meisten irdischen Lebensformen liegt. Das Problem bei dieser Möglichkeit besteht darin, dass sie die Besiedelung der Planetenoberfläche verzögern würde, da ein Großteil des im Gestein eingeschlossenen Trockeneises freigesetzt werden würde. Man müsste weitere zweihundert Jahre warten, bevor man eine Biosphäre etablieren kann, was die für das Terraforming benötigte Zeit etwa verdoppeln würde. Andererseits wäre man dann in Zukunft nicht mehr von einem Sonnenschild abhängig. Und eine vernünftig zusammengesetzte und gepflegte Venus-Atmosphäre könnte die volle Sonneneinstrahlung ohne Treibhauseffekte oder anderweitige Umweltprobleme verkraften.

Welche der beiden Möglichkeiten man wählt, hängt ganz von den eigenen Vorlieben ab. Man sollte sich überlegen, was man am Ende haben will, oder, wenn man nicht daran glaubt, dass jemals etwas zu Ende geht, welcher Vorgang einem besser gefällt.

Kiran und Shukra

Ein paar Tage später näherten sie sich der Venus. Kiran war erfreut, dass auch Swan die Fähre hinunter zum Planeten bestieg. Sie wollte auf der Venus einen Freund treffen; sie würde ihn mit Kiran bekannt machen und sich dann davonmachen.

Auf der Venus gab es keine Weltraumaufzüge, weil sie aufgrund der langsamen Rotation des Planeten nicht funktioniert hätten. Also fuhr ihre Fähre Flügel aus, und als sie durch die Atmosphäre hinabsausten, loderte es weißgelb vor den Fenstern auf. Sie setzten auf einer riesigen Landebahn neben einer Kuppelstadt auf, stiegen in ein U-Bahn-Abteil und verließen es nach einer kurzen Fahrt innerhalb der Stadt. Dort stellten sie fest, dass anscheinend die gesamte Einwohnerschaft auf den Straßen unterwegs war. Kiran folgte Swan durch die Menschenmassen, und in einer Seitenstraße stiegen sie einige Stufen zu einem kleinen Merkur-Haus empor, das sich über einem Fischgeschäft befand. Sie warfen ihre Taschen ab und gingen sofort wieder raus, um sich unters Volk zu mischen.

Die meisten der Gesichter sahen asiatisch aus. Die Leute riefen durcheinander, und weil niemand bei dem Lärm besonders gut hören konnte, riefen sie umso lauter. Swan warf Kiran einen Blick zu und grinste, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Es ist nicht immer so!«, rief sie.

»Schade!«, rief Kiran zurück.

Anscheinend würden in Kürze zwei große Eisasteroiden in den oberen Schichten der neuen Venus-Atmosphäre aufeinandertreffen, etwa über dem Äquator. Diese Stadt, Colette, befand sich dreihundert Kilometer nördlich des Zusammenpralls und würde deshalb in Kürze hinter einer Wand aus herabstürzendem Regen verschwinden. Der Regen würde ein paar Jahre anhalten, erklärte Swan. Anschließend würde man ein bisschen Licht durch den Sonnenschild lassen und normaleres Wetter machen.

Doch erst kam der große Regen. Um sie herum standen die Massen und erwarteten ihn singend und jubelnd und rufend. Genau um Mitternacht leuchtete der Himmel im Süden weiß auf, schillerte dann gelb und schließlich in allen nur denkbaren Rottönen. Die Stadt sah für einen kurzen Moment so aus, als würde man sie im Infrarotspektrum sehen. Der Jubel war ohrenbetäubend. Irgendwo spielte ein Blasorchester – Kiran konnte die Musiker auf über den Platz verteilten Schwebeplattformen ausmachen. Hunderte von Trompeten, Hörner in allen Ausführungen und Tonlagen, Posaunen, Tuben, Euphonien, einfach alles vom kleinen Kornett bis hin zum riesigen Alphorn, erzeugten gemeinsam dissonante Akkorde, erfüllten die Luft mit Getröte und deuteten immer wieder Melodien an, ohne sie jemals auszuspielen. Kiran wusste nicht, ob man das als Musik bezeichnen konnte. Ihr Spiel klang völlig planlos, aber es brachte die Leute zum Jauchzen und Schreien, zum Springen und Tanzen. Sie erschufen sich soeben einen eigenen Himmel.

Keine Stunde später verdeckte ein heftiger Sturzregen die Sterne und hämmerte auf die Kuppel ein, als wollte er sie wegspülen. Ebenso gut hätten sie sich am Fuße eines Wasserfalls befinden können. Die Lichter der Stadt wurden von der Kuppel reflektiert und kehrten, irgendwie flüssig geworden, zu ihnen zurück, sodass die Schatten den Menschen über die Gesichter rannen.

Irgendwann drückte Swan Kirans Oberarm, auf die gleiche Art, wie er ihren gedrückt hatte, an jenem Abend, als sie sich kennengelernt hatten. Er spürte den Druck und wusste, was sie meinte: Sein Blut erwärmte sich ober- und unterhalb der Stelle, an der sie ihn hielt. »Ist schon gut, alles klar!«, rief er ihr zu. »Danke!«

Mit einem kleinen Lächeln ließ sie ihn los. Sie standen in dem flüssigen Licht. Die Kuppel über ihnen war von einem gedämpften, milchigen Weiß. Das Stimmengetöse klang wie Wellen an einem Kiesstrand. »Du kommst zurecht?«, fragte sie.

»Bestens!«

»Dann bist du mir jetzt also was schuldig.«

»Ja. Aber ich wüsste nicht, was ich dir dafür geben sollte.«

»Ich lasse mir was einfallen«, erwiderte sie. »Fürs Erste stelle ich dich Shukra vor. Ich habe vor langer Zeit mal für ihn gearbeitet, und inzwischen ist er hier in ziemlich gehobene Kreise vorgedrungen. Wenn du also für ihn arbeitest und dein Bestes gibst, und wenn er dich mag, dann hast du eine Chance. Ich gebe dir einen Übersetzer, das wird dir helfen.«

Zurück im Merkur-Haus von Colette frühstückten sie, und dann ging Swan mit Kiran ans andere Ende der Stadt, um ihn ihrem Freund Shukra vorzustellen. Wie sich zeigte, war Shukra ein Mann in den mittleren Jahren, mit einem runden, fröhlichen Gesicht und einem dichten weißen Haarschopf.

»Die Sache mit Alex tut mir leid«, sagte er zu Swan. »Ich habe gern mit ihr zusammengearbeitet.«

»Ja«, sagte Swan, »anscheinend haben das alle.«

Sie stellte Kiran vor: »Ich habe diesen jungen Mann bei einem Spaziergang in Jersey getroffen, und er hat mir aus der Patsche geholfen. Er sucht eine Arbeit, und ich dachte, du könntest ihn vielleicht gebrauchen.«

Shukra hörte mit unbewegter Miene zu, aber an der Art, wie er die Brauen zusammenzog, sah Kiran, dass er interessiert war. »Was kannst du denn?«, fragte er Kiran.

»Bauarbeiten, verkaufen, putzen, Buchhaltung«, sagte Kiran. »Und ich kann schnell lernen.«

»Das wirst du müssen«, sagte Shukra. »Ich habe einige Sachen, die erledigt werden müssen, also suchen wir dir was raus.«

»Ach ja«, bemerkte Swan. »Er braucht Papiere.«

»Ah«, sagte Shukra. Swan erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Kiran erkannte, dass sie ihm dafür etwas schuldig sein würde. »Wenn du das sagst«, antwortete er schließlich. »Du bist mein schwarzer Schwan. Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Danke«, sagte Swan.

Anschließend musste sie raus zum Raumhafen, um ihren Flug zu erwischen. Sie nahm Kiran beiseite und umarmte ihn kurz. »Wir sehen uns wieder.«

»Das hoffe ich!«, sagte Kiran.

»Ganz sicher. Ich komme viel rum.« Sie lächelte knapp. »Wie dem auch sei, uns bleibt immer New Jersey.«

»Lima«, erwiderte er. »Uns bleibt immer Lima.«

Sie lachte. »Ich dachte, es wäre Stockholm gewesen.« Sie küsste ihn auf die Wange, und weg war sie.

Auszüge (6)

Das Wirtschaftsmodell der Raumsiedlungen hat sich zum Teil aus ihren Ursprüngen als Forschungsstationen entwickelt. In den frühen Siedlungen war das Leben keiner Marktökonomie unterworfen; Unterkünfte und Nahrung wurden einem im Weltraum zugeteilt, ähnlich etwa wie auf den Wissenschaftsstationen in der Antarktis. Lediglich für einige nicht lebenswichtige Güter entstand ein freier Markt, der von Einzelpersonen beherrscht wurde. Der Kapitalismus wurde hier praktisch zu einer Randerscheinung, und alles Lebensnotwendige war Gemeingut

Handelsgüter wurden zwischen der Erde und einzelnen Raumkolonien auf der Grundlage nationaler Zugehörigkeiten oder Bündnisse ausgetauscht, somit ähnelte der Warenverkehr einem Kolonialsystem, womit es sich also um eine Art Kolonialmodell handelte, wobei die Kolonien Metalle und gasförmige Materialien erzeugten, Wissen, das nützlich für die Verwaltung der Erde war, und später Nahrung

sobald die Weltraumaufzüge an Ort und Stelle waren (der erste im Jahre 2076 in Quito), nahm der Handel zwischen Erde und Weltraum um einen Faktor von 100 Millionen zu. Ab diesem Punkt stand das Sonnensystem der Menschheit offen. Es war zu groß für eine schnelle Besiedelung, doch aufgrund der zunehmenden Reisegeschwindigkeit im All war das gesamte Sonnensystem gegen Ende des 22. Jahrhunderts in bequemer Reichweite. Es ist kein Zufall, dass die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts den Beginn des Accelerando erlebte …

die Weltraumdiaspora fand zu einer Zeit statt, als der Spätkapitalismus von internen Kämpfen erschüttert wurde, bei denen es um die Entscheidung ging, entweder die irdische Biosphäre zu zerstören oder die bestehenden Regeln zu ändern. Viele sprachen sich für die Zerstörung der Biosphäre aus, da es sich um das geringere zweier Übel zu handeln schien

eine der einflussreichsten Formen des ökonomischen Wandels hatte ihre weit zurückliegenden Wurzeln in Mondragon, einer kleinen baskischen Stadt, die ein System genossenschaftlich organisierter Kooperativen betrieb, die einander gegenseitig unterstützten. Ein wachsendes Netzwerk von Raumsiedlungen nahm sich Mondragon zum Vorbild, um über ihre Wurzeln als Forschungsstationen hinauszuwachsen und ein umfassenderes Wirtschaftssystem zu entwickeln. Die einzelnen Siedlungen arbeiteten wie in einem weit über das Sonnensystem verstreuten Mondragon zusammen und unterstützten sich gegenseitig, um

Supercomputer und künstliche Intelligenzen ermöglichten die vollständige Koordination einer nicht-marktwirtschaftlichen Ökonomie, indem sie den Mondragon berechenbar machten. Jedes Jahr wurde der Bedarf mit demografischer Präzision ermittelt und die Produktion darauf abgestimmt. Alle ökonomischen Transaktionen – von Energieerzeugung und Rohstoffgewinnung über Herstellung und Verbreitung bis hin zu Verbrauch und Abfallverwertung – wurden von einem einzigen Computerprogramm berechnet. Nachdem man erst einmal die grundsätzlichen Fragen in verbissenen politischen Auseinandersetzungen geklärt hatte, ließ sich die Wirtschaftsleistung des gesamten Sonnensystems innerhalb von weniger als einer Sekunde durch einen Quantencomputer berechnen. Das daraus hervorgegangene Qube-programmierte Mondragon, das manchmal auch als Albert-Hahnel-Modell oder Spuffor’sches kybernetisches Sowjet-Modell bezeichnet wird, könnte

hätten alle in einem programmierten Mondragon gearbeitet, wäre es allen gut gegangen; aber es handelte sich um nur eines von mehreren auf der Erde konkurrierenden Wirtschaftssystemen, die sich allesamt unzweifelhaft unter der Knute des Spätkapitalismus befanden, der noch immer mehr als die Hälfte des Kapitals und der Produktion der Erde kontrollierte und mit jeder einzelnen Transaktion hartnäckig seinen Besitzanspruch geltend machte und mehr Kapital akkumulierte. Diese Machtkonzentration blieb bestehen, obwohl sie zwischenzeitlich ins Fließen kam und dann an anderer Stelle wieder aushärtete, vor allem auf dem Mars, wie die Gini-Zahlen dieses Zeitraums deutlich erkennen lassen

in Residualemergenz-Modellen ist jedes beliebige Wirtschaftssystem und jeder historische Augenblick eine instabile Mischung von alten und zukünftigen Systemen. Der Kapitalismus war damit die Kombination oder das Schlachtfeld seines Residualelements Feudalismus und seines emergenten Elements – welches wäre?

mit dem Erfolg der marsianischen Revolution und der Entstehung seines den gesamten Planeten umfassenden sozialdemokratischen Systems waren für den Rest des Sonnensystems die Tore geöffnet, diesem Beispiel zu folgen. Zahlreiche Raumsiedlungen blieben jedoch Kolonien terranischer Nationen und Kombinate, sodass letztlich ein anarchistisch anmutender Flickenteppich verschiedener Systeme entstand. Ein Großteil der Weltraumökonomie geriet unter den Einfluss einer Liga von Siedlungen, die man den Mondragon-Bund nannte. Dieser Zusammenschluss wurde alle fünf Jahre auf einer Konferenz bestätigt, und einmal im Jahr gaben die KIs des Mondragon die wirtschaftlichen Einzelheiten bekannt, die allerdings immer wieder nachträglich korrigiert wurden (oft mehr als einmal)

je länger der Mondragon-Bund Bestand hatte, desto robuster wurde er. Im Vertrauen darauf, dass der Bund für alles Notwendige sorgte, wurden in den einzelnen Siedlungen mehr und mehr individuelle Geschäfte abseits der zentralen Ökonomie abgewickelt, die sogenannten Übererfüller. All das waren Randerscheinungen. Wären nicht der Mars und seine

so wie der Feudalismus das Residuum auf der Erde ist, so ist der Kapitalismus das Residuum auf dem Mars

in den Randbereichen selbst wächst und gedeiht der Wohlstand, wodurch auch Bildung und Kultur erblühen

die Existenz dieser Randökonomie, semiautonom, praktisch unreguliert, anarchisch, voller Lug und Trug und Verbrechen, ließ die Freihändler, Libertären, Anarchisten und noch viele andere frohlocken. Die einen erfreuten sich an dem Bonobo-Tauschhandel, andere am Wildwest-Machismo oder dem Überfluss

Randkapitalismus ist ein Sport für harte Kerle wie Rugby oder American Football, besonders ansprechend für Leute mit einer leichten Überdosis Testosteron. Andererseits kann es erwiesenermaßen wie Baseball oder Volleyball ein interessantes, sogar schönes Spiel sein, wenn man die Regeln und Gepflogenheiten etwas anpasst. Als Randerscheinung ist es ein legitimes Projekt, eine Form von Selbstverwirklichung, die nicht auf das Lebensnotwendige angewendet werden darf, aber abgesehen davon ein nettes Hobby oder vielleicht sogar eine Kunstform ist

den Kapitalismus an den Rand zu drängen, war eine der großen marsianischen Leistungen, vergleichbar mit einem Sieg über die Mafia oder andere Banden von Schutzgelderpressern

Wahram und Swan

Wahram war wieder in Terminator, noch bevor Swan von der Erde zurückkehrte. Die Stadt fuhr gerade durch die gewaltige Ebene des Beethoven-Kraters, und Wahram nahm all seinen Mut zusammen und fragte Swan, sobald sie wieder da war, ob sie mit ihm eine Anlage in der Westwand von Beethoven besuchen würde, um sich ein Konzert anzuhören und sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Er musste zugeben, dass er ziemlich nervös war, als er bei ihr anrief. Aufgrund ihres flatterhaften Temperaments wusste er nicht, was ihn erwartete. Er wusste noch nicht einmal, ob er im Zweifelsfall mit ihr oder mit Pauline nach Beethoven gehen würde. Andererseits mochte er Pauline, sodass das eine hoffentlich ebenso gut sein würde wie das andere. Und mit etwas Glück würde Swan nicht mehr so erpicht darauf sein, alles über Alex’ Pläne bezüglich der Qubes in Erfahrung zu bringen. Dieses Wissen, das hatte Inspektor Genette sehr deutlich gemacht, mussten sie ihr vorenthalten.

In jedem Fall war die Aussicht darauf, etwas von Beethoven zu hören, Antrieb genug für ihn. Er rief sie an, und Swan erklärte sich bereit, ihn zu begleiten.

Danach sah sich Wahram das Programm für die Vorstellung an, die sie besuchen wollten, und stellte erfreut fest, dass bei dem Konzert drei selten aufgeführte Transkriptionen gespielt werden würden: Zuerst würde ein Bläser-Ensemble eine Bearbeitung der Appassionata-Klaviersonate spielen. Dann gab es Beethovens Opus 134, seine eigene vierhändige Klavierfassung von Opus 133, der Großen Fuge, für Streichquartett. Schließlich sollte ein Streichquartett eine Bearbeitung der Hammerklaviersonate spielen.

Ein brillantes Programm, fand Wahram, und als er sich an der südlichen Luftschleuse mit Swan traf, überlagerte seine freudige Erwartung völlig sein Unbehagen, das die Begegnung mit ihr und ein Aufenthalt auf Merkurs Oberfläche mit sich brachten. Der Drang nach Westen war immerzu spürbar – vielleicht hatte er sogar etwas Allgemeingültiges, sagte er sich, und richtete seine Gedanken dann ganz auf das Konzert. Vielleicht gab es überhaupt keinen Grund zur Sorge. Die Vorstellung, dass seine Angst vor der Sonne irrational sein mochte, war interessant.

In dem kleinen Museum in der Westwand Beethovens stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es außer ihnen fast kein Publikum gab, abgesehen von den Musikern, die gerade nicht spielten und zum Zuhören in den ersten Reihen saßen. Die Anlage verfügte über eine leere Haupthalle, in die ein paar Tausend Menschen gepasst hätten, aber glücklicherweise fand dieses Konzert in einem Nebensaal mit nur wenigen Hundert Plätzen statt, die wie bei einem griechischen Theater in einem Halbkreis um die kleine Bühne herum angeordnet waren. Die Akustik war hervorragend.

Das Bläserensemble, das etwas größer war als das Publikum, spielte das Finale der Appassionata derart ausgelassen, dass es eines der großartigsten Stücke für Holzbläser wurde, die Wahram je gehört hatte. Es sprudelte vor Tempo. Die Bearbeitung für Holzbläser verwandelte das Stück zu etwas völlig Neuem, etwa so wie Ravel Mussorgskis Bilder einer Ausstellung in etwas Neues verwandelt hatte.

Danach erhoben sich zwei Pianisten, setzten sich wie Katzen aneinandergeschmiegt an ein großes Klavier und begannen, Beethovens Opus 134 zu spielen, seine Bearbeitung der Großen Fuge. Sie mussten wie Percussion-Künstler in die Tasten greifen, regelrecht auf sie eindreschen. Deutlicher als je zuvor hörte Wahram das komplexe Geflecht der großen Fuge heraus, aber auch die irrsinnige Energie des Stücks, die manische Vision eines gewaltigen knirschenden Uhrwerks. Der harte Ansturm von Klaviertönen verlieh ihm eine Klarheit und Gewalt, die Streicher nicht erzielen konnten, egal, wie sehr sie sich mühten und wie technisch versiert sie waren. Wunderbar.

Im nächsten Beitrag hatte jemand den gleichen Weg in die andere Richtung beschritten und die Hammerklaviersonate für ein Streichquartett arrangiert. Obwohl nun vier Instrumente ein Stück spielten, das für eines geschrieben worden war, war es nach wie vor eine Herausforderung, die Eindringlichkeit der Hammerklaviersonate zu vermitteln. Auf zwei Violinen, eine Bratsche und ein Cello verteilt entfaltete sie sich wunderbar. Der majestätische Zorn des ersten Satzes; die schmerzhafte Schönheit des langsamen Satzes, eines von Beethovens besten; und dann das Finale, eine weitere große Fuge. In Wahrams Ohren klang das alles sehr nach den späten Quartetten – also sozusagen ein neues spätes Quartett, Himmel auch! Es war erschütternd anzuhören. Wahram blickte sich im Publikum um und sah die Flötenspieler und die Pianisten hinter ihren Stühlen stehen, wippen, sich wiegen, die Gesichter gehoben und die Augen geschlossen, als beteten sie; manchmal zuckten sie vor ihren Körpern mit den Händen, als dirigierten oder tanzten sie. Auch Swan tanzte weiter hinten. Die Musik schien sie an einen fernen Ort zu tragen. Wahram war hocherfreut, das zu sehen: Er selbst war weit draußen im Beethoven-Raum, der wahrhaftig gewaltige Ausmaße hatte. Es wäre schockierend gewesen, jemanden anzutreffen, der immun gegen diese Empfindung war; er hätte nicht mehr mit einer solchen Person mitfühlen, sich nicht in sie hineinversetzen können.

Als Zugabe kündigten die Musiker ein Experiment an. Sie teilten die beiden Klaviere, und das Streichquartett setzte sich in einem Kreis mit den Gesichtern nach innen zwischen sie. Dann spielten sie noch einmal die beiden großen Fugen, und zwar gleichzeitig. Die beiden auf den jeweils falschen Instrumenten gespielten Stücke überlagerten sich und erzeugten eine zunehmende kognitive Verwirrung; und die ruhigen Passagen in beiden Stücken kamen zur selben Zeit und bildeten ein treibendes Auge des Sturms, dass die strukturelle Verwandtschaft der beiden Ungetüme verriet. Als beide zu ihren Hauptfugen zurückkehrten, kratzten und hämmerten alle sechs Instrumente wieder in ihren eigenen Welten, teilten in rasendem Zickzack und mit messianischem Getöse sechs verschiedene Melodien aus. Irgendwie fanden sie alle gemeinsam zu einem Ende. Wahram war sich nicht sicher, welches der Stücke erweitert oder abgekürzt worden war, um das zu ermöglichen, aber jedenfalls endeten alle gemeinsam in einem großen Getöse, und alle Anwesenden, insbesondere die Stehenden, konnten nur noch klatschen und jubeln und pfeifen.

»Wundervoll«, sagte Wahram hinterher. »Wirklich.«

Swan schüttelte den Kopf. »Das Ende war zu abgefahren, aber gefallen hat es mir.«

Sie blieben noch, um die Musiker zu beglückwünschen und sich mit ihnen zu unterhalten. Die Musiker waren denkbar interessiert daran, wie das Ganze für Außenstehende geklungen hatte: Mehr als einer bemerkte, dass er sich nur auf seinen eigenen Teil hatte konzentrieren können. Jemand spielte eine Aufnahme ab, und sie hörten sie sich mit den anderen zusammen an, bis die Musiker anfingen, sie immer wieder anzuhalten und die Details zu erörtern.

»Zeit, nach Terminator zurückzukehren«, sagte Swan.

»Alles klar. Ich bin Ihnen so dankbar dafür, es war wirklich wunderbar.«

»War mir ein Vergnügen. Hören Sie, wollen wir über die Stadtgleise zurücklaufen? Nach so einem wilden Konzert wäre das nett. Hier gibt es Raumanzüge, die wir benutzen können. Bei einem Spaziergang kann man alles besser verarbeiten.«

»Aber reicht dafür die Zeit?«

»O ja. Wir werden ein gutes Stück vor der Stadt bei dem Bahnsteig sein. Das habe ich schon öfter gemacht.«

Ihr war wohl nicht aufgefallen, wie unbehaglich er sich draußen auf dem Merkur fühlte. Er konnte schlecht nein sagen. Obwohl alle anderen aus dem Publikum und auch die Musiker die Trambahn nahmen. In der sie zweifellos das interessante Gespräch über das Konzert, über Beethoven-Transpositionen und derlei mehr fortsetzten.

Aber nein. Ein Spaziergang auf einer verbrannten Welt. Nachdem sie die Integrität ihrer geliehenen Raumanzüge überprüft hatten, verließen sie den Saal durch die Luftschleuse und gingen nordwärts zu den Schienen Terminators.

Der Beethoven-Krater hatte die glatteste Oberfläche, die er auf dem Merkur bisher gesehen hatte. Der kleine Bello im Osten befand sich unterhalb des Horizonts. Nervös wanderte Wahram neben Swan her. Ihre Helmscheinwerfer erhellten lang gestreckte Ovale schwarzer Wüste. Feine Staubwolken stiegen von ihren Stiefelspitzen empor und sanken hinter ihnen wieder auf den ausgedörrten Boden ab. Ihre Stiefelabdrücke würden eine Milliarde Jahre Bestand haben, aber sie folgten ohnehin einem Pfad von Fußstapfen, sodass der Schaden an der Planetenoberfläche längst angerichtet war. Zu den Seiten des staubigen Pfads fing das knorrige, körnige Gestein den Schein ihrer Lampen ein und reflektierte ihn in Form winziger Diamantlichter, die wie Reif aussahen, obwohl es sich bei ihnen in Wirklichkeit um winzige Kristallflächen handeln musste. Sie kamen an einem Felsen vorbei, auf den ein Kokopelli gemalt war: Anstelle einer Flöte schien die Gestalt ein Teleskop zu haben, das sie gen Osten gerichtet hielt. Eine Weile pfiff Wahram halblaut und in halbem Tempo das Thema der Großen Fuge.

»Pfeifst du?«, fragte Swan anscheinend überrascht.

»Sieht ganz danach aus.«

»Ich auch!«

Wahram, der sich nicht als jemanden sah, der für andere pfiff, verstummte.

Sie erreichten eine kleine Anhöhe, und vor ihnen lagen die Schienen Terminators. Die Stadt war noch nicht in Sicht: Höchstwahrscheinlich befand sie sich noch immer jenseits des östlichen Horizonts. Der nächstgelegene Schienenstrang versperrte größtenteils die Sicht auf diejenigen, die daneben verliefen. Wahram hatte gehört, dass die Schienen aus einer ganz bestimmten Art von gehärtetem Stahl bestanden, und im Sternenlicht glänzten sie mattsilbern. Ihre Unterseite befand sich ein paar Meter über dem Boden und wurde im Abstand von etwa fünfzig Metern von dicken Pfeilern gehalten. Zu Wahrams Erleichterung sah er nordwestlich von ihnen neben der äußersten Schiene einen Bahnsteig. Die Tram vom Konzert war bereits eingetroffen.

Das erste Sonnenlicht fiel auf die höchste Stelle der Westwand von Beethoven. Die gesamte Landschaft wurde von dieser einen glatten Felsspitze erhellt. Die Morgendämmerung nahte heran, langsam, aber unaufhaltsam. Sobald sie über den östlichen Horizont wanderte, würde Terminator einen grandiosen Anblick bieten. Vielleicht war das bereits die Kuppelspitze, die dort als halbmondförmige Linie aus Licht zum Vorschein kam.

Dort, wo eben noch der Bahnsteig gewesen war, erstrahlten plötzlich die Schienen in einem blendenden Lichtblitz. Ein blutrotes Nachbild teilte Wahrams Sicht in zwei Hälften: Als es pulsierend zu einem weniger grellen vertikalen Fleck schrumpfte, begannen um sie herum Felsbrocken einzuschlagen. Staubwolken wirbelten auf wie verspritztes Wasser. Sie schrien beide auf, allerdings hatte Wahram keine Ahnung, was sie sagten. Dann brüllte Swan: »Runter, pass auf deinen Kopf auf!«, und zerrte an seinem Arm. Wahram kniete sich neben ihr hin und legte ihr einen Arm um die Schultern. Sie schien zu versuchen, ihm die Arme über den Helm zu legen, während sie den ihren an seine Brust drückte. Als er über sie hinwegblickte, sah er, dass die Schienen dort, wo sich der Bahnsteig befunden hatte, in einer großen Staubwolke verschwunden waren, die bis zum Sonnenlicht reichte. Der gelb angestrahlte Teil der Wolke erhellte die umliegende Landschaft wie ein Leuchtfeuer. Der Boden am Fuß der Wolke glühte aus sich heraus: Anscheinend handelte es sich um einen See rauchender Lava.

»Ein Meteor«, sagte er fassungslos.

Swan funkte über den offenen Kanal. Einige weitere Steine gingen um sie herum nieder, unsichtbar, bis eine Stauberuption sie verriet. Es sah aus, als würde die Landschaft um sie herum explodieren, als würden Minen hochgehen. Der eine oder andere herabfallende Stein war heiß und sah aus wie eine Sternschnuppe. Einige Funken flogen noch immer oben zwischen den Sternen. Entweder einer würde sie treffen oder eben nicht; es war ein scheußliches Gefühl. Er hatte nicht den Eindruck, dass es ihnen besonders viel helfen würde, sich die Arme über die Helme zu halten.

Staub blies über sie hinweg und legte sich in gemächlichen Bahnen und Schleiern. Gelb über Grau: Doch sobald das obere Ende der Staubwolke so weit herabgesunken war, dass die horizontalen Sonnenstrahlen sie nicht mehr erreichten, senkte sich einmal mehr die finstere Merkurnacht über sie, und nur die entfernte Kraterwand spendete ihnen Licht. In der Mitte von Wahrams Blickfeld pulsierten noch immer rote Balken. Alles kam ihm nun sehr viel dunkler vor.

»Direkt dort draußen ist eine Gruppe Sonnenläufer, oben, knapp unterhalb der Kraterwand«, sagte Swan grimmig. Sie fragte etwas auf dem offenen Kanal. »Einer von ihnen wurde getroffen, und sie brauchen Hilfe. Komm mit.«

Halb blind und verwirrt folgte er ihr von den Schienen weg. »War das ein Meteoreinschlag?«

»Sieht ganz danach aus. Obwohl die Schienen eigentlich ein Abwehrsystem haben. Ich weiß nicht, was passiert ist. Komm schon, wir müssen uns beeilen! Ich will zurück in die Stadt. Sie ist … ohhh …« Sie stöhnte, als ihr mit einem Mal klar zu werden schien, dass die Stadt zum Untergang verurteilt war. »Nein!«, rief sie, während sie ihn Richtung Süden mit sich zerrte. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein.« Immer und immer wieder, während sie weiterstolperten. Und dann: »Wie kann das sein

Er war sich nicht sicher, ob es eine rhetorische Frage gewesen war. »Keine Ahnung«, antwortete er. Sie zerrte an ihm, und er hielt den Blick zu Boden gerichtet, um nicht über einen Stein zu stolpern und hinzufallen. Überall lagen Felsbrocken herum. Er versuchte sich zu erinnern, was er gesehen hatte; war da ein Blitz gewesen? Von oben? War die Explosion nicht vom Boden aufgestiegen? Nein – sie hatte sich abwärtsbewegt. Er schloss die Augen, doch der rote Balken und die hellroten Wolken tanzten noch immer vor dem schwarzen Hintergrund seiner Lider umher. Er öffnete die Augen und blickte zu Swan. Später konnten sie vielleicht die visuellen Aufzeichnungen ihres Qubes studieren, vorausgesetzt, er fertigte welche an. Swan murmelte gerade etwas in dem verärgerten Tonfall, den sie normalerweise Pauline gegenüber anschlug.

Sie führte ihn um eine Kuppe, und als sie sie passiert hatten, machten sie eine Gruppe von drei Menschen in Raumanzügen aus, die erfreulicherweise alle gehen konnten. Einer hielt sich allerdings mit der Hand einen Arm, was ihn unbeholfen taumeln ließ. Die anderen beiden gingen an seinen Seiten und halfen ihm oder versuchten es zumindest.

»He!«, funkte Swan auf dem offenen Kanal, und die drei blickten auf und beobachteten, wie Swan und Wahram sich näherten. Einer winkte. Ein paar Minuten später waren Swan und Wahram bei ihnen.

»Wie geht es euch?«, fragte Swan.

»Wir sind froh, am Leben zu sein«, sagte der, der sich den Arm hielt. »Ich bin am Arm getroffen worden!«

»Das sehe ich. Gehen wir in die Stadt zurück.«

»Was ist passiert?«

»Sieht so aus, als wären die Schienen von einem Meteor getroffen worden.«

»Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht. Kommt schon!«

Ohne weitere Diskussion begannen die fünf zügig Richtung Schienen zu gehen. Sie sprangen im Mars-Laufschritt, mit dem sie die lokale Gravitation voll ausnutzten. Wegen seiner Zeit auf dem Titan, der etwa halb so viel Schwerkraft ausübte, damit aber nah genug dran war, beherrschte Wahram diese Laufweise ebenfalls recht gut. Zusammen liefen sie in großen Sätzen schräg nach Westen den sanften Hang hinab, auf dem schnellsten Weg Richtung Stadt. Wahram hatte ein seltsames Jaulen im Ohr, ein tierhaftes, qualvolles Stöhnen. Erst dachte er, dass es von dem verletzten Sonnenläufer käme, doch dann begriff er, dass Swan es von sich gab. Natürlich, es war ihre Stadt, ihr Zuhause.

Sie kamen über den Kamm einer Anhöhe, von der aus sie freie Sicht auf die obere Hälfte der Stadtkuppel hatten, die wie die blaue Blase eines Taschenuniversums über den Horizont lugte. Die Stadt war anscheinend immer noch in Bewegung. »Die Schienen voraus sind beschädigt«, sagte er.

»Ja, natürlich!«

»Gibt es eine Möglichkeit für sie, ein fehlendes Schienenstück zu umgehen?«

»Nein! Wie sollte das funktionieren?«

»Ich weiß nicht, ich … ich dachte nur. Normalerweise versucht man bei Lebenserhaltungssystemen, solche kritischen Punkte zu vermeiden.«

»Natürlich. Aber die Schienen sind geschützt, es gibt ein Anti-Meteor-System!«

»Dann hat es wohl nicht funktioniert?«

»Anscheinend nicht!« Erneut schrie sie auf. Selbst gedämpft durch die Gegensprechanlage in seinem Anzug war es ein durchdringender Laut.

Die Sonnenläufer besprachen sich untereinander, ganz offensichtlich auch voller Sorge.

»Was machen wir, wenn wir dort ankommen?«, fragte Wahram auf dem offenen Kanal.

Swan hörte auf zu stöhnen und erwiderte: »Wie meinst du das?«

»Gibt es Rettungsboote? Du weißt schon – Rover, mit denen man zum nächsten Raumhafen kommt?«

»Ja, natürlich.«

»Genug für alle?«

»Ja!«

»Und gibt es genug Raumschiffe im nächsten Raumhafen? Genug für die gesamte Bevölkerung von Terminator?«

»In allen Raumhäfen gibt es Notunterkünfte, die für einen Haufen Menschen reichen. Und Fahrzeuge, die sie westwärts zum nächsten bringen können. Und manche Hopper kommen auch auf der Sonnenseite zurecht.«

Während sie über die schwarze Geröllebene eilten, mühte sich Terminator langsam über den Horizont. Der obere Teil von der Innenseite der Dämmerungsmauer war nun zu erkennen. Sie sah sehr viel steiler aus, als sie es in Wirklichkeit war, und bestand ganz aus weiß verputzten Wänden und Bäumen. Ein breiter grüner Balken markierte die Baumkronen im Park. Vor den Bäumen erstreckten sich die Felder. Eine Schneekugel auf silbernen Schienen, die ihrem Verderben entgegenfuhr. In der Stadt waren keine Menschen zu sehen, obwohl sie mittlerweile weit über ihnen aufragte. Mit Sicherheit befand sich niemand mehr auf den Terrassen der Dämmerungsmauer. Sie sah verlassen aus.

Und es gab keine Möglichkeit, nach oben in die Stadt hineinzugelangen. Der Bahnsteig hatte sich in der Aufschlagzone befunden. Mit Sicherheit waren alle, die bei dem Konzert gewesen waren, ums Leben gekommen. Im Stadtinnern konnten sie drei Tiere sehen: einen Hirsch, ein Reh, ein Kitz. Swans Schreie wurden eine Oktave höher. »Nein. Nein!«

Es war seltsam, dort zu stehen und die mediterrane Ruhe der leeren Stadt vor Augen zu haben.

Swan rannte unter die Schienen nördlich der Stadt, und der Rest folgte. Von dieser Seite aus konnten sie einen kleinen Konvoi von Bodenfahrzeugen weit im Norden und Westen sehen, die sich durch die Bresche in Beethovens nordwestlicher Wand von ihnen entfernten. Die Fahrzeuge waren schnell und verschwanden schon bald hinterm Horizont.

»Sie sind fort«, stellte Wahram fest.

»Ja, ja. Pauline?«

»Wir können wohl auch zu Fuß zum Raumhafen gehen?«, fragte Wahram besorgt.

Doch Swan sprach gerade mit ihrem internen Qube, und Wahram konnte dem Wortwechsel nicht folgen. Ihr Tonfall war jedenfalls schneidend.

Sie brach den Streit ab und sagte zu ihm: »Die Wagen kommen nicht zurück. Die Stadt wird automatisch anhalten, sobald sie auf die Lücke in den Schienen stößt. Wir müssen hier weg. Jede zehnte Plattform hat Aufzüge, die in Schutzräume unter den Schienen herabführen. So eine müssen wir also erreichen.«

»Wie weit entfernt ist die nächste in Richtung Westen?«

»Etwa neunzig Kilometer. Richtung Osten ist die Stadt gerade erst an einer vorbeigekommen.«

»Neunzig Kilometer!«

»Ja. Wir werden nach Osten gehen müssen. Da sind es nur neun Kilometer. So lange kommen unsere Anzüge mit dem Licht zurecht.«

Wahram sagte: »Vielleicht können wir ja auch die neunzig gehen.«

»Nein, das können wir nicht, wie meinst du das?«

»Ich glaube, dass das möglich wäre. Andere Leute haben das auch schon geschafft.«

»Leistungssportler, die dafür trainiert haben, haben es geschafft. Ich laufe oft genug, um mich damit auszukennen, und vielleicht würde ich es schaffen, aber du nicht. Willenskraft allein genügt nicht. Und der Sonnenläufer hier ist verletzt. Nein, hör zu, wir können ohne Bedenken ins Sonnenlicht. Wir setzen uns nur der Korona aus, und höchstens für etwas über eine Stunde. Das habe ich schon oft gemacht.«

»Mir wäre es lieber, wenn es sich vermeiden ließe.«

»Du hast keine Wahl! Komm schon, je länger wir herumtrödeln, desto länger sind wir der Sonne ausgesetzt!«

Da hatte sie recht.

»Also gut«, sagte er und spürte, wie das Herz ihm in der Brust pochte.

Sie drehte sich um, streckte die Arme Richtung Stadt aus und jaulte wie ein Tier. »Oh, meine Stadt, meine Stadt, ohhhh … wir kommen wieder! Wir bauen dich wieder auf! Ohhhh …«

Hinter dem Glas des Helmvisiers war ihr Gesicht tränennass. Sie bemerkte, wie er sie beobachte, und ließ eine Hand nach hinten schnellen, als wollte sie ihn schlagen. »Komm schon, wir müssen gehen!« Sie deutete auf die drei Sonnenläufer. »Kommt!«

Während sie nach Osten losliefen, heulte Swan über den offenen Kanal, ein Geräusch wie eine Alarmsirene, die ihre Schuldigkeit zwar getan hatte, aber trotzdem in die Leere nach der Katastrophe hinausschrillte. Die Gestalt, die vor ihm herrannte, hätte eigentlich nicht in der Lage sein dürfen, einen derart grässlichen Laut zu erzeugen, der ihm wie Nadeln in den Ohren stach. In der Stadt waren zweifellos eine Menge Tiere zurückgelassen worden – ein ganzes kleines Terrarium von Pflanzen und Tieren. Swan hatte selbst Derartiges erschaffen und gestaltet. Und die Stadt war ihr Zuhause. Mit einem Mal machte ihr Heulen ihm klar, dass es nicht genügte, die Menschen Terminators zu retten. Sie ließen so viel zurück. Eine ganze Welt. Wenn eine Welt stirbt, spielen die Menschen darin keine Rolle mehr – das war es, was das Heulen auszusagen schien.

Die Dämmerung nahte, wie immer.

Es war wirklich eine interessante Frage: Konnte er seine Angst zügeln, sie in geordnete Bahnen lenken und als Antrieb für ein optimales Tempo nutzen, um so schnell wie möglich die Plattform im Osten zu erreichen, im nackten Licht der Morgendämmerung? Und konnte er so mit der mithalten, die vor ihm ging? Swan jammerte, schrie und fluchte noch immer, wehklagte im Rhythmus ihrer Schritte; jedes Mal, wenn sie mit einem Fuß auf den Boden auftraf, machte sie einen Satz nach vorne; wahrscheinlich konnte sie überhaupt nicht langsamer laufen, und Wahram kam nicht mit. Er musste zurückbleiben und sich an sein eigenes Tempo halten, in der Hoffnung, dass er zumindest in der Lage sein würde, dicht genug dranzubleiben, damit sie nicht hinterm Horizont verschwand. Obwohl ihre Spuren ihn natürlich direkt zu dem Bahnsteig führen würden, weshalb es also eigentlich nicht weiter schlimm sein sollte, wenn sie außer Sicht geriet. Trotzdem wollte er sie nicht aus dem Blick verlieren. Die drei Sonnenläufer waren ihr bereits ein gutes Stück voraus, selbst der mit dem verletzten Arm. Vermutlich verlangsamten sie die klagenden Geräusche, die sie von sich gab.

Das Gelände hier gab durch sein Gefälle den Blick viele Kilometer Richtung Norden frei, und das Hochland dort erstrahlte im Sonnenlicht. Der erleuchtete Teil der Landschaft warf Licht über das schattige Terrain, auf dem sie liefen, und Wahram sah die Faltenwürfe im Boden und das Geröll besser, als er je zuvor etwas in seinem Leben gesehen hatte, nicht bloß auf dem Merkur, sondern überhaupt. Alles sah aus, als wäre es von einer Schicht klumpigen Staubs bedeckt, zweifellos eine Folge des täglichen Wechsels von Ofenhitze und Eiseskälte.

Das Licht im Norden wurde so hell, dass er den Blick abwenden musste, um in den dunkleren Bereichen zu seinen Füßen und weiter voraus noch etwas sehen zu können. Vor ihm sprang die wehklagende Gestalt mit großen Sätzen vor den Sternen her. Er zwang sich, im Rhythmus seiner Schritte zu atmen, behielt den Untergrund, über den er rannte, im Blick und konzentrierte sich darauf, schnell und effizient zu laufen. Ein Wert von einem Drittel g konnte trügerisch sein. Er machte einen weder leicht noch schwer. Zwar ermöglichte es einen schnellen Laufschritt, aber ein Sturz war ein nicht zu unterschätzendes Risiko, besonders unter diesen Bedingungen. Swan war in ihrem Element und schien keinen Gedanken an ihn zu verschwenden.

Er rannte weiter. Normalerweise hätte er die Strecke, um die es ging, abhängig vom Terrain in etwa 45 Minuten zurücklegen können. Selbst ein trainierter Läufer musste sich auf diese Distanz zurückhalten, durfte nicht mit Höchsttempo laufen. Ging sie es zu schnell an? Er sah keinerlei Anzeichen dafür, dass sie langsamer wurde.

Andererseits vergrößerte ihr Vorsprung sich auch nicht. Und er hatte nun ein Tempo gefunden, das er länger aufrechterhalten konnte. Es war weder schnell noch langsam. Er ächzte und keuchte und behielt den Boden genauestens im Auge. Wenn er kurz aufblickte, sah er Swan jedes Mal knapp vor dem Horizont. Es würde alles klappen – doch dann stolperte er und musste sich verzweifelt mit den Armen rudernd fangen. Nach diesem Erlebnis hielt er den Kopf gesenkt und konzentrierte sich noch stärker als zuvor auf den Untergrund.

Es war einer jener Momente, in dem der Schock des Unerwarteten einen völlig aus der Wirklichkeit wirft. Er sah Swans Stiefelabdrücke auf einem Palimpsest aus älteren Abdrücken. Sie machte kürzere Schritte als er. Er flog über ihre Abdrücke hinweg, obwohl er hinter ihr zurückblieb. Die Sonnenläufer waren schon halb jenseits des Horizonts. Noch immer erfüllte Swans Klagen seine Ohren, aber er weigerte sich, die Lautstärke herunterzuregeln oder den Ton abzuschalten.

Dann blinzelte die Sonne über den Horizont, und einmal mehr spürte er, wie sein Herz pochte. Zuerst leckten orangefarbene Flammenzungen über den Himmel und verschwanden wieder. Die Korona war sehr viel heißer als die eigentliche Sonnenoberfläche, erinnerte er sich. Ausbrüche magnetischer Felder, durch die die charakteristischen Feuerbögen emporstiegen, sich majestätisch über den Horizont erhoben und dort einen Moment lang verharrten, ehe sie sich in die eine oder andere Richtung entluden. Es war das schiere Feuer der Sonne, das in unfassbaren Explosionen emporstieg, geleitet von den Magnetfeldern, die durch die Flammen wogten. Er rannte weiter, den Blick zu Boden gerichtet, aber als er das nächste Mal kurz aufblickte, war der Horizont orangefarben – es war die Sonne selbst, deren Orange von gelben Blasen und Bannern brodelte und zuckte. Um seine Augen zu schützen, musste sein Visier den Rest des Kosmos schwarz einfärben. Der Horizont war das Einzige, was sich deutlich erkennen ließ, eine Linie vor ihm, nicht besonders weit oben und nicht glatt, sondern von wabernden, verschwommenen Erhebungen und Senken durchzogen. Swan hob sich schwarz von dieser Kulisse ab, Urbild einer Läuferin. Das gleißende Licht ließ ihre Umrisse schmaler erscheinen. Der Boden unter seinen Füßen war nun ein undeutbares grau meliertes Muster, ein wildes Durcheinander von schmerzhaft hellem Weiß und Tiefschwarz, dessen weiße Anteile vor seinen Augen pulsierten und leuchteten. Er musste einfach darauf vertrauen, dass der Untergrund flach genug zum Laufen war, auch wenn es gar nicht danach aussah. Noch etwas später wurde der Boden weiß, mit schwarzen Sprenkeln, und sah glatt wie ein Bettlaken aus. Sie waren im vollen Tageslicht.

Er fing an zu schwitzen. Wahrscheinlich lag es bloß an seiner Angst und daran, dass er seinen Schritt unwillkürlich beschleunigte. Die Kühlung seines Anzugs begann hörbar zu brummen, ein leises, aber schreckenerregendes Geräusch. Der Schweiß würde ihm über Flanken und Beine strömen und sich bei der Versiegelung oberhalb der Stiefel sammeln. Es konnte sich wohl kaum so viel ansammeln, dass er darin ertrank, aber ganz sicher war er sich dessen nicht. Swan, ein schwarzes Flackern in der Sonne, war zu einer Art Brockengespenst geworden, das in einem hellen Pulsieren verschwand und wieder auftauchte. Er meinte zu sehen, wie sie sich über die Schulter nach ihm umblickte, aber er wagte es nicht, ihr zuzuwinken, aus Angst, die Balance zu verlieren und zu stürzen. Sie wirkte klein, und mit einem Mal erkannte er, dass sie nur von den Knien an aufwärts zu sehen war. Der Horizont war etwa genauso weit weg wie auf dem Titan. Das bedeutete, dass sie wahrscheinlich einen Vorsprung von fünf bis zehn Minuten hatte.

Dann erschien die Oberkante des Bahnsteigs unmittelbar links von ihr über dem Horizont, neben dem südlichsten Schienenstrang, und einmal mehr beschleunigte er seinen Schritt. Bei jeder körperlichen Anstrengung konnte man am Ende normalerweise noch einmal etwas zulegen.

Doch diesmal schien er wirklich an seinen Grenzen angelangt zu sein. Tatsächlich verwandelte sich das Ganze sehr schnell in den verzweifelten Versuch, seine Geschwindigkeit zumindest aufrechtzuerhalten. Er keuchte und musste sich dazu zwingen, im Rhythmus seiner schweren, dumpfen Sätze zu atmen, einmal nach Luft schnappen für zweimal Auftreten. Es war höchst beängstigend aufzublicken und festzustellen, dass die Korona nun beinahe über dem gesamten sichtbaren Horizont im Osten aufloderte; durch die leichte Krümmung wirkte es so, als würde sie früher oder später den gesamten Himmel ausfüllen, als wäre das, was vor ihnen aufging, eine Art universale Sonne. Der Merkur schien wie eine Bowlingkugel, die mitten in dieses Licht hineinrollte.

Sein Anzug war nun bis zu den Oberschenkeln mit Schweiß gefüllt, und einmal mehr fragte er sich, ob er darin ertrinken konnte. Andererseits konnte er sich vielleicht auch retten, indem er seinen Schweiß trank. Glücklicherweise blies ihm sein Luftvorrat nach wie vor kühl ins Gesicht.

Die Polarisierung seines Visiers veränderte sich, und durch das schwarze Glas spaltete sich die Struktur der Sonne in Tausende kleine Flammenzungen auf. Große Felder dieser Fäden bewegten sich im Gleichtakt, und ganze Bereiche wirbelten wie vom Wind aufgewühltes Wasser. Die Sonne sah aus wie ein lebendes Geschöpf, ein Tier aus Feuer.

Der Bahnsteig war eine schwarze Fläche in der Schwärze, Swan eine schwarze Bewegung daneben. Er kam bei ihr an, hielt inne, schnappte eine Weile nach Luft, mit auf die Knie gestützten Händen, der Sonne den Rücken zugekehrt. Ihr Wehklagen war verstummt, obwohl sie noch von Zeit zu Zeit leise stöhnte. Die Sonnenläufer waren anscheinend bereits mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren; sie wartete, dass er wieder hochkam.

»Tut mir leid«, sagte er, als er wieder sprechen konnte. »Tut mir leid, dass ich so spät dran bin.«

Sie schaute zur Sonne, die nun vier fingerbreit über dem zerklüfteten schwarzen Horizont stand. »Lieber Himmel, schau dir das an«, sagte sie. »Schau dir das bloß mal an.«

Wahram versuchte es, doch es war zu hell, zu groß.

Dann flog ein Bogen der Korona sehr viel höher als alle bisherigen, als streckte die Sonne einen Arm aus, um sie mit ihrer Berührung zu versengen. »O nein!«, rief Swan und zog Wahram an sich und gegen die Tür, wobei sie sich von ihm aus gesehen an die Sonnenseite schob und ihn herunterdrückte, um ihn mit ihrem Leib abzuschirmen. Fluchend drückte sie über seine Schulter hinweg auf die Fahrstuhlknöpfe.

»Komm schon, mach hin!«, brüllte sie. »Oje, das ist eine große Eruption, das ist übel. Wenn man so eine sieht, hat sie einen bereits erwischt.«

Endlich glitt die Fahrstuhltür auf, und sie hasteten hinein. Die Türen schlossen sich. Sie spürten, wie die Aufzugskabine abwärtsfuhr.

Als Wahrams Visier und seine Augen sich an die normalen Lichtverhältnisse angepasst hatten, sah er, dass Swans Gesicht hinter dem Glas nass von Rotz und Wasser war.

Sie schniefte laut. »Verdammt, das war eine große Eruption«, sagte sie und wischte sich durchs Gesicht. Als der Fahrstuhl anhielt und sie ausstiegen, sagte sie zu den Sonnenläufern: »Hat jemand von euch ein Dosimeter dabei?«

Einer von ihnen antwortete, als zitierte er: »Wenn du das fragst, willst du die Antwort nicht wissen.«

Sie blickte zu Wahram, mit einer grimmigen Miene, wie er sie noch nie bei ihr gesehen hatte. »Pauline?«, sagte sie. »Finde das Dosimeter in diesem Anzug.« Eine Weile hörte sie zu, dann griff sie sich an die Brust und sank auf ein Knie herab. »O Scheiße«, sagte sie schwach. »Ich bin erledigt.«

»Wie viel hast du abbekommen?«, rief Wahram beunruhigt. Er schaute auf sein Armpad: Es zeigte eine Strahlungsspitze von 3,762 Sievert an. Zischend sog er den Atem ein. Sie würden bei ihrer nächsten Behandlung eine Menge DNA reparieren lassen müssen – wenn sie bis dahin überlebten. Er wiederholte seine Frage. »Wie viel hast du abbekommen?«

Ohne ihn anzuschauen, stand sie auf. »Ich möchte nicht darüber reden.«

»Das war ein ordentliches Stück Sonne«, sagte er.

»Daran liegt es nicht«, sagte sie. »Es war diese Eruption. Pech.«

Die Sonnenläufer nickten, und Wahram lief ein leichter Schauer über den Rücken.

Sie befanden sich in einer Luftschleuse. Die Fahrstuhltür ging hinter ihnen zu, und die Tür auf der anderen Seite der Schleuse öffnete sich; er spürte einen leichten Luftstrom. Sie betraten einen niedrigen Raum von beträchtlicher Größe, aus dem mehrere Türen und Durchgänge hinausführten.

»Ist das eine Zuflucht?«, fragte Wahram. »Müssen wir hierbleiben, während die Sonne über diese Seite des Planeten zieht? Können wir so lange hierbleiben?«

»Das hier ist Teil eines ganzen Systems«, erklärte Swan. »Es wurde angelegt, um den Bau der Schienen zu unterstützen. Jeder zehnte Bahnsteig hat eine Einheit wie diese darunter, und sie alle sind durch einen Wartungstunnel verbunden.« Die Sonnenläufer waren bereits dabei, die Schränke in einer Wand zu durchsuchen.

»Also könnten wir in diesem Tunnel unter der Erde laufen und versuchen, die Nachtseite einzuholen? Wo man uns helfen kann?«

»Ja. Aber ich frage mich, ob die Stelle unter dem Meteoreinschlag noch passierbar sein wird. Wir können wohl mal nachsehen gehen.«

»Ist er überall beheizt und mit Luft gefüllt?«

»Ja. Nachdem einige Leute gestorben sind, die hier unten Schutz gesucht haben, hat man die Stationen so eingerichtet, dass alles absolut Lebensnotwendige vorhanden ist. Allerdings glaube ich, dass man den Wartungstunnel auf dem Weg Abschnitt für Abschnitt unter Druck setzen muss. Wie wenn man das Licht anschaltet.«

Als einer der Sonnenläufer den Daumen hob, nahm Swan den Helm ab, und Wahram tat es ihr nach.

»Hat jemand von euch noch Helmfunk?«, fragte einer der beiden Sonnenläufer. »Unserer funktioniert nicht mehr. Vielleicht hat die Sonne ihn durchbrennen lassen. Und das Telefon hier funktioniert nicht. Wir können niemanden darüber benachrichtigen, dass wir hier unten sind.«

»Pauline, bist du in Ordnung?«, fragte Swan laut und verstummte.

»Wie geht es deinem Qube?«, fragte Wahram nach einer Weile.

»Mit ihr ist alles in Ordnung«, sagte Swan brüsk. »Sie sagt, dass mein Kopf sie gut isoliert hat.«

»Liebe Güte.«

Sie folgten den Sonnenläufern durch die Halle und stiegen eine Treppe zu einer Reihe großer Zimmer weiter unten hinunter.

Das größte Zimmer enthielt eine Ansammlung von Sofas und niedrigen Tischen sowie den langen Tresen einer Gemeinschaftsküche. Swan stellte sich und Wahram den drei Sonnenläufern vor, deren Alter und Geschlecht sich nicht bestimmen ließ. Sie nickten höflich, nannten aber selbst nicht ihre Namen. »Wie geht es deinem Arm?«, fragte Swan den Verletzten.

»Er ist gebrochen«, sagte die angesprochene Person schlicht und streckte ihn ein wenig aus. »Ein sauberer Treffer. Ich schätze, dass es ein kleiner Stein war, der bei dem Einschlag hochgeschleudert wurde und einfach nur herabgefallen ist.«

Wahram gewann nun doch den Eindruck eines sehr jungen Menschen. »Wir können versuchen, ihn zu richten, und ihn dann auf jeden Fall mit irgendetwas schienen, egal, wie gerade er ist.«

»Hat jemand von euch den Meteoreinschlag gesehen?«, fragte Swan.

Alle drei schüttelten den Kopf. Sie waren alle jung, dachte Wahram. Das war die Sorte Menschen, die kurz vor Sonnenaufgang auf dem Merkur herumlief und sich mit Sonnenvisionen das Hirn verbrannte. Doch anscheinend war auch Swan eine von ihnen. Also handelte es sich wohl eher um die im Geiste Jungen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er.

»Wir können dem Tunnel nach Westen folgen, bis wir zum nächsten Raumhafen auf der Nachtseite gelangen«, sagte einer von ihnen.

»Glaubst du, dass der Tunnel unter der Einschlagstelle noch passierbar ist?«, fragte Swan.

»Ach«, sagte der oder die eine. »Daran habe ich nicht gedacht.«

»Könnte schon sein«, sagte die Person mit dem gebrochenen Unterarm. Die dritte war damit beschäftigt, die Wandschränke durchzuschauen. »Man weiß nie.«

»Ich bezweifle es«, sagte Swan. »Aber wir können wohl mal nachsehen. Es ist nur etwa fünfzehn Klicks weit weg.«

Nur fünfzehn! Doch Wahram hielt den Mund. Sie standen da und schauten einander an.

»Tja, scheiß drauf«, sagte Swan. »Gehen wir nachsehen. Ich will hier nicht bloß rumsitzen.«

Wahram unterdrückte ein Seufzen. Schließlich hatten sie ja keine große Wahl. Und wenn sie nach Westen durchkamen und sich beeilten, konnten sie die Nacht einholen und hoffentlich auch den Raumhafen erreichen, zu dem die Leute aus Terminator gefahren waren.

Also gingen sie zu einer Tür am westlichen Ende des Zimmers, die auf einen Gang führte, der schwach von einer Reihe in die Decke eingelassener Lampen erleuchtet wurde. Die Wände des Tunnels bestanden aus unbearbeitetem Felsgestein, das hier und dort Risse aufwies. An anderen Stellen waren Bohrspuren zu sehen, die zu ihrer Linken schräg nach oben und zur Rechten nach unten wiesen. Sie wanderten mit einem ordentlichen Tempo westwärts. Der Sonnenläufer mit dem gebrochenen Arm war anscheinend der Schnellste von ihnen, obwohl einer der anderen beiden sich dicht bei der verletzten Person hielt. Niemand sprach ein Wort. Eine Stunde verging, und nach einer kurzen Ruhepause auf einigen würfelförmigen Steinklötzen setzten sie ihren Weg eine weitere Stunde lang fort. »Hat deine Pauline eine Aufnahme von dem Meteortreffer gemacht?«, fragte Wahram Swan, nachdem sie sich wieder in Bewegung gesetzt hatten. Der Tunnel war breit genug, damit drei bis vier Menschen nebeneinander gehen konnten, wie die Sonnenläufer vor ihnen es auch taten.

»Ich habe nachgesehen, aber es ist nur ein horizontaler Blitz. Nur ein paar Millisekunden schnell und heiß herabstürzenden Lichts vor der Explosion nach oben und zu den Seiten. Aber warum heiß? Es gibt keine Atmosphäre, um etwas aufzuheizen, das kann es also nicht sein. Es sieht ein bisschen aus, als wäre es von, ich weiß nicht, irgendwo anders gekommen. Aus irgendeinem anderen Universum.«

»Klingt so, als dürften wir noch mit einer anderen Erklärung rechnen.« Wahram konnte sich die Entgegnung nicht verkneifen.

»Tja, dann erklär du es«, sagte sie in demselben bissigen Tonfall, in dem sie normalerweise mit ihrem Qube sprach.

»Das kann ich nicht«, erwiderte Wahram ruhig.

Schweigend gingen sie weiter. Irgendwann liefen sie vermutlich auch unter der Stadt entlang. Über ihnen brannte zweifellos Terminator im Licht des helllichten Tages.

Dann schien der Tunnel vor ihnen zu Ende zu sein. Sie hatten alle ihre Helme wieder aufgesetzt, da sie sich so am bequemsten tragen ließen, und jetzt leuchteten sie mit ihren Helmlampen in die Dunkelheit. Der Tunnel vor ihnen war bis zur Decke mit Steinen und Geröll angefüllt. Es war kalt hier, und unvermittelt sagte Swan: »Wir sollten lieber unsere Helme dichtmachen.« Ihr Visier fuhr herab. Wahram tat es ihr nach.

Sie standen da und schauten die Barriere an.

»Also gut«, sagte Swan grimmig, »nach Westen können wir nicht. Dann müssen wir wohl nach Osten.«

»Aber wie lange wird das dauern?«, fragte Wahram.

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn wir hier herumsitzen, dauert es achtundachtzig Tage bis zum Sonnenuntergang. Wenn wir gehen, geht es schneller.«

»Wir sollen einmal halb um den Merkur laufen?«

»Nein, nicht die ganze Strecke, weil der Planet sich weiterdreht, während wir unterwegs sind. Darum geht es ja. Ich meine, was sollen wir sonst machen? Ich sitze hier nicht drei Monate lang rum!« Er sah, dass ihr gleich die Tränen kommen würden.

»Wie weit ist das noch mal?«, fragte er und dachte dabei halb um den Titan. Sein Magen krampfte sich zusammen.

»Etwa zweitausend Kilometer. Aber wenn wir, sagen wir, täglich dreißig Kilometer nach Osten zurücklegen, dann verkürzt sich die Wartezeit auf um die vierzig Tage. Wir können sie also halbieren. Das scheint mir die Sache wert zu sein. Und wir müssen nicht ununterbrochen weitergehen. Ich meine, es ist nicht wie beim Sonnenlaufen. Wir laufen unser Tagessoll, essen, schlafen nachts und laufen dann wieder. Wir folgen einer täglichen Routine. Wenn wir von vierundzwanzig Stunden jeweils zwölf Stunden wandern, wäre das zwar eine Menge, aber damit würden wir sogar noch mehr Tage einsparen. Was ist, Pauline?«

»Kannst du Paulines Stimme wieder laut stellen?«, bat Wahram.

»Im Moment möchte ich das nicht. Sie sagt, dass wir die Zeit, die wir hier unten verbringen, um etwa 45 Tage verringern können, wenn wir zwölf Stunden am Tag laufen. Mir genügt das.«

»Tja«, sagte Wahram, »das ist ein gutes Stück Weg.«

»Ich weiß, aber was möchtest du denn machen? Doppelt so lange hier herumsitzen?«

»Nein«, antwortete er nachdenklich. »Wohl nicht.«

Obwohl es eigentlich keine so unglaublich lange Zeit war. Mal wieder Proust oder O’Brian durchlesen, oder ein paarmal den Ring-Zyklus; sein kleines Armpad war gut bestückt. Aber so, wie sie dastand und ihn ansah, wollte er solche Überlegungen lieber nicht aussprechen.

»Ich schalte Pauline laut«, sagte sie, als machte sie ihm als Gegenleistung für seine Zustimmung ein Zugeständnis.

»Solvitur ambulando«, sagte Pauline. »Latein für: ›Die Lösung ist ein Spaziergang‹. Diogenes von Sinope.«

»Auf diese Art beweist man, dass Bewegung etwas Reales ist«, mutmaßte Wahram.

»Ja.«

Wahram seufzte. »Das habe ich ohnehin nicht bezweifelt.«

Als sie wieder die Station erreichten, bei der sie aufgebrochen waren, machten sie eine Bestandsaufnahme. Die drei Sonnenläufer hatten absolut nichts dagegen, sechs oder sieben Wochen lang zu laufen; höchstwahrscheinlich war das ihre normale Lebensweise. Ihre Namen waren Tron, Tor und Nar. Ihr Geschlecht blieb für Wahram unbestimmbar, und sie kamen ihm sehr jung und einfältig vor. Sie lebten einzig und allein dafür, auf dem Merkur umherzuwandern; über andere Themen wussten sie anscheinend nichts zu sagen, oder vielleicht redeten sie nicht viel mit Fremden. Ihr Tun kam ihm kindisch vor, oder extrem provinziell. Natürlich gab es ganze Terrarien voll mit solchen Leuten, bislang hatte er die Merkurianer als höchst kultivierte Menschen kennengelernt, bestens bewandert in Geschichte, Kunst und Kulturgeschichte. Nun wurde ihm klar, dass das nicht uneingeschränkt zutraf. Irgendwie war er davon ausgegangen, dass es sich bei den Sonnenanbetern um Anhänger der verschiedenen frühen Sonnenreligionen des alten Ägypten, Persiens und der Inka handeln würde – aber nein. Sie mochten einfach nur die Sonne.

Es sah ganz danach aus, dass sie zwischen den Wegstationen die eine oder andere Nacht auf dem nackten Tunnelboden wurden verbringen müssen. »Jeden dritten Tag können wir Vorräte fassen«, sagte Swan. »Das ist ein gutes Ziel.«

»Vielleicht schaffen wir sogar noch mehr«, sagte Tron schüchtern.

Tron war der oder die mit dem gebrochenen Arm, also hielt Wahram sich zurück und sagte nicht, dass für ihn persönlich 33 Kilometer am Tag wahrscheinlich genug waren, wenn nicht gar zu viel. Die Vorstellung, dass er dem Rest der Gruppe möglicherweise ein Klotz am Bein sein würde, war entmutigend. In jedem Fall beaufsichtigte Swan das Packen der Rucksäcke, die sie in den Schränken mit den Notvorräten gefunden hatten: Hinein kamen ihre Raumhelme, ein Notvorrat Luft, Wasserflaschen, Essen, Luftmatratzen und ein kleiner Topf mit Kocher. Eine Rolle Aerogel-Decken, die nicht besonders warm aussahen, aber Swan erklärte, dass die Temperatur im Tunnel sich halten würde, und es war recht warm.

Also folgten sie dem Gang. Wahrscheinlich würde es wie eine ausgedehnte Höhlenexpedition werden. Ihre Rucksäcke enthielten auch kleine Stirnlampen, obwohl sie die im Moment nicht brauchen, da sich etwa alle zwanzig Meter ein Quadrat aus warmem, gelbem Licht an der Decke befand, das den harten Felsboden erleuchtete. Swan erklärte, dass sie sich etwa fünfzehn Meter unter der Oberfläche befanden. Der Tunnel war durch Regolithgestein gebohrt und heiß geglättet worden, sodass zahlreiche Wirbel und mineralische Farbeinsprengsel entstanden waren, die an die Schnittflächen mancher Meteoriten erinnerten. In einigen Abschnitten zogen sich Silberbögen über einen Zinnfarbton und dann über Pechschwarz. Man hatte den Boden so weit aufgeraut, dass er den Füßen guten Halt bot. Aufgrund der engen Krümmung des Merkur verschmolzen die weiter entfernten Deckenlichter zu einem einzigen Lichtbalken. Es war, als könnten sie eine Linie sehen, die rund um den Planeten lief, was Wahram irgendwie ermutigend fand. Die Vorstellung, dass sie vierzig Tage am Stück täglich 33 Kilometer laufen mussten, machte ihn fertig. Er musste sich daran erinnern, dass sie sich auf dem 45. südlichen Breitengrad befanden, der Weg also nicht so weit war, wie er am Äquator gewesen wäre. Er erinnerte sich, dass die Schienen Terminators an einigen Stellen sogar noch weiter nach Süden reichten. Es hätte schlimmer kommen können.

Also. Eine Stunde laufen, in einem Tunnel, der sich kaum und nur in wiederkehrenden Mustern veränderte. Anhalten, sich auf den Boden setzen, ein Weilchen ausruhen. Dann eine weitere Stunde laufen. Nach insgesamt drei Stunden anhalten und essen. Schon dieser Abschnitt kam ihm lang vor, wie eine Woche oder mehr in normaler menschlicher Zeit, in der Zeit im Kopf. Aber sie wiederholten den Vorgang dreimal, bevor sie für eine größere Mahlzeit haltmachten. Dann schliefen sie acht bis neun Stunden.

Stunde, Stunde, Stunde; Stunde, Stunde, Stunde; Stunde, Stunde, Stunde.

Wahrams Gefühl, dass die Zeit sich dehnte, nahm stetig zu. Es war schwer zu sagen, warum es ihm so lang vorkam; er hätte gedacht, dass die Wiederholung der täglichen Ereignisse dem Ablauf eine gewisse Stromlinienförmigkeit geben und die Stunden schneller verstreichen lassen würde; aber nein. Stattdessen zog sich alles deutlich in die Länge. Am Ende eines jeden Tages, wenn er sich fußwund und erschöpft zum Schlafen niederließ, konnte er sich auf seiner Luftmatratze ausstrecken und sagen: »Einer geschafft, bleiben noch siebenunddreißig«, oder sogar: »bleiben noch dreiunddreißig«, und dabei verspürte er einen kleinen Stich der Verzweiflung. Jede Stunde kam ihm wie eine Woche vor. Konnten sie das durchhalten?

Die Sonnenläufer gingen normalerweise ein Stück voraus, und wenn Wahram und Swan bei den Pausen zu ihnen aufschlossen, machten sie bereits Tee. Dann, eine ganze Weile, bevor Wahram bereit zum Aufstehen und Weitergehen war, machten die jungen Wilden sich mit einem beinahe verlegenen Nicken und Winken schon wieder davon. Also verbrachte er den Großteil seiner Zeit mit Swan.

Offenbar war sie nicht besonders glücklich mit dieser Wanderung, obwohl es ihre Idee gewesen war. Doch die Alternative war wohl in ihren Augen noch schlimmer, und man musste sie einfach in stummem oder beredtem Elend ertragen. An manchen Tagen ging sie vor, an anderen fiel sie zurück. »Irgendwann wird mir schlecht werden«, sagte sie einmal. Wahram wurde klar, dass ihr die Lage noch weniger gefiel als ihm – weit weniger als ihm, und das sagte sie ihm auch. Es war abscheulich hier unten, erklärte sie ihm; sie litt an Klaustrophobie; sie ertrug es nicht, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten; sie brauchte täglich große Mengen Sonnenlicht; und sie brauchte viel Abwechslung und neue Eindrücke bei ihren täglichen Verrichtungen. All das war für sie unabdingbar, und das sagte sie Wahram ziemlich deutlich. »Es ist alles so grauenhaft«, rief sie oft aus, wobei sie die drei Silben des letzten Worts jeweils einzeln betonte, um ihm Nachdruck zu verleihen. »Grauenhaft, grauenhaft, grauenhaft. Ich halte das einfach nicht aus.«

»Lass uns von etwas anderem reden«, schlug Wahram dann meistens vor.

»Wie denn bitte? Es ist grau-en-haft.«

Trotzdem war nur die jeweils erste Stunde ihrer einschließlich Pausen zwölfstündigen Tagesmärsche von Swans endloser Wiederholung dieser Feststellung angefüllt. Danach befand Wahram es normalerweise für angemessen, darauf hinzuweisen, dass sie über etwas anderes reden mussten, wenn sie unnötige Belastungen auf beiden Seiten vermeiden wollten.

»Bist du mich schon leid?«, schlussfolgerte Swan aus dieser Feststellung.

»Ganz und gar nicht. Ich fühle mich hervorragend unterhalten. Es ist interessant mit dir. Aber dieses Motiv einer ebenso unglückseligen wie unvermeidlichen Reise ist begrenzt. Es gibt nichts Neues mehr aus ihm herauszuholen. Ich will eine andere Geschichte hören.«

»Da hast du ja Glück, ich wollte nämlich gerade das Thema wechseln.«

»Das ist tatsächlich ein Glück.«

Sie trottete vor ihm her. Es gab keinen Grund, sich mit der Fortsetzung ihres Gesprächs zu beeilen: Sie hatten den ganzen Tag lang Zeit. Wahram beobachtete, wie sie vor ihm herging: Ihre Schritte waren elegant und ausgreifend, sie war in ihrer heimatlichen Schwerkraft und bewegte sich geschmeidig, effizient. Innerhalb kurzer Zeit konnte sie einen großen Vorsprung vor ihm gewinnen. Bislang wirkte sie nicht krank. Manchmal hörte er, wie sie sich mit ihrem Qube unterhielt. Aus irgendeinem Grund hatte sie Paulines Stimme so eingestellt, dass man sie auch von außen hören konnte; vielleicht wollte sie ihr kleines Versprechen ihm gegenüber halten. Die Unterhaltungen zwischen den beiden klangen fast immer nach Streit. Swans Tonfall war bestimmt und einschüchternd, aber Paulines durch Swans Haut leicht gedämpfte Alt-Stimme klang ebenfalls auf eine störrische Art streitlustig. Je nachdem, wie man sie programmierte, konnten Qubes zähe Diskussionsgegner sein, Wortklauber erster Güte. Einmal konnte Wahram eine Unterhaltung belauschen, die wohl schon seit einer Weile lief. Swan sagte gerade: »Arme Pauline, an deiner Stelle wäre ich wirklich traurig! Du tust mir ja so leid! Es muss sich schrecklich anfühlen, nur ein Paket von Algorithmen zu sein!«

Pauline sagte: »Das ist das rhetorische Mittel namens Anacoenosis, bei der man so tut, als wäre man anstelle seines Gegners.«

»Nein, überhaupt nicht«, versicherte ihr Swan. »Ich fühle wirklich mit dir. Nur aus so ein paar Qubits zu bestehen, nur aus einer Folge von Algorithmen. In Anbetracht dessen machst du dich eigentlich recht gut.«

Pauline sagte: »Das ist das rhetorische Mittel namens Synchoresis, bei dem man ein Zugeständnis macht, um dann gleich wieder zum Angriff überzugehen.«

»Vielleicht hast du recht. Ich weiß gar nicht, warum ich dich für dumm gehalten habe, obwohl du doch so machtvolle Argumente hast. Aber trotzdem …«

»Das ist eine Kombination von Sarkasmus und Aporie in dem negativen Sinne, den ich bereits zuvor erwähnte, ein Moment des Zweifels, oft vorgetäuscht, der einer erneuten Attacke vorausgeht.«

»Und diese Verteidigung bezeichnet man als Kasuistik, bei der man sich, wenn man nichts zu sagen hat, in eine Wolke von Geschwätz zurückzieht. Vielleicht hast du ja recht, vielleicht geht es einfach nur um schlaues Bewusstsein und um dummes Bewusstsein. Das würde so einiges erklären.«

Pauline schien sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. »Ich bin gerne dazu bereit, unsere Sprechakte einer Doppelblind-Studie zu unterwerfen, um festzustellen, ob sich zwischen deinen und meinen Aussagen überhaupt ein Unterschied feststellen lässt.«

»Wirklich?«, fragte Swan. »Willst du damit sagen, dass du einen Turing-Test bestehen würdest?«

»Das hängt davon ab, wer die Fragen stellt.«

Swan lachte höhnisch, aber Wahram konnte heraushören, dass sie ehrlich belustigt war. Immerhin dazu war der Qube gut.

Alle halbe Stunde wechselten sie sich mit dem Vorgehen ab, einfach nur, um die Zeit im Blick zu behalten und um die spärliche Aussicht etwas zu variieren. Oft sprachen sie längere Zeit nicht miteinander; sie hätten auch gar nicht ununterbrochen reden können, dachte sich Wahram. In jedem Fall wanderten sie oft mehrere Minuten am Stück schweigend einher. Die Tunnellichter über ihren Köpfen schienen sich aus eigener Kraft nach hinten zu bewegen, als liefen sie auf einem ungeheuren Riesenrad, mit dessen Drehgeschwindigkeit sie gerade so mithalten konnten. Nach einer Stunde taten Wahram die Füße weh, und er war froh, sich setzen zu können. Sie benutzten ihre Aerogel-Schlafmatratzen als Sitzkissen. Ihre Mahlzeiten kamen aus Folienpäckchen, die sich bei der Notfallausrüstung in den Stationen fanden, und waren größtenteils geschmacklos. Nach einer Weile tranken sie am liebsten Wasser, obwohl es Pülverchen gab, die man nach Wunsch hineinmischen konnte.

Normalerweise machten sie eine halbe Stunde Pause. Wenn er länger saß, wurden Wahrams Glieder steif und Swan wurde unruhig. Und die Sonnenläufer würden einen zu großen Vorsprung gewinnen. Also stemmte sich Wahram jedes Mal ächzend hoch und ging wieder los. »Meinst du, dass wir in einer dieser Stationen Gehstöcke finden?«

»Wohl kaum. Wir können bei der nächsten mal schauen. Vielleicht können wir etwas improvisieren.«

Wenn sie länger geschwiegen hatten, blaffte Swan manchmal unvermittelt: »Na schön, erzähl mir was! Erzähl mir von dir! Was ist das Erste, woran du dich erinnern kannst?«

»Ich weiß nicht«, sagte Wahram, während er in seinem Gedächtnis forschte.

»Meine erste Erinnerung«, sagte sie, »stammt aus der Zeit, als ich laut meiner Eltern drei war. Meine Eltern gehörten zu einer Hausgemeinschaft, die ans andere Ende der Stadt ziehen wollte. Ich glaube, wir haben von Norden nach Süden getauscht, um beim Vorbeiziehen einen Blick auf die andere Hälfte des Umlands zu haben. Oder vielleicht haben sie mir das auch bloß erzählt. Es gab also einen Haufen Wagen, und beide Häuser karrten ihr Zeug hin und her. Der gesamte Besitz meiner Familie passte auf einen Generatorkarren und zwei Handkarren. Als unser Zuhause ausgeräumt war, nahm meine Mutter mich noch mal mit rein, und es hat mir Angst gemacht. Ich glaube, deshalb erinnere ich mich noch daran. Mein Zimmer sah leer so viel kleiner aus, und das kam mir irgendwie verdreht vor, als wäre die Welt zusammengeschrumpft, und das machte mir Angst. Wir füllen Zimmer, um sie größer zu machen. Dann sind wir wieder rausgegangen, und das andere Bild, das zusammen mit dem von dem leeren Zimmer hängen geblieben ist, war all das Zeug auf dem Karren, und wie alle daneben am Wegesrand standen, unter einer Baumgruppe. Hinter den Bäumen sah ich hier und da die Dämmerungsmauer.«

Eine Weile wanderten sie schweigend weiter, und das leere Knurren in Wahrams Magen sagte ihm, dass es bald Zeit für die nächste Mahlzeit war.

»Das ist jetzt alles niedergebrannt«, sagte sie.

Ihre Stimme klang ungewöhnlich ruhig. Offenbar trauerte sie nun in anderer Weise.

»Sobald die Sonne so hoch stand, dass die Stadt nicht mehr im Schatten der Dämmerungsmauer lag«, fügte sie hinzu, »ist es sicher schnell gegangen.«

»Ich weiß, dass die Schienen auf der Sonnenseite nicht schmelzen«, sagte Wahram. »Sonst noch etwas?«

»Die Infrastruktur der Stadt dürfte erhalten geblieben sein«, gab sie zu. »Die Hülle. Einige Metalle, Keramiken, Mischungen von beidem. Glasartige Metalle. Und der ganz gewöhnliche, gehärtete rostfreie Stahl. Wir werden sehen. Es wird sicher interessant herauszufinden, wie sie aussieht, wenn die Nacht wieder hereinbricht. Dann ist wahrscheinlich alles bis auf ihr Gerippe verbrannt. Die Pflanzen sind wahrscheinlich gestorben, sobald sie der Sonne ausgesetzt waren. Alle Pflanzen und Tiere werden wohl inzwischen tot sein, selbst die Bakterien und so. Wir müssen es wieder aufbauen.«

»Vielleicht«, erwiderte er.

»Wie meinst du das?«

»Nun ja, man wird sicher erst herausfinden wollen, was mit den Schienen vorgefallen ist, und sichergehen, dass etwas Ähnliches nicht noch einmal passieren kann. Oder die Konstruktionsweise ändern. Man könnte die Stadt beispielsweise von den Schienen befreien und auf Rädern durch die Lande rollen lassen.«

»Dafür bräuchte man einen Antrieb«, bemerkte sie. »Bislang hat die Ausdehnung der Schienen die Stadt vorangetrieben.«

»Tja, dann wird es interessant zu sehen, wie die Sache weitergeht.« Wahram zögerte. »Es wäre sinnlos, die Stadt wieder aufzubauen, nur damit es erneut zu so einem Vorfall kommt.«

»Wenn es ein extrem unwahrscheinlicher Unfall war, würde er sich wohl kaum wiederholen.«

»So wie ich es verstanden habe, hatte man sich eigentlich schon gegen alle derartigen Unwägbarkeiten abgesichert.«

»So habe ich das auch verstanden. Willst du damit andeuten, dass es sich um eine Art Angriff gehandelt hätte?«

»Tja nun, ich habe zumindest über die Möglichkeit nachgedacht. Denk doch nur daran, was uns auf Io widerfahren ist.«

»Aber warum sollte jemand Terminator angreifen?«, wollte sie wissen. »Und warum die Stadt angreifen und sie dann um ein paar Kilometer verfehlen, sodass sie zwar vernichtet wird, die Bewohner aber überleben?«

»Ich weiß nicht«, sagte Wahram voll Unbehagen. »Es wird viel über den Konflikt zwischen Erde und Mars geredet und darüber, dass er zu einem Krieg führen könnte.«

»Ja«, sagte sie, »aber letztlich kommen die Leute immer zu dem Schluss, dass so etwas unmöglich wäre, weil alle viel zu verwundbar sind. Am Ende würde man sich nur gegenseitig auslöschen, wie immer.«

»Darüber habe ich auch schon die ganze Zeit nachgedacht«, räumte Wahram ein. »Wie wäre es mit einem Erstschlag, der nach einem Unfall aussieht und so gut gelingt, dass niemand den Angreifer erkennt, während das Opfer praktisch ausgelöscht wird? In einem derartigen Szenario könnte man meinen, dass es nicht mit Sicherheit zur gegenseitigen Auslöschung kommt.«

»Aber wer hätte ein Interesse daran?«, fragte Swan.

»Fast jede Macht auf der Erde könnte sich etwas davon versprechen. Die sind dort unten sicherer als irgendwer sonst. Und der Mars interessiert sich bekanntermaßen nur für sich selbst, und außerdem kann man ihm nicht mit einem einzigen Pfeil die Luft ablassen. Nein, meiner Meinung nach ist es durchaus denkbar, dass es da draußen Kräfte gibt, die sich für unverwundbar halten. Oder die so wütend sind, dass ihnen die Konsequenzen egal sind.«

»Aber was könnte der Grund dafür sein?«, fragte Swan. »Was löst eine derartige Wut aus?«

»Ich weiß nicht … sagen wir Nahrung, Wasser, Land … Macht … Prestige … Ideologie … materielle Vorteile … Wahnsinn. Das sind die üblichen Motive, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich schon!« Sie klang entsetzt, dass er so eine Liste erstellen konnte, als wäre so etwas nicht Teil des Diskurses auf dem Merkur, obwohl es sich schlicht und einfach um Machiavelli handelte, oder um Aristoteles. Pauline kannte diese Liste sicher.

»Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »ich bin sehr gespannt, wie die Leute darüber reden, wenn wir hier raus sind.«

»Wir haben nur noch dreißig Tage vor uns«, sagte sie grimmig.

»Einen Schritt nach dem andern«, sagte er mit einem gewissen sportlichen Ehrgeiz.

»Ach bitte! So betrachtet ist das ja eine Ewigkeit

»Ganz und gar nicht. Aber ich muss nicht davon reden.«

Nach einer Weile sagte er: »Es ist interessant, wie der Moment kommt, in dem man plötzlich hungrig ist. Eben war man es nicht, und plötzlich dann doch.«

»Das ist nicht interessant.«

»Mir tun die Füße weh.«

»Das ist auch nicht interessant.«

»Jeder Schritt ist ein kleiner Nadelstich, oder zumindest jeder zweite. Wahrscheinlich eine Plantar Fasciitis.«

»Möchtest du dich ausruhen?«

»Nein. Meine Füße sind nur wund, nicht verletzt. Und sie werden heiß. Und dann müde.«

»Ich hasse es.«

»Trotzdem sind wir hier.«

Die Stunde verstrich. Die Pause verstrich. Die nächste Stunde verstrich. Alles Weitere verstrich. Der Tunnel blieb sich immer gleich. Die Stationen jeden dritten Abend blieben sich gleich, wenn auch nicht absolut. Sie plünderten jede einzelne aus, auf der Suche nach etwas Neuem. Am oberen Ende der Fahrstuhlschächte lag die Oberfläche des Merkur in der vollen Sonne. Die Stellen, die direkt vom Licht getroffen wurden, wurden bis zu 700 Kelvin heiß; da es keine Luft gab, gab es auch keine Lufttemperatur. Inzwischen befanden sie sich unterhalb des Tolstoi-Kraters; Pauline war für die Navigation zuständig und musste sich allein auf ihre Berechnungen verlassen; hier unten bekam ihre kleine Funkeinheit keinen Kontakt. Keines der Telefone in den Stationen funktionierte. Swan vermutete, dass sie nur mit den Aufzügen verbunden waren – oder das gesamte System war bei dem Einschlag zerstört worden, und wegen der fortbestehenden Krisensituation der Einwohnerschaft Terminators und aufgrund des Umstands, dass der eingestürzte Teil des Tunnels nun der Sonne ausgesetzt war, stand niemand zur Verfügung, um es zu reparieren.

Stunde um Stunde gingen sie. Die Tage verschwammen zunehmend ineinander, zumal man sich ja bei Bedarf auf Pauline verlassen konnte. Das Pseudoiterativ war noch nie weniger pseudo gewesen. Das hier war das wahre Iterativ. Swan ging vor Wahram und ließ dabei die Schultern hängen, als wollte sie pantomimisch Niedergeschlagenheit darstellen. Die Minuten zogen sich hin, bis ihnen jede einzelne wie zehn vorkam; es war eine exponentielle Ausdehnung der Zeit, eine dickflüssige Verzögerung. Sie würden also zehnmal so lange leben. Er suchte nach etwas, das er sagen konnte, ohne Swan damit zu verärgern. Sie sprach gerade knurrend mit Pauline.

»Als Kind habe ich immer gepfiffen«, sagte er und versuchte es mit einem einzigen Ton. Seine Lippen fühlten sich dicker an als in seinen Kindertagen. Ach ja – die Zunge dichter an den Gaumen. Sehr schön. »Ich habe immer die Melodien der Symphonien, die ich mochte, gepfiffen.«

»Dann pfeife«, sagte Swan. »Ich pfeife auch.«

»Tatsächlich!«, sagte er.

»Ja. Habe ich dir doch erzählt. Aber du zuerst. Kannst du etwas von Beethoven, etwas, das wir auf dem Konzert gehört haben?«

»Ja, ein bisschen. Nur ein paar Melodien.«

»Dann mach das.«

In Wahrams Jugend hatte es eine Phase gegeben, in der jeder Morgen mit Beethovens Eroica hatte beginnen müssen, der Dritten Symphonie, mit der Beethoven seinen Durchbruch gehabt hatte und die ein neues musikalisches Zeitalter und tatsächlich sogar ein neues Zeitalter des menschlichen Geistes eingeläutet hatte. Beethoven hatte sie geschrieben, nachdem er erfahren hatte, dass er taub werden würde. Wahram pfiff also die unwiderstehlichen ersten beiden Noten des ersten Satzes und dann den Hauptteil in einem Tempo, das zu seinem Schritttempo passte. Das war irgendwie gar nicht so schwer. Während er vor sich hin pfiff, war er sich nie sicher, ob ihm die nächste Passage noch einfallen würde, doch immer, wenn er an den Punkt kam, an dem die Melodie sich veränderte, folgte eines unvermeidlich aus dem anderen und entströmte ihm in recht zufriedenstellender Weise. Irgendwo in ihm drin wurden diese Dinge bewahrt. Die Reihe langer, komplexer Melodien folgte in stetem Fluss der zwingenden Logik von Beethovens Geist. Und es war eine dichte, unausweichliche Abfolge aufwühlender Stücke. Die meisten Passagen erforderten eigentlich Kontrapunkte und vielstimmige Harmonien, und Wahram sprang von einer Instrumentalgruppe zur nächsten, je nachdem, welche in seinen Ohren gerade die Hauptmelodie zu spielen schien. Trotzdem wurde die Großartigkeit von Beethovens Musik selbst in diesen ungeübt gepfiffenen Einzeltönen hier in diesem Tunnel greifbar. Es schien, als ob die drei Sonnenläufer sich ihnen wieder näherten, um besser zu hören. Nach dem ersten Satz stellte Wahram fest, dass die anderen drei Sätze ihm ebenso vollständig wie der erste wieder einfielen, und als er fertig war, waren vierzig Minuten vergangen, genau so viel Zeit, wie ein Orchester gebraucht hätte, um die Symphonie vollständig zu spielen. Die großen Variationen des Finales waren so aufrüttelnd, dass er bei seiner Darbietung beinahe zu hyperventilieren begann.

»Wundervoll«, sagte Swan, als er fertig war. »Wirklich gut. Was für Melodien. Mein Gott. Mehr davon. Kannst du noch mehr?«

Wahram musste lachten. Er überlegte. »Tja, ich könnte wohl die Vierte, Fünfte, Sechste, Siebente und Neunte. Und ein paar Stücke aus den Quartetten und Sonaten vielleicht. Aber ich fürchte, bei vielen davon würde ich den Faden verlieren. Bei den späten Quartetten vielleicht nicht. Zu deren süßen Melodien habe ich gelebt. Ich müsste mal ausprobieren, wie es läuft.«

»Wie kannst du dir so viel davon merken?«

»Ich habe lange Zeit nichts anderes gehört.«

»Das ist verrückt. Na schön, dann versuch’s mal mit der Vierten. Du kannst sie einfach der Reihe nach machen.«

»Später bitte. Ich muss mich ausruhen. Meine Lippen sind schon völlig kaputt, sie fühlen sich doppelt so dick an. Im Moment sind sie wie dicke alte Dichtungsringe.«

Lachend ließ sie von ihm ab. Doch eine Stunde später brachte sie das Thema erneut auf und klang dabei, als würde sie zutiefst enttäuscht sein, wenn er ablehnte.

»Na schön, aber du musst mitmachen«, sagte er.

»Aber ich kenne die Melodien nicht. Ich erinnere mich einfach nicht an Sachen, die ich gehört habe.«

»Darauf kommt es nicht an«, erwiderte Wahram. »Pfeif einfach. Du hast gesagt, du würdest pfeifen.«

»Das mache ich auch, aber es klingt so.«

Sie pfiff ein bisschen: ein prächtiger musikalischer Wirbel, genau wie von einem Singvogel.

»Wow, du klingst ja wie ein Vogel«, sagte er. »Sehr gleitende Glissandi, und ich-weiß-nicht-was, aber genau wie ein Vogel.«

»Ja, stimmt. Ich habe ein paar Lerchen-Polypen in mir drin.«

»Du meinst … im Gehirn? Vogelgehirne, in deinem eigenen?«

»Ja. Alauda arvensis. Und auch ein bisschen Sylvia borin, die Gartengrasmücke. Aber wusstest du, dass Vogelgehirne völlig anders organisiert sind als Säugetiergehirne?«

»Nein.«

»Ich dachte, alle wüssten das. Ein Teil der Qube-Architektur basiert auf Vogelgehirnen, deshalb war das für eine Weile im Gespräch.«

»Ich wusste es nicht.«

»Tja, wir Säugetiere denken in Zellschichten, die über unserem Cortex verteilt sind, während Vögel in Zellhaufen denken, die wie Trauben angeordnet sind.«

»Das wusste ich auch nicht.«

»Man kann also seine eigenen Stammzellen nehmen und die DNA von Lerchengesangs-Hirnzentren einsetzen, und dann kann man sie durch die Nase ins Gehirn einführen, wo sie einen kleinen Zellhaufen im limbischen System bilden. Wenn man dann pfeift, verbindet dieser Haufen sich mit dem bereits bestehenden musikalischen Netzwerk. Das sind alles sehr alte Teile. Die sind ohnehin schon fast wie Vogel-Gehirnteile. Die neuen Bereiche werden also eingestöpselt, und los geht’s.«

»Das hast du gemacht?«

»Ja.«

»Wie hat es sich angefühlt?«

Zur Antwort pfiff sie. Ein weiches Glissando ging ins nächste über: helles Vogelgezwitscher, hier bei ihnen im Tunnel.

»Erstaunlich«, sagte Wahram, »ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist. Eigentlich solltest du hier pfeifen und nicht ich.«

»Es stört dich nicht?«

»Im Gegenteil.«

Also pfiff sie, während sie weitergingen, und zwar manchmal die ganze Stunde zwischen ihren Pausen. Ihr fröhliches Gezwitscher wechselte zwischen allerlei Phasen und Phrasen, die Wahram so vielfältig vorkamen, dass es sich um den Gesang von mehr als zwei Vogelarten handeln musste. Aber er war sich nicht sicher, und ihm kam der Gedanke, dass sie durch ihren Körper stimmlich ebenso eingeschränkt war wie jeder Vogel auch. Vielleicht handelte es sich also bloß um Varianten der Lieder, die ein echter Singvogel sang. Prachtvolle Musik! Manchmal klang sie ein bisschen nach Debussy, und natürlich waren da auch Messiaens explizite Vogelimitationen. Doch Swans Pfeifen war ausgefallener, wiederholte sich stärker, mit unzähligen Variationen der Motive. Oft wiederholte sie eindringliche Ostinato-Triller, die ihn manchmal nicht mehr losließen und geradezu verrückt machten.

Nachdem sie aufgehört hatte, konnte er sich immer noch einige ihrer Melodien in Erinnerung rufen. Wale hatten natürlich auch Lieder, aber mit Sicherheit waren Vögel die ersten Musiker gewesen. Es sei denn, die Dinosaurier hatten auch schon musiziert. Er meinte sich zu erinnern, dass Hadrosaurier-Schädel tiefe Höhlungen hatten, die nur dem Zweck dienen konnten, Laute zu erzeugen. Es war interessant, sich vorzustellen, was für Geräusche sie wohl von sich gegeben haben mochten. Er summte sogar ein wenig, um auszuprobieren, wie es sich in seiner eigenen tiefen, fassförmigen Brust anfühlte.

»War das jetzt der Vogel oder du?«, fragte er, als sie eine Pause einlegte.

»Wir sind ein und dieselbe«, antwortete sie.

Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Mozarts Star in einem Käfig hat einmal eine Phrase abgewandelt, die Mozart geschrieben hat. Der Vogel hat sie gesungen, nachdem Mozart sie auf dem Klavier gespielt hatte, aber dabei alle Kreuze in Bs umgewandelt. Mozart hat das am Rande des Notenblatts beschrieben. ›Es war wunderschön!‹, schrieb er. Als der Vogel starb, sang er bei seiner Beerdigung und las ihm ein Gedicht vor. Und seine nächste Komposition, die der Verleger Ein musikalischer Spaß nannte, war im Star-Stil.«

»Hübsch«, sagte Wahram. »Es stimmt schon, dass Vögel seit jeher intelligent wirken.«

»Tauben nicht«, erwiderte sie. Doch dann fügte sie in düstererem Tonfall hinzu: »Man kann entweder über hochspezialisierte Intelligenz verfügen oder über eine hohe allgemeine Intelligenz, aber nicht über beides.«

Wahram wusste nicht, was er dazu sagen sollte; der Gedanke hatte sie mit einem Mal missmutig werden lassen. »Tja. Wir sollten zusammen pfeifen.«

»Damit wir beides haben?«

»Was?«

»Vergiss es. In Ordnung.«

Also fing er wieder mit der Eroica an, und diesmal pfiff sie mit und ergänzte seine Melodien mit ihrem Vogelgesang um einen Kontrapunkt oder um eine Oberstimme. Ihre Teile passten sich wie interne Kadenzen oder Jazzimprovisationen an seine an, und in Beethovens stärker heroischen Momenten, die ziemlich häufig vorkamen, steigerten ihre Beiträge sich zu rasend schnellen Improvisationen, als hätte Beethovens Kühnheit bei dem Vogel in ihrem Innern einen Anfall ausgelöst.

Gemeinsam pfiffen sie einige höchst aufwühlende Duette, womit sie die Zeit jedenfalls deutlich anders rumbrachten als bisher. Man brauchte das Geschenk der Zeit, dachte er, um derartige Freuden zu erkunden. Er konnte alle ihm bekannten Stücke Beethovens durchgehen; und danach alle vier Symphonien von Brahms, so edel und von Herzen; und die letzten drei Symphonien von Tschaikowsky. All die großartigen Momente von der Tonspur seiner ach so romantischen Jugend. Swan war derweil für alles zu haben, und mit ihren biologischen Erweiterungen fügte sie den Melodien eine wilde, verschnörkelte oder avantgardistische Note hinzu. Oft verblüfften ihre Beiträge ihn. Die durchdringenden Klänge trugen weit durch den Tunnel, und manchmal wurden die Sonnenläufer langsamer und gingen unmittelbar vor ihnen, wippten zur Musik und pfiffen sogar selbst, nicht besonders gekonnt, aber mit Hingabe. Das Finale von Beethovens Siebter kam bei ihnen als Wanderlied besonders gut an, und wenn sie sich nach einer Pause wieder aufmachten, baten die Sonnenläufer oft darum, den Stoß ins Horn zu hören, mit dem Tschaikowskys Vierte begann, und anschließend das erste Thema, das so erfüllt war von dem Gefühl eines dunklen und großen Schicksals, das all ihre Schritte lenkte.

Am Ende einer ihrer gemeinsamen Interpretationen von Beethovens Neunter schüttelten sie alle verwundert die Köpfe, und Nar drehte sich um und sagte: »Also wirklich, ihr beiden seid gute Pfeifer! Was für Melodien!«

»Tja«, sagte Wahram. »Die sind von Beethoven.«

»Ach so. Ich dachte, man nennt das Pfeifen.«

»Wir dachten, dass ihr euch das ausdenkt«, fügte Tron hinzu. »Wir waren echt beeindruckt.«

Später, als die drei Jugendlichen weiter vorne waren, fragte Wahram: »Sind alle Sonnenläufer so?«

»Nein!«, rief Swan verärgert. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich selbst Sonnenläuferin bin.«

Er wollte nicht, dass sie verärgert war. »Sag mal, hast du dir noch andere interessante Sachen ins Gehirn einsetzen lassen?«

»Allerdings.« Sie klang noch immer sauer. »Es gibt noch eine ältere KI, aus meiner Kinderzeit, die man mir in den Corpus Callosum eingesetzt hat, um mir gegen die Krampfanfälle zu helfen, die ich damals hatte. Und ein Stück von einem Geliebten – wir wollten einige unserer sexuellen Reaktionen gemeinsam erleben und sehen, wohin uns das führt. Wie sich herausstellte, hat es nirgendwohin geführt, aber dieses Stückchen von ihm ist wahrscheinlich immer noch da drin. Und dann gibt es auch noch Zeug, über das ich nicht reden möchte.«

»Liebe Güte. Ist das verwirrend?«

»Überhaupt nicht.« Ihr Tonfall wurde immer grimmiger. »Hast du etwa nichts in dir drin?«

»In gewisser Weise schon. Das hat wohl jeder«, beschwichtigte er sie, obwohl er nur selten von so vielen Gehirneingriffen an einer Person gehört hatte wie bei ihr. »Ich nehme etwas Vasopressin und etwas Oxytocin, wie empfohlen.«

»Die werden beide aus Vasotocin gewonnen«, stellte sie fest. »Die drei Stoffe unterscheiden sich nur in jeweils einer Aminosäure. Deshalb nehme ich Vasotocin. Es ist ein sehr alter Stoff, so alt, dass er sogar das Sexualverhalten von Fröschen steuert.«

»Liebe Güte.«

»Nein, es ist genau das, was du brauchst.«

»Ich weiß nicht. Mir geht es mit dem Oxytocin und dem Vasopressin bestens.«

»Oxytocin ist das soziale Gedächtnis«, sagte sie. »Ohne nimmt man andere Menschen überhaupt nicht wahr. Ich brauche mehr davon. Und wohl auch mehr Vasopressin.«

»Das Monogamie-Hormon«, sagte Wahram.

»Das Hormon für männliche Monogamie. Aber nur drei Prozent aller Säugetiere sind monogam. Ich glaube, sogar Vögel sind da besser.«

»Schwäne«, schlug Wahram vor.

»Ja. Aber monogam bin ich nicht.«

»Nicht?«

»Nein. Außer dass ich den Endorphinen die Treue halte.«

Stirnrunzelnd sagte er sich, dass das wohl ein Scherz sein sollte, und versuchte, ihn aufzugreifen. »Ist das nicht so ähnlich, wie wenn man einen Hund hat?«

»Ich mag Hunde. Hunde sind Wölfe.«

»Aber Wölfe sind nicht monogam.«

»Nein. Aber Endorphine sind es.«

Wahram seufzte. Er hatte das Gefühl, nicht mehr mitzukommen, aber vielleicht hatte auch sie den Faden verloren. »Es ist die Berührung von etwas Geliebtem, die die Endorphine anregt«, sagte er und beließ es dabei. Das Ende der Mondscheinsonate konnte man nicht pfeifen.

In jener Nacht, als sie auf ihren schmalen Aerogel-Matratzen unter ihren dünnen Decken im Tunnel schliefen, erwachte er und stellte fest, dass Swan umgezogen war und sich nun beim Schlafen mit ihrem Rücken an seinen drückte. Der daraus resultierende Oxytocin-Fluss tat seinen schmerzenden Hüften gut; das war eine Interpretationsmöglichkeit. Natürlich war der Drang, mit jemandem zusammen zu schlafen, die Freude daran, mit jemandem zusammen zu schlafen, nicht direkt mit Sex gleichzusetzen. Was ihn beruhigte. Ein Stück weiter hatten sich die drei jungen Wilden wie Kätzchen ineinandergekuschelt. Es war warm, oft zu warm im Tunnel, aber dicht am Boden wurde es kalt. Er hörte Swan ganz leise schnurren. Da waren wohl Katzengene im Spiel – davon hatte er schon gehört. Angeblich fühlte es sich gut an, ganz ähnlich wie Summen. Man empfand Vergnügen, schnurrte, fühlte sich besser; eine positive Feedback-Schleife, die erneut zu Vergnügen führte, das sich mit jedem Atemzug steigerte und klang wie das, was er bei ihr hörte. Eine andere Art von Musik. Gleichzeitig wusste er, dass kranke Katzen manchmal schnurrten, um sich für einen Moment Erleichterung zu verschaffen, oder sogar in der Hoffnung, zu gesunden, indem sie die Schleife in Gang setzten. Er hatte mit einer Katze zusammengewohnt, die gegen Ende ihres Lebens genau das getan hatte. Eine fünfzig Jahre alte Katze ist ein beeindruckendes Geschöpf. Der Verlust jenes uralten Eunuchen war eine von Wahrams ersten Verlusterfahrungen gewesen, weshalb er dessen Schnurren gegen Ende in besonders schmerzhafter Erinnerung hatte, der Klang eines Gefühls, das zu vielschichtig war, als dass er es in Worte hätte fassen können. Ein guter Freund von ihm war schnurrend gestorben, und nun ließ ihn Swans Schnurren besorgt erschauern.

Nach dem Schlafen ging es weiter den Tunnel entlang, verspannt und benommen. Die Morgenstunde. Er pfiff den langsamen Satz der Eroica, Beethovens Trauermarsch für sein Gehör, den er geschrieben hatte, während etwas in ihm gestorben war. »›Wir leben eine Stunde, und es ist immer die gleiche‹«, zitierte er. Dann folgte der langsame Satz des ersten der späten Quartette, Opus 127, Variationen eines Themas, so reichhaltig; ebenso majestätisch wie der Trauermarsch, aber hoffnungsvoller, verliebter in die Schönheit. Und dann folgte der dritte Satz, der so kraftvoll und fröhlich war, dass es auch ein vierter hätte sein können.

Swan bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Zum Teufel mit dir«, sagte sie. »Das macht dir doch Spaß.«

Sein basskrächzendes Gelächter fühlte sich gut in der Brust an, ein bisschen wie bei einem Hadrosaurier. »›Die Gefahr war wie Wein für ihn‹«, knurrte er.

»Woher kommt das?«

»Aus dem Oxford English Dictionary. Da habe ich es zumindest gesehen.«

»Du magst Zitate.«

»›Wir haben einen weiten Weg hinter uns und einen weiten Weg vor uns. Irgendwo dazwischen sind wir.‹«

»Na komm, woher ist das jetzt? Aus einem Glückskeks?«

»Ich glaube, es ist von Reinhold Messner.«

Er musste zugeben, dass es ihm wirklich irgendwie Spaß machte. Nur noch um die fünfundzwanzig Tage; das war keine so große Zahl. Das konnte er durchhalten. Es war das iterativste Pseudoiterativ, das er jemals erleben würde, und damit interessant, als eine Art Grenzfall dessen, was er sich zu wünschen meinte. Eine Übersteigerung ins Absurde. Und der Tunnel war eigentlich nicht so sehr ein Fall von Reizentzug als einer von Reizüberflutung, wenn auch nur in Form sehr weniger Elemente: die Tunnelwände, die Lichter, die vor und hinter ihnen an der Decke entlangliefen, so weit das Auge reichte.

Doch Swan machte das Ganze kein bisschen Spaß. Dieser spezielle Tag schien sogar der bislang schlimmste zu sein. Sie wurde langsamer, was er noch nie zuvor erlebt hatte, und zwar so sehr, dass er selbst seinen Schritt verlangsamen musste, damit er sie nicht abhängte.

»Geht es dir gut?«, fragte er, nachdem er gewartet hatte, bis sie ihn einholte.

»Nein. Mit geht es scheiße. Wahrscheinlich fängt es jetzt an. Spürst du etwas?«

Tatsächlich fühlten Wahrams Hüften, Knie und Füße sich wund an. Aber seinen Fußknöcheln ging es gut, und wenn er erst einmal unterwegs war, ließen die Beschwerden nach. »Ich habe Schmerzen«, gab er zu.

»Ich mache mir Sorgen wegen der letzten Sonneneruption, die wir gesehen haben. In dem Moment, in dem man die Dinger sieht, hat man schon Strahlung abbekommen, die früher ausgesandt wurde. Ich befürchte, dass wir gekocht worden sind. Mir geht’s dreckig.«

»Ich habe bloß Muskelkater. Aber du hast mir beim Aufzug auch Deckung gegeben.«

»Wahrscheinlich hat es uns verschieden stark erwischt. Ich hoffe es. Fragen wir die jungen Wilden, wie es ihnen geht.«

Das taten sie beim nächsten Halt. Ihren Mienen nach hatten die Sonnenläufer sich schon Sorgen gemacht, weil Swan und Wahram so lange gebraucht hatten. Tron fragte: »Wie läuft’s?«

»Ich fühle mich krank«, sagte Swan. »Wie geht es euch dreien?«

Sie warfen einander Blicke zu. »Bestens«, sagte Tron.

»Keine Übelkeit, kein Durchfall? Keine Kopf- oder Muskelschmerzen? Kein Haarausfall?«

Die drei Sonnenläufer schauten einander achselzuckend an. Sie waren früher mit dem Aufzug heruntergefahren.

»Ich habe keinen großen Appetit«, sagte Tron, »aber das Essen ist auch nicht besonders.«

»Mein Arm tut mir immer noch weh«, räumte Nar ein.

Swan warf ihnen wütende Blicke zu. Sie waren Sonnenläufer, jung und kräftig; sie taten, was sie sonst auch taten, sah man davon ab, dass sie diesmal unter der Erde waren und sich in entgegengesetzter Richtung bewegten. Dann blickte sie zu Wahram. »Was ist mit dir?«

Wahram sagte: »Ich habe Schmerzen. Ich kann nicht viel schneller gehen, als ich es ohnehin schon tue, und auch nicht viel länger, sonst geht bei mir was kaputt.«

Swan nickte. »Bei mir ist es genauso. Ich muss vielleicht sogar langsamer machen. Es geht mir schlecht. Deshalb habe ich überlegt, ob ihr drei nicht vorauseilen solltet, und wenn ihr die Abenddämmerung erreicht oder auf Menschen trefft, könnt ihr ihnen von uns erzählen.«

Die Sonnenläufer nickten. »Woher wissen wir, dass wir da sind?«, fragte Tron.

»Wenn ihr in zwei Wochen das nächste Mal eine Station erreicht, könnt ihr mit einem Aufzug hochfahren und nachsehen.«

»Alles klar.« Tron schaute zu Tor und Nar, und alle drei nickten. »Wir gehen Hilfe holen.«

»Genau. Aber geht nicht so schnell, dass ihr Schaden nehmt.«

Ab diesem Zeitpunkt waren Wahram und Swan nur noch zu zweit unterwegs. Eine Stunde laufen, eine halbe Stunde sitzen, neunmal hintereinander; dann eine ausgedehnte Mahlzeit und schlafen. Eine Stunde war eine lange Zeit. Neun davon kamen ihnen mit ihren Pausen zusammengenommen vor wie zwei Wochen. Dann und wann pfiffen sie, aber Swan ging es nicht besonders gut, und Wahram pfiff nicht gerne alleine, wenn sie ihn nicht darum bat. Manchmal ließ sie sich ein wenig zurückfallen, um sich zu erleichtern: »Ich hab Durchfall«, sagte sie einmal. »Ich muss meinen Anzug ausleeren.« Später sagte sie bloß noch: »Einen Moment mal«, und dann, nach fünf oder zehn Minuten, schloss sie wieder zu ihm auf, und es ging weiter. Sie wirkte ausgetrocknet. Außerdem wurde sie launisch und attackierte Pauline oft heftig, und manchmal auch Wahram. Sie war streitlustig, widerborstig, unleidig. Immer wieder war Wahram über ihr unfaires Verhalten, über die sinnlose Missstimmung, die sie aus nichtigen Anlässen verbreitete, verärgert. Dann wanderte er wortlos einher und pfiff halblaut düstere kleine Bruchstücke von Melodien. In diesen Momenten bemühte er sich, an eine Lektion zu denken, die er im Hort gelernt hatte, nämlich dass man sich bei Personen mit Stimmungsschwankungen die Tiefpunkte einfach wegdenken muss, um irgendwie zurechtzukommen. Sein Hort hatte aus sechs Personen bestanden, und eine davon hatte unter fast schon bipolaren Störungen gelitten. Letztlich war das Wahrams Meinung nach die Ursache dafür gewesen, dass die Gruppe sich mehr oder weniger aufgelöst hatte. Er selbst war besonders wenig in der Lage gewesen, jenen Menschen in seiner Gesamtamplitude wahrzunehmen. Zwischen sechs Leuten gab es insgesamt 30 Beziehungen, und die hexadezimalen Weisheiten besagten, dass alle diese Beziehungen bis auf höchstens ein oder zwei gut sein mussten, damit ein Hort bestehen konnte. Das war bei ihnen nicht einmal annähernd der Fall gewesen, aber später war Wahram klar geworden, dass die launische Person in ihren besseren Phasen diejenige war, die er am meisten vermisste. Daran musste er sich stets erinnern und daraus lernen.

Dann vergingen einmal zehn Minuten, in denen Swan weiter hinten im Tunnel verschwunden blieb, ohne wieder aufzutauchen; Wahram meinte, ein Stöhnen zu hören.

Also ging er zurück und fand sie lang hingestreckt auf dem Boden, kaum bei Bewusstsein, den Raumanzug bis zu den Fußknöcheln heruntergelassen. Offenbar war sie gerade dabei gewesen, sich zu entleeren. Und sie stöhnte tatsächlich.

»O nein!«, sagte er und kauerte sich neben ihr hin. Sie hatte immer noch ihr langärmeliges Hemd an, aber darunter war ihre Haut an der Seite, mit der sie auf dem Boden gelegen hatte, blau vor Kälte. »Swan, kannst du mich hören? Bist du verletzt?«

Er hielt ihren Kopf hoch. Ihre Augen waren leicht wässrig. »Verdammt«, sagte er. Er wollte ihren Raumanzug nicht über den Schlamassel zwischen ihren Beinen hochziehen. »Warte«, sagte er, »ich mache dich sauber.« Wie so ziemlich jeder hatte er genügend Windeln in seinem Leben gewechselt, sowohl bei Kindern als auch bei Alten, und er wusste, was er zu tun hatte. In einer Tasche seines Raumanzugs hatte er Toilettenpapier. Er selbst hatte sich in letzter Zeit einige Male schnellstens entleeren müssen, was ihm nun mit einem Mal größere Sorgen bereitete. Und außerdem hatte er Wasser und dank seines Anzugs sogar einige folienverpackte Feuchttücher. Die holte er also hervor, hob Swans Beine an und säuberte sie. Obwohl er den Blick abgewandt hielt, war nicht zu übersehen, dass sich inmitten ihres Schamhaars ein kleiner Penis mit Hodensack befand, etwa dort, wo sonst wohl ihre Klitoris gewesen wäre, vielleicht auch etwas höher. Ein Gynandromorph; das überraschte ihn nicht. Er säuberte sie möglichst schnell und sorgfältig, legte dann ihre Arme über seine Schultern, hob sie an – sie war schwerer, als er erwartet hatte – und zog ihren Raumanzug hoch. Sobald er die obere Hälfte über ihre Hüfte bekommen hatte, setzte er sie wieder ab. Er steckte ihre Arme in die Ärmel. Glücklicherweise halfen Raumanzug-KIs einem wie Butler dabei, sie anzulegen. Er musterte ihren kleinen, auf dem Boden liegenden Rucksack. Der musste mit. Er beschloss, ihn ihr wieder aufzusetzen. Nachdem er all das geschafft hatte, hob er sie hoch und trug sie vor sich auf den Armen. Da ihr Kopf weiter nach hinten runterbaumelte, als es ihm lieb war, hielt er an.

»Swan, hörst du mich?«

Sie stöhnte und blinzelte. Er bekam einen Arm in ihren Nacken und griff nach. »Was?«, sagte sie.

»Du hast das Bewusstsein verloren«, erklärte er. »Während du Durchfall hattest.«

»Oh«, sagte sie. Dann zog sie ihren Kopf hoch und legte die Arme um seinen Hals. Er ging wieder los. So schwer war sie nicht, jetzt, wo sie ihm dabei half, sie festzuhalten. »Ich habe schon gemerkt, dass ein Kreislaufkollaps im Anmarsch ist«, sagte sie. »Bekomme ich wieder meine Tage?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Fühlt sich so an, ich habe Krämpfe. Aber wahrscheinlich habe ich nicht genug Körperfett dafür.«

»Vielleicht nicht.«

Mit einem Mal zuckte sie in seinen Armen und löste sich von ihm, um ihm ins Gesicht zu schauen. »Liebe Güte. He, hör mal – manchen Leuten ist es unangenehm, mich anzufassen. Ich muss dir das sagen. Du weißt, dass manche Menschen etwas von Enceladus-Lebensformen einnehmen?«

»Einnehmen?«

»Ja. Ein Aufguss einer Bakterien-Suite. Sie essen gewisse Enceladaner, das soll gut für einen sein. Ich habe es auch gemacht. Vor langer Zeit. Manchen Leuten gefällt die Vorstellung halt nicht. Sie wollen nicht mal in Kontakt mit jemandem geraten, der das mal gemacht hat.«

Wahram schluckte beunruhigt und verspürte einen Anflug von Übelkeit. Kam das von den außerirdischen Mikroben oder nur von dem Gedanken daran? Es ließ sich nicht feststellen. Was geschehen war, war geschehen, er konnte es nicht ändern. »Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte er, »dann gilt die enceladanische Suite als nicht besonders ansteckend?«

»Da hast du recht. Aber sie wird durch Körperflüssigkeiten übertragen. Man muss sie ins Blut bekommen, glaube ich. Obwohl ich meine Dosis getrunken habe. Vielleicht reicht es, wenn es in den Verdauungstrakt kommt. Stimmt. Deshalb zerbrechen sich die Leute so sehr den Kopf darüber. Also …«

»Ich werde schon damit fertig«, sagte Wahram. Er trug sie eine Weile, in dem Bewusstsein, dass sie seine Miene genau musterte. Wenn er danach ging, was er beim Rasieren im Spiegel sah, gab es dort wahrscheinlich nicht viel zu entdecken.

Ohne es zu wollen, sagte er: »Du hast einige seltsame Dinge mit dir veranstaltet.«

Sie verzog das Gesicht und schaute weg. »Andere Leute moralisch zu verurteilen ist eigentlich nie besonders höflich, findest du nicht?«

»Ja, da hast du natürlich recht. Wobei mir auffällt, dass wir genau das die ganze Zeit tun. Aber ich meinte auch nur, dass es seltsam ist. Das war gar nicht verurteilend gemeint.«

»Ja, klar. Es ist ja so gut, seltsam zu sein.«

»Ist es das nicht? Wir sind alle seltsam.«

Erneut drehte sie den Kopf, um ihn anzusehen. »Ich weiß, dass ich es bin. In vielerlei Hinsicht. Ich vermute, du hast gesehen, in welcher noch.« Sie warf einen Blick in ihren Schoß.

»Ja«, sagte Wahram. »Obwohl es nicht das ist, was dich seltsam macht.«

Sie lachte kraftlos.

»Hast du Kinder gezeugt?«, fragte er.

»Ja. Das hältst du wahrscheinlich auch für seltsam.«

»Ja«, antwortete er ernst. »Obwohl ich selbst androgyn bin und einmal ein Kind zur Welt gebracht habe. Das ist in meinen Augen eine sehr seltsame Erfahrung, egal, wie man dazu kommt.«

Sie legte den Kopf in den Nacken, um ihn besser betrachten zu können. Offenbar war sie erstaunt. »Das wusste ich nicht.«

»Es war ja auch nicht wirklich wichtig für den Augenblick«, sagte Wahram. »Du weißt schon, es gehört der Vergangenheit an. Wie dem auch sei, ich habe den Eindruck, dass die meisten Raumer ab einem gewissen Alter praktisch alles ausprobiert haben, findest du nicht auch?«

»Wahrscheinlich. Wie alt bist du?«

»Ich bin hundertundelf, danke. Und du?«

»Hundertfünfunddreißig.«

»Hübsch.«

Sie verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen und bedrohte ihn spielerisch mit erhobener Faust. Er schlug zurück, indem er sagte: »Meinst du, du kannst jetzt wieder laufen?«

»Vielleicht. Ich versuche es mal.«

Er setzte sie mit den Füßen auf den Boden und richtete sie auf. Sie lehnte sich gegen ihn. Eine Weile hielt sie sich an seinem Arm fest und humpelte vorwärts, dann straffte sie sich und ging langsam alleine weiter.

»Wir müssen nicht laufen, weißt du«, sagte er. »Ich meine, wir können bis zur nächsten Station gehen und dort warten.«

»Warten wir ab, wie es mir geht. Das können wir entscheiden, wenn wir dort ankommen.«

Wahram sagte: »Meinst du, dass du von der Sonne krank bist? Weil ich nämlich sagen muss, dass mir die Gelenke dafür, dass wir uns hier in M-Schwerkraft aufhalten, ziemlich wehtun.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben eine Ladung abbekommen, die stark genug war, um unsere Funkgeräte zu grillen. Pauline sagt, dass es dafür zehn Sievert braucht.«

»Puh.« Der LD-50-Wert lag bei etwa dreißig, erinnerte er sich. »Mein Armpad hätte sich gemeldet, wenn ich so viel abbekommen hätte. Ich habe darauf geschaut und war nur bei drei. Aber du hast mich gedeckt, während wir auf den Aufzug gewartet haben.«

»Na ja, wir mussten ja nicht beide die volle Ladung abbekommen.«

»Das stimmt wohl. Aber wir hätten uns abwechseln können.«

»Du wusstest nichts über die Eruption. Wie hoch liegt dein bisheriger Gesamtwert?«

»Bei etwa zweihundert«, antwortete er. Angesichts der langen Aufenthalte im All waren sie alle von der DNA-Reparatur durch die Langlebigkeitsbehandlungen abhängig.

»Nicht übel«, sagte sie. »Ich bin bei fünf.« Sie seufzte. »Vielleicht war’s das. Oder vielleicht hat es nur die Bakterien in meinen Eingeweiden umgebracht. Ich glaube, das ist es, was passiert ist. Ich hoffe es. Obwohl ich auch Haarausfall habe.«

»Meine Gelenke tun mir wahrscheinlich nur von dem ganzen Gelaufe weh«, bemerkte Wahram.

»Kann sein. Was machst du als Training?«

»Ich gehe spazieren.«

»Das ist nicht gerade eine Herausforderung für dein Herz-Kreislaufsystem.«

»Ich spreche, ich laufe, ich pruste und schnaufe.« Er versuchte, sie vom Thema abzulenken.

»Schon wieder ein Zitat?«

»Ich glaube, das habe ich mir selbst ausgedacht. Eines meiner Mantras für die tägliche Routine.«

»Tägliche Routine

»Ich mag Routine.«

»Kein Wunder, dass es dir hier drin gefällt.«

»Ja, hier gibt es wirklich Routine.«

Sie trotteten eine ganze Weile schweigend weiter durch den Tunnel. Als sie die nächste Station erreichten, beschlossen sie, für heute Feierabend zu machen und ließen sich nieder, um ein paar Stunden länger zu rasten und um die ganze Nacht durchzuschlafen. Einmal ging Swan im Tunnel zurück, um etwas zu erledigen. Als sie zurückkehrte, schlief sie sofort wieder ein, und sie schien gut zu schlafen, ohne Schnurren. Am nächsten Morgen wollte sie weitergehen und erklärte, dass sie langsam und vorsichtig machen würde. Also setzten sie ihren Weg fort.

Die Lichter tauchten immer vor ihnen in der Ferne aus dem Boden auf, wanderten dann empor und in gestrecktem Bogen über sie hinweg. Es sah aus, als gingen sie ständig bergab. Wahram versuchte, ein bestimmtes Licht im Auge zu behalten, aber er war sich nicht sicher, ob es wirklich von dem Moment, in dem es aufgetaucht war, bis zu dem, in dem es sich über ihren Köpfen befand, dasselbe geblieben war. Es war eine Art Rechenübung: Der Blick zum Horizont; irgendwie vervielfacht, aber er war sich nicht sicher, wie oft. »Kannst du Pauline darum bitten, unsere Entfernung zum Horizont zu berechnen?«, fragte er einmal.

»Das weiß ich so«, sagte Swan knapp. »Es sind drei Kilometer.«

»Ich verstehe.«

Mit einem Mal kam ihm das nicht mehr so wichtig vor.

»Wollen wir pfeifen?«, fragte Wahram, nachdem sie eine halbe Stunde lang schweigend gelaufen waren.

»Nein«, antwortetet sie. »Ich bin leergepfiffen. Erzähl mir eine Geschichte. Erzähl mir deine Geschichte, ich möchte mehr über dich erfahren, etwas, das ich noch nicht weiß.«

»Das ist leicht.« Trotzdem fiel ihm mit einem Mal nicht ein, wo er anfangen sollte. »Tja, ich wurde vor einhundertelf Jahren auf dem Titan geboren. Meine Mutter war ein Gebärmann, der ursprünglich von Kallisto stammte, ein Jupiteraner der dritten Generation, und mein Vater war ein Androgyner vom Mars, der bei einem der dortigen politischen Konflikte ins Exil geschickt wurde. Ich bin hauptsächlich auf dem Titan aufgewachsen, aber dort war es damals sehr beengt, nur Stationen und einige wenige kleine Kuppeln. Ich bin dann ein paar Jahre lang auf Herschel zur Schule gegangen, und dann auch auf Phoebe, und auf einem der Polar-Orbiter und dann, erst vor Kurzem, auf Iapetus. Im Saturn-System ziehen fast alle umher, um ein Gefühl für das Ganze zu bekommen, insbesondere, wenn man im öffentlichen Dienst zu tun hat.«

»Ist das bei vielen Leuten der Fall?«

»Alle müssen die Grundausbildung absolvieren und, wie man es ausdrückt, dem Saturn einen gewissen Teil ihrer Zeit opfern. Außerdem kann es sein, dass man für eine Regierungsposition ausgelost und eingezogen wird. Manchen, die eingezogen werden, gefällt es nach einer Weile, sodass sie länger im Amt bleiben. Bei mir war das auch so. Eine meiner letzten Pflichtzeiten war auf Hyperion, ein sehr kleines Plätzchen, das ich mit der Zeit aber wirklich lieb gewonnen habe. Es war so seltsam dort.«

»Schon wieder dieses Wort.«

»Das Leben ist seltsam, so kommt mir das zumindest vor.« Er sang: »People are strange, when you’re a stranger …«, und brach dann ab. »Hyperion ist wirklich seltsam. Allem Anschein nach entstanden, als zwei andere, ähnlich große Monde kollidiert sind. Das Überbleibsel sieht aus wie eine Honigwabe, und die Ränder um die Löcher sind weiß, während das Pulver, mit dem sie etwa zur Hälfte gefüllt sind, schwarz ist. Wenn man also über die Grate läuft oder über der entsprechenden Mondseite schwebt, sieht es aus wie ein ausgesprochen kühnes Kunstwerk.«

»Ein großer alter Goldsworthy«, sagte sie.

»Sozusagen. Und man kann die Dinge dort mit seiner Anwesenheit leicht durcheinanderbringen. Es stand also zur Debatte, wie man dort eine Station einrichten sollte, oder ob man das überhaupt tun sollte, und wie sie zu betreiben wäre, wenn man sich auf Dauer dort einrichtete. Nachdem ich dabei geholfen habe, komme ich mir in gewisser Weise wie ein Kurator vor.«

»Interessant.«

»Das dachte ich mir auch. Ich bin dann nach Iapetus zurückgekehrt, was auch ein wunderbarer Ort zum Leben ist. Irgendwie ist es, als ob man schräg nach hinten zurücktritt, um das ganze System besser in den Blick zu bekommen und zu verstehen, warum es derartige Gefühle auslöst. Dort haben ich Terraforming-Management studiert, und die diplomatischen Künste, soweit es sie gibt …«

»Ein ehrlicher Mann, der von seinem Land ausgesandt wird, um in seinen Diensten zu lügen?«

»Ich hoffe, dass das keine zutreffende Beschreibung von Diplomaten ist. Meine Definition ist es jedenfalls nicht, und ich hoffe, dass es auch nicht deine ist.«

»Ich glaube nicht daran, dass wir uns aussuchen können, was Worte bedeuten.«

»Nein? Ich schon.«

»Nur in sehr engen Grenzen«, erwiderte sie. »Aber erzähl weiter.«

»Tja, danach bin ich zum Titan zurückgekehrt und habe dort beim Terraforming mitgearbeitet. In jenen Jahren bekam ich meine Kinder.«

»Mit Partnern?«

»Ja, in meinem Hort gab es sechs Eltern und acht Kinder. Von Zeit zu Zeit treffe ich mich noch mit allen. Es ist mir fast immer ein Vergnügen. Ich versuche, mir keine Sorgen um sie zu machen. Ich liebe die Kinder; ich erinnere mich an Teile ihres Lebens, an die sie sich selbst nicht erinnern. Für mich ist das wohl interessanter als für sie. Aber das ist schon in Ordnung. Seinen Erinnerungen entkommt man nicht. Man erinnert sich an die Zeiten, die einem gefallen haben, und will etwas Ähnliches. Aber man bekommt immer nur Neues. Also versuche ich, das zu wollen, was ich bekomme. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie man das anstellt. Ich glaube, wenn man in sein zweites Lebensjahrhundert eintritt, wird es schwer.«

»Es war schon immer schwer«, sagte sie.

»Stimmt. Diese Welt ist mir ein großes Rätsel. Ich meine, ich verstehe, was man über das Universum sagt, aber ich weiß nicht, wie ich es anwenden soll. Für mich klingt das alles bedeutungslos. Deshalb stimme ich mit denen überein, die der Meinung sind, dass wir uns unseren eigenen Sinn erschaffen müssen. Das Konzept des Projekts erscheint mir dabei brauchbar. Etwas, das man in der Gegenwart tut, das man schon in der Vergangenheit getan hat und sich daran erinnern kann, und das man voraussichtlich auch in der Zukunft tun wird, um etwas zu erschaffen. Ein Kunstwerk, das nicht notwendigerweise an und für sich Kunst sein muss, aber etwas Menschliches, das es wert ist, getan zu werden.«

»Das ist doch Existenzialismus, oder?«

»Ja, ich glaube, das stimmt. Ich wüsste nicht, wie man es sonst angehen soll.«

»Hmm.« Sie dachte darüber nach. Das Licht glänzte in weißen Bahnen auf ihrem schwarzen Haar. »Erzähl mir von deinem Hort. Wie lief das?«

»Auf dem Titan gab es normalerweise Gruppen von Leuten im gleichen Alter, die zusammen unterrichtet wurden und zusammen arbeiteten. Innerhalb dieser Gruppen schlossen sich dann wiederum kleinere Gruppen zusammen, um Kinder großzuziehen. Normalerweise waren das Gruppen von etwa einem halben Dutzend Leuten, die ganz unterschiedliche Strukturen aufwiesen. Das hing von Kompatibilitäten ab. Damals war man allgemein der Meinung, dass Paarbindungen aus zu wenig Menschen bestanden, um auf Dauer zu funktionieren – dass sie in weniger als der Hälfte der Fälle von Erfolg gekrönt waren, und Kinder brauchten mehr als das. Also fand sich eine größere Zahl zusammen. Praktisch alle betrachteten das als eine Methode, Kinder großzuziehen, und nicht als lebenslange Einrichtung. Daher die Bezeichnung Hort. Letztlich waren eine Menge verletzter Gefühle im Spiel. Aber wenn man Glück hat, dann ist es eine Weile lang gut, und das muss man dann einfach mitnehmen und weiterziehen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Ich halte nach wie vor den Kontakt zu den anderen; wir sind sogar noch ein Hort. Aber die Kinder sind erwachsen, und wir sehen einander kaum noch.«

»Ich verstehe.«

Eine ganze Weile gingen sie schweigend weiter, und Wahram fühlte sich Swan sehr verbunden und verspürte kaum Schmerzen.

Dann sagte Swan heftig: »Ich halte es hier drin nicht aus. Nichts ändert sich hier. Es ist wie ein Gefängnis oder eine Schule

»Unser Leben unter der Oberfläche des Merkur«, sagte er ein kleines bisschen beleidigt, weil er sich eigentlich gerade recht wohlgefühlt hatte. Andererseits war sie krank. »Bald ist es zu Ende.«

»Nicht bald genug.« Sie schüttelte missmutig den Kopf.

Sie gingen weiter, Stunde um Stunde. Alles blieb gleich. Swan konnte besser laufen als unmittelbar nach ihrem Zusammenbruch, aber sie war nach wie vor langsamer als zuvor. Wahram störte sich nicht daran; tatsächlich gefiel ihm das langsamere Tempo. Morgens hatte er immer noch ziemlichen Muskelkater, aber es schien nicht schlimmer zu werden; und er verspürte auch keine Schwäche oder Übelkeit, obwohl er voller Sorge auf solche Symptome achtete. Oft war ihm ein bisschen schwummrig. Swan hatte sich alle Kopfhaare ausgerissen und dabei eine ganze Reihe verschorfter Stellen hinterlassen.

»Was ist mit dir?«, sagte er einmal. »Erzähl mir mehr von dir. Hast du wirklich Stunden am Stück nackt auf Eisblöcken gelegen? Hast du dir Darstellungen des Sonnensystems in die Haut geritzt und dir mit Blut Muster auf den Leib gezeichnet?«

Sie ging vor ihm, und jetzt zögerte sie, blieb dann stehen und überließ ihm die Führung. »Ich möchte dir nicht über die Schulter zurufen«, erklärte sie, als er an ihr vorbeiging.

»Und ja«, sagte sie, als es weiterging, »ich habe all das getan, und auch andere Abramovics. Ich bin der Meinung, dass der Körper ein gutes Rohmaterial für Kunst darstellt. Aber das war vor allen Dingen in meinen Fünfzigern.«

»Und davor?«

»Geboren wurde ich wie gesagt in Terminator. Damals hat man die Stadt gerade erst errichtet, und als ich ein Hofkind war, baute man noch das Bewässerungssystem ein. Es war eine große Sache, als die Erde eintraf. Sie kam aus großen Rohren, wie flüssiger Zement, nur schwarz. Ich habe mit meiner Mutter inmitten von alldem gespielt, während sie die ersten Ernten eingeholt haben und die Pflanzen im Park zu sprießen begannen. Als Kind war es da toll. Kaum vorzustellen, dass all das bereits tot ist, wenn wir wieder nach oben gelangen. Das muss ich sehen, damit ich es glaube. Jedenfalls bin ich dort aufgewachsen.«

»Die Vergangenheit ist immer verloren«, sagte Wahram. »Ob die Orte nun noch existieren oder nicht.«

»Für dich vielleicht, o Weiser«, sagte sie. »Ich habe das nie so gesehen. Wie dem auch sei, danach habe ich eine Weile auf der Venus gelebt und für Shukra gearbeitet. Und dann habe ich Terrarien entwickelt. Danach bin ich zu Kunstwerken übergegangen und habe mit Landschaften und Körpern gearbeitet. Goldsworthys und Abramovics, die mich beide immer noch sehr interessieren und mit denen ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Ich gehe dorthin, wo ich gerade Aufträge bekomme. Aber ich habe ein ständiges Zimmer in Terminator. Meine Eltern sind beide gestorben, weshalb meine Großeltern Alex und Mqaret in gewisser Weise ihren Platz für mich eingenommen haben. Wenn man sich die beiden ansieht, kann man schwerlich etwas gegen Paarbindungen sagen. Der arme Mqaret.«

»Nein, ich weiß«, sagte er. »Ich habe ja auch vom Großziehen von Kindern gesprochen, dafür braucht man anscheinend mehr als zwei. Das musst du doch auch festgestellt haben?«

Sie warf ihm einen Blick zu. »Eines der beiden ist irgendwo dort draußen. Das Kind, das ich mit Zasha hatte, ist gestorben.«

»Tut mir leid.«

»Nun ja, sie war alt. Ich will im Moment nicht darüber reden.«

Tatsächlich wurde sie langsamer, und er hatte den Eindruck, dass sie leicht vornübergebeugt lief. »Geht es dir gut?«

»Ich fühle mich wieder schwächer.«

»Möchtest du eine Pause machen?«

»Nein.«

Also schleppten sie sich schweigend weiter.

Er half ihr für den Rest der Stunde und stützte sie beim Gehen, indem er ihr einen Arm um den Rücken legte und sie aufrecht hielt. Nach der Pause richtete sie sich unter Mühen auf und ging weiter, ohne irgendwelchen Widerspruch zu dulden. Als sie die nächste Station erreichten, schaute er in alle Schränke und Kammern, und in der letzten (aber man fand das, was man suchte, eben immer am letzten Ort, an dem man nachsah) fand er einen kleinen vierrädrigen Rollwagen mit einer Stange auf Brusthöhe an einer Seite. Der Rest bestand aus einer Ladefläche unmittelbar über den Rädern, die etwa ein mal zwei Meter groß war. Die beiden lenkbaren Räder befanden sich von der Stange aus gesehen am anderen Ende.

»Wie wär’s, wenn wir unsere Rucksäcke hier drauflegen und ich sie schiebe«, schlug er vor.

Sie schaute ihn an. »Du denkst, du könntest mich durch die Gegend schieben.«

»Es wäre leichter, als dich zu tragen, falls es so weit kommt.«

Sie warf ihren Rucksack auf den Wagen und ging am nächsten Morgen vor ihm los. Erst musste er sich beeilen, doch dann holte er sie ein, und dann wurde er gemeinsam mit ihr langsamer.

Stunde für Stunde. Manchmal setzte sie sich, ohne dass sie ein Wort darüber verloren, auf den Wagen. Über ihnen an der Oberfläche zogen die nach großen Künstlern der Erde benannten Krater und Steilhänge vorbei: Sie liefen unter Ts’ao Chen, Philoxenos, Rumi und Ives vorbei. Wahram pfiff Columbia, the Gem of the Oceans, eine Melodie, die Ives in so denkwürdiger Weise in eine seiner ungezügelteren Kompositionen eingebaut hatte. Er dachte an Rumis Ich starb als Stein und wünschte, dass er es sich besser gemerkt hätte. »Ich starb als Stein und sprosst’ als Pflanze auf. Ich starb als Pflanze und ward Tier darauf. Ich starb als Tier und bin zum Mensch geworden. Was grauet mir, hab’ durch den Tod ich je verloren?«

»Von wem ist das?«

»Rumi.«

Wieder Stille. Sie folgten der langen Krümmung des Tunnels. Die Wände waren hier rissig, und es sah aus, als hätte man sie ausgiebiger als den Rest erhitzt, um das Gestein undurchlässig zu machen. Eine splittrige Glasur, Schwarz auf Schwarz. Eine endlose Krakelüre.

Stöhnend erhob sich Swan von dem Rollwagen und ging zurück Richtung Westen. »Warte bitte, ich muss schon wieder.«

»Liebe Güte. Viel Glück.«

Nach einer Weile hörte er ein entferntes Ächzen, vielleicht sogar ein verlorenes »Hilfe.« Den Wagen hinter sich herziehend ging er im Tunnel zurück.

Sie war einmal mehr mit heruntergelassenem Anzug zusammengebrochen. Einmal mehr säuberte er sie. Diesmal war sie nicht völlig bewusstlos und wandte den Blick ab. Einmal versuchte sie sogar kraftlos, ihn beiseitezuschieben. Mittendrin schaute sie trübe und zornig zu ihm auf. »Das bin nicht wirklich ich«, sagte sie. »Eigentlich bin ich gar nicht hier.«

»Tja«, erwiderte er ein wenig beleidigt. »Ich auch nicht.«

Sie sackte wieder zusammen. Nach einer Weile sagte sie: »Also ist niemand hier.«

Als er fertig war und sie wieder angezogen hatte, bugsierte er sie auf den Wagen und schob sie weiter. Sie lag wortlos da.

Bei der nächsten Pause brachte er sie dazu, etwas Wasser mit darin gelösten Nährstoffen und Elektrolyten zu trinken. Der Rollwagen, bemerkte sie einmal, erinnerte langsam an ein Krankenhausbett. Dann und wann pfiff Wahram ein wenig, meistens Brahms. Brahms’ Melancholie lag eine gewisse stoische Entschlossenheit zugrunde, die sehr gut zu ihrer jetzigen Lage passte. Sie hatten noch zweiundzwanzig Tage vor sich.

An diesem Abend saßen sie schweigend da. Sie verfielen in ein leicht verwirrtes Instinktverhalten, wie Menschen es oft nach kleinen Krisen tun – wandten die Köpfe voneinander ab und trafen gedankenlos ihre Vorbereitungen für die Nacht; und dann sanken sie unter dumpfen Schmerzen in den Schlaf, diese unsichtbare Zuflucht. Bei solchen Gelegenheiten musste man sich zum Trost an das Pseudoiterativ klammern. Seine Wunden lecken. All das war schon einmal geschehen und würde erneut geschehen.

Eines Morgens stand sie auf und versuchte loszugehen, nur um sich nach zwanzig Minuten wieder auf den Wagen zu setzen. »Das ist besorgniserregend«, sagte sie kleinlaut. »Wenn so viele Zellen zerstört worden sind …«

Wahram sagte nichts. Er schob sie weiter. Mit einem Mal kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht hier in diesem Tunnel sterben würde und er nichts dagegen unternehmen konnte, und eine Woge der Übelkeit durchlief ihn und ließ ihm die Knie weich werden. Ein Krankenhausaufenthalt hätte so viel bewirken können.

Nach langem Schweigen sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Ich schätze, es hat mir seit jeher Spaß gemacht, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich habe den Schock der Angst genossen. Den Nervenkitzel, wenn man überlebt. Es war eine Art Dekadenz.«

»Das hat meine Mama auch immer gesagt«, bemerkte Wahram.

»Wie bei Gruselgeschichten, mit denen man sich schocken will, um wach zu werden. Aber das ist alles Unsinn. Angenommen, man erlebt, wie jemand stirbt, und hilft ihm dabei. All die Bilder, die man sieht, sind aus Horrorgeschichten. Es wird einem klar, dass diese Bilder aus dem eigenen Kopf stammen. Aber man bleibt trotzdem. Und nach einer Weile begreift man, dass die Welt nun mal so ist. Jeder endet so. Man hilft, aber eigentlich kann man nicht helfen, man sitzt einfach nur da. Und am Ende hält man die Hand von jemand Totem. Eigentlich sollte es ein Albtraum sein. Knochen, die aus der Erde emporfahren, um einen zu packen und so. Aber in Wirklichkeit ist es völlig natürlich. Es ist alles natürlich.«

»Ja?«, fragte Wahram, nachdem sie eine Weile innegehalten hatte.

Sie hörte ihn und sprach weiter. »Der Körper versucht, am Leben zu bleiben. Es ist gar nicht so … es ist natürlich. Vielleicht erkennst du es ja jetzt. Erst stirbt das Menschenhirn und dann das Tiergehirn, das Reptiliengehirn. Wie bei deinem Rumi, nur anders herum. Das Reptilienhirn versucht noch mit dem letzten bisschen Kraft, alles in Gang zu halten. Ich habe das schon gesehen. Es ist eine Art Verlangen. Eine ganz reale Kraft. Das Leben will leben. Aber früher oder später reißt ein Glied in der Kette. Die Kraft gelangt nicht mehr dorthin, wo sie hinmuss. Das letzte bisschen ATP wird aufgebraucht. Und dann stirbt man. Unsere Körper werden wieder zu Erde, zu Nährboden. Ein natürlicher Kreislauf. Was …« Sie blickte zu ihm auf. »Was soll’s also? Warum das Entsetzen? Was sind wir?«

Wahram zuckte mit den Schultern. »Philosophen-Tiere. Ein seltsamer Zufall. Eine Seltenheit.«

»Oder so normal wie nur was, aber …«

Sie sprach nicht weiter.

»Verstreut?«, riet Wahram. »Zeitweilig?«

»Allein. Immer allein. Selbst wenn wir jemanden berühren.«

»Tja, wir können reden«, sagte er zögerlich. »Das ist auch ein Teil unseres Lebens. Nicht nur das Reptilienzeug. Manchmal strecken wir uns und überbrücken die Leere.«

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich falle immer in die Leere hinein.«

»Hmm«, sagte er ratlos. »Das wäre schlecht. Aber ich verstehe nicht, wie das sein kann. Angesichts dessen, was du mir erzählt hast. Und dessen, was ich von dir gesehen habe.«

»Es kommt darauf an, wie man sich dabei fühlt.«

Darüber dachte er ein Weilchen nach. Die Lichter zogen über ihnen vorbei, während er den Wagen schob. Stimmte das? Ging es bei der Frage, ob etwas gut oder schlecht war, darum, wie man sich dabei fühlte, und nicht darum, was man eigentlich tat oder was andere darin sahen? Tja, man steckte in seinen Gedanken fest. Die zeitgenössische medizinische Definition des Begriffs »neurotisch« lautete schlicht: »Eine Neigung zu negativen Gedanken.« Wenn man diese Neigung hatte, dachte er, während er Swans kahlen, schuppigen Kopf betrachtete, wenn man neurotisch war, dann gab es praktisch unendlich viel Stoff, um die Neurose zu füttern. Was war schon die wahre Sicht der Dinge? Hier waren sie, eine Ansammlung von Atomen, und hatten tief im Inneren das Gefühl, dass es auf etwas ankam, selbst während sie zu den Sternen emporschauten, selbst wenn sie sich in einem Tunnel befanden, der sich ewig nach unten krümmte. Und dann verloren die Atome irgendwann die Verbindung untereinander, das Gebilde kollabierte. Was war von alldem zu halten?

Er pfiff den Beginn von Beethovens Neunter und stellte sich vor, wie er sie durch ihre finstere Stimmung hindurch und am anderen Ende wieder ans Licht zerrte, mithilfe der tiefsten Tragödie des alten Meisters, dem ersten Satz der Neunten. Er sprang zu der sich wiederholenden Phrase gegen Ende des ersten Satzes, diejenige, die Berlioz für einen Ausweis von Wahnsinn gehalten hatte. Er wiederholte sie. Es handelte sich um die einfache Melodie, die er sein ganzes Leben lang verwendet hatte, um bergauf zu gehen. Jetzt ging es bergab, am Rande eines großen Kreises, aber es passte perfekt zu seiner Stimmung. Er pfiff die acht Töne immer wieder. Sechs runter, zwei hoch. Einfach und klar.

Schließlich sprach Swan, die mit an die Stange gelehntem Rücken, den Blick nach vorne gerichtet, vor ihm auf dem Wagen lag, wieder. Ihr Tonfall war verwaschen, und sie klang, als redete sie mit Pauline. »Ich frage mich, ob die wissen, dass wir leben. Das weiß man nie. Damals war das das Wichtigste überhaupt, aber dann haben sich die Zeiten geändert, und man selbst hat sich verändert, und sie haben sich verändert. Und dann ist es vorbei. Sie hat mir nichts mehr zu sagen.«

Eine lange Pause trat ein. Dann sagte Wahram: »Wer war der Vater deines Kindes? Hattest du je eins auf beide Arten?«

»Ja. Ich weiß nicht, wer der Vater war. Ich bin zur Fastnacht schwanger geworden, wenn alle Masken tragen. Ein Mann, der mir gefiel. Sie weiß, wer es ist, sie hat ihn ausfindig gemacht.«

»Gefällt es dir, wenn jemand maskiert ist?«

»Damals schon. Und seine Haltung, sein ganzes Auftreten.«

»Ich verstehe.«

»Ich wollte es unkompliziert halten. Damals war das ganz normal. Heute würde ich es nicht mehr so machen. Aber das weiß man immer erst, wenn es zu spät ist. Für ein paar Jahre entwickelt man eine folie à deux, die sehr intensiv ist, aber eigentlich albern, und wenn man sie hinter sich hat, kann man nicht darauf zurückblicken, ohne das Gefühl zu haben … man fragt sich zwangsläufig, ob es gut war oder nicht. Es fehlt einem, aber man bereut es auch, es ist so dumm. Ich tue ständig alles Mögliche, aber ich weiß immer noch nicht, was ich tun sollte.«

»Leben und Kunst schaffen«, sagte er.

»Von wem ist das?«

»Von dir, dachte ich.«

»Daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich es gesagt. Aber was, wenn ich keine besonders gute Künstlerin bin?«

»Es ist ein Langzeitprojekt.«

»Und manche Leute blühen erst spät im Leben auf, willst du das sagen?«

»Ja, vermutlich. Etwas in der Art. Man erhält immer wieder neue Chancen.«

»Mag sein. Aber irgendwie wäre es gut, Fortschritte zu machen, weißt du. Nicht immer die gleichen Fehler zu wiederholen.«

»Spiralen«, schlug er vor. »Steig in einer Spirale auf, indem du die gleichen Sachen auf höherer Ebene wiederholst. Das ist die ganze Kunst, egal, was man macht.«

»Für dich vielleicht.«

»Aber es ist nichts Ungewöhnliches an mir.«

»Dem möchte ich widersprechen.«

»Nein, nichts Ungewöhnliches. Mittelmaß als Prinzip.«

»Befürwortest du dieses Prinzip?«

»Ich bin exemplarisch dafür. Der Mittelweg. Mitten im Kosmos. Aber nicht mehr als alle anderen auch. Ein seltsames Merkmal der Unendlichkeit. Wir sind alle irgendwie in der Mitte. Wie dem auch sei, ich finde diese Perspektive hilfreich. Ich benutze sie, um an Dingen zu arbeiten. Um sozusagen mein Projekt zu strukturieren. Als Teil einer Philosophie.«

»Philosophie.«

»Ja, schon.«

Dieser Gedanke ließ sie verstummen.

»Vielleicht sind wir daran vorbeigegangen«, sagte Swan eines Tages, während sie hinter ihm ging. »Vielleicht sind wir den ganzen Weg unter der Tagseite durchgelaufen und auch unter der Nachtseite, und jetzt sind wir wieder in der Sonne. Vielleicht haben wir die Zeit und die Entfernung aus dem Blick verloren. Vielleicht hast du uns mit deiner Unfähigkeit in die Scheiße geritten, genau wie Pauline.«

»Nein«, antwortete er.

Sie beachtete ihn nicht und brummte etwas davon, was während ihrer Zeit unter der Erde alles schiefgegangen sein konnte. Es wurde eine erstaunlich lange und schaurig einfallsreiche Liste: Vielleicht hatten sie die Orientierung verloren und gingen nun in Wirklichkeit nach Westen; vielleicht waren sie in einen anderen Tunnel geraten und Richtung Nordpol abgebogen; vielleicht hatte man den Merkur evakuiert und sie waren die einzigen lebenden Wesen auf dem Planeten; vielleicht waren sie in der Sonne gestorben und waren mit dem Aufzug in die Hölle herabgefahren. Wahram fragte sich, ob sie das im Ernst meinte, und hoffte, dass dem nicht so war. Es gab so vieles, was zu ihrem Unglück beitrug. Ihr Tagesrhythmus; möglicherweise lief sie, während sie eigentlich schlafen sollte. Vor vielen Jahren hatte er gelernt, dass man keinem Gedanken trauen durfte, den man zwischen zwei und fünf Uhr morgens fasste; in diesen dunklen Stunden fehlten dem Gehirn bestimmte Nährstoffe oder Funktionen, die es brauchte, um Denkprozesse korrekt abzuwickeln. Gedanken und Gefühle verdunkelten sich und wurden zuweilen schwarz wie Fugilin. Besser man schlief, und wenn man das nicht konnte, dann tat man besser schon im Vorhinein alle Gedanken und Stimmungen ab, die einen in diesen Stunden überkamen, und wartete, was der neue Tag an frischen Perspektiven mit sich brachte. Er fragte sich, ob er sie irgendwie danach fragen konnte, ohne ihr zu nahe zu treten. Wahrscheinlich nicht. Sie war ohnehin schon gereizt und fühlte sich offenbar elend.

»Wie geht es dir?«, fragte er dann und wann.

»Wir werden nie ankommen.«

»Stell dir einfach vor, dass wir auch schon nirgendwo angekommen sind, bevor wir hier waren. Ganz egal, wo man sich hinbewegt, man kommt nie irgendwo an.«

»Aber das ist völlig falsch. Himmel, ich hasse deine Philosophie. Natürlich sind wir irgendwo angekommen

»Wir kommen von weit her, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

»Ach bitte. Fick dich doch mit deinen Glückskeksen. Wir sind jetzt hier. Es dauert zu lange. Zu lange …«

»Stell es dir als Ostinato-Passage vor. Eine sture Wiederholung.«

Doch dann verstummte sie und begann zu stöhnen – es war beinahe ein Summen, ein Geräusch, das sie von sich gab, ohne es zu merken. Kleine, elende Schnaufer. Ein Weinen. »Ich will nicht reden«, sagte sie, als er erneut nachfragte. »Halt die Klappe, und lass mich in Ruhe. Du bist für mich zu nichts zu gebrauchen. Wenn es hart auf hart kommt, bist du zu nichts zu gebrauchen.«

In jener Nacht erreichten sie eine weitere Aufzugsstation. Sie stopfte Essen in sich hinein, wie man Batterien in eine Maschine steckt. Anschließend brummte sie wieder vor sich hin, ohne dass er ihren Worten hätte folgen können. Wahrscheinlich redete sie mit ihrer Pauline. Die ganze Zeit ging das so, ein Brummen in seinem Ohr. Weiter hinten im Tunnel führten sie ohne Zwischenfall ihre Waschungen durch, und dann legten sie sich auf ihre Matten und versuchten zu schlafen. Das Brummen ging weiter. Nach einer Weile schlief Swan schließlich wimmernd ein.

Am nächsten Morgen wollte sie nicht essen, nicht sprechen und sich nicht einmal bewegen. Sie lag katatonisch oder synkopisch oder vielleicht einfach paralysiert auf der Seite.

»Pauline, kannst du reden?«, fragte Wahram schließlich leise, weil Swan einfach nichts von sich geben wollte.

Die leicht gedämpfte Stimme aus Swans Hals sagte: »Ja.«

»Kannst du mir etwas über Swans Lebenszeichen sagen?«

»Nein«, sagte Swan völlig unvermittelt.

»Die Lebenszeichen, auf die ich Zugriff habe, sind normal, mit Ausnahme des Blutzuckerspiegels.«

»Du musst essen«, sagte Wahram zu Swan.

Sie antwortete nicht. Er löffelte ihr etwas Elektrolytenlösung in den Mund und wartete geduldig, bis sie schluckte. Als sie ein paar Deziliter aufgenommen hatte, ohne allzu viel davon wieder auszuspucken, sagte er: »Dort oben ist es Mittag. Über uns an der Oberfläche ist es Mittag. Wir haben die Tagseite zur Hälfte hinter uns. Ich glaube, wir müssen dich hochbringen, damit du die Sonne sehen kannst.«

Swan öffnete ein Lid einen Spaltbreit und blickte zu ihm auf.

»Wir müssen sie sehen«, erklärte er.

Sie stemmte ihren Oberkörper hoch. »Meinst du?«

»Ist das möglich?«, fragte Wahram zurück.

»Ja«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Das ist es. Wir können im Schatten der Schienen bleiben. Zu Mittag ist es nicht so schlimm wie morgens oder nachmittags, weil die Photonen direkt von oben kommen und nicht so viele auf den Anzug treffen. Allerdings sollten wir nicht so lange draußen bleiben.«

»Das geht in Ordnung. Du musst sie sehen, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Mittag auf dem Merkur. Komm mit.«

Er half ihr auf. Dann suchte er ihre Helme, brachte sie in die Aufzugskabine und kehrte zurück, um Swan hochzuheben und sie hinüberzutragen. Während sie hochfuhren, setzte er ihr ihren Helm auf, versiegelte ihn, überprüfte ihre Luftzufuhr und tat das Gleiche bei sich. Laut der Anzeigen war alles in bester Ordnung. Der Aufzug kam zum Stehen. Wahram spürte seinen Puls in den Fingerkuppen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich zur Außenplattform, und die Welt wurde weiß. Ihre Visiere passten sich an, und vor ihnen erschien die Welt in einfachen, schwarz-weißen Umrissen. Ein wenig unten links von ihnen befanden sich die Schienen der Stadt, die weiß und hell leuchteten. Rechts von ihnen erstreckte sich die Mittagslandschaft des Merkur bis zum Horizont. Da es keine Atmosphäre gab, konnte nur die Planetenoberfläche selbst die volle Wucht der Sonnenstrahlen absorbieren; sie glühte weiß. Wahrams Visier hatte sich so stark eingedunkelt, dass die Sterne am Himmel nicht mehr zu erkennen waren. Sie hatten eine weiße Fläche unter einem schwarzen Halbkreis vor sich. Das Weiß pulsierte leicht.

Swan trat durch die Tür auf die Plattform. »He!«, sagte Wahram und folgte ihr. »Komm wieder rein!«

»Wie sollen wir da drin die Sonne sehen? Komm, für einen Moment ist das schon in Ordnung.«

»Die Plattform ist sicher siebenhundert Kelvin heiß, wie der ganze Rest auch.«

»Deine Stiefelsohlen sind absolut isoliert gegen solche Temperaturen.«

Erstaunt ließ Wahram sie los. Sie legte den Kopf in den Nacken, um in die Sonne zu schauen. Wahram folgte ihrem Blick unwillkürlich – ein atemberaubendes Feuer – und schaute dann ängstlich wieder zu Boden. Er konnte ganz in Ruhe das Nachbild betrachten: ein gleichzeitig weißer und roter Kreis, riesig und inmitten seines Blickfelds. Die Dhalgren-Sonne, schließlich Wirklichkeit geworden. Sein Visier war offensichtlich fast vollständig polarisiert und von einem nahezu undurchsichtigen Schwarz, und trotzdem sah das Land noch weiß aus, mit feinen schwarzen Gravurlinien. Swan schaute noch immer zum Himmel. Halb verdurstet tauchte sie in die Fluten ein. Obwohl ihm am ganzen Leib der Schweiß ausbrach, folgte er ihrem Beispiel und blickte erneut auf. Die Sonnenoberfläche war eine wogende Masse weißer Bänder. Sie hüpfte auf und ab, als tanzte sie auf ihren Hitzewellen; erst nach einer Weile begriff Wahram, dass es sein eigenes Herz war, das seinen Leib so heftig durchschüttelte, dass das Bild vor seinen Augen auf und ab sprang. Eine sich windende weiße Scheibe in einem sternenlosen, kohlefarbenen Himmel. Überall in dem Kreis glitten die weißen Banner übereinander hinweg, und die Bewegung ließ an eine gewaltige, lebende Intelligenz denken. Natürlich, ein Gott, warum nicht? Die Sonne sah aus wie ein Gott.

Wahram riss sich von dem Anblick los und nahm Swan beim Arm.

»Komm schon, Swan. Wir gehen wieder rein. Du hast deine Spritze gekriegt.«

»Nur eine Sekunde.«

»Swan, tu das nicht.«

»Nein, warte. Schau mal da unten bei der Schiene.« Sie deutete mit dem Finger. »Da kommt etwas.«

Und tatsächlich. Aus Richtung Osten, über den glatten Boden unmittelbar neben der äußersten Schiene, näherte sich ihnen ein kleines Fahrzeug. Es hielt am Fuß der Treppe zur Plattform, und an der Fahrzeugseite öffnete sich eine Tür. Eine Gestalt im Raumanzug kam zum Vorschein, blickte zu ihnen hoch und winkte sie zu sich hinunter.

»Kann es sein, dass unsere Sonnenläufer jemanden geschickt haben, um uns abzuholen?«, fragte Wahram.

»Ich weiß nicht«, sagte Swan. »War dafür genug Zeit?«

»Ich glaube nicht.«

Sie stiegen die Stufen hinab, wobei Wahram Swan am Arm festhielt. Sie schien ziemlich sicher auf den Beinen zu sein. Vielleicht hatte der Anblick der Mittagssonne ihr neue Kraft gegeben. Oder die Aussicht auf Rettung. Sie betraten die Luftschleuse des Fahrzeugs, und als sie sich hinter ihnen geschlossen hatte, ließ man sie ins geräumige Innere, wo sie die Helme abnehmen und reden konnten. Ihre Retter waren völlig verblüfft. Sie erzählten, dass sie gerade dabei waren, mit Höchstgeschwindigkeit die Tagseite zu überqueren, und sie hatten nicht im Entferntesten damit gerechnet, auf einer der Plattformen Menschen zu sehen. »Noch dazu welche, die direkt in die Sonne schauen! Wie zum Teufel seid ihr da hingekommen! Was treibt ihr hier?«

»Wir kommen aus Terminator«, erklärte Wahram. »Es sind noch drei von uns dort unten, ein bisschen weiter in Richtung Osten.«

»Aha! Aber wie seid ihr … Nun ja, fahren wir erst mal los. Den Rest könnt ihr uns auf dem Weg erzählen.«

»Natürlich.«

»Hier, setzt euch ans Fenster und schaut mal raus, es ist wunderschön.«

Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Sie passierten die Station, auf der sie gestanden hatte. Gerettet. Swan und Wahram starrten einander an.

»O nein!«, sagte Swan schwach – als wären sie in eine unerwartete Katastrophe gestolpert – als würde sie etwas verpassen, weil man sie um die zweite Hälfte ihrer Wanderung betrogen hatte. Das brachte ihn zum Lächeln.

Listen (4)

sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch, melancholisch

introvertiert, extrovertiert

Ambiversion, Begeisterung

stabil, labil

rational, irrational

neurotisch, schizoid, paranoid, hebephrenisch, manisch-depressiv, anal-retentiv, zwanghaft, psychotisch, sadistisch, masochistisch

verklemmt, dissoziiert, bipolar, schizophren, schizotypisch, psychopathisch, soziopathisch, megalomanisch

deprimiert, antisozial, histrionisch, ängstlich, abhängig, passiv-aggressiv, narzisstisch, solipsistisch, dysthymisch

Borderline-Persönlichkeit, multiple Persönlichkeit

verrückt, normal, exzentrisch

autistisch, Asperger, schüchtern, Genie, zurückgeblieben

apollinisch, dionysisch

Idealisten, Künstler, Rationalisten, Händler, Wächter

bewusst, unbewusst, Ich, Es, Über-Ich

Archetypen, Schatten, Animus und Anima, Psychasthenie

glücklich, niedergeschlagen; fröhlich, traurig; posttraumatisch; angepasste Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Umgänglichkeit

Macher, Denker; Affen und Kürbisse; impulsiv, kontemplativ

selbstsüchtig, stolz, gierig, faul, lüstern, neidisch, zornig; eindeutig dumm, schlau; schnell, langsam; einfühlsam, mitfühlend; distanziert vertrauensvoll, misstrauisch

Entweder oder. Dies oder das. Such’s dir aus. Alles obengenannte

Taxonomien, Typologien, Kategorien, Etiketten, Systeme dreitausend Jahre

Brocas Aphasie, Wernickes Aphasie

hyper-hippocampal, defizitäre Amygdala, Serotonin-empfindlich; verstärktes Feuern im rechten Temporallappen, Areal 12a; überaktiver Thalamus; retinotope Verzerrungen

Inspektor Jean Genette

Inspektor Jean Genette ermittelte bereits seit vielen Jahren für die Interplanetare Polizei und war entsprechend erfahren. Morgens machte Genette immer gerne einen Spaziergang zu einem Eckcafé mit Terrasse oder Tischen an der Straße, trank dort einen großen, ungesüßten türkischen Kaffee und ließ sich von Passepartout die neuesten Nachrichten aus dem Sonnensystem anzeigen. Anschließend spazierte Genette normalerweise weiter durch die Stadt, die der entsprechende Morgen bereithielt, um schließlich beim örtlichen Interplan-Büro, das immer aus einigen wenigen Zimmern in der Nähe des Regierungsgebäudes bestand, mit der Arbeit zu beginnen. Da Interplan unglücklicherweise nicht überall als Polizeibehörde anerkannt wurde, handelte es sich dabei eher um eine Art quasiautonome Instanz, die die Einhaltung von Verträgen überwachte. Das machte einem die Arbeit oft schwer, und Genette kam sich vor wie jemand von einer Privatdetektei oder irgendeiner nervigen Nichtregierungsorganisation; aber immerhin hatten sie bei Interplan gutes Datenmaterial.

Genette spazierte gerne in diesen Daten umher. Die Behörde an sich war in Ordnung, auf die Kollegen konnte man sich verlassen, das Datenmaterial war wichtig, aber letztlich ging es um das Spazierengehen. Beim Spazieren erlebte Genette die kleinen Einsichten und Erleuchtungen, die nicht nur Probleme lösten, sondern auch zu den besten Momenten im Leben gehörten.

Manchmal geschah das im Büro, bei der Beschäftigung mit neuen Daten oder Archivmaterial, bei der Überprüfung einer über dem morgendlichen Kaffee entstandenen Hypothese. Bei den Grafikzimmern von Interplan handelte es sich immer um höchst leistungsfähige Darstellungsräume, mit dreidimensionalen, zeitverzögerten virtuellen Strömen, die ebenso interessant wie schön waren. Natürlich verwirrten einen die Wolken aus bunten Punkten und Linien manchmal nur noch mehr. Doch bei anderen Gelegenheiten sah Genette etwas in den Darstellungen, um anschließend wieder in die Welt hinauszutreten und Dinge zu bemerken, die zuvor niemandem aufgefallen waren, und das war höchst beglückend; es war das Beste überhaupt.

Weniger erfreulich waren die Anstrengungen, die man unternehmen musste, um die erworbenen Einsichten in Taten umzusetzen. Insbesondere in Umfeldern mit unklarer Rechtslage – weniger nachsichtig konnte man es auch als Anarchie bezeichnen – hatte Genette schon viel zu oft Deals abschließen müssen, damit auf Ermittlungsergebnisse reales Handeln folgte. Doch bislang hatte niemand ernsthafte Vorwürfe gegenüber Interplan erhoben, und mehr konnte man in diesem Geschäft eigentlich nicht erwarten.

Genette gehörte zu den altgedienten Mitarbeitern, die sich normalerweise die Fälle aussuchen konnten. Aber die Zerstörung Terminators hatte natürlich Vorrang vor allen anderen Fälle und verlangte überall im Sonnensystem sofortige Aufmerksamkeit. Und da Terminator dem Mondragon angehörte und Interplan zu diesem Weltenbund engere politische Bande hatte als zu irgendeinem anderen politischen Gebilde, verstand es sich von selbst, dass die Behörde sich einmischte. Außerdem hatte es so einen Fall im Prinzip noch nie gegeben. Jemand hatte die einzige Stadt des Merkur in Brand gesetzt (allerdings baute man gerade die Stadt Phosphor, deren Schienen auf der Nordhalbkugel des Planeten verliefen; damit musste man sich mal näher befassen, wäre nicht das erste Mal gewesen, dass Landstreitigkeiten Brandstiftung zur Folge hatten): Natürlich schlug ein solches Ereignis das ganze Sonnensystem in seinen Bann. Nach wie vor war unklar, was geschehen war, wie oder warum es geschehen war und wer dahintersteckte, und die Menschen waren ganz vernarrt in solche Rätsel und verlangten Antworten. Tatsächlich würde es mehrere konkurrierende Ermittlungsverfahren in dieser Sache geben. Doch die Löwin vom Merkur war eine gute Freundin Genettes gewesen, und sobald die Jungen der Löwin sich nach der Evakuierung wieder zusammengefunden und dem Merkur die Führungsrolle bei den Ermittlungen gesichert hatten, hatten sie Genette darum gebeten, sich der Sache anzunehmen. Ein solches Gesuch, das gleichzeitig eine Gelegenheit darstellte, die gemeinsamen Projekte mit Alex und Wahram weiter voranzutreiben, ließ sich unmöglich ablehnen. Tatsächlich vertrat Genette die Meinung, dass die Zerstörung Terminators so kurz nach dem Angriff auf Io und dem Tod von Alex möglicherweise Teil eines Musters war. Eine Autopsie hatte bestätigt, dass Alex eines natürlichen Todes gestorben war, aber Genette verspürte nach wie vor eine nagende Ungewissheit – bei manchen natürlichen Todesarten konnte man durchaus nachhelfen.

Dann, zu Beginn der Reise zum Merkur, auf dem Weg durch den Raumhafen zu dem Tor, hinter dem die Fähre wartete, beim Anblick all der Menschen, die kein bisschen überlegen mussten, um sich zurechtzufinden, fiel Genette mit einem Mal des Rätsels Lösung ein, was den Angriff auf Terminator betraf. Das lebhafte Bild war wie das letzte Überbleibsel eines Traums, und es brachte eine ganze Reihe brauchbarer Ermittlungsansätze mit sich, die sich auf dem Flug ins Innere des Systems weiterverfolgen ließen, vor allem aber ein sehr angenehmes Gefühl der Gewissheit; und Erleichterung von einer potenziell großen Sorge.

Als Genette den Merkur erreichte, hielten die Bewohner Terminators sich bereits entweder in Flüchtlingsunterkünften auf oder hatten den Planeten eilig verlassen. Es hatte 83 Tote gegeben, die meisten davon aufgrund gesundheitlicher Probleme oder infolge von Raumanzug- und Luftschleusenunfällen; die übliche Kombination von Fehleinschätzungen, Ausrüstungsversagen und Panik, die in Notsituationen entsteht. Evakuierungen waren dafür bekannt, zu den gefährlichsten menschlichen Aktivitäten zu gehören, noch vor Geburten.

Deshalb, und weil Terminator immer noch dort draußen in der Sonne briet, standen die Ermittler noch ganz am Anfang. Man hatte festgestellt, dass die Kameras auf dem betreffenden Schienenabschnitt durch den Aufschlag zerstört worden waren, zusammen mit einem Bahnsteig namens Hammersmith. Man ging davon aus, dass dabei eine Gruppe von Konzertbesuchern und Musikern ums Leben gekommen war. Allerdings gab es für den entsprechenden Zeitraum Aufzeichnungen des Meteorabwehrsystems in der Umlaufbahn Terminators, und weder per Radar noch visuell noch im Infrarotbereich war vor dem Einschlag etwas von einem Meteor zu sehen gewesen. Die Satellitenbilder von der Unglücksstelle zeigten keine Reste eines eingeschlagenen Körpers. Angriff aus der fünften Dimension!, sagten die Leute dazu.

Genette hatte die Antwort auf diesen Teil der Frage bereits erkannt und beschlossen, dass vorgetäuschte Unwissenheit dem Täter vielleicht Zeit geben würde, einen Fehler zu machen. Außerdem konnte niemand das Verbrechen nachahmen, solange keine Einzelheiten bekannt waren. Also hielt Genette den Mund und verhörte in einem Zimmer im Rilke-Raumhafen Zeugen. Ein heller Lichtblitz. Ah, vielen Dank. Vielleicht war es an der Zeit, Wang Bescheid zu geben, Genettes Theorie auf ihre Durchführbarkeit hin zu überprüfen.

Dann wurde bekannt, dass man auf der Tagseite zwei weitere Flüchtlinge aufgegriffen hatte, und dass es sich bei einem der beiden um Alex’ Enkelin Swan Er Hong handelte. Es war seltsam, dass man die beiden mitten auf der Tagseite gerettet hatte. Genette ging sie im Krankenhaus von Schubert besuchen.

Swan lag in einem Bett und war an mehre Infusionsnadeln angeschlossen. Sie war sehr blass und musste sich offenbar von der Strahlenkrankheit erholen, die eine Sonneneruption bei ihr ausgelöst hatte, kurz bevor sie und ihr Begleiter unter die Planetenoberfläche gelangt waren.

Genette kletterte in den Stuhl neben dem Krankenbett. Swan hatte dunkle Ringe unter den rot geränderten Augen. Wahram, der sie auf ihrer Wanderung durch das Tunnelsystem begleitet hatte, saß auf der gegenüberliegenden Seite des Betts. Anscheinend war er weniger schwer erkrankt. Er sah allerdings ziemlich erschöpft aus.

Swan bemerkte Genettes Gegenwart. »Sie schon wieder«, sagte sie, »Scheiße aber auch.« Sie warf Wahram einen finsteren Blick zu, worauf dieser erbleichte und sogar eine Hand hob, um sich zu schützen. »Was führt ihr beiden im Schilde?«, fragte Swan.

Genette schaltete Passepartout ein, einen Qube, der wie eine alte Armbanduhr aussah, und sagte: »Bitte regen Sie sich nicht auf. Ich ermittle in allgemeinen Angelegenheiten für die Interplanetare Polizei, wie ich schon sagte, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Ich hatte ein ungutes Gefühl, als ich von Alex’ unerwartetem Tod hörte, und obwohl die Todesursache anscheinend natürlich war, stelle ich weiterhin Nachforschungen zu einer Reihe unschöner Ereignisse an, die damit in Zusammenhang stehen könnten. Sie haben Alex nahegestanden, und Sie waren bei dem Angriff auf Io zugegen und konnten ihn beobachten. Und bei dem kürzlichen Angriff auf Terminator waren Sie wieder hier. Auch wenn es sich nur um Zufälle handelt, dürfte es Sie nicht wundern, dass wir einander immer wieder über den Weg laufen.«

Swan nickte unglücklich.

Wahram sagte: »Hast du jemals etwas über die Überreste der Gestalt in Erfahrung gebracht, die auf Io in die Lava gestürzt ist?«

»Lass uns darüber später reden«, sagte Genette und warf Wahram dabei einen warnenden Blick zu. »Fürs Erste müssen wir uns auf die Zerstörung von Terminator konzentrieren. Würde es euch beiden etwas ausmachen, mir zu erzählen, was ihr gesehen habt?«

Swan setzte sich auf und beschrieb den Einschlag und anschließend ihre Rückkehr zur Stadt, und wie ihnen klar geworden war, dass sie die Evakuierung verpasst hatten; wie sie dann nach Osten zur nächsten Plattform gelaufen und in den Tunnel hinabgestiegen waren. Wahram nickte nur dann und wann zustimmend. Bis dahin dauerte der Bericht ein paar Minuten. Swans darauffolgende Schilderung ihrer Zeit im Tunnel war sehr knapp, und Wahram fügte ihr nichts hinzu und nickte auch nicht. Vierundzwanzig Tage konnten eine lange Zeit sein. Genette schaute zwischen den beiden hin und her. Keiner von ihnen hatte bei der Explosion viel gesehen, das war klar.

»Und … brennt Terminator noch?«, fragte Swan.

»Genaugenommen ist diese Phase vorbei. Die Stadt glüht jetzt.«

Das Gesicht mit einem Mal verkniffen, wandte Swan sich ab. Die letzten Übertragungen der in Terminator zurückgelassenen Kameras und KIs zeigten, wie die Stadt im Sonnenlicht entflammte – brannte, schmolz, explodierte, bis die Aufzeichnungsgeräte versagt hatten. Es war kein allumfassendes Inferno gewesen, sondern ein Flickenteppich von kleinen Bränden, die zu verschiedenen Zeitpunkten ausbrachen. Einige hitzeresistente KIs sendeten noch immer Daten und dokumentierten die Ereignisse, während die gesamte Umgebung sich auf mehrere Hundert Kelvin aufheizte. Die Bilder vermittelten einem ein deutliches Bild von der Einäscherung, obwohl es ziemlich klar war, dass Swan sie nicht würde sehen wollen.

Doch dann wollte sie überraschend genau das. Nachdem sie sich gesammelt hatte, erklärte sie: »Ich will alles sehen. Zeigt mir alles. Ich muss es sehen. Irgendwie werde ich Buße tun, etwas zum Gedenken. Aber erzählen Sie erst einmal, was Sie wissen! Was ist passiert?«

Genette zuckte mit den Schultern. »Irgendetwas hat die Schienen der Stadt getroffen. Die Einschlagstelle selbst befindet sich noch auf der Tagseite, und solange die Sonne dort nicht untergegangen ist, können wir keine sorgfältige Untersuchung durchführen. Das Meteoritenabwehrsystem konnte den Einschlagkörper nicht sehen, was eigentlich unmöglich ist, da er eine Masse von vielen Tausend Kilogramm hatte. Einige Leute sind der Meinung, dass es ein Kometeneinschlag gewesen sein muss. Ich spreche lieber einfach von dem Ereignis. Wir wissen immer noch nicht mit Sicherheit, ob es nicht vielleicht eine unterirdische Explosion war.«

»Als wenn jemand eine Mine unter den Schienen platziert hätte?«, fragte Wahram.

»Tja, auf einigen Satellitenfotos sieht es mehr wie ein Einschlag aus. Aber die Frage stellt sich.«

Genettes Armbandqube sagte mit heller Singsangstimme: »Du hast einen Besucher namens Mqaret.«

»Sag ihm, wo wir sind«, befahl Genette. »Bitte ihn herzukommen.«

Swans Wangen röteten sich vor Ungeduld. »Ich will Terminator sehen«, erklärte sie.

»Es ist vielleicht möglich, der Stadt einen kurzen Besuch in einem geschützten Fahrzeug abzustatten, aber derzeit lässt sich dort wenig machen. Die Trupps vor Ort sitzen die meiste Zeit über bloß im Schatten der Stadt. Der Sonnenuntergang erreicht den entsprechenden Längengrad in etwa siebzehn Tagen.«

Dann betrat Mqaret das Zimmer, und Swan rief seinen Namen und streckte die Arme nach ihm aus.

»Wir dachten, du wärst tot!«, rief Mqaret. »Die ganze Konzertgruppe ist verschwunden, und wir dachten, du wärst dabei gewesen, und die Evakuierung war ein einziges Chaos, und wir dachten, du wärst umgekommen.«

»Wir sind in den Tunnel runter«, sagte Swan.

»Man hat auch da unten nachgesehen, aber es wurde niemand gefunden.«

»Wir sind nach Osten gewandert, um den Weg schneller hinter uns zu bringen.«

»Das leuchtet mir ein, aber ihr hättet eine Nachricht hinterlassen sollen.«

»Ich dachte, das hätten wir gemacht.«

»Wirklich? Aber egal … du bist so dünn! Wir müssen dich ins Labor bringen, um dich einmal gründlich anzuschauen.« Mqaret ging um das Bett herum und umarmte auch Wahram kurz. »Danke, dass Sie meine Swan nach Hause gebracht haben. Wir haben gehört, dass Sie sich da unten um sie gekümmert haben.«

Genette sah, dass Swan anscheinend nicht ganz glücklich mit dieser Umschreibung war.

Wahram sagte: »Wir alle haben einander geholfen. Tatsächlich freuen wir uns darauf, die jungen Sonnenläufer wiederzusehen, mit denen wir dort unten waren.«

»Sie werden gerade geholt«, erklärte Mqaret, »und ich hoffe, dass es ihnen gut geht. Man hat eine ganze Menge Sonnenläufer aufgelesen.«

»Unsere waren sehr hilfsbereit«, sagte Wahram, doch Swan schnaubte, als sie seine Worte hörte.

Die Zerstörung der Stadt schien Mqaret nicht weiter zuzusetzen; da sie sich so kurz nach Alex’ Tod ereignet hatte, kam es für ihn wahrscheinlich kaum noch darauf an. Doch ohne Terminator konnten die Merkurianer nur noch in den über den Planeten verteilten unterirdischen Schutzräumen leben, in ganz ähnlicher Weise wie die Bewohner Ios. Das war nicht gerade eine optimale Ausgangslage für den Wiederaufbau. Trotzdem konnten sie es schaffen, und tatsächlich hatten die Arbeiten mithilfe hitzeresistenter Schutzräume und Roboter bereits begonnen. Wenn der Sonnenuntergang die ausgebrannte Stadt erst einmal erreichte, würden sie schon sehr bald die Schienen reparieren und das Skelett der Stadt wieder in Bewegung setzen. Dann konnten sie sie im Schutz der Dunkelheit wiederaufbauen wie schon beim ersten Mal.

Doch derzeit befanden sie sich nach wie vor im Ausnahmezustand, und ihr Einfluss im restlichen Sonnensystem war dementsprechend geringer. Also sagte Mqaret zu Swan, wobei er allerdings Genette und Wahram anschaute: »Wir werden die Stadt wieder aufbauen, und wir werden diese Sache überwinden. Diejenigen, die davon reden, dass unsere riskante Lebensweise unser Todesurteil gewesen sei, müssen schließlich mit ihren eigenen Risiken leben. Im All sind wir alle verwundbar. Nirgendwo jenseits der Erde gibt es menschliche Ansiedlungen, die nicht zerstört werden könnten, außer auf dem Mars.«

»Was einer der Gründe dafür ist, dass es sich um einen derart unausstehlichen Planeten handelt«, bemerkte Genette.

»Ich werde ein Mahnmal für unseren Verlust erschaffen«, verkündete Swan und versuchte anscheinend, sich aus ihrem Bett zu erheben. Dramatisch zerrte sie an ihren Infusionsschläuchen. »Ich werde eine Abramovic in den Ruinen aufführen, um den Kummer der Stadt auszudrücken. Vielleicht wäre eine zeitweilige Kreuzigung angebracht.«

»Wie wäre es mit Verbrennen auf dem Scheiterhaufen«, schlug Wahram vor.

Swan warf ihm einen giftigen Blick zu. Mqaret erhob einen taktvolleren Einwand, indem er darauf hinwies, dass Swan sich noch nicht ausreichend erholt hatte, um ihren Körper als Leinwand zu benutzen. »Das setzt dir immer so schwer zu, Swan, das geht nicht.«

»Ich werde es tun! Auf jeden Fall werde ich es tun.«

Swans Qube, dessen Stimme aus ihrer Halsseite kam, meldete sich zu Wort: »Ich muss dich darüber informieren, dass du mir Anweisung gegeben hast, mich gegen jedwede Abramovic-Performance auszusprechen, solange du dich nicht in einem optimalen Gesundheitszustand befindest. Das sind deine eigenen Anweisungen an dich selbst.«

»Lächerlich«, sagte Swan. »Manchmal verlangen die Umstände, dass man seine Pläne ändert. Nach diesem Ereignis, nach dieser Katastrophe, ist alles andere zweitrangig. Sie verlangt nach einer angemessenen Reaktion.«

»Ich muss dich darüber informieren, dass du mir Anweisung gegeben hast, mich gegen jedwede Abramovic-Performance auszusprechen, solange du dich nicht in einem optimalen Gesundheitszustand befindest.«

»Halt die Klappe, Pauline. Ich will dich jetzt nicht reden hören.«

Mqaret hatte sich inzwischen so hingestellt, dass er Swan am Aufstehen hindern konnte. Er sagte: »Liebe Swan, deine Pauline hat recht. Damit meine ich, dass du das Richtige tust, indem du aus einer umfassenderen Perspektive zu dir selbst sprichst. Überstürze nichts. In einer solchen Krise gibt es bessere Dinge, die du tun kannst. Es gibt viel zu tun.«

»Terminators Schicksal künstlerisch zum Ausdruck zu bringen ist eine sinnvolle Arbeit.«

»Ich weiß, und zwar insbesondere für dich. Aber du bist eine unserer Biom-Designerinnen, und in dieser Funktion wird man dich sehr brauchen. Wir können diese Gelegenheit ergreifen, um den Park und die Farm neu zu gestalten.«

Swan wirkte beunruhigt. »Die werden wir doch sicher einfach ersetzen? Da will doch keiner was ändern … ich jedenfalls nicht.«

»Tja, wir werden sehen. Trotzdem musst du für die Stadt zur Verfügung stehen.«

Swan starrte ihn finster an. »Das tue ich sowieso. Können wir wenigstens mit einem Hopper auf die Tagseite fliegen und uns die Stadt einmal ansehen?«

»Ich glaube schon. Ich bitte sobald wie möglich darum, dass man uns Plätze auf den Tagfliegern reserviert. Aber erst musst du wieder zu Kräften kommen.«

Ein paar Tage später flogen sie zusammen in einem Hopper los, wobei sie den Schienen Richtung Osten ins Tageslicht und zu den Trümmern von Terminator folgten. Das Land unter ihnen sah durch den starken Filter weiß wie Papier aus, mit einigen schwarzen Ringen und wabernden Linien, so als ob zitternde Kompassnadeln Schriftzeichen auf dem Grund hinterlassen hätten. Die Schienen selbst waren ein leuchtendes schmales Band aus weißglühenden Drähten.

Dann erhob sich Terminator über den Horizont. Das Gerippe der Kuppel glühte ebenso weiß wie die Schienen. Das Stadtinnere war eine schwarze Masse, die, als sie näher herankamen, in kleinere Ansammlungen von Schlacke, Ruß und Asche zerfiel, schwarze Klumpen, schwarzer Staub. Einige Metalloberflächen glühten rot. Der Anblick erinnerte an alte Fotos von Städten auf der Erde, die durch Feuerstürme vernichtet worden waren.

Bei dem Anblick schüttelte Mqaret den Kopf. »Ist schon klar, warum wir auf der Nachtseite bleiben müssen.«

Swan, die hinabstarrte, schien ihn gar nicht zu hören. Genette fiel auf, dass sie sich diesmal nicht dramatisch in Szene setzte. Man sah nur grimmige Verzweiflung in einem leeren Gesicht. Es sah aus, als wäre sie ganz woanders. Wahram musterte sie unauffällig.

Die glühende Stadtruine wurde von der nach wie vor stehenden Dämmerungsmauer überragt. Ihre nach Osten weisende Außenseite war so silbern und rein wie eh und je, aber auf der Innenseite bestand sie nur noch aus einer Masse von verkrümmten schwarzen Terrassen. Einige der Dächer aus königsblauen Keramikkacheln waren noch intakt und hatten sogar ihre Farbe bewahrt. Die große Treppe verlief immer noch abwärts quer durch die vielen Brandstreifen. Der importierte Marmor schimmerte perlmuttartig in der Hitze. Die weißglühenden Bögen des Kuppelskeletts wölbten sich dem Himmel entgegen wie die Umrisse der Kuppel von Hiroshima.

»Es war so schön«, sagte Mqaret.

»Das ist es immer noch«, erwiderte Swan.

Mqaret sagte: »Wir werden einige ausgewachsene Bäume einführen und die restlichen aussähen und aufziehen. Ich muss allerdings sagen, dass die Verhandlungen mit den Versicherungen anscheinend nicht besonders gut laufen. Sie haben eine andere Definition von ›voller Ersatzleistung‹. Außerdem ist es noch unklar, ob es sich um höhere Gewalt oder um einen kriegerischen Akt handelte. Die Anwälte im Rat meinen, dass die Versicherung in beiden Fällen greift, aber wer weiß. Vor allem wird es teuer. Wir werden Unterstützung brauchen. Glücklicherweise hält uns der Mondragon den Rücken frei. Und die Tiere zu ersetzen wird leicht, da die Terrarien ohnehin schon überfüllt sind.«

Er schaute zu Wahram und räusperte sich. »Ich habe gehört, dass die Vulkanoiden uns so schnell wie möglich helfen wollen. Natürlich macht man sich dort unten Sorgen.«

»Sie brauchen uns«, sagte Swan. »Darum haben sie Alex’ Vorschlag, sie zu unterstützen, überhaupt erst so schnell angenommen.«

»Tja, jetzt wird sich zeigen, wie sehr sie uns zu brauchen meinen.«

Swan schüttelte sich wie ein Hund. Genette sah ihr an, dass sie derzeit nicht über die Vulkanoiden nachdenken wollte. Vielleicht ärgerte es sie, dass Mqaret bereits über die nächsten Schritte nachdachte, während sie noch auf die glimmenden Ruinen hinabblickten.

Wahram achtete aufmerksamer auf ihren Gemütszustand. »›Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach!, wie die Jahre.‹«

Swan bedachte ihn mit einem finsteren Blick. »Noch mehr Glückskekse von dir tiefsinnigem Denker?«

»Ja.« Ein kleines Lächeln; Genette erkannte, dass Wahram sich noch immer an Swans Eigenheiten erfreuen konnte, obwohl sie so lange miteinander eingesperrt gewesen waren. Vielleicht hatte er es sogar dabei gelernt. Die beiden hatten auffällig wenig über ihre gemeinsame Zeit in dem Tunnel geredet.

Swan sagte: »Ich möchte mich der Untersuchung von Inspektor Genette anschließen, wenn das in Ordnung ist. Inspektor? Ich wäre gerne Ihre Kontaktperson zum Merkur.«

»Wir können immer Hilfe gebrauchen«, antwortete Genette diplomatisch. »Dieser Vorfall macht uns allen große Sorgen, aber dem Merkur geht er natürlich an Herz und Nieren. Deshalb bin ich auch davon ausgegangen, dass sich jemand von Ihnen an den Ermittlungen beteiligen wollen würde.«

»Gut«, erwiderte Swan. »Ich bleibe mit dem Designteam in Verbindung«, sagte sie zu Mqaret. Von irgendwelchen selbst zerfleischenden Kunstaktionen war nicht mehr die Rede; obwohl Genette argwöhnte, dass die Ermittlungen für Swan etwas Ähnliches waren.

Als sie wieder beim Raumhafen eintrafen, verabschiedete Wahram sich mit einem Nicken von Genette. Dann wandte er sich Swan zu und deutete, die Hand über dem Herzen, eine Verbeugung an.

»Ich muss zum Saturn zurück und mich Geschäften zuwenden, die ich vernachlässigt habe. Sicherlich treffen wir uns bald wieder. Terminator wird sich wie ein Phönix aus der Asche erheben, und anschließend haben wir beide noch so einiges miteinander zum Abschluss zu bringen.«

»Das haben wir allerdings«, sagte sie. Unvermittelt umarmte sie ihn und legte den Kopf für einen kurzen Moment an seine breite Brust. Dann trat sie zurück. »Danke, dass du mich gerettet hast. Es tut mir leid, dass ich da unten so neben der Spur war.«

»Dazu besteht kein Anlass«, erwiderte Wahram. »Du hast mich gerettet. Und wir sind durchgekommen.« Mit einer weiteren unbeholfenen Verneigung ging er.

Listen (5)

Die Vesta-Zone, eine Wolke von Terrarien, die gemeinsam eine Kooperative bilden

Aymara, ein Amazonas-Terrarium, dessen Inneres vollständig mit Nebelwald zugewuchert ist

Tatarenseele, eine Steppenlandschaft, in der die Leute ein wiederauferstandenes Indogermanisch sprechen

Die Kopenhagen-Interpretation, eine Kanalstadt mit einer Geschenkökonomie

Die Sansibar-Katze, eine anarchistische Savanne mit Tausenden von Großkatzen und überhaupt keinen Gebäuden

Arabia Deserta, eine von englischen Reisenden bewohnte Wüste

Aspen, ein Ski-Paradies

unbenannte Gefängnisasteroiden mit Roboterwachen

Hermaphrodite, dessen Bewohner allesamt Gynandromorphe und Androgyne sind

Der Heilige Georg, ein soziales Terrarium, in dem die Männer glauben, sie würden in einer mormonischen Polygamie leben, während die Frauen es für eine Lesbenwelt mit einem kleinen Prozentsatz männlicher Lesben halten

Asteroiden, die nicht zu zylinderförmigen Terrarien ausgehöhlt sind, sondern Tunnel, Insektenstöcke, Höhlen, Abgründe, Hotels usw. enthalten

Die Malediven, ein Aquarium, in dem man die versunkenen Inseln nachgebaut hat

Mikronesien, ebenso; Tuvalu, ebenso; all die versunkenen Inseln der Erde wurden in solcher Weise nachgebaut

Greater Yellowstone Ecosystem 34, das jüngste von 34 Terrarien, die auf dem Vorbild dieses großen Bioms basieren

extremophile Terrarien, die für Menschen tödlich sind, aber Lebensformen beheimaten, aus denen sich Medikamente und Impfstoffe erzeugen lassen

zum Untergang verurteilte Biome, die mit ungewöhnlichen Parametern erstellt und anschließend wie Reagenzgläser verschlossen wurden

Der kleine Prinz, ein Außen-Terrarium mit Zeltblasen, deren Atmosphäre seine Umrisse blau erscheinen lässt

Der Wirbel, dessen Bewohner die Augen nach einem Außenseiter offenhalten

Miranda, der zusammengeklatschte Mond des Uranus, der nun als Trojaner selbstständig um die Sonne kreist, vollständig von einer Zeltblase eingehüllt und von tiefen Schluchten durchzogen, durch die der Schnee in der geringen Gravitation hinabrieselt, mit Schweizer Architektur, ein Alpentraum

Ikarus, eine Fliegerwelt, die von einem in den Boden eingelassenen Sonnenstreifen erhellt wird, damit am Himmel Platz ist

Quelle des Pfirsichblütenbachs, eine Nachbildung der Tang-Dynastie, die wie eine zum Leben erwachte chinesische Landschaftsmalerei aussieht

Miozän-Terrarien, Kreidezeit-Terrarien, Jura-Terrarien, Präkambrium-Terrarien

Wassertropfen, ein vollständig mit Wasser und Meeresbewohnern gefülltes Aquarium

Mammutbaum-Canyon, eine eingeklappte kalifornische Sierra Nevada – und so weiter. Schätzungsweise 19000 bewohnte Asteroiden und Monde

Swan und Mqaret

Zurück im Raumhafen zwischen den Kratern Schubert und Bramante saß Swan in der Ecke, erfüllt von reuevoller Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen konnte. Es konnte doch wohl unmöglich die Sehnsucht nach dem Tunnel sein; den begann sie bereits zu vergessen. Sollte Pauline es sich merken. Niemals zurückblicken, warum auch? Obwohl dort etwas gewesen war – ein Gefühl, als stünde sie an der Schwelle zu etwas Bedeutsamem. Was hatte er gesagt? Dass der Tunnel im Prinzip genauso war wie jeder andere Ort auch? Darin würde sie ihm niemals zustimmen, niemals.

Kurz vor ihrer Abreise mit Genette und dem Team von Interplan besuchte Mqaret sie erneut. »Du bist so zäh«, sagte er zu ihr und tätschelte ihr den Kopf wie einem Kind. Aber das hieß nicht, dass er sie nicht für voll nahm, das wusste sie. Deshalb schüttelte Swan den Kopf.

»Nein«, sagte sie ausdruckslos. »Ich bin zusammengebrochen. Ich habe es einfach nicht verkraftet.«

Liebevoll verteidigte er sie. »Erzwungene Enge auszuhalten ist einfach nicht deine Stärke. Lass dich bloß nie ins Gefängnis stecken oder in einem Raumanzug auf irgendeine Tangente schießen. Das wäre gar nicht dein Ding. Trotzdem bist du in diesem Fall ziemlich gut zurechtgekommen, glaube ich.«

»Ich wüsste nicht, inwiefern.«

»Tja, diese Sonneneruption, die dich erwischt hat, bevor du in den Schutzraum gelangt bist; die Dosimeter in deinem Anzug zeigen, dass du irgendwie sehr viel mehr abbekommen hast als die andern, die mit dir dort unten waren. Ich will dir keine Angst machen, weil du nämlich wieder in Ordnung kommst – ich habe deine Wiederherstellung bereits gut im Griff, und du sprichst hervorragend auf die Behandlung an –, aber das war wirklich eine ganz schöne Ladung.«

»Zehn Sievert«, sagte sie abwinkend. »So schlimm ist das nicht.«

»Genaugenommen ist es ziemlich schlimm. Hast du länger als die anderen in die Sonne geschaut? Hast du dich vor einen deiner Freunde gestellt?«

»Ja, das habe ich, aber er ist doppelt so breit wie ich. Ich dürfte ihm kaum Schutz geboten haben.«

»Er hat nur drei Sievert. Genau genommen bist du also nicht viel dünner als er. Du hast ihm die volle Ladung erspart.«

»Und dann hat er mich gerettet. Er musste mich ein paar Tage lang tragen.«

»Das ist nur fair. Aber hör mal, diese zehn Sievert – das genügt, um einen umzubringen, und eigentlich hättest du praktisch gelähmt sein müssen. Aber wie gesagt, du kommst wieder in Ordnung. Es würde mich also interessieren herauszufinden, warum du das so gut verkraftet hast. Ich frage mich, ob dein enceladanischer Symbiont etwas damit zu tun hat. Er verträgt Strahlung recht gut, und als Detrivor ist er vielleicht in dir aufgeblüht, als er durch deine vielen getöteten Zellen einen Schub neuer Nahrung bekam. Vielleicht hat er zusammen mit deinen T-Zellen in deinem Körper aufgeräumt.«

Der Gedanke erschreckte Swan. »Du warst doch absolut dagegen, dass ich das tue«, erwiderte sie. »Du meintest, es wäre dumm und leichtsinnig von mir.«

Mqaret nickte. »Und ich hatte auch recht damit. Hör mal, Swan: Wenn du das Leben liebst, wie du es von dir behauptest, um damit dein wildes Treiben zu rechtfertigen, dann solltest du so gut wie möglich auf dein eigenes achtgeben. Manche Risiken lassen sich einfach nicht kalkulieren – und das ist hier der Fall. Tatsächlich besteht das Risiko immer noch. Aber es ist nur ein Risiko, keine ausgemachte Sache. Wahrscheinlich hast du es deshalb getan. Du bist ja nicht selbstmordgefährdet, stimmt’s?«

»Stimmt«, antwortete sie unsicher.

»Dann bist du also leichtsinnig. Du tust Dinge, von denen du dir nicht sicher sein kannst, ob sie dich vielleicht in zehn oder hundert Jahren umbringen.«

»Dann sind wir alle leichtsinnig.«

»Das ist wahr. Nur zu wahr. Aber man muss nicht auch noch dumm und leichtsinnig zugleich sein.«

»Da gibt es einen Unterschied?«

»Allerdings. Denk mal darüber nach, dann fällt er dir vielleicht ein. Hoffentlich, bevor du erneut etwas Derartiges tust. Falls das überhaupt möglich ist.«

Während ihres Gesprächs hatte er auf einem Pad herumgetippt und ihre Werte studiert. Jetzt zuckte er mit den Schultern. »Mit deiner Erlaubnis nehme ich ein paar Proben von dir mit ins Labor, um sie näher zu untersuchen. Vielleicht finden wir ja etwas heraus.«

»Natürlich«, sagte sie. »Es wäre nett, wenn mein dummer Leichtsinn auch etwas Gutes zur Folge hat.«

Er küsste sie auf den Kopf. »Mehr als das Gute, was ohnehin schon von dir kommt, meinst du.«

Nachdem Mqaret fort war, blieb Swan zurück, um allein über ihren dummen Leichtsinn nachzudenken. Ihr ausgezehrter Körper auf dem Bett verschwamm vor ihren Augen wie der einer anderen, ein Ding, das sie wie einen Waldo bediente. Er war widerstandsfähig. Er hielt sie nach wie vor fest. Er hatte Hunger. Sie drückte auf die Klingel, um eine Schwester um etwas zu essen zu bitten.

»Pauline, bitte übertrage meine Krankengeschichte auf den Tischcomputer dort.«

»Möchtest du die Langfassung oder die Zusammenfassung?«

»Die Zusammenfassung«, sagte Swan, die wusste, dass die Langfassung einen Umfang von mehreren Hundert Seiten hatte.

Sie schaute auf die leuchtenden Buchstaben in der Tischplatte, konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, sie zu lesen. Einzelne Passagen sprangen ihr ins Auge: Geboren 2177, eine schwere Geburt, so hatte man ihr erzählt, bei der sie zeitweise unter Sauerstoffmangel gelitten hatte. Anfälle im Alter von 2. Pilz- und Bakterieninfektionen in der Farmschule. Feuchtland-Syndrom. Im Alter von 4–10 ADHS.

Gegen Letzteres war man mit einer medikamentösen Behandlung vorgegangen, die später in Verruf geraten war. Ihre restliche Schulzeit hatte sie auf der Farm verbracht, wo es ihr sehr viel besser ergangen war. Doch der leuchtende Text in der Tischplatte ging noch weiter. Dyskalkulie. Präfrontale Kortex-Elektrostimulation. Im ersten Sabbatjahr Impfung für Xinjiang, China, im Alter von 15, ganze Bandbreite einschließlich Darmwürmer …

… in diesem Fall Trichuris suis, ein Schweine-Peitschenwurm, den man im Rahmen einer Therapie einnahm, die mal mehr und mal weniger beliebt war.

Oppositionelles Trotzverhalten, im Alter von 15–24.

Das stand mit Angststörungen in Verbindung. Beide hatten mit dem Hippocampus zu tun, aber bei Angst mied man das Objekt, während man bei Trotzverhalten zum Angriff überging.

Ein-g-Syndrom, zweites Sabbatjahr in Montpellier, Frankreich, im Alter von 25. Venusianische Grippe. Genitalanpassung im Alter von 25. Hormonpumpe implantiert im Alter von 35, Hormontherapien bis zum jetzigen Zeitpunkt. Im Alter von 37–86 Oxytocin-Abhängigkeit. Lerchen- und Grasmücken-Gesangscluster-Implantat im Alter von 26. Katzenschnurrstimmbänder im Alter von 27. 2222 Implantierung eines subduralen Quantencomputers im Alter von 45. Kognitive Therapie im Alter von 9–99.

Im Alter von 28 Vaterschaft, Kind weiblich. Tochter 2296 verstorben. Im Alter von 63 Mutterschaft, Kind weiblich. Natürlich geboren.

Mqaret hatte ebenfalls etwas in ihre Akte eingetragen: Einnahme der enceladanischen Lebensform – leichtsinniges Mädchen im Alter von 79.

Langlebigkeitsbehandlungen im Alter von 40 bis zum jetzigen Zeitpunkt.

Oberflächliches Verhalten, nie behandelt – das hatten offenbar entweder Mqaret oder Pauline eingesetzt, um sich über sie lustig zu machen.

»Wie wär’s mit hat hundert Terrarien entworfen?«, beschwerte sich Swan. »Wie wär’s mit hat drei Jahre in der Oort’schen Wolke damit verbracht, elektromagnetische Katapulte an Eiskugeln zu befestigen? Oder fünf Jahre auf der Venus?«

»Diese Ereignisse gehören nicht zu deiner Krankengeschichte«, sagte Pauline.

»Oh doch, das kannst du mir glauben.«

»Wenn du deinen Lebenslauf willst, sag es einfach.«

»Sei still. Geh weg. Du bist zu gut darin, eine nervige Person zu simulieren.«

»Sagtest du ›simulieren‹ oder ›stimulieren‹?«

Auszüge (7)

Die verlängerte Lebensspanne im Zusammenhang mit bisexuellen Therapien hat zu höchst fortgeschrittenen operativen und hormonellen Behandlungen geführt, als Intervention sowohl im Mutterleib als auch in der Pubertät und im Erwachsenenalter. Die XX/XY-Dichotomie existiert zwar noch, aber eher im Zusammenhang einer breiten Varietät von Gewohnheiten, Gebräuchen und Terminologien

Ein Gefühl für die Geschlechtsidentität wird im zweiten Monat im Hippocampus und Hypothalamus herausgebildet; die einmal angelegte Orientierung bleibt bestehen. Wenn man beabsichtigt, ein Gefühl der Undifferenziertheit oder Ambivalenz zu erzeugen, müssen die Eingriffe bereits im Mutterleib beginnen

In den ersten acht Wochen der Embryonalentwicklung hält man in der noch bipotenzialen Gonade sowohl den Müller-Gang als auch den primären Harnleiter aktiv. Anti-Müller-Hormone, die von Genen auf dem Y-Chromosom aktiviert werden, dürfen sich nur an einen der embryonalen Müller-Gänge anlagern. Der Effekt ist normalerweise ipsilateral, sodass jeder Hoden nur auf seiner Seite die Entwicklung des Müller-Gangs unterdrückt, was zur Folge hat

bei XY-Embryos muss dann bis zur vierten Woche ein mittleres Maß an Androgen-Insensitivität eingebracht werden, um eine Maskulinisierung des Hypothalamus zu vermeiden, wo die hauptsächlichen Unterschiede im Gehirn liegen. Bei XX-Embryos müssen Androgene in einen Müller-Gang eingeführt werden, um die Entwicklung des primären Harnleiters anzuregen. Gleichzeitig kommt es im Müller-Gang auf dieser Seite zur Apoptose

zugrunde liegende genetische Ausstattung macht den Unterschied zwischen Androgynie und Gynandromorphie aus, die sich anhand äußerlicher Körpermerkmale oft nicht unterscheiden lassen. XX-Menschen mit erhaltenen Unierischen Gängen sind gynandromorph; XY-Menschen mit erhaltenen Müller-Gängen sind androgyn. Beide werden über Hormonpumpen mit Androgenen und Östrogenen versorgt, sodass das Kind mit dem Potenzial zu beiden genitalen Ausprägungen des Körpers zur Welt kommt, die je nach Wahl

vor der Geburt etablierte Bisexualität die stärkste positive Korrelation zu Langlebigkeit aufweist. Hormonbehandlungen, die in der Pubertät oder im Erwachsenenalter vorgenommen werden, haben ebenfalls positive Auswirkungen auf die Lebensdauer, aber die psychologische

Hormonbehandlungen unterstützen das operative Hinzufügen eines funktionalen Uterus in der Unterleibswand über dem Penis

Umbau der Klitoris zu einem kleinen, funktionstüchtigen Penis, wobei man die Hoden entweder mithilfe konservierter Unierischer Gänge oder mit Stammzellen des Patienten wachsen lässt. Gynandromorphen können normalerweise nur Töchter zeugen, da die Konstruktion eines Y-Chromosoms aus einem X-Chromosom problematische

weibliche Personen, die fortpflanzungstaugliche männliche Geschlechtsorgane hinzufügen wollen, können auf ein Verfahren zurückgreifen, das einen natürlichen Steroid-5-Alpha-Reduktase-Defekt imitiert

die grundlegenden Kategorien eines geschlechtlichen Selbstbilds umfassen weiblich, männlich, androgyn, gynandromorph, hermaphroditisch, ambisexuell, bisexuell, intersexuell, neutrum, Eunuch, asexuell, undifferenziert, schwul, lesbisch, queer, invertiert, homosexuell, polymorph, poly, labil, berdach, hijra, zweigeistig

Gesellschaften, die dem Geschlecht eine geringe Bedeutung beimessen, werden manchmal als ursulinische Gesellschaften bezeichnet. Der Ursprung des Begriffs ist unbekannt, möglicherweise hat er aber etwas damit zu tun, wie schwierig es ist, das Geschlecht von Bären zu bestimmen

Kiran auf der Venus

Sobald Kiran mit Shukra allein war, sagte Shukra zu ihm: »Wir werden dich einigen Tests unterziehen müssen, Junge.«

»Was für Tests?«

»Alle möglichen.«

Drei große Männer kamen und eskortierten sie durch die Boulevards von Colette, und Kiran wurde klar, dass ihm keine andere Wahl blieb, als genau das zu tun, was man ihm sagte. Sie betraten ein Gebäude mit großen Erkerfenstern, von denen aus man auf eine Straßenecke blicken konnte, und er versuchte, das Straßenschild zu erkennen und sich zu merken, wo sie sich befanden. 8th Street Ecke Oak. Obwohl der Baum auf der anderen Seite der Kreuzung eine Weide war.

»Erzählst du mir noch mal, warum Swan dich hergebracht hat?«, fragte Shukra, als sie das Gebäude betraten.

»Ich habe ihr dabei geholfen, nicht entführt zu werden, als sie gerade bei mir in der Gegend war. Sie wollte mir im Gegenzug einen Gefallen erweisen.«

Shukra sagte: »Du hast darum gebeten, dass man dich herbringt?«

»In gewisser Weise.«

Shukra schüttelte ein paarmal den Kopf. »Und jetzt bist du also ein Spion.«

»Was meinst du damit?«

Shukra warf ihm einen Blick zu. »Du spionierst jetzt für sie, ob du es weißt oder nicht. Mit den Tests werden wir es herausfinden. Danach spionierst du dann für mich.«

»Warum sollte sie hier einen Spion brauchen?«

»Sie hat der Löwin vom Merkur sehr nahegestanden, und seit die Löwin tot ist, reist sie in der gleichen Weise umher wie die Löwin. Außerdem unterhält die Löwin hier seit jeher eine Vielzahl von Spionen. Schauen wir also, was bei den Tests herauskommt.«

Kiran pochte das Herz bis zum Hals, doch die drei großen Männer rückten dichter an ihn heran, und er hatte keine andre Wahl, als sich in ein weiteres Zimmer begleiten zu lassen. Es sah nach einem Krankenhauszimmer aus. Sehr zu Kirans Erleichterung ähnelten die Tests letztlich eher medizinischen Untersuchungen. Es sagte allerdings einiges über seine Lage aus, dass medizinische Test die gute Alternative waren.

Gegen Abend führte man ihn schließlich wieder Shukra vor. Shukra betrachtete die Konsole, auf der wahrscheinlich Kirans Testergebnisse zu sehen waren. Als er sprach, redete er mit Kirans Begleitern. »Er sieht sauber aus, aber irgendwie bezweifle ich, dass er es ist. Fürs Erste benutzen wir ihn als Köder.«

Daraufhin wies man Kiran einer chinesischen Arbeitseinheit zu, deren Mitglieder gemeinsam in einem Gebäude nahe des Stadtkraterrands wohnten und praktisch täglich gemeinsam zum Arbeiten nach draußen gingen. Die Angehörigen der Einheit hatten keinerlei Einfluss auf ihr Leben: Sie gingen dorthin, wo man sie hinschickte, taten, was man ihnen sagte, und aßen, was man ihnen gab. Es war fast wie zu Hause.

Der blöde kleine Übersetzungsgürtel, den Swan ihm gegeben hatte, war nun Kirans einzige Gesellschaft. Wenn er ihn benutzte, um sich zu verständigen, erntete er oft ziemlich verwunderte Blicke, aber mithilfe des Gürtels führte er auch einige kurze Gespräche, was sehr viel besser war als gar nichts. Meistens stand er allerdings allein im Gedränge und verrichtete die Tätigkeit, die man seinem Trupp für den Tag zugeteilt hatte. Shukra sah er nach den Tests nicht wieder, was ihm das Gefühl gab, durchgefallen zu sein – bis ihm eines Tages der Gedanke kam, dass er vielleicht in Wirklichkeit bestanden hatte.

Auf jeden Fall nahm die Arbeit kein Ende. Meistens musste er Colette verlassen und in den unablässig tobenden Schneesturm hinaus, in den der Große Regen sich verwandelt hatte. Dicke Schneewehen sammelten sich auf den neuen Trockeneismeeren, bevor man sie vollständig mit Steinschaum bedeckt hatte, und das verursachte Probleme. Täglich mussten große Trupps hinaus und mit riesigen Bulldozern und Schneepflügen den Schnee vom Trockeneis schieben, sodass die Steinschaumbrigaden es versiegeln konnten, bevor sich erneut eine Schneeschicht bildete. Angeblich würde das Aufbringen des Steinschaums noch zehn Jahre dauern, aber von jemand anderem hatte Kiran auch etwas von einem Jahr gehört, und noch ein anderer meinte, es wären hundert. Niemand wusste es mit Sicherheit, und es war schwer, den Unterhaltungen nach dem Abendessen mithilfe seines Gürtels zu folgen, wenn seine Kameraden versuchten, die nötigen Berechnungen auf ihren eigenen Armpads durchzuführen. Immer wieder hieß es zehn Jahre. So viel zu einem Job ohne Aufstiegschancen! Er musste besser Chinesisch lernen.

Die Nächte verbrachte er in einem Schlafsaal. Das war der interessanteste Teil, weil die Leute hier dicht an dicht auf Matratzen lagen, die im Prinzip durch die ganze Länge des Raums gingen. Zahlen an den Kopfenden markierten die einzelnen Schlafstätten. Die Situation brachte eine Menge Sex im Dunkeln mit sich, bei dem er manchmal sogar dabei war. Morgens standen sie dann auf, aßen in einer Cafeteria, stellten sich an und warteten darauf, dass sie an der Reihe waren und man sie in Geländewagen auf die endlose Ebene hinausschickte oder in Helikopter von der Größe von Flugzeugträgern steckte, die sie aufs Trockeneismeer hinaus brachten, wo sie Bulldozer, Waldos und Schneegebläse (die sogenannten Drachen), Riesen-Eisglätter und Eisschneider bedienen mussten, die sehr an die Asphalt- und Betonschneidefahrzeuge daheim in Jersey erinnerten, nur hundertmal so groß waren. Nach ein paar Wochen konnte er mit all diesen Geräten umgehen. Sie waren nicht besonders kompliziert; meistens musste man der KI einfach nur sagen, was sie tun sollte. Es war wie wenn man ein Schiff kommandierte. Ein Tag Arbeit eines Tausendertrupps genügte, um viele Quadratkilometer Trockeneis zu räumen, und am Horizont folgten unaufhaltsam die schwarzen, mobilen Fabriken, die den Gesteinsschaum aufsprühten. Das gegenüberliegende Ufer war auf diesem Teil des Eismeers angeblich sechshundert Kilometer weit entfernt.

Anschließend war er einige Wochen damit beschäftigt, mit einem riesigen Waldo Dinge loszuschlagen, die sie als Stegosaurier-Platten bezeichneten, um sie anschließend in die Wanne eines riesigen Lasters zu tragen. Die Arbeit mit einem Waldo war immer anspruchsvoll – man bewegte den ganzen Körper, als ob man tanzte. Körperlich war es nicht anstrengend, aber da jede Bewegung stark vergrößert wurde, musste man sich sehr genau darauf konzentrieren, den Waldo präzise zu steuern. Egal ob die Arbeit interessant war oder ob man nur Sachen hochheben und durch die Gegend tragen musste, hinterher war man erledigt.

An den Abenden versuchte er, Chinesisch zu üben. Er traf niemanden, der Englisch konnte, weshalb sein kleiner Übersetzungsgürtel sein bester Lehrer war. Trotzdem war es schwer. Meistens sagte er etwas zu dem Gürtel, hörte sich die Übersetzung an und versuchte dann, sie zu wiederholen. Aber wenn er die chinesischen Worte aussprach und der Gürtel sie dann wieder ins Englische übersetzte, kam nie das Richtige heraus. Er sagte: »Mein Radar ist kaputt«, mit genau den chinesischen Worten, die er gehört zu haben meinte, und die Rückübersetzung lautete: »Sofort draußen im Freien treffen.« Er versuchte es mit: »Wo wohnst du?«, und zurück kam: »Dein Lotus hat sich eingeschaltet.«

»Wenn’s mal so wäre!«, sagte er mit einem freudlosen Lachen. »Es wäre ja schön, wenn mein Lotus sich einschaltet, aber wie?«

Ganz offensichtlich klang er in den Ohren derjenigen, mit denen er redete, wie ein Verrückter. Er machte etwas falsch. Aber was?

»Es ist eine schwierige Sprache«, sagte einer seiner Schlafkameraden, als er sich beklagte. Kiran versuchte, sich die Worte richtig zu merken.

Derzeit war sein Übersetzungsgürtel also sein bester Freund. Sie redeten viel miteinander. Er hoffte, dass es bald etwas bringen würde. Zumindest das Hallo- und Wie-geht’s-dir-Sagen ging bei den Leuten, mit denen er regelmäßig zu tun hatte, bald sehr viel besser. Und inzwischen redeten sie auch bereitwilliger langsam für ihn.

Die Arbeiter mühten sich weiter mit den gewaltigen Aufgaben ab, vor die man sie stellte, Aufgaben, die den tausendfachen Umfang einer vergleichbaren Arbeit auf der Erde hatten. War Schneeschippen unter diesen Umständen eine gute Sache?

Einmal schickte er Swan eine Nachricht, um seiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, dass sie den Angriff auf Terminator überlebt hatte, und dabei erwähnte er auch, dass er Shukra nicht mehr zu Gesicht bekam. Ein paar Wochen später kam eine Antwort: Versuch’s bei Lakshmi. Zusammen mit einer Cloud-Adresse auf der Venus.

Er ging der Sache nach und fand heraus, dass Lakshmi ein Name war, bei dessen Erwähnung die Leute verstummten und den Blick abwandten. Sie war mächtig und hatte ihre Operationsbasis in Kleopatra. Niemand wusste so recht, ob sie eine Verbündete oder eine Feindin von Shukra war, oder zumindest wollte es ihm niemand sagen.

Vielleicht wollte Swan ihren Informanten ja irgendwohin verlegen, wo er mehr mitbekam. Oder vielleicht versuchte sie bloß, ihm zu helfen.

Oder vielleicht war er schlicht und einfach auf sich gestellt.

Listen (6)

borealer Nadelwald; Laub- und Mischwälder der gemäßigten Zone; tropische Regenwälder; Wüste; die alpine Zone; Grasland; Tundra; und das Chaparral, das manchmal auch allgemein als Buschland bezeichnet wird

das sind die grundlegenden terranischen Biome

Städte; Dörfer; Ackerland; Weideland; Wälder; und Wildnis

das sind die grundlegenden terranischen Anthrome zur Bezeichnung menschlicher Nutzungsweisen

wenn man die beiden obigen nach Belieben kombiniert, erhält man die 825 Ökoregionen der Erde

450 an Land, 229 auf See

65 Prozent davon existieren heutzutage nicht mehr auf der Erde selbst

man nehme einen XY-Graph, um Whittakers Biom-Diagramm einzuzeichnen, wobei der atmosphärische Niederschlag vertikal und die Temperatur horizontal eingetragen wird. Biome können auf einem derartigen Graphen dargestellt werden und bieten eine klare Übersicht, welche von ihnen unter welchen Bedingungen auftreten. Links ist heiß, rechts ist kalt; nass ist oben, trocken ist unten; damit ist die allgemeinste Fassung die folgende:

Tropischer Regenwald

Tropischer

Jahreszeitenwald Gemäßigter Regenwald

Savanne Gemäßigter sommergrüner Wald Taiga

Subtropische Wüste Gemäßigtes Grasland Tundrawüste

die Klassifikationen lassen sich noch viel weiter differenzieren. Die 450 benannten irdischen Öko-Regionen unterscheiden Biome nicht nur nach Niederschlag und Temperatur, sondern auch nach Kombinationen aus Längen- und Breitengrad, Geografie, Geologie und anderen Faktoren

Öko-Regionen selbst können nutzbringend in Mikroregionen aufgeteilt werden, die nicht größer sind als ein Hektar

34850 bekannte Arten wurden zwischen 1900 und 2100 ausgelöscht. Das war und ist das bis heute andauernde sechste große Massensterben der Erdgeschichte

von nun an ist das Aussterben keiner Art mehr unvermeidlich (was allerdings ohnehin schon immer so war)

im Sonnensystem existieren 19340 bekannte Terrarien

Etwa 70 Prozent davon fungieren als Zoowelten, die entweder dazu dienen, eine Öko-Regions-Suite von Tieren und Pflanzen aufrechtzuerhalten oder um neue Suiten-Kombinationen zu erschaffen. Letztere nennt man Ascensions

92 Prozent der Säugetierspezies sind mittlerweile bedroht oder völlig von der Erde verschwunden und leben in erster Linie in Terrarien

Der Weltraum: der Zoo, der

Inokulation

Swan und der Inspektor

Es gibt zwei Probleme, was den Umgang mit dem Terminator-Zwischenfall betrifft«, sagte Inspektor Genette eines Abends zu Swan, als sie Richtung Asteroidengürtel hinausflogen. Sie reisten mit einer kleinen Gruppe von Interplan-Leuten und ehemaligen Terminator-Einwohnern, doch abends waren sie oft die letzten beiden Personen in der Kombüse. Das gefiel Swan: Genette saß dann beim Essen immer auf dem Tisch, auf einem eigens zu diesem Zweck mitgebrachten Polsterkissen, und lümmelte sich anschließend mit aufgestütztem Ellbogen zum Trinken darauf, sodass sie sich auf Augenhöhe unterhalten konnten. Es war ein bisschen, als redete man mit einer Katze.

»Nur zwei?«, fragte Swan.

»Zwei. Erstens, wer hat es getan, und zweitens, wie können wir diesen Täter aufspüren und fangen, ohne dabei noch mehr Leute auf die gleiche Idee zu bringen? Das sogenannte Nachahmerproblem, und allgemeiner ausgedrückt die Notwendigkeit, die Wiederholung einer derartigen Attacke zu verhindern. Das halte ich für das schwierigere Problem von beiden.«

»Und die Frage, wie man es angestellt hat?«, warf Swan ein. »Ist das nicht auch ein Problem?«

»Ich weiß, wie man es gemacht hat«, sagte Genette leichthin.

»Tatsächlich?«

»Ich glaube schon. Meiner Meinung nach kann es nur auf eine Art vonstattengegangen sein, also war es wohl auch so. Ganz egal, wie unwahrscheinlich, wie man so sagt, obwohl die Erklärung in diesem Fall überhaupt nicht unwahrscheinlich ist. Aber ich muss gestehen, dass ich nichts weiter darüber sagen möchte, solange wir beide von unseren Qubes mitgeschnitten werden.« Genette hob eine Hand und zeigte auf das dicke, fast würfelförmige Armbandpad, das Passepartout enthielt. »Ich nehme an, dein Qube nimmt ununterbrochen auf?«

»Nein.«

»Aber oft?«

»Ja. Ich denke schon. Wie bei allen anderen auch.«

»Tja, in jedem Fall möchte ich mir ein paar Sachen im Asteroidengürtel ansehen, bevor ich mir meiner Hypothese sicher sein kann. Wir reden also weiter, wenn wir dort draußen sind. Aber ich möchte, dass du über das zweite Problem nachdenkst: Mal angenommen, wir fassen den Verbrecher und können, zum Beispiel in einer Gerichtsverhandlung, erklären, was passiert ist – wie sorgen wir dafür, dass nicht jemand anders das Gleiche tut? Ich glaube, an dem Punkt kannst du mir helfen.«

Sie reisten im Terrarium Moldava. Es flog einen Aldrin-Zyklus ab, der sie innerhalb von acht Tagen nach Vesta bringen würde. Das Innere der Moldava wurde komplett zum Anbau von Weizen verwendet, und viele der Mitreisenden versammelten sich nach der täglichen Feldarbeit in einem Freizeitheim, das sich auf einer breiten Hügelkuppe im Bugbereich befand. Von dort aus konnte man zu dem einwärts gekrümmten Flickenteppich von Feldern emporschauen, auf denen verschiedene Weizensorten in zahlreichen Grün- und Goldtönen wuchsen. Es war wie eine karierte Version des Himmels.

Swan verbrachte einen Großteil ihrer Zeit im Gespräch mit den örtlichen Ökologen, die über ihre zahlreichen kleinen Probleme mit Weizenkrankheiten reden wollten. Jean blieb in den Interplan-Räumlichkeiten und setzte, als sie am Mars vorbeikamen, Nachrichten an die Leute in den Terrarien um Vesta herum ab. In dieser Zeit traf Swan sich abends zum Essen mit der Interplan-Gruppe und blieb anschließend lange auf, um sich mit Genette zu unterhalten. Manchmal sprach sie dabei von der Arbeit, die sie tagsüber verrichtete. Die hiesigen Bewohner machten Versuche mit Weizensorten, die das Wasser besser von den Fruchtständen abperlen ließen, und forschten nach einer Möglichkeit, durch Genmanipulation mikroskopisch kleine »Tropfspitzen« zu erzeugen, wie die, die man in der Makrowelt bei tropischen Blättern vorfand, an deren langen Spitzen sich die Oberflächenspannung des Wassers brechen konnte, sodass es ablief. »Ich hätte gerne Tropfspitzen im Gehirn«, sagte sie. »Ich will nicht an Dingen festhalten, die mir Schmerzen bereiten.«

»Viel Glück dabei«, sagte Inspektor Genette höflich, hielt die Aufmerksamkeit dabei jedoch weiterhin auf das Essen gerichtet. Eine ganze Menge Essen für eine so kleine Person.

Ein paar Tage später erreichten sie die Vesta-Zone, eines der am dichtesten besiedelten Gebiete im Asteroidengürtel. Während des Accelerandos waren viele Terrarien dichter zusammengerückt und hatten sich zu Gemeinschaften zusammengeschlossen, von denen die Vesta-Zone eine der größten war. Die Moldava setzte eine Fähre mit dem Interplan-Team an Bord ab. Sobald die Fähre abgebremst und sich Vesta angenähert hatte, stiegen sie erneut um, diesmal auf ein Interplan-Schiff mit Interplan-Besatzung.

Es handelte sich um ein erstaunlich wendiges kleines Raumschiff namens Schnelle Gerechtigkeit, und schon bald bewegten sie sich gegen den gewaltigen Strom von Asteroiden, wobei sie das eine oder andere Mal bei kleinen Felsbrocken hielten, auf denen Genette mit Leuten reden wollte. Für diese Gespräche erhielt Swan keinerlei Erklärung, und sie verkniff sich ihre Fragen, während sie Orinoco Fantastico, Crimea, Tal von Oro, Irawady 14, Trieste, Kamputschea, John Muir und Winnipeg aufsuchten. Dann hielt sie es nicht mehr aus und fragte doch.

»Bei all diesen kleinen Welten gab es in letzter Zeit Unregelmäßigkeiten in den Umlaufbahnen«, erklärte Genette, »und ich wollte fragen, ob sie eine Erklärung dafür haben.«

»Und, hatten sie eine?«

»Anscheinend gab es einige unvermittelte Abreisen aus der Vesta-Zone, und dadurch wurden einige der benachbarten Asteroiden wohl vom Kurs abgebracht.«

Vesta selbst erwies sich für einen Asteroiden als ziemlicher Brocken – er hatte einen Durchmesser von sechshundert Kilometern, war mehr oder weniger kugelförmig und vollständig von einem Atmosphärenzelt umhüllt, was ihn zu einem der größten Beispiele für die als »Einschweißen« bekannte Paraterraforming-Methode machte. Normalerweise bedeckten solche Zelte nur Teile von Mondoberflächen, wie früher die Kuppeln; sie waren auf Kallisto und Ganymed und Luna weit verbreitet, aber all diese Monde waren so groß, dass man nie auf die Idee gekommen wäre, sie ganz zu umhüllen. Als nächstes Stadium würde man einen kleinen Mond mit einer zeltartigen Blase umgeben. Das war eine praktikable Draußen-Alternative zu den ausgehöhlten Innenwelten. Swan vermutete, dass Terminator selbst auch ein Fall von Prototerraforming war, obwohl sie die Stadt nie so betrachtet hatte. Außerdem hegte sie den Draußenwohnern im Asteroidengürtel gegenüber das Vorurteil, dass sie zu viel Strahlung und zu wenig Gravitation abbekamen und besser dran wären, wenn sie sich in einen Felsbrocken hineingrüben und ihn in Rotation versetzten.

Doch jetzt, als sie Vesta aus der Nähe betrachtete, sah der Asteroid gut aus. An so einem Ort gab es Wetter und einen Himmel (die Zeltplane befand sich zwei Kilometer über der Oberfläche), und Pauline erzählte ihr, dass die Vestaner Kiefernwälder, Berglandschaften, Tundra, Grasland und zahlreiche kalte Wüsten angelegt hatten. Überall dort herrschte natürlich sehr geringe Gravitation, was bedeutete, dass die Leute ständig flogen und umhertänzelten, in einer weichen, beinahe schwebenden Umwelt. Gar keine so schlechte Idee. Sie hatten sogar einen riesigen Berg.

Swan war also durchaus interessiert an einem Besuch auf Vesta, aber Genette hatte ein anderes Ziel im Sinn. Nachdem noch ein paar weitere Interplan-Leute zu ihnen hinzugestoßen waren, machten sie sich auf den Weg zu einem nahe gelegenen Terrarium namens Yggdrasil.

Als sie sich Yggdrasil näherten, stellte Swan fest, dass es sich um einen weiteren Kartoffelasteroiden handelte, der diesmal dunkel war und sich nicht drehte. »Es ist verlassen«, erklärte Genette. »Eine kalte Hülle.«

In der Luftschleuse des Hoppers schwebte Swan mit einer eleganten kleinen Plié-Figur zum Anzughalter, stieg in einen Raumanzug und folgte Genette und mehreren Interplan-Ermittlern zur Luftschleuse hinaus in die Leere.

Yggdrasil war eine ganz gewöhnliche Innenwelt von vielleicht dreißig Kilometern Länge gewesen. Sie drangen durch ein großes Loch im Heck ein; dort hatte man den Antrieb entfernt. Langsam flogen sie hinein und hielten sich mit ihren Anzugdüsen aufrecht. Wie sie so Seite an Seite flogen, sahen sie aus wie die umgekehrte Version jener Pharaonenstatuen, bei denen die Schwester-Frau des Monarchen so dargestellt ist, dass sie ihm nur bis zu den Knien geht.

Im Innern des Terrariums kamen sie zum Stillstand. Abgesehen von den entfernten Reflexionen des Lichts ihrer Helmlampen herrschte absolute Finsternis. Swan war schon in vielen Terrarien gewesen, die sich noch im Bau befunden hatten, aber das hier war etwas anderes. Genette warf eine helle Lampe nach vorne und aktivierte kurz eine Düse, um den Rückstoß des Wurfes auszugleichen. Das winzige Licht trieb durch den leeren Raum vor ihnen und ließ die Wände des Zylinders deutlich hervortreten.

Swan blickte sich um, und die Bewegung versetzte sie in eine leichte Drehung. Hier war es so düster, so verlassen. Eine emotionale Aufwallung brachte sie ins Trudeln. Vielleicht lag es am Schicksal ihrer armen Heimat Terminator: Sie drückte sich die Faust ans Visier und hörte sich selbst Wehklagen.

»Ja«, sagte die kleine, silberne Gestalt, die neben ihr schwebte. »Hier ist es zu einem Druckverlust gekommen, ohne Vorwarnung. Yggdrasil war ein ganz gewöhnliches Konglomerat aus Chondrit und Wasser-Eis. Bei den Ermittlungen über den Unfall kam heraus, dass ein kleiner Meteorit zufällig eine unentdeckt gebliebene Nahtstelle in der Zylinderwand getroffen und vaporisiert hat, worauf es zu einem katastrophalen Druckverlust im Innern kam. Es war nicht das erste Mal, dass so etwas geschehen ist, aber in diesem Fall war der Asteroid als A++ eingestuft worden. In den bisherigen Fällen, bei denen es zu Rissen kam, waren die Asteroiden als B oder C eingestuft gewesen, und man hat sie leichtsinnigerweise besiedelt. Ich habe mir also einige ältere Unfälle angesehen und dabei auf bestimmte Auffälligkeiten geachtet und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich diesen Asteroiden noch einmal genauer in Augenschein nehmen muss. Vor allem von außen, aber erst wollte ich einen Blick ins Innere werfen.«

»Sind viele Menschen gestorben?«

»Ja, etwa dreitausend. Es ging sehr schnell. Einige Leute konnten sich in Gebäuden mit Schutzräumen retten und andere hatten Raumanzüge oder Luftschleusen in der Nähe. Alle übrigen Bewohner des Stadtstaats sind ums Leben gekommen. Die Überlebenden beschlossen, das Terrarium als Mahnmal leer treiben zu lassen.«

»Also ist das hier jetzt eine Art Friedhof.«

»Ja. Irgendwo hier drin gibt es eine Gedenkstätte, ich glaube, am anderen Ende. Ich möchte mir den Riss von innen ansehen.«

Genette besprach sich mit Passepartout und führte Swan dann durch den Innenraum zu einem Spazierweg an der gegenüberliegenden Zylinderseite. Das Stadtbild hier erinnerte an Paris, mit breiten Straßen zwischen trapezförmigen, fünf Stockwerken hohen Häuserblocks.

Sie schwebten über einen Bereich, in dem der Asphalt zusammengestaucht war und die Gebäude schräg standen. Es sah aus wie auf alten Erdbebenfotos von Terra. Die Stille war befremdlich.

»Warum mussten sich die Leute ein Konglomerat aushöhlen? Gibt es nicht genug Nickel-Eisen-Asteroiden in der Gegend?«, fragte Swan.

»Das sollte man meinen. Aber man hat ein paar von diesen Dingern ausgehöhlt und festgestellt, dass es ganz wunderbar funktionierte. Wenn man die Wände dick genug lässt, dann werden sie durch die Rotation und den inneren Luftdruck nicht ernsthaft beansprucht. Normalerweise müssten sie halten, und das tun sie auch. Aber der hier ist eingerissen. Ein kleiner Meteor hat ihn an genau der falschen Stelle erwischt.«

Sie schwebten über einen Bereich, in dem die heftigen Erschütterungen einige der weißen Betonplatten fortgeschleudert hatten, sodass sich ein langer Riss durchs Pflaster zog. Dahinter war das All: Swan sah die Sterne.

Sie ließen die verwüstete Straße hinter sich und schwebten wieder aus dem Asteroiden hinaus. Draußen bewegten sie sich mit behutsamen Hüpfern und Düsenstößen über den Fels, auf die Art, auf die man in der Mikrogravitation von Asteroiden am besten vorankommt. Swan hatte in ihrer Zeit als Terrarien-Designerin einige Zeit bei solch niedriger Schwerkraft verbracht, und wie man sah, hatte Genette die entsprechende Fortbewegungsweise perfektioniert, was bei einer Person, die hauptsächlich im Asteroidengürtel lebte, nur logisch war.

Als sie den Spalt auf der Außenseite erreichten, waren dort bereits mehrere Interplan-Mitarbeiter am Werk. Mit einigen Ballettsprüngen und einer Drehung flog Genette kopfüber abwärts und machte dabei Fotos von der Innenseite der Bruchstelle. Einige kleine Höhlungen in den Seiten untersuchte Genette auf einer Hand stehend, das Visier wenige Zentimeter vom Gestein entfernt.

»Ich glaube, ich habe alles, was ich brauche«, hieß es dann nach einer Weile.

Schwebend sahen sie den anderen beim Weiterarbeiten zu. Genette sagte: »Du hast doch einen Qube im Schädel, stimmt’s?«

»Ja. Pauline, sag Hallo zu Inspektor Genette.«

»Hallo zu Inspektor Genette.«

»Kannst du ihn abschalten?«, fragte Genette.

»Ja, natürlich. Schaltest du deinen auch ab?«

»Ja. Falls es tatsächlich das ist, was geschieht, wenn wir sie abschalten.« Durch das Visier konnte Swan Genettes ironisches Lächeln erkennen. »Alles klar. Passepartout schläft. Und Pauline?«

Auch Swan hatte den Knopf unter der Haut an ihrer rechten Halsseite gedrückt. »Ja.«

»Sehr gut. Also, jetzt können wir etwas offener miteinander reden. Sag mal, wenn dein Qube an ist, nimmt er dann alles auf, was du hörst und siehst?«

»Normalerweise schon. Natürlich.«

»Und steht er in direkter Verbindung mit irgendwelchen anderen Qubes?«

»In direkter Verbindung? Du meinst durch Quantenverschränkung?«

»Nein, nein. Angeblich macht die Dekohärenz das ja unmöglich. Ich meinte bloß Funkkontakt.«

»Tja, Pauline hat einen Funkempfänger und -sender, aber ich entscheide über Aus- und Eingang.«

»Kannst du dir da sicher sein?«

»Ja, ich glaube schon. Ich stelle die Aufgaben, und sie erfüllt sie. Ich kann all ihre Tätigkeiten anhand ihrer Logbücher überprüfen.«

Die kleine silberne Gestalt schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ist es bei dir nicht genauso?«, fragte Swan.

»Ich glaube schon«, antwortete Genette. »Bloß bin ich mir bei all den Qubes, bei denen es sich nicht um Passepartout handelt, unsicher.«

»Warum? Meinst du, dass Qubes etwas mit den Ereignissen hier zu tun haben könnten? Oder mit denen auf dem Merkur?«

»Ja.«

Swan starrte überrascht das neben ihr schwebende Wesen an, das wie eine große Puppe in einem Raumanzug aussah. Es machte ihr ein bisschen Angst. Die Stimme dieses Wesens erklang durch ihr Helmmikrofon in ihrem Ohr, ganz ähnlich wie die von Pauline. Ein heller, hoher Alt, angenehm und belustigt.

»Hier gibt es auf beiden Seiten der Bruchstelle eine ganze Menge kleiner Krater. Der hier zum Beispiel …« Genette streckte den Zeigefinger aus, und ein grüner Laserpunkt erschien an der Wand einer kleinen Höhlung, zeichnete ihre Kreisform in einer schnellen Bewegung nach und verharrte dann in ihrer Mitte. »Siehst du das? Und das?« Der Laserpunkt zog einen weiteren Krater nach. Alle Einschlagstellen waren sehr klein. »Die sind frisch genug, um zum selben Zeitpunkt wie der Riss aufgetreten zu sein.«

»Stammen sie also von Bruchstücken?«

»Nein. Die Gravitation ist hier so gering, dass kaum ein Bruchstück zurückfällt. Wenn doch, dann würde es einfach aufsetzen und nicht einschlagen. Diese Löcher sind tiefer.«

Swan nickte. Auf der holperigen Asteroidenoberfläche lagen viele Steine herum. »Und wie stuft der alte Bericht diese Krater ein?«

»Als Anomalien. Man hat vermutet, dass es sich um Lochbrüche handelt, verursacht durch Eisvorkommen, die durch die Aufschlaghitze geschmolzen sind. Möglich wäre das. Aber ich nehme an, dass du dir die Berichte über den Terminator-Unfall angesehen hast?«

»Ja.«

»Erinnerst du dich, dass es dort auch Anomalien gab? Was immer in die Schienen eingeschlagen ist, es war kein sauberer Treffer. Es gibt Krater, die weiter draußen liegen, sehr kleine Krater, die vor dem Zwischenfall noch nicht da waren. Zugegeben, auf dem Merkur könnten sie von herabgefallenen Bruchstücken stammen …«

»Könnte es nicht sein, dass der Einschlagkörper auf dem Weg nach unten auseinandergebrochen ist?«

»Das passiert normalerweise nur, wenn es eine Atmosphäre gibt, die ihn aufheizt und abbremst.«

»Könnte nicht auch die Gravitation des Merkur dafür verantwortlich sein?«

»Deren Auswirkungen wären zu vernachlässigen.«

»Ich weiß nicht, vielleicht ist er dann auch nicht auseinandergebrochen.«

Die kleine Gestalt nickte. »Ja, so ist es.«

»Wie meinst du das?«

»Er ist nicht auseinandergebrochen. Genau genommen hat er sich zusammengesetzt.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine damit, dass seine Masse sich erst im allerletzten Moment überhaupt zusammengeballt hat. Deshalb hat keines der Frühwarnsysteme des Merkur ihn kommen sehen. Wenn der Meteorit von irgendwo gekommen wäre, hätten sie ihn sehen müssen, aber kein einziges Überwachungssystem hat ihn entdeckt. Für mich sieht das nach einem Problem der Nachweisgrenze aus. Eine solche Grenze liegt entweder in der Messmethode begründet, oder sie wird künstlich festgelegt und liegt über dem eigentlichen, unteren Grenzwert.«

»Warum denn das?«

»Normalerweise, damit es nicht ständig Alarm gibt, obwohl eigentlich gar keine Gefahr besteht.«

»Ah.«

»Jedes System ist anders, aber beim Verteidigungsapparat des Merkur stimmt die Schwelle, ab der ein Alarm ausgelöst wird, so ziemlich mit der methodischen Nachweisgrenze überein. Das heißt, das System schlägt ab einem Wert an, der doppelt so hoch wie der kleinste messbare Wert ist, was dem Sechs- oder Siebenfachen der Standardabweichung der Messvariabilität entspricht. Das ist eine typische Einstellung, bei der man damit rechnen kann, sowohl möglichst wenig falsche Negative als auch möglichst wenige falsche Positive zu erhalten.

Jetzt stell dir vor, was dann unterhalb des Meldeniveaus liegt. Im Prinzip eigentlich nur sehr kleine Steinchen, die deutlich weniger als ein Kilogramm wiegen. Aber wenn es sich um viele solche Steinchen handeln würde, die sich erst im letzten Moment zusammenballen, wobei jeder einzelne mit anderer Geschwindigkeit aus einem anderen Himmelsquadranten kommt, jedoch so aufeinander abgestimmt, dass sie alle zur selben Zeit an derselben Stelle eintreffen … dann wären sie bis zur letzten Sekunde nur kleine Steinchen. Man hätte sie vom anderen Ende des Sonnensystems aus werfen können, und vielleicht sogar im Laufe mehrerer Jahre. Und trotzdem, wenn sie in richtiger Weise geworfen werden, dann treffen sie sich zum geplanten Zeitpunkt. Viele Tausende, sagen wir mal.«

»Also eine Art intelligenter Mob.«

»Nur dass er nicht mal intelligent ist. Er besteht bloß aus Steinen.«

»Wäre das machbar? Ich meine, gibt es etwas, das berechnen kann, wie fest und in welche Richtung man die Steine werfen muss?«

»Ein Qube könnte das. Wenn ein hinreichender Teil der Masse des Sonnensystems in Bezug auf ihren Ort und ihre Flugrichtung erfasst ist und genug Rechnerleistung zur Verfügung steht, ist das machbar. Ich habe Passepartout darum gebeten – er sollte eine Umlaufbahn für eine Kugel aus einem Kugellager oder Kugelschreiber oder etwas Ähnliches berechnen, die man vom Asteroidengürtel aus so werfen will, dass sie ein bestimmtes Ziel auf dem Merkur trifft. Es hat nicht besonders lange gedauert.«

»Aber könnte man diese Würfe auch durchführen? Ich meine, kann man eine Abschussvorrichtung bauen, die die Steinchen mit der nötigen Präzision schleudert?«

»Passepartout sagt, es gibt Maschinen, deren Toleranzbereich zwei oder drei Größenordnungen unterhalb des nötigen Werts liegt. Man bräuchte bloß eine ruhige Abschussfläche. Je stabiler, desto besser, wenn man konsistente Ergebnisse will.«

»Das ist ein ganz schöner Schuss ins Blaue«, erwiderte Swan. »Wie viele Massekörper wurden in die Bahnberechnung einbezogen?«

»Ich glaube, Passepartout hat die schwersten zehn Millionen Objekte im Sonnensystem einbezogen.«

»Und von all denen kennen wir den genauen Standort?«

»Ja. Soll heißen, die KIs kennen ihren genauen Standort. Und die größten Terrarien und Raumschiffe setzen ihre Flugpläne Jahre im Voraus fest. Was die Berechnungen angeht, man braucht einen Qube, um sie innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens anzustellen, will sagen, schnell genug, um in Echtzeit Abschussanweisungen zu geben.«

»Wie lange dauert das?«

»Ein Qube wie Passepartout braucht drei Sekunden. Konventionelle KIs brauchen etwa ein Jahr pro Steinchen, womit das Ganze natürlich nicht zu bewerkstelligen wäre. Ohne Quantenrechner geht es also nicht.«

Swan wurde mit einem Mal übel, als befände sie sich wieder im Tunnel unter der Oberfläche des Merkur. »Es geht also um zehntausend kleine Steinchen, die im Laufe von Monaten oder Jahren durch das Sonnensystem geschleudert werden und deren Bahn und Geschwindigkeit so aufeinander abgestimmt sind, dass sie alle zur selben Zeit am selben Punkt eintreffen.«

»Ja. Und mit Sicherheit sorgen ein paar stochastische Gravitationsfluktuationen am Ende dafür, dass das eine oder andere Steinchen danebengeht. In dem Fall müssten die meisten dieser Steinchen sogar weit am Ziel vorbeigehen.«

»Aber einige verfehlen es nur knapp.«

»Genau. Und daher die kleinen Löcher, die wir hier sehen. Vielleicht ist ein Raumschiff dafür verantwortlich, das seinen Flugplan geändert hat, oder etwas in der Art. Etwa ein oder zwei Prozent der Steinchen dürften ein derartiges Clinamen erfahren, schätzt zumindest Passepartout.«

Jetzt krampften sich ihre Eingeweide ernsthaft zusammen. »Also tut jemand das mit Absicht.« Sie deutete mit einer Handbewegung auf das verlassene Terrarium.

»So ist es. Und ein Qube muss in die Sache verwickelt sein.«

»Scheiße.« Sie hielt sich einen Arm vor den Bauch. »Aber wie … wie könnte jemand …«

Genette legte ihr eine kleine Hand auf den Arm. Yggdrasil schwebte unter ihnen dahin, kalt und tot. Eine graue Kartoffel. »Lass uns auf die Gerechtigkeit zurückkehren.«

Zurück an Bord des Interplan-Hoppers saß Swan nach dem Essen noch bis spät abends mit Genette in der Messe.

Swan, die nicht aufhören könnte, über das, was sie heute erfahren hatte, nachzudenken, sagte: »All das bedeutet also, dass wer auch immer …«

Genette gebot ihr mit erhobenen Händen Einhalt. »Bitte erst die Qubes ausschalten.«

Nachdem sie ihre Geräte beide ausgeschaltet hatten, fuhr Swan fort: »Das bedeutet, wer immer das getan hat, könnte die Tat bereits vor Jahren begangen haben.«

»Oder zumindest vor einiger Zeit, ja. Vor einer ganzen Weile.«

»Und die Steinchen wurden von mehr als einem Ort aus abgeschossen.«

»Ja. Aber vielleicht gibt es die Abschussvorrichtung trotzdem noch. Diese Pistole oder dieses Katapult, oder was auch immer benutzt wurde, muss ein hochpräzises Gerät sein. Eine außergewöhnliche handwerkliche Meisterleistung. Der Toleranzbereich, den Passepartout angegeben hat, ist sehr gering. Dafür braucht man Molekulardrucker und Ähnliches. Vielleicht können wir das Werk aufspüren, in der etwas derart Ausgefallenes hergestellt wurde – das werden wir überprüfen. Und dann erfahren wir vielleicht auch, wer es in Auftrag gegeben hat.«

»Und weiter?«, fragte Swan.

»Wir suchen nach dem Programm für die Fabrik und dem Entwurf für das Gerät. Die Druckanweisungen. Und nach einem Programm, mit dem man die nötigen Umlaufbahn-Berechnungen anstellen kann. Qubes denken sich so etwas nicht aus, solange man sie nicht dazu auffordert – davon sind wir zumindest bisher ausgegangen. Der Qube, der so ein Programm entwickelt hat, müsste diesen Vorgang aufgezeichnet haben, wenn ich es richtig verstehe. Also existiert das Programm wahrscheinlich noch irgendwo. Und bislang ist die Zahl der Werke, die Qubes herstellen, begrenzt.«

»Könnten diese Leute ihren Qube nicht zerstört haben, nachdem er seinen Zweck erfüllt hatte?«

»Ja. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er seinen Zweck erfüllt hat.«

Der Gedanke ließ sie schaudern.

»Wir müssen den Qube suchen, das Programm zur Umlaufbahnberechnung, das Fertigungsprogramm und auch das Werk, die Abschussvorrichtung und die Abschussplattform, worum auch immer es sich bei Letzterer handelt.«

Swan runzelte die Stirn. »All diese Dinge sind vielleicht zerstört oder zumindest sorgfältig weggeräumt.«

»Das ist wahr. Du begreifst sehr schnell, worin genau unser Problem besteht. Wie dem auch sei, wir müssen bei diesen Ermittlungen wie Buchhalter vorgehen und alle Aufzeichnungen prüfen. Wie so oft bei unserer Arbeit.« Erneut lächelte Genette ironisch. »Bei Interplan geht es nur sehr selten so dramatisch zu, wie es manchmal dargestellt wird.«

»Schon in Ordnung. Aber was gibt es noch zu tun, während du damit beschäftigt bist? Was kann ich tun?«

»Du kannst dich mit der anderen Hälfte des Problems befassen. Dabei werde ich dich schon bald unterstützen.«

»Mit der anderen Hälfte?«

»Dem Motiv.«

»Aber wie sollte man das ermitteln? Und wenn man es ermittelt hat, wie sollte man es jemandem zuordnen? Eine solche Tat ist so krank, dass mir allein beim Gedanken daran schlecht wird. Sie ist böse.«

»Böse!«

»Ja, böse!«

Genette zuckte mit den Schultern. »Lassen wir das beiseite, und gehen wir einfach davon aus, dass es sich um einen vereinzelten Impuls handelt. Der deshalb vielleicht auch Spuren hinterlässt.«

»Dass jemand Terminator hasst? Dass jemand dazu fähig ist, ganze Welten zu ermorden?«

»Ja. Das ist kein besonders verbreiteter menschlicher Impuls. Deshalb fällt er vielleicht auf. Und außerdem handelt es sich vielleicht um eine politische Tat, eine Art Terrorismus oder Krieg. Vielleicht ist es eine Art Botschaft oder der Versuch, jemanden zum Handeln zu zwingen. Das gibt uns einen Ansatzpunkt, um der Sache nachzugehen.«

Swans Magen krampfte sich zusammen. »Verdammt. Ich meine – im Weltraum hat es noch nie einen Krieg gegeben. Wir sind ohne welche ausgekommen.«

»Bis jetzt.«

Das brachte sie ins Grübeln. Mindestens seit einer Generation gab es aus allen Ecken Warnungen davor, dass die Reibereien zwischen Erde und Mars zu einem Krieg führen könnten, oder dass die Erde das restliche System mit in ihre Probleme hineinziehen würde. Auf der armen alten Erde gab es immer noch kleine Kriege und terroristische Anschläge, und bisweilen hatte Swan den Eindruck, dass manche Diplomaten die Angst vor der terranischen Zwietracht ausnutzten, um sich mehr Prestige und höhere Budgets zu verschaffen. Diplomatie als notwendige friedenserhaltende Maßnahme in einem Sonnensystem kurz vor dem großen Knall – eine solche Sichtweise kam den Diplomaten natürlich gelegen. Doch was, wenn sie recht hatten?

Swan sagte: »Ich dachte, dass wir Raumer klug genug wären, um all das zu vermeiden. Dass wir uns schlauer anstellen würden, sobald wir erst einmal hier draußen sind. Dass wir uns bessern würden.«

»Sei nicht albern«, erwiderte Genette knapp.

Swan knirschte mit den Zähnen. Nachdem sie heftig um ihre Selbstbeherrschung gerungen hatte, sagte sie: »Aber es könnte auch irgendein Geisteskranker sein. Jemand, der verrückt geworden ist und nur deshalb tötet, weil er es kann.«

»Die Sorte gibt es auch, ja«, pflichtete ihr Genette bei. »Und wenn einer davon sich einen Qube verschafft …«

»Aber jeder kann sich einen Qube beschaffen!«

»Ganz und gar nicht. Nicht einmal jeder, der im All wohnt. Sie werden von der Fertigung an weiterverfolgt und theoretisch wird ihr Standort jederzeit überwacht. Und egal, welcher Qube mit dieser Sache zu tun hatte, er muss dafür wie gesagt programmiert worden sein. Man könnte aus seinen eigenen Protokollen ersehen, was er getan hat.«

»Gibt es blockfreie Gruppen, die Qubes herstellen?«

»Tja … kann sein. Wahrscheinlich.«

»Und wie finden wir dann den Qube oder die Person?«

»Oder diese Gruppe?«

»Ja, oder diese Nation oder diese Welt!«

Genette zuckte mit den Schultern. »Ich möchte noch mal mit Wang sprechen – er hat einen wirklich leistungsstarken Qube und verfügt über die größten Datenbanken unter den Blockfreien. Und außerdem hat ihn womöglich die gleiche Macht attackiert. Aber ich habe zugegebenermaßen ein bisschen Angst davor, mit seinem Qube zu sprechen, weil es derzeit so viele Hinweise auf sonderbares Verhalten bei Qubes gibt. Als hätten sie neuerdings einen freien Willen, oder zumindest als würde man Dinge von ihnen verlangen, die sich deutlich von ihren bisherigen Aufgaben unterscheiden. Manche Qubes, die wir unter Beobachtung gehalten haben, tauschen mittlerweile auf völlig neue Art und Weise Nachrichten aus.«

»Meinst du damit, dass sie miteinander quantenverschränkt sind?«

»Nein. Das scheint aufgrund des Dekohärenzproblems wirklich unmöglich zu sein. Sie verständigen sich per Funk, wie jeder andere auch, aber die Nachrichten werden an beiden Enden intern verschlüsselt, wobei Überlagerungseffekte genutzt werden. Die Verschlüsselung lässt sich also nicht knacken, nicht mal, wenn wir unsere eigenen Qubes dafür einsetzen. Das ist der Grund dafür, dass ich diese Gespräche fürs Erste nicht in Hörreichweite irgendwelcher Qubes führen möchte. Ich weiß nicht, welchen ich trauen kann.«

Swan nickte. »In der Beziehung bist du wie Alex.«

»Das stimmt. Ich habe mit ihr darüber geredet, und wir hatten die gleiche Meinung zu diesem Problem. Ich habe ihr einige nützliche Prozeduren beigebracht. Jetzt muss ich also darüber nachdenken, wie wir in dieser Sache fortfahren und wie ich mich am besten mit Wang und seinem Superqube verständige. Wahrscheinlich steckt die Erklärung für all das schon längst irgendwo in dem Qube, unerkannt, weil niemand ihm befohlen hat, nach ihr zu suchen. Trotz all des Geredes über Balkanisierung zeichnen wir die Geschichte der Welt nach wie vor bis auf die Ebene von einzelnen Menschen und Qubes auf. Um den Täter aufzuspüren, müssen wir also nur die Geschichte des Sonnensystems in den letzten paar Jahren nachlesen. Dort müsste sich die Antwort finden.«

»Sieht man von den Blockfreien ab.«

»Nun ja, von denen hat Wang auch die meisten in seiner Datenbank.«

»Aber du willst nicht, dass ein Aufzeichnungssystem deine Fragen mitbekommt«, sagte Swan. »Falls es sich bei ihm um den Täter handelt.«

»Ganz genau.«

Das üble Gefühl in Swans Magen hielt auch nach diesem Gespräch weiter an. Jemand hatte ihre Stadt ermorden wollen – und hatte sie doch nicht direkt getroffen, weshalb die Einwohner verschont geblieben waren, mit Ausnahme derjenigen, die in der Panik bei der Evakuierung ums Leben gekommen waren und jener armen Konzertgruppe, die bei dem Einschlag getötet worden war.

War es so gewesen? Sie wusste nicht, welchen Reim sie sich darauf machen sollte, dass der Einschlag Terminator verfehlt hatte.

Letztlich redete sie doch mit Pauline darüber. Sie hatte eine Idee, die sie überprüfen wollte, und mit Pauline ging das am besten. Schließlich war sie als Stimme in Swans Ohr immer präsent und hörte alles, was Swan laut aussprach. Früher oder später würde sie ohnehin von allem erfahren.

Also: »Pauline, weißt du, worüber Genette und ich gesprochen haben, während du abgeschaltet warst?«

»Nein.«

»Kannst du es erraten?«

»Möglicherweise habt ihr über den Zwischenfall von Yggdrasil gesprochen, den du ja gerade gesehen hattest. Dieser Zwischenfall erinnert in mancherlei Hinsicht an den bei Terminator. Falls es sich um absichtliche Attacken handelte, dann könnten ihre Urheber die Geschossbahnen mithilfe eines Quantencomputers berechnet haben. Falls Inspektor Jean Genette glaubt, dass die Sache etwas mit Quantencomputern zu tun hat, dann wird Genette vielleicht nicht wollen, dass ein Quantencomputer etwas über die Einzelheiten der Ermittlungen mithört. Das wäre vergleichbar mit Alex’ Bemühungen, einige ihrer Überlegungen vollständig vor allen KIs zu verbergen und aus ihren Aufzeichnungen herauszuhalten, seien es nun Dateien auf Quantenrechnern oder digitale. Die Grundannahme dabei scheint zu sein, dass Quantencomputer, falls sie verschlüsselte Funknachrichten miteinander austauschen, möglicherweise Aktivitäten planen, die den Menschen schaden könnten.«

Genau wie sie vermutet hatte: Pauline war in der Lage, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Zweifellos galt das auch für viele andere Qubes, einschließlich Genettes Passepartout, der mit Sicherheit auf Forensik und Nachweismethoden programmiert war. Wenn-dann, wenn-dann, wie viele Milliarden Male pro Sekunde? Es ähnelte vielleicht ihren Schachprogrammen, die sich als übermenschlich gut in diesem speziellen Spiel erwiesen hatten. Insofern hatte es kaum einen Sinn, die Qubes vor bestimmten Gesprächen abzuschalten.

Was bedeutete, dass Swan ruhig sagen durfte: »Pauline, wenn jemand bei der Berechnung einer Flugbahn für einen Körper, der Terminator treffen und zerstören soll, vergessen würde, die relativistische Präzession des Merkur miteinzubeziehen und lediglich gemäß der klassischen Orbitalmechanik vorginge, wie weit würde er Terminator dann verfehlen? Vorausgesetzt die Annahme, dass der Körper ein Jahr zuvor vom Asteroidengürtel aus abgeschossen wurde. Versuch es mit ein paar verschiedenen Abschussstellen, Flugbahnen und Zeitpunkten, sowohl mit den Relativitätsgleichungen für die Präzession als auch ohne sie.«

Pauline sagte: »Die Präzession des Merkur beträgt 5603,24 Winkelsekunden im Jahrhundert nach dem julianischen Kalender, wobei der Anteil, der von der durch die allgemeine Relativitätstheorie beschriebenen Krümmung der Raumzeit verursacht wird, 42,98 Winkelsekunden im Jahrhundert beträgt. Jede Flugbahn, die ein Jahr dauert und ohne Einbeziehung dieses Faktors berechnet wurde, muss ihr Ziel deshalb um 13,39 Kilometer verfehlen.«

»Was auch in etwa passiert ist«, sagte Swan und spürte einmal mehr Übelkeit in sich aufsteigen.

Pauline sagte: »Da es sich um eine Präzession handelt, hätte das Geschoss östlich und nicht westlich der Stadt einschlagen müssen.«

»Oh«, sagte Swan, »Tja, dann …« Sie wusste nicht, welchen Reim sie sich darauf machen sollte.

Pauline fuhr fort: »Die normalen Orbitalmechanik-Programme für die Transportrouten entlang der inneren Planeten beziehen die allgemeine Relativität routinemäßig ein. Man muss nicht daran denken, die Relativitätsgleichungen einzubeziehen. Wenn allerdings jemand, der das nicht wüsste, versuchen würde, eine Flugbahn für einen Einschlag zu programmieren, ohne dabei auf frei verfügbare Vorlagen zurückzugreifen, könnte dieser Jemand möglicherweise die Relativitätsgleichungen noch einmal hinzufügen, obwohl sie bereits einbezogen wurden. Wenn dieser Jemand dann direkt auf die Stadt zielen würde, entstünde eine Abweichung von 13,39 Kilometern in westlicher Richtung.«

»Ah«, sagte Swan, der nun noch übler wurde. Sie schaute sich nach einem Platz zum Hinsetzen um. Terminator war eine Sache, die Einwohner der Stadt waren eine andere: ihre Familie, ihre Bekanntschaften … dass es vielleicht jemanden gab, der dazu fähig war, all diese Menschen zu ermorden … »Aber … das klingt nach einer menschlichen Fehlleistung.«

»Ja.«

Später an jenem Abend blieb Swan einmal mehr lange in der Kantine. Ihr gegenüber am Tisch saß Genette und aß Weintrauben. Swan sagte: »Seit du mir von der Steinchen-Attacke erzählt hast, glaube ich, dass es wahrscheinlich eigentlich direkt Terminator hätte treffen sollen und jemand einen Fehler gemacht hat. Wenn dieser Jemand nicht gewusst hätte, dass die Relativitätsgleichungen für die Präzession des Merkur bereits in die Standardalgorithmen einbezogen sind und sie zusätzlich berechnet hätte, dann würde er genau so weit in westlicher Richtung am Ziel vorbeischießen, wie es tatsächlich der Fall war.«

»Interessant«, sagte Genette und musterte sie aufmerksam. »Ein Programmierfehler, mit anderen Worten. Ich war davon ausgegangen, dass man Terminator absichtlich verfehlt hat – dass es sich gewissermaßen um einen Warnschuss handelte. Darüber muss ich genauer nachdenken.« Nach einer kurzen Pause: »Danach hast du wohl deine Pauline befragt?«

»Das habe ich. Sie hatte bereits geschlussfolgert, worum es bei unserem Gespräch im Groben ging, während sie abgeschaltet war. Mit Passepartout verhält es sich sicher genauso.«

Ohne etwas zu erwidern, runzelte Genette die Stirn.

Swan fuhr fort: »Ich kann nicht glauben, dass jemand versuchen würde, so viele Menschen umzubringen. Oder es sogar wirklich tun würde, wie an Bord der Yggdrasil. Wir haben doch so viel Raum zur Verfügung … so viel von allem. Ich meine, wir leben in einer Gesellschaft, in der es eigentlich keine Not mehr gibt. Ich kapiere das nicht. Du sprichst von einem Motiv, aber in einem physiologischen Sinne gibt es kein Motiv für so etwas. Wahrscheinlich bedeutet es, dass das Böse wirklich existiert. Ich dachte, das wäre nur ein alter religiöser Begriff, aber da lag ich wohl falsch. Mir wird ganz schlecht davon.«

Genettes hübsches kleines Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Manchmal glaube ich, dass es das Böse nur in Gesellschaften gibt, die keine Not mehr kennen. Vorher konnte man immer alles auf Bedürfnisse oder Ängste zurückführen. Man konnte, wie du es offenbar auch getan hast, daran glauben, dass zusammen mit Angst und Mangel auch der Impuls verschwinden würde, etwas Schlimmes zu tun. Die Menschheit würde sich sozusagen als ein Volk von Bonobos erweisen, als altruistische Kooperative, geprägt von allseitiger Liebe.«

»Genau!«, rief Swan. »Warum nicht!«

Genette zuckte abgeklärt und gleichmütig mit den Schultern. »Vielleicht waren wir nie frei von Angst und Mangel. Es ist nicht nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf, was uns ausmacht. Man sollte meinen, dass es sich dabei um die bestimmenden Faktoren handelt, aber viele wohlgenährte Bürger eines Gemeinwesens sind voller Wut und Angst. Sie verspüren gemalten Hunger, wie die Japaner sagen. Gemalte Angst, gemaltes Leid. Der Zorn des unterwürfigen Willens. Der Wille ist eine Frage der freien Entscheidung, aber Unterwerfung bedeutet die Abwesenheit von Freiheit. Deshalb fühlt der unterwürfige Wille sich besudelt, er verspürt Schuld und bringt sie zum Ausdruck, indem er etwas Äußerliches angreift. Und so geschieht dann etwas Böses.« Ein weiteres Schulterzucken. »Wie auch immer man es sich erklärt, die Menschen tun Böses. Glaube mir.«

»Das muss ich wohl.«

»Bitte.« Genette lächelte jetzt. »Ich möchte dich nicht mit all den Dingen belasten, die ich schon gesehen habe. Manches davon hat bei mir ganz ähnliche Fragen aufgeworfen wie bei dir. Das Konzept des unterwürfigen Willens hat mir dabei weitergeholfen. Und in letzter Zeit frage ich mich, ob nicht jeder Qube definitionsgemäß eine Art unterwürfiger Wille ist.«

»Aber dieser Programmierfehler, der erklären könnte, warum der Einschlag sich westlich der Stadt ereignet hat – der war menschlich.«

»Ja. Nun ja, den unterwürfigen Willen gibt es zuallererst bei den Menschen. Ein Teil von ihnen weiß, dass die Taten, die sie begehen, falsch sind, aber sie begehen sie trotzdem, weil sie einem anderen Teil ihres Selbst Erleichterung verschaffen.«

»Aber die meisten Menschen versuchen doch, Gutes zu tun«, wandte Swan ein. »Das ist doch ersichtlich.«

»Bei meiner Arbeit nicht.«

Swan betrachtete die kleine, so ordentliche und flinke Gestalt. »Das verändert wahrscheinlich die Sicht, die man auf die Dinge hat …«, sagte sie nach einer Weile.

»Allerdings. Und … man bekommt es immer wieder mit denselben Rechtfertigungen zu tun. Es ist sogar bekannt, welche Bereiche des Gehirns für diese Rechtfertigungen zuständig sind. Wie zu erwarten, liegen sie dicht bei den Regionen, die mit dem religiösen Empfinden zu tun haben. Nicht weit von den Epilepsie-Triggern und dem Gefühl für Sinnhaftigkeit. In diesen Bereichen gibt es ein wahres Feuerwerk, wenn man etwas Böses tut oder sich dafür rechtfertigt. Überleg dir mal, was das bedeutet!«

»Aber alles, was wir tun, findet irgendwo im Gehirn statt«, sagte Swan. »Es kommt nicht darauf an, wo im Gehirn.«

Genette war anderer Meinung. »Dort drin gibt es Muster. Verstärkungen. Schlimme Erlebnisse sorgen dafür, dass sich gewisse Bereiche im Gehirn stärker ausbilden. Das Gehirn baut sich so um, dass sich die schrecklichen Gefühle immer weiter hochschrauben. Worauf wieder Handeln folgt.«

»Was sollen wir denn dann machen?«, rief Swan. »Man kann keine perfekte Welt erschaffen und sich dann die anständigen Leute dazu kaufen, das ist falsch herum, das kann nicht funktionieren.«

Genette zuckte mit den Schultern. »Egal wie rum, die Sache kommt mir nicht besonders Erfolg versprechend vor.« Ein kurzes Zögern. »Es kann alles derart danebengehen. Vielleicht können wir das Leben im All nicht bewältigen. In diesen beschränkten Umgebungen. Ich habe Kinder gesehen, die man in Skinner-Boxen großgezogen hat … Menschenopfer …«

»Du musst dringend ein Sabbatjahr einlegen«, warf Swan ein, die nicht noch mehr hören wollte.

Mit einem Mal erkannte sie, wie erschöpft Genette aussah. Normalerweise waren die Gefühle von Kleinen schwer zu erraten; auf den ersten Blick sahen sie praktisch makellos wie Puppen oder unschuldig wie Kinder aus. Doch jetzt bemerkte Swan die geröteten Augen, den leicht fettigen Glanz des blonden Haars, die Strähnen, die sich aus dem Haargummi des schlichten Pferdeschwanzes gelöst hatten und in alle Richtungen abstanden.

Und einen Gesichtsausdruck, der kein bisschen an das übliche ironische Lächeln auf Genettes Lippen erinnerte. »Ich muss tatsächlich mal ein Sabbatjahr einlegen. Genau genommen bin ich spät dran, und ich hoffe, dass unsere Ermittlungen mich bald ohnehin zur Erde führen werden. Ich bin nämlich ein bisschen erschöpft. Der Mondragon ist eine wunderbare Sache, aber es gibt viele Terrarien, die ihm nicht angehören, und einige davon sind ernsthaft gestört. Da wir kein allgemeingültiges Recht durchsetzen, kommt es letztlich zu einer Art libertärer Selbstbedienung für alle, nach dem Zufallsprinzip. Und das bedeutet Ärger. So sehe ich das. Es ist vielleicht einfach zu viel – die politischen Unzulänglichkeiten in Kombination mit den physischen Problemen, die der Aufenthalt im Weltraum mit sich bringt. Möglicherweise versuchen wir hier draußen, uns an Umstände anzupassen, an die wir uns nicht anpassen können.«

»Und was sollen wir dann machen?«, fragte Swan einmal mehr.

Genette zuckte mit den Schultern. »Durchhalten, nicht aufgeben. Vielleicht müssen wir hier draußen einsehen, dass ein Leben ohne Not Himmel und Hölle zugleich bedeutet. Beides überlagert sich, wie die Potenziale eines Qubits, bevor seine Wellenfunktion kollabiert. Gut und Böse, Kunst und Krieg. Alles potenziell vorhanden.«

»Aber was sollen wir machen?«

Genette lächelte leise, wechselte die Haltung und setzte sich im Schneidersitz Swan gegenüber auf den Tisch, wie ein Garten-Buddha oder eine Tara, glatt und stilisiert. »Ich möchte mit Wang reden. Ich lasse mir etwas dafür einfallen. Und mit deinem Freund Wahram. Das wird sehr viel unkomplizierter. Alles Weitere … hängt davon ab, was ich in Erfahrung bringe. Hat Alex dir zufällig auch einen Brief für mich oder für sonst jemanden hinterlassen?«

»Nein!«

Genette hob die Hand, nun ein diamantener Buddha: »Kein Grund zur Verärgerung. Ich wünschte nur, sie hätte es getan, weiter nichts. Für sie war es nur ein Notfallplan, eine Sicherheitsmaßnahme für eine Situation, mit deren Eintreten sie nicht gerechnet hatte. Wahrscheinlich hat sie sich gedacht, dass Wang dem Rest der Gruppe von ihren Plänen erzählen wird. Und ich hoffe, dass sie damit recht hatte.«

Am darauffolgenden Tag brachten die Ermittler des Inspektors Neuigkeiten, und nach einer Unterredung kehrte Genette zu Swan zurück und erklärte: »Wangs Qube hat einen Asteroiden auf einer Umlaufbahn zwischen Jupiter und Saturn identifiziert, der genau so weit nach außen von seiner Bahn abgekommen ist, wie es der Fall sein müsste, wenn man von dort aus auf Terminator geschossen hätte. Die Veränderung hat sich vor drei Jahren über einen Zeitraum von sechs Monaten zugetragen. Wang hat die Aufzeichnungen der Saturn-Liga über Schiffsbewegungen im Raum um den Saturn durchgesehen und darin Signale entdeckt, die aussehen, als hätte ein kleines Schiff den Asteroiden verlassen und wäre von dort aus in die äußere Atmosphäre des Saturn eingetreten. Vielleicht ist es zur Oberfläche abgesunken, aber der Winkel, in dem es in die obere Wolkenschicht eingetreten ist, lässt vermuten, dass es sich dort oben eingenistet hat. Nicht wenige Schiffe tun das. Wenn dem so ist, können wir es vielleicht aufspüren.«

»Das ist gut«, sagte Swan. »Aber … du hast diese Spur von Wangs Qube, stimmt’s?«

Genette zuckte mit den Achseln. »Ich weiß. Aber es war die Saturn-Liga, die den Kurs des Schiffs verfolgt hat, und während seines Sinkflugs haben sie es mit einem Sender markiert. Außerdem haben sie den Sender, den es bereits hatte, identifiziert und wissen daher, dass es einem Konsortium von der Erde gehört.«

»Von der Erde!«

»Ja. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll, aber du weißt ja, dass man einen Steinchen-Mob nicht aus einer Atmosphäre abschießen kann, und auch nicht aus einer Kuppel oder einem Zelt heraus. Der Abschuss muss auf einer Freifläche im Vakuum stattfinden. Wenn man sich also auf der Erde befindet und etwas Derartiges bewerkstelligen will, muss man erst ins All hinaus.«

»Das ist mir klar. Aber … die Erde? Ich meine, wer auf der Erde …?«

Genette bedachte sie mit einem so durchdringenden Blick, dass sie verstummte. »Es gibt über fünfhundert Organisationen auf der Erde, die sich gegen die Besiedelung des Weltraums durch Menschen aussprechen.«

»Aber warum?«

»Meistens weisen sie darauf hin, dass die Probleme der Erde nach wie vor ungelöst sind und behaupten, dass die Raumer einfach nur versuchen, vor ihnen davonzulaufen. Die körperlichen Veränderungen bei Raumern werden oft als Beginn einer forcierten Ausdifferenzierung der Art gesehen. Man hat die Bezeichnung Homo sapiens celestis für uns vorgeschlagen. Manche sprechen auch von einer Ausdifferenzierung nach Klassen. Viele Terraner unterziehen sich keiner Langlebigkeitsbehandlung. Entsprechend wird behauptet, dass die Raumzivilisation pervers, böse, dekadent und grausam sei. Dass sie den Lauf der menschlichen Geschichte aus dem Lot brächte.«

»Verdammt«, sagte Swan. »Ich dachte, den Leuten auf der Erde wäre klar, wie viel Gutes wir für sie tun.«

»Also bitte«, erwiderte Genette. »Dann verbringst du deine Sabbatjahre offenbar an sehr behüteten Orten.«

Swan überlegt eine Weile. »Also, was machen wir?«

»Ich will zum Saturn und nach diesem kleinen Schiff suchen. Passepartout glaubt, dass er anhand seiner Eintrittsstelle seinen jetzigen Aufenthaltsort berechnen kann.«

»Und kann ich mitkommen?«

»Aber gerne doch. Wir sind schon auf dem Weg.«

Sie setzten mit der Schnelle Gerechtigkeit auf ein vorbeikommendes Terrarium namens Innere Mongolei über, eine wunderschöne Innenwelt voll großer, wogender grüner Hügel, die immer wieder von schwarzen Felsvorsprüngen durchbrochen wurden und nicht nur Herden von Wildpferden eine Heimstatt boten, sondern auch scheuen Wolfsrudeln. Für Letztere hatte Swan eine besondere Schwäche. Die kleinen Ortschaften lagen auf Hügelkuppen und sahen aus wie Gruppen hübscher Jurten. Darum herum gab es Rasenflächen und an Plätzen mit besonderer Aussicht Schwimmbecken. Genette brachte nur einige wenige Helfer mit und verbrachte eine Menge Zeit damit, gemeinsam mit ihnen in einer von mehreren Jurten auf einer Hügelkuppe an anderen Fällen zu arbeiten – zumindest vermutete Shaw, dass es das war, was sie taten.

Eines Nachmittags, nachdem sie den ganzen Morgen in dem vergeblichen Versuch, ein paar Wölfe zu entdecken, durch die grasbewachsenen Hügel gewandert war, gelangte Swan zu einer Jurtensiedlung auf einer Hügelkuppe mit einer breiten, abfallenden Rasenfläche, einem großen niedrigen Becken, das dazu einlud, darin herumzuwaten, und mehreren dampfenden Bädern sowie einem Zelt-Aviarium, das Blumen in Hängekörben und zahlreiche unterschiedliche Arten von Kolibris, Papageien und kleinen bunten Finken enthielt. Der sich in Wellen dahinziehende Rasen war so sorgfältig gemäht, dass er wie ein grüner Teppich aussah. Swan erschien das übertrieben künstlich. Es stand nicht mit der wilden Hügellandschaft im Einklang, in der sie den Morgen verbracht hatte. Sie kam an zwei Frauen vorbei, die lachten, als fänden sie diesen Ort ebenfalls albern, und sagte im Vorbeigehen: »Das ist doch blöd, nicht wahr?«

Die beiden Frauen verstummten, und eine zeigte den Hügel empor: »Die drei dort oben in den Kleidern haben uns erzählt, dass sie Qubes in Androidenkörpern wären, und wollten wissen, ob sie unserer Meinung nach als Menschen durchgehen könnten. Wir haben ihnen gesagt, dass das wohl schon ginge, aber …« Die beiden Frauen schauten einander an und fingen wieder an zu lachen. »Aber dass sie es total versaut haben, indem sie uns gefragt haben!«

Swan sah die drei Gestalten, die in der Nähe des Watbeckens im Gras saßen. »Klingt interessant«, sagte sie und näherte sich ihnen.

»Pauline, hast du das gehört?«, fragte sie auf dem Weg nach oben.

»Ja.«

»Alles klar, dann sei jetzt bitte still, und pass gut auf.«

Seit Langem gab es die Hypothese, dass Menschen sich entweder dann mit intelligenten Robotern wohlfühlten, wenn sie in einer Art Gehäuse steckten oder aber sich schlicht und einfach nicht von Menschen unterschieden, was sie dann einfach zu einer neuen Sorte Mensch machen würde. Zwischen diesen beiden Extremen befand sich das, was man gemäß der Hypothese als »Uncanny Valley« bezeichnete – der Bereich, in dem die Dinge beinahe, aber nicht ganz gleich aussehen, sehr ähnlich, aber doch verschieden sind, und so bei Menschen eine instinktive Abneigung, Abscheu und Angst auslösen. Daher die einigermaßen plausible Hypothese. Aber da man noch keinen Roboter konstruiert hatte, der hinreichend menschlich wirkte, um das eine Ende des »Uncanny Valley« zu ermitteln, blieb sie eine abstrakte Idee. Vielleicht hatte Swan nun Gelegenheit, den menschlichen Rand des Tals zu erforschen.

Die geschmacklose Gestaltung des kleinen Ortes schien sich bis auf die Kleidung dieser drei Gäste zu erstrecken. Sie saßen beisammen, in langen Kleidern, die an viktorianische Reifröcke erinnerten. Sie waren einander so ähnlich, dass es sich gut und gerne um Geschwister handeln mochte oder auch tatsächlich um Androiden, die nach dem gleichen Modell geklont worden waren. Allerdings sah eine von den dreien etwas weiblicher aus als die beiden anderen.

Swan näherte sich ihnen und sagte: »Hallo, ich bin Swan vom Merkur, wo wir gerade mithilfe zahlreicher Qubes unsere verbrannte Stadt wiederaufbauen. Wenn ich es richtig verstehe, dann behauptet ihr drei, Qubes und biologisch nicht menschlich zu sein? Stimmt das?«

Die drei blieben sitzen und schauten Swan an. Die, deren Körperformen leicht weiblich aussah, lächelte und sagte: »Ja, das stimmt. Setz dich doch dazu, und trink einen Tee mit uns. Er ist gleich fertig.« Sie deutete auf einen kleinen, tragbaren Kocher auf dem Boden mit einer bauchigen roten Teekanne über der blauen Flamme. Auf einem rechteckigen blauen Tuch standen Tassen mit Löffeln daneben und kleine Töpfe.

Die anderen beiden begegneten ihrem Blick ebenfalls und nickten ihr zu. Eine deutete neben sich aufs Gras. »Setz dich, wenn du möchtest.«

»Danke«, sagte Swan und ließ sich auf den Hintern plumpsen. »Hier drin ist es ziemlich schwer. Wo kommt ihr drei denn her?«

»Ich wurde in Vinmara angefertigt«, sagte die Weiblichste.

»Und ihr?«, fragte Swan die anderen beiden.

»Ich bestehe keinen Turing-Test«, antwortete eine der beiden steif. »Möchtest du gerne Schach spielen?«

Und dann lachten die drei. Sie rissen die Münder dabei weit auf – Zähne, Zahnfleisch, Zunge, die Innenseiten der Wangen, vom Aussehen und von den Bewegungen her alles sehr menschlich.

»Nein danke«, sagte Swan. »Ich möchte einen Turing-Test ausprobieren. Oder wie wäre es, wenn ihr mich auf die Probe stellt?«

»Wie sollen wir das anstellen?«

»Wie wäre es mit zwanzig Fragen?«

»Heißt das Fragen, die man mit Ja oder Nein beantworten kann?«

»Genau.«

»Aber man könnte uns einfach fragen, ob die jeweils andere ein Simulacrum ist oder nicht, dafür bräuchte man nur eine Frage.«

»Stimmt. Wie wäre es, wenn wir nur indirekte Fragen erlauben?«

»Trotzdem wäre es ziemlich einfach. Wie wäre es, wenn du es ganz ohne Fragen schaffen musst?«

»Aber echte Menschen stellen einander dauernd Fragen.«

»Aber mindestens eine von uns ist nicht echt. Und du bist diejenige, die einen Test vorgeschlagen hat.«

»Das stimmt. Na schön, lass dich mal anschauen. Erzähl mir von der Inneren Mongolei

»Die liebe Innere Mongolei, ausgehöhlt im Jahre …«

»Geheiligt werde ihr Name«, warf eine der beiden Personen mit dem schwer bestimmbaren Geschlecht ein, und sie lachten.

»Etwa 25000 Einwohner«, sagte die weiblichere.

»Du musst ein Qube sein«, sagte Swan. »Menschen wissen so was nie.«

»Niemals?«

»Manche Leute vielleicht schon, aber es ist in jedem Fall seltsam. Aber ich muss sagen, dass du großartig aussiehst.«

»Danke, ich habe beschlossen, heute Grün zu tragen, gefällt es dir?« Sie präsentierte die Ärmel ihres Kleids.

»Sehr hübsch. Kann ich mir das mal genauer ansehen?«

»Mein Kleid oder meine Haut?«

»Deine Haut natürlich.«

Sie lachten alle.

Lachen, dachte Swan, während sie die Haut der Person begutachtete. Konnten Roboter lachen? Sie war sich nicht sicher. Die Haut ihres Gegenübers war mit Haarfollikeln übersät und an den Gelenken voll kleiner Falten; auf Handgelenk und Unterarm wuchsen beinahe durchsichtige Härchen, und auf der Innenseite des Handgelenks war ein Fleck von etwas längeren und dunkleren Haaren. Am Handansatz befanden sich vier tiefe Falten, dort wo die Haut dünner, aber dunkler wurde und zwei sich schlängelnde, hubbelige Adern hervortraten. Die Haut auf der Handinnenseite und am Daumenballen wies schwache Wirbelmuster auf, zum Beispiel Fingerabdrücke. Die Lebenslinie war tief, lang und gekrümmt. Die Hand sah wie eine beliebige Hand aus, die Haut hätte zu jedem beliebigen Menschen gehören können. Falls es künstliche Haut war, handelte es sich um erstaunlich gute Arbeit: Angeblich war es am schwersten, natürlich erscheinende Haut hinzubekommen. Und falls es sich um biologische Haut handelte, die man ähnlich wie in einem Labor über einem Gerüst hatte wachsen lassen, war das in anderer Hinsicht erstaunlich. Dem Anschein nach konnte die Haut dieser Menschen unmöglich künstlich sein, aber natürlich waren die Materialwissenschaften weit fortgeschritten, und vieles war möglich. Wenn man sich klare Ziele setzte und die Parameter kannte, war dann nicht praktisch alles denkbar?

Es blieb die Frage, warum jemand so etwas tun sollte, aber andererseits machten die Leute ständig komische Sachen. Und einen künstlichen Menschen zu erschaffen war ein sehr alter Traum. Vielleicht war er unsinnig, aber er stand in einer langen Tradition. Und hier standen sie nun, und sie war sich nicht sicher, was sie vor sich hatte. Das war schon an sich interessant.

Wenn man Sex mit einer Maschine hatte, war das dann interessant oder bloß eine komplizierte Methode zur Selbstbefriedigung? Würden die eigenen Reaktionen in irgendeiner Weise bei dem Qube ankommen? Würde er auch Sex haben?

Wenn sie es herausfinden wollte, würde sie es ausprobieren müssen. Es handelt sich lediglich um eine neue Art, die Frage nach dem Bewusstsein von Qubes zu ergründen. Man durfte im Umgang mit ihnen niemals vergessen, dass da niemand zu Hause war, wie sehr es auch den gegenteiligen Anschein haben mochte: Da war kein Bewusstsein, kein Gegenüber, nur ein Mechanismus, der von seinen Schöpfern darauf programmiert worden war, auf bestimmte Stimuli in bestimmter Weise zu reagieren. Ganz egal, wie komplex die Algorithmen waren, sie fügten sich nicht zu einem Bewusstsein zusammen. Doch obwohl Swan diese Überzeugung vertrat, konnte selbst Pauline sie recht oft überraschen, weshalb es schwer war, nicht auf die Illusion hereinzufallen.

»Du hast wunderschöne Haut. Sie fühlt sich an wie mein eigen Fleisch und Blut.«

»Danke.«

»Denkst du, dass du denkst?«

»Ich denke ganz eindeutig«, antwortete die Weibliche.

»Du hast also eine Folge von Gedanken, die mehr oder weniger kontinuierlich ineinander übergehen, du assoziierst im Feld aller dir möglichen Gedanken frei von einem Thema zum nächsten?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so ist. Ich glaube, es ist eher eine Frage von Stimulus und Reaktion, wobei meine Gedanken auf die Stimuli eintreffender Informationen reagieren. Derzeit denke ich zum Beispiel über dich und deine Fragen nach, über den Vergleich zwischen meinem grünen Kleid und dem grünen Gras, darüber, was ich zu Mittag essen werde, da ich etwas hungrig bin …«

»Ihr esst also?«

»Ja, wir essen. Genau genommen fällt es mir schwer, nicht zu viel zu essen!«

»Mir auch«, sagte Swan. »Und hast du jemals darüber nachgedacht, Sex mit mir zu haben?«

Die drei starrten sie an.

»Tja, aber wir sind uns doch gerade erst begegnet«, sagte die eine.

»Das ist oft der Moment, in dem die Leute an so etwas denken.«

»Tatsächlich? Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.«

»Glaub mir, es stimmt.«

»Ich habe keinen guten Grund, dir zu glauben«, sagte die Zweite. »Dafür kenne ich dich nicht gut genug.«

»Kennt man sich dafür jemals gut genug?«, fragte die Dritte.

Sie lachten.

»Um jemand anderem zu glauben?«, sagte die Weibliche. »Wohl kaum!«

Sie lachten erneut. Vielleicht lachten sie ein bisschen zu viel.

»Seid ihr auf Drogen?«, fragte Swan.

»Ist Koffein eine Droge?«

Jetzt kicherten sie.

»Ihr drei seid alberne Mädchen«, sagte Swan.

»Das stimmt«, gab die Weibliche zu. Sie goss Tee aus der Kanne in vier kleine Tassen und reichte sie weiter. Die Zweite öffnete einen Korb und holte Kekse und Kuchen heraus, die sie auf kleinen weißen Stoffservietten austeilte. Alle stürzten sich gierig auf das Essen. Die drei aßen wie ganz normale Leute.

»Könnt ihr schwimmen?«, fragte Swan. »Oder nehmt ihr heiße Bäder?«

»Ich nehme heiße Bäder«, sagte die Dritte, was die anderen dazu veranlasste, gedämpft in ihre Servietten hineinzukichern.

»Können wir das machen?«, fragte Swan. »Badet ihr ohne Kleider? Dann könnte ich eure Körper nämlich im Ganzen sehen.«

»Und wir könnten deinen sehen!«

»Das ist in Ordnung.«

»Sieht aus, als wäre das mehr als nur in Ordnung«, murmelte die Weibliche, und die anderen warfen die Köpfe in den Nacken und lachten.

»Lasst uns das machen!«, rief die Zweite.

»Ich möchte erst meinen Tee austrinken«, sagte die Weibliche affektiert. »Er schmeckt gut.«

Als sie fertig waren, erhoben die drei sich mit tänzerischer Anmut und führten Swan an den Rand des Beckens, wo bereits ein paar Leute schwammen, manche bekleidet, andere nackt. In dem seichtesten Becken, in dem auch kleine Kinder spielten, sprudelte eine Fontäne über ein rundes Dach und erzeugte einen Baldachin aus Wasser. Die drei Gastgeber Swans legten ihre Picknickausrüstung ab, zogen sich die Kleider über die Köpfe und schritten ans Wasser. Die Weibliche war schmal und mädchenhaft gebaut, und die beiden anderen hatten die gertenschlanken Leiber von Gynandromorphen: etwas breitere Hüften, leicht gerundete Brustmuskeln, aber keine richtigen Frauenbrüste, ein mittleres Verhältnis zwischen Rumpf und Beinen sowie Hüfte und Taille, behaarte Genitalien, die anscheinend hauptsächlich weiblich waren, in denen sich aber kleine dunkle Gebilde befanden, bei denen es sich um kleine Penisse und Hoden wie die von Swan handeln mochte – ohne eine genauere Untersuchung ließ sich das nicht sagen. Letztlich würde das allerdings kaum etwas beweisen, da die ohnehin schon gummiartigen Genitalien leichter zu simulieren waren als Hände.

Also ab ins Wasser. Swan sah, dass die drei gut schwammen, beinahe durchs Wasser schwebten; sie schienen dasselbe spezifische Gewicht zu haben wie Menschen. Dann waren ihre Knochen wahrscheinlich nicht aus Stahl, und wahrscheinlich war ihr Innenleben auch nicht komplett maschinell und nur von einer dünnen Lage Fleisch und Haut bedeckt. Wenn sie tief Luft holten, dann konnten sie sich beinahe treiben lassen, genau wie Swan. Und ihre Augen – ihre Augen blinzelten und konnten einen fixieren oder einen schief anschauen, und sie waren feucht. Konnte man jedes einzelne Stück eines Menschen nachbilden und die Teile dann so zusammenfügen, dass das Ergebnis funktionierte? Sich ein Menschenpuzzle ausdrucken? Das kam ihr unwahrscheinlich vor. Selbst die Natur war nicht besonders gut darin, dachte sie, als sich ihr schmerzendes Knie bemerkbar machte. Ein Simulacrum zu erzeugen … nun, vielleicht konnte man sich allein auf die funktionellen Aspekte konzentrieren. Aber tat das Gehirn nicht das Gleiche?

»Ihr albernen Mädchen, irgendwie seid ihr erstaunlich«, sagte Swan. »Ich kann mir keinen Reim auf euch machen.«

Sie lachten.

»Echte Menschen würden niemals den ganzen Tag damit verbringen, einer Fremden vorzumachen, dass sie Roboter wären«, beschwerte sich Swan. »Ihr müsstet Roboter sein.«

»Die seltsamste aller Möglichkeiten ist aller Wahrscheinlichkeit nach die zutreffende«, sagte die Zweite. »Das ist ein anerkannter Test bei der Bibel-Exegese. Man geht davon aus, dass Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach einen Feigenbaum verflucht hat, denn warum sollte es diese Geschichte sonst geben?«

Erneutes Gelächter. Es waren wirklich alberne Mädchen. Vielleicht konnte man einen Roboter höchstens auf dem Niveau einer Zwölfjährigen zum Denken bringen.

Aber wie sie schwammen. Wie sie gingen. Das alles war schwer nachzuahmen; so kam es Swan zumindest vor.

»Das ist komisch«, sagte sie bei sich, eigentlich erfreut. Sie hatte erwartet, dass es leicht werden würde.

Als sie an eine Stelle watete, an der das Becken knietief war, musterten die anderen drei sie unverhohlen, so wie sie sie zuvor gemustert hatte.

»Oh, hübsche Beine«, sagte die Dritte. »Hübscher Körper

»Danke«, antwortete Swan, während die anderen beiden seufzten. Die Weibliche rief: »Nein, das darf man nicht sagen, manche Leute fühlen sich von Kommentaren über die ästhetische Wirkung ihrer Körper auf andere Personen unangenehm berührt!«

»Ich nicht«, sagte Swan hilfsbereit.

»Na schön, dann ist es ja gut«, sagte die Weibliche.

»Ich wollte nur höflich sein«, sagte die Dritte.

»Du warst direkt. Du hattest keine Ahnung, ob deine Worte auch höflich sein würden.«

»Es war bloß ein Kompliment. Es gibt keinen Anlass zu übertriebener Spitzfindigkeit. Wenn man Grenzen überschreitet, gehen die Leute einfach davon aus, dass man die Protokolle ihrer Kultur nicht kennt, es aber trotzdem gut meint.«

»Menschen tun das, aber woher weißt du, dass diese Person hier nicht ein Simulacrum ist, das man hergeschickt hat, um uns auf die Probe zu stellen?«

Und dann lachten sie, bis sie kaum noch Luft bekamen, und spritzten einander dabei nass. Swan spritzte ein Weilchen mit, setzte sich dann ins Wasser und schlängelte sich wie ein Otter zwischen den anderen hindurch. Dann zog sie das Dritte an sich und küsste es auf den Mund. Das geschlechtlich unbestimmte Wesen erwiderte den Kuss für eine Sekunde und zog sich dann zurück. »He, was soll das! Ich glaube nicht, dass ich dich gut genug für so etwas kenne!«

»Na und? Hat es dir etwa nicht gefallen?« Swan küsste es erneut, folgte ihm, wenn es sich wegdrehte, und spürte, wie überrascht seine Zunge von der Berührung mit einer anderen Zunge war.

Das Unbestimmte riss sich los und rief: »He! He! He! Aufhören!«

Die Weibliche war inzwischen aufgestanden und hatte sich ihnen genähert, als wollte sie eingreifen. Swan drehte sich um und schubste sie, sodass sie hart ins seichte Wasser klatschte. »Was machst du da!«, rief das Mädchen ängstlich, und Swan gab ihm mit der linken Faust eins auf den Mund. Der Kopf des Mädchens ruckte zurück, und es fing an, aus dem Mund zu bluten. Mit einem Aufschrei eilte es davon. Die beiden Unbestimmten traten spritzend zwischen Swan und das Mädchen, um es von ihr abzuschirmen, und schrien sie an, dass sie verschwinden sollte. Als Swan jedoch die Fäuste hob und wie ein Wolf heulend auf sie einprügelte, wichen sie verblüfft und entsetzt vor ihr zurück. Swan setzte ihnen nicht weiter nach, und als die drei aus dem Becken geklettert waren, kauerten sie sich aneinander und schauten zu ihr zurück. Das Verletzte hielt sich den Mund. Rotes Blut.

Swan stemmte die Hände in die Hüften und schaute sie an. »Ziemlich interessant«, sagte sie, »aber ich lasse mich nicht gerne an der Nase herumführen.« Sie watete durchs Wasser zu ihren Kleidern.

Anschließend ging sie entlang der Zylinderwand zurück, schaute sich eine Wildpferdherde an und küsste ihre wunden Fingerknöchel, während sie über die ganze Sache nachdachte. Sie war sich nicht sicher, mit was für Wesen sie den Tag verbracht hatte. Das war seltsam.

Als sie zu den Jurten auf dem Hügel zurückkehrte, wartete sie, bis Genette und sie mal wieder als Letzte auf waren, und sagte dann: »Ich bin heute drei Leuten begegnet, die behaupteten, künstlich zu sein. Androiden mit Qube-Gehirnen.«

Genette starrte sie an. »Tatsächlich.«

»Ja.«

»Und, was hast du gemacht?«

»Ich habe sie windelweich geprügelt.«

»Das hast du getan?«

»Eine von ihnen, ja, ein bisschen. Aber sie hat es drauf angelegt.«

»Warum?«

»Weil sie mich an der Nase herumgeführt haben.«

»Ist das nicht so ähnlich wie das, was du mit deinen Abramovics machst?«

»Überhaupt nicht. Ich führe die Leute nie an der Nase herum, das wäre ja Theater. Eine Abramovic-Performance ist keine Theatervorstellung.«

»Tja, vielleicht waren sie ja auch keine Theatervorstellung«, sagte Genette stirnrunzelnd. »Das müssen wir uns ansehen. Es gibt Berichte über mehrere ähnliche Vorfälle auf der Venus und auf dem Mars. Gerüchte über humanoide Qubes, die sich manchmal sonderbar verhalten. Inzwischen halten wir die Augen nach so etwas offen. Manche dieser Leute sind markiert, und ihre Bewegungen werden verfolgt.«

»Also gibt es so etwas wirklich?«

»Ja, ich glaube schon. Einige haben wir gescannt, und dann sieht man es natürlich sofort. Aber bisher wissen wir noch nicht viel mehr.«

»Aber warum sollte jemand so etwas tun?«

»Keine Ahnung. Aber wenn es Qubes gibt, die sich aus eigener Kraft bewegen können, und zwar ohne dabei Aufsehen zu erregen, dann würde das eine ganze Menge von dem, was passiert ist, erklären. Ich sorge dafür, dass sich meine Leute mal die drei, denen du begegnet bist, ansehen.«

»Ich glaube, es waren Menschen«, sagte Swan. »Sie haben nur so getan.«

»Du glaubst, es waren echte Menschen, die sich als Simulacra ausgegeben haben? Als eine Art Theatervorstellung?«

»Ja.«

»Aber warum?«

»Ich weiß es nicht. Warum sollte ein Mensch sich in eine Kiste setzen und so tun, als wäre er ein Schachcomputer? Es ist ein alter Traum. Eine Art Theater.«

»Mag sein. Aber ich schaue mir die Sache trotzdem mal an, wegen der seltsamen Vorgänge.«

»Na schön«, sagte Swan. »Aber ich glaube, dass es Menschen waren. Wie dem auch sei, nehmen wir an, dass es keine Menschen waren. Wo liegt das Problem mit diesen Dingern, wenn es denn Dinger sind?«

»Das Problem besteht darin, dass dann Qubes frei herumlaufen und Dinge tun. Was tun sie? Was sollen sie tun? Wer veranlasst sie dazu? Und da es bei den Attacken, von denen wir wissen, eine Qube-Komponente gab, müssen wir uns fragen, ob diese Dinger etwas damit zu tun haben. Sind einige von ihnen vielleicht in die Sache verwickelt?«

»Hmm«, sagte Swan.

»Vielleicht läuft alles auf eine Frage hinaus«, sagte Genette. »Warum verändern sich die Qubes?«

Listen (7)

unachtsames Fracking – fehlerhafte Versiegelung – defekte Luftschleuse – Pech – Überdruck-Funkenfeuer – Kohlenmonoxidstau – Kohlendioxidstau – Konstruktionsfehler – Riss im Maschinengehäuse – plötzlicher Druckverlust – Sonneneruption – Verunreinigungen im Treibstoff – Metallermüdung – geistige Ermüdung – Blitzschlag – Meteoritentreffer – versehentliche kritische Masse – versagende Bremsen – Werkzeug fallen gelassen – stolpern und hinfallen – Kühlmittelaustritt – Werkfehler – Programmierfehler – menschliches Versagen – Versagen der Abschirmung – Batteriebrand – Ablenkungen – KI-Probleme – Sabotage – die falsche Entscheidung – vertauschte Drähte – kognitive Einschränkung durch Freizeitbeschäftigungen – kosmische Strahlung –

(aus dem Journal der Weltraumunfälle, Band 297, 2308)

Auszüge (8)

Charlotte Shortbacks Einteilung der Epochen war in vieler Hinsicht richtungsweisend. Natürlich ist ein solches Schubladendenken an und für sich schon umstritten und sogar suspekt, da es häufig den Eindruck macht, als müsste man nur die Augen ein bisschen zusammenkneifen und belletristisch mit der Hand wedeln, um einen Handpuppenmythos aus dem dichten, »brummenden und blühenden Durcheinander« der dokumentierten Vergangenheit zu erschaffen. Dennoch scheint das Leben der Menschen sich zu unterscheiden, je nachdem, ob man sich beispielsweise im Mittelalter und der Renaissance oder im Zeitalter der Aufklärung und der Postmoderne befindet. Und ob diese Unterschiede nun auf Veränderungen der Produktionsweisen, der Gefühlsstrukturen, der wissenschaftlichen Paradigmen beruhen oder durch Herrscherwechsel, technischen Fortschritt oder kulturelle Metamorphosen verursacht werden, spielt eigentlich kaum eine Rolle. All das bildet ein Muster, eine für Menschen nachvollziehbare Geschichte.

Lange gab es also ein allgemein anerkanntes Schema, laut dem auf die Feudalzeit und die Renaissance die Frühmoderne (17. und 18. Jahrhundert) folgte, dann die Moderne (19. und 20.) und die Postmoderne (20. und 21.) – danach brauchte man dann eindeutig eine neue Bezeichnung. Eine ganze Weile lang ließ dieses Bedürfnis immer neue konkurrierende Systeme entstehen, und dieser Wettbewerb sowie die meistens mikroskopisch detaillierte Narratologie der damaligen Historiker verhinderten die Einführung von Begrifflichkeiten, die ähnlich anerkannt und allgemeingültig wie die vorangegangenen waren. Erst in den letzten Jahren des 23. Jahrhunderts schlug Charlotte Shortback der historischen Forschergemeinde ihre Nomenklatur vor, durch welche die sogenannte »lange Postmoderne« ersetzt werden sollte, ein Begriff, der schon unzählige Male auf diversen Konferenzen bemängelt worden war. Später behauptete sie, dass ihr System zum Teil als Witz gemeint gewesen war, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist es inzwischen weit verbreitet.

Laut Shortback lässt sich die lange Postmoderne folgendermaßen unterteilen:

Das Zeitalter des Zauderns: 2005 bis 2060. Vom Ende der Postmoderne (das Charlotte auf die UN-Verlautbarung über den Klimawandel datiert) bis zum Sturz in die Krise. Verschwendete Jahre.

Die Krise: 2060 bis 2130. Auflösung des arktischen Sommereises, irreversible Permafrost-Schmelze und Methanfreisetzung sowie das Akzeptieren eines steigenden Meeresspiegels. In diesen Jahren kamen alle negativen Entwicklungen zusammen wie ein »perfekter Sturm« und führten zu einem Anstieg der Globaltemperatur um fünf Kelvin und einem Anstieg des Meeresspiegels um fünf Meter. In der Folge kam es in den 2120ern zu Nahrungsmittelknappheit, Massenaufständen, Katastrophen auf allen Kontinenten mit hohen Opferzahlen und zu einer gewaltigen Spitze im Artensterben. Erste Mondbasen, Forschungsstationen auf dem Mars.

Die Kehrtwende: 2130 bis 2160. Shortbacks häufig zitierter »Wertewandel«, gefolgt von Revolutionen; starke KI; selbst replizierende Fabriken; Beginn des Terraforming des Mars; Fusionsenergie; starke synthetische Biologie; Anstrengungen zur Klimabeeinflussung einschließlich der katastrophalen Kleinen Eiszeit 2142–54; Weltraumaufzüge auf Erde und Mars; schneller Raumantrieb; Beginn der Weltraum-Diaspora; Bildung des Mondragon-Bundes. Und damit:

Das Accelerando: 2160 bis 2220. Umfassende Anwendung der neuen technischen Möglichkeiten einschließlich der Verlängerung der menschlichen Lebensdauer; Terraforming des Mars und daran anschließend marsianische Revolution; weitgehende Diaspora ins Sonnensystem; Aushöhlung der Terrarien; Beginn des Venus-Terraforming; Bau Terminators; Mars tritt dem Mondragon-Bund bei.

Das Ritardando: 2220 bis 2270. Die Gründe dafür, dass das Tempo des Accelerando abnahm, sind umstritten. Historiker verweisen auf den Abschluss des Terraforming des Mars, seinen Rückzug aus dem Mondragon und seinen zunehmenden Isolationismus, die Belegung der besten Kandidaten für Terrarien und die beinahe vollständige menschliche Inanspruchnahme des leicht verfügbaren Heliums, Stickstoffs, der Seltenen Erden, fossilen Brennstoffe und der Photosynthese im Sonnensystem. Außerdem tauchten erste Probleme im Zusammenhang mit den Langlebigkeitsbehandlungen auf, die noch dazu nicht allen zugänglich waren. In letzter Zeit haben einige Historiker darauf hingewiesen, dass es sich auch um den Zeitraum handelt, in dem Quantencomputer eine Rechenleistung von 30 Qubits erreichten und mit klassischen Petaflop-Computern zu Qubes kombiniert wurden – wobei bisher noch nicht gezeigt werden konnte, dass Qubes den ohnehin schon schnellen KIs funktional überlegen sind, während zugleich die dem Quantencomputing innewohnenden Dekohärenz-Probleme vielleicht mit dazu beigetragen haben, die Voraussetzung für die darauffolgende Periode zu erzeugen:

Die Balkanisierung: 2270 bis 2320. Spannungen zwischen Mars und Erde, Aggression und Kalter Krieg um die Kontrolle des Sonnensystems; marsianischer Isolationismus; innere Konflikte auf der Venus; auf den Jupitermonden beschließt man, die großen drei zu terraformen; Entstehung einer Vielzahl von blockfreien Terrarien und Verschwinden zahlreicher Bevölkerungen hinter »Ereignishorizonten«; Einfluss der Qubes; unvorhersehbare Engpässe machen sich zunehmend bemerkbar und haben das Horten von Gütern und später Tribalismus zur Folge; die Wiederkehr der Tragödie der Allmende; Aufsplitterung in weit verstreute, »selbst versorgende« Enklaven von Stadtstaaten.

Den Begriff »Hyperbalkanisierung« hält Shortback bloß für einen Auswuchs der überhitzten Rhetorik in den Kulturwissenschaften.

Allerdings bemerkte Shortback, dass eine deutliche Verlängerung der Balkanisierung möglicherweise zu einer Phase führen könnte, die schlimmer als das Ritardando oder sogar die Krise ist – möglicherweise könnte man diese Zeit dann die Atomisierung oder die Auflösung nennen.

Gelegentlich erzählt sie davon, wie sie einmal bei einem Vortrag sagte, dass man das gesamte letzte Jahrtausend auch als Spätfeudalismus bezeichnen könnte. Anschließend kam ein Mann zu ihr und sagte: »Wie kommen Sie darauf, dass wir es mit dem späten Feudalismus zu tun haben?«

Doch die Ereignisse des Jahres 2312 lassen vermuten, dass sich im 24. Jahrhundert ein Wandel vollziehen wird.

Iapetus

Iapetus ähnelt einer Walnuss, denn er ist an den Polen eingedrückt und hat eine deutliche Erhebung rund um den Äquator, und beides ist aus dem All deutlich erkennbar. Warum er an den Polen eingedrückt ist? Irgendwann ist er mal geschmolzen und hat sich in einen großen Wassertropfen verwandelt, der so schnell rotierte, dass seine Tage nur siebzehn Stunden hatten; etwas ist an ihm vorbeigeflogen und hat ihn wie einen Kreisel in Bewegung versetzt. Noch in der Drehung ist er wieder gefroren. Und woher kommt die Erhebung am Äquator? Das weiß man nicht. Es hat irgendetwas damit zu tun, wie der Wassertropfen zu einer Eiskugel gefroren ist, da sind sich die meisten einig, irgendeine Art Auswurf oder Überschuss. Jedenfalls streiten die Saturnologen sich bis heute darum.

Was auch immer diese Erhebung verursacht hat, sie bot sich natürlich als offensichtlichster Standort für eine Stadt an, da sie zugleich als Hauptstraße fungieren konnte, die einmal um den Mond herum verlief. Die Stadt erstreckte sich zunächst vor allem über die dem Saturn zugewandte Hemisphäre, wo der Gasriese viermal so groß wie Luna über der Erde am Himmel hängt. Man war der Meinung, dass die Aussicht es allemal wert wäre, insbesondere, da Iapetus’ Umlaufbahn einen Neigungswinkel von 17 Grad zu den Ringen des Saturn aufweist, wodurch man von dort aus einen sich ständig wandelnden Blick auf dieses atemberaubende Schauspiel hat. Von fast allen anderen Monden aus kann man nur auf den Rand der Ringe blicken. Außerdem kann man von der Erhebung weit auf die restliche, zwölf bis sechzehn Kilometer tiefer gelegene Oberfläche von Iapetus sehen, die weite Eisfläche ein Pendant zu der erhabenen, beringten Perle am Himmel.

Die Farbe der Mondoberfläche hängt vom Standort ab. Die in Flugrichtung gelegene Seite von Iapetus ist ziemlich schwarz, während die gegenüberliegende Seite extrem weiß aussieht. Dieser scharfe Kontrast, der Cassini bereits im Oktober 1671 bei der Entdeckung von Iapetus auffiel, rührt daher, dass der Mond einer gebundenen Rotation unterworfen ist. Es ist immer dieselbe Halbkugel, die in die Nacht voranstürmt, und deshalb lagert sich unentwegt schwarzer Staub auf ihr ab, der vom gegenläufigen Mond Phoebe hinterlassen wird (der einzige Jupitermond außer Iapetus, der sich nicht auf der Ringebene bewegt). Im Laufe von vier Milliarden Jahren hat sich eine nur wenige Zentimeter dicke Staubschicht angesammelt. Die Rückseite von Iapetus, auf der sich das sublimierte Eis der dunklen Seite sammelt, kann hingegen das weißeste Eis im gesamten Sonnensystem vorweisen. Das Ergebnis ist ein zweifarbiger Mond, der einzige im gesamten Sonnensystem.

Als die Menschen kamen, um Iapetus zu besiedeln, glätteten sie den Kamm des Äquatorbands und statteten es mit einem Fels- und Aluminiumfundament aus. Anschließend formten sie mithilfe von Muschelgenen die Anlage Äquatorstadt. Einen Teil des flachen Kamms ließ man frei, damit er als Standort für Raumhafen-Landebahnen und Ähnliches dienen konnte, aber der Großteil der Erhebung wird inzwischen von einem langen, durchsichtigen Zelt überspannt. Darunter säumen abwechselnd Wohnhäuser, Farmen, Parks, Gärten und Wälder den großen High-Street-Boulevard. Da die Luft im Zelt immer warm gehalten wird, kann die Architektur im Innern sehr offen sein, sodass man durch die Lücken zwischen den Decken und Dächern oft den Saturn sehen kann. Mithilfe von Muschel-Biomimikry ist es gelungen, Gewebe zu erschaffen, das unter einer Außenhülle Kalzium aufnimmt und ablagert. Dieses weiche, lebende Gewebe wurde genetisch so programmiert und gestaltet, dass die Architekten mit seiner Hilfe eine Biokeramik-Struktur über der nächsten errichten können, wie Korallen aufeinander aufbauend. Inzwischen ist praktisch der ganze Innenbereich des Zelts voll damit. Wie bei den meisten Biokeramikgebäuden hat man die schrägen, vielschichtigen Anlagen dazu gebracht, Kämme, Fächerformen, Rillen und andere muschelartige Formen auszubilden, sodass die Gebäude aussehen wie große, übereinandergeschichtete Meeresfrüchte. Oft wird Sydney wegen seines weltbekannten Opernhauses als Vergleich genannt, aber eigentlich sieht die Erhebung um den Äquator inzwischen mehr aus wie ein Great Barrier Reef aus dicht gepackten Muscheln, mit Löchern wie von Röhrenwürmen, durch die man den Anblick des Saturn am Himmel bewundern kann.

Auf Cassini Regio, der schwarzen Halbkugel, verläuft die Erhebung mitten durch einen Bereich, in dem die Menschen vor langer Zeit einmal in Hoppern und Geländewagen herumgefahren sind und den schwarzen Staub weggeblasen haben, um Muster aus freigelegtem weißem Eis zu erzeugen. Überall, wo es so leicht ist, einen Kontrast in der Landschaft herzustellen, schreiben Menschen ihre Gedanken hin, damit das ganze Universum sie lesen kann. Vor der Bildung der Saturn-Liga, als die ersten Neuankömmlinge vom Mars gekommen waren, um sich Stickstoff vom Titan zu holen und die anderen Monde ebenfalls nach möglicher Beute zu durchforsten, die sie zum roten Planeten mit zurücknehmen konnten, hatten Leute weiße Linien ins Schwarz gezogen. Man brauchte nicht mehr als ein Laubgebläse dafür, und schon bald waren weite Teile von Cassini Reggio wie der Newspaper Rock von Petroglyphen bedeckt. Da waren weiß-schwarze abstrakte Muster, Tiere, Strichmännchen, Kokopellis, Schrift aus zahlreichen verschiedenen Alphabeten, Porträts, Landschaftsformen, Bäume und andere Pflanzen; es nahm kein Ende. Später räumte man einige Bereiche ganz frei und überzog sie anschließend mehr oder weniger dick mit dem gesammelten schwarzen Staub, wodurch man Graustufen erhielt, die einen täuschenden Eindruck von Tiefe vermittelten und mal so angelegt waren, dass man den Effekt von der Erhebung aus sehen konnte, und mal so, dass man ihn nur aus dem All wahrnahm.

Graffiti auf Iapetus! Später wurde es zu einem Fehler erklärt, zu einem Skandal, einer moralischen Dummheit, sogar zu einem Verbrechen; in jedem Fall für abscheulich. Hier und da wurde die Forderung laut, Cassini Reggio wieder komplett schwarz einzufärben. Vielleicht wird es auch eines Tages dazu kommen, aber man sollte sich nicht zu große Hoffnungen machen, denn letztlich sind wir dazu da, uns ins Universum einzuschreiben, und es ist durchaus angemessen, dass wir uns daran erinnern, wenn man uns ein leeres Blatt hinhält. Landschaftskunst erinnert uns immer wieder daran: Wir leben auf einer Tabula rasa und müssen auf ihr schreiben. Es ist unsere Welt, und ihre Schönheit existiert allein in unseren Köpfen. Selbst heute treten manchmal noch Leute über den Horizont und kratzen ihre Initialen in den Staub.

Wahram daheim

Wahram kehrte als verstörter Androgyner zum Saturn zurück. Trotz all seiner Theorien befand er sich noch immer im Tunnel. Er versuchte, in das Pseudoiterativ seines Lebens auf Iapetus zurückzufinden, und in mancherlei Hinsicht war es tatsächlich einfach; es handelte sich nicht um ein Leben, das er jemals vergessen würde. Ein oder zwei Tage lang konnte man sich seltsam dabei vorkommen, seit Jahren zum ersten Mal wieder in einer Stadt zu sein und trotzdem gleich nach dem Aufwachen wie durch Zauberei zu wissen, wo man hinmuss – in den kleinen Gemischtwarenladen um die Ecke, wo es frisches Brot und Milch und all das gab. Doch dann fielen die Jahre dazwischen von einem ab, und man war einfach wieder zu Hause. Zu Fuß zur Arbeit, über die lange Promenade an der nördlichen Fensterwand, von der aus man sehen konnte, wie ungeheuer tief der steile Abhang am Rande der Erhebung war. Am Rande der Cassini-Region sah man schwarze Spitzen ins Weiß hineinragen: ein gewaltiges chinesisches Landschaftsgemälde, feine schwarze Pinselstriche auf weißem Papier. An der Ecke eines kleinen Platzes befanden sich die Büros des Rates in einem gedrungenen Turm mit durchsichtigen Wänden. Viele der Leute, die hier arbeiteten, waren Bekannte von ihm; es kam ihm vor, als durchlebte er erneut eine frühere Reinkarnation. Er konnte alles wieder ganz genauso machen; er konnte all seine Bewegungen nachahmen wie ein Schauspieler in einem Stück, das im vorangegangenen Jahrhundert spielt; er konnte einen täglichen Gottesdienst daraus machen und das ganz normale Leben als ein von ihm selbst heraufbeschworenes Déjà-vu leben – aber nein.

Nein. Weil das sehr viel unnachgiebigere Pseudoiterativ des Tunnels nach wie vor seinen Kopf erfüllte und die Wahrnehmungen des jeweiligen Augenblicks überlagerte. Und da Iapetus in der Gegenwart in erster Linie eine Wiederaufführung von Iapetus war, erschien ihm die Vergangenheit, die aus der erst kürzlich von ihm durchlebten Zeit mit seiner sprunghaften Freundin bestand, sehr viel lebendiger. Er fragte sich, was sie machte. Swans Launenhaftigkeit kannte keine Grenzen, aber die Zeit im Tunnel war für sie genauso wie für ihn eine ziemlich niederschmetternde Erfahrung gewesen. An der Aufzugstür hatte sie ihn beschützt, einfach so, weil es die naheliegende Sache war und sie keine Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Es war pures Instinkthandeln gewesen. Und er hatte ihr seinerseits durch ihre Strahlenkrankheit geholfen, wobei er viel zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt hatte.

Wann immer er also dachte, er würde an überhaupt nichts denken, erwischte er sich dabei, wie er Fetzen von Beethovens Melodien pfiff und dazu in Gedanken ein unglaublich virtuoses Gewebe von Lärchengesang hörte. Er fragte sich, wie sie wirklich geklungen hatten, ob Pauline sie die ganze Zeit aufgezeichnet hatte und die Musik, die sie gemacht hatten, bereinigen und abspielen konnte – eine weitere Art der Transkription. All die armen Musiker … Vielleicht war eine Aufzeichnung immer etwas, das die Erinnerung verzerrte und wonach man überhaupt nicht streben sollte. Es war besser, die Sache selbst zu wiederholen. Er würde es nur dann wirklich wieder hören, wenn sie wieder gemeinsam sangen.

Nein. Er musste an etwas anderes denken und sich in die Gegenwart zurückholen. Vielleicht würde er Swan einmal irgendwo wiedersehen, und dann würden sie pfeifen oder auch nicht. Wahrscheinlich nicht, er lebte schließlich in der wirklichen Welt. Also … ob nun erst seit gestern oder seit langer Zeit, das Vergangene war vergangen: Die Gegenwart war die einzige Wirklichkeit. Er musste also dringend mit einem neuen Pseudoiterativ beginnen, bei dem er nicht bloß drei oder vier Leben zurückliegende Gewohnheiten aufwärmte. Er brauchte einen neuen Iapetus, in den die Erinnerung an Swan vernünftig eingeschrieben war.

So begann er damit, jeden Abend der High Street bis zu jenem Park zu folgen, von dem aus man die beste Sicht auf den Saturn hatte, um ein Ritual zu etablieren, um mit dem großen beringten Gott Zwiesprache zu halten und manchmal einen Blick auf den Titan, seine wahre Heimat, zu erhaschen, wenn er wie ein Edelstein vor dem Riesen aufblitzte; und allein schon der Akt, den Park zu durchqueren, brachte für ihn eine ganze Reihe von Empfindungen mit sich; im Park traf er sich dann mit einer kleinen Gruppe von Musikern, in der jeder abwechselnd eine Melodie anstimmte und der Rest miteinfiel, und Wahram hörte entweder zu oder versuchte mitzupfeifen – manchmal stimmte er sogar einen Beethoven-Satz an, wenn die Reihe an ihm war, das Ende der Sechsten oder das Ende der Siebten –, und dann fielen alle mit ihren eigenen Instrumenten mit ein, und los ging’s. Mit dem Saturn über ihren Köpfen und ein paar wahrhaft begabten Musikern in ihrer kleinen Kapelle schlug der Augenblick ihn voll und ganz in seinen Bann, und Swan war in seinen Gedanken bei ihm. Wie launisch sie doch war.

Und an den Tagen, an denen sich der Rat und die verschiedenen Arbeitsgruppen nicht trafen, konnte er mit der Tram überall in der Stadt herumfahren, und er konnte durch das Tor zu den Skibooten hinausgehen, in eines einsteigen und die gewaltige Flanke der Iapetus-Erhebung hinabgleiten, bei der es sich hier in der Gegend um einen sanften Hang mit schwarz gekrönten weißen Wellenkämmen handelte, an manchen Stellen wie eine aufgewirbelte Schneedecke, an anderen wie die gefrorenen Wogen einer Sturzflut. Es gab Buckel, die wiederum selbst große Hügel waren. Die Skiboote glitten den Hang hinab, gruben Rillen ins Eis und vollführten auf Wunsch auch Sprünge und Rollen; aber sie konnten auch einfach die ganze Abfahrt lang einer geraden Linie folgen oder sogar in einem Winkel von 45 Grad frontal den Hang hinabsausen, und selbst bei Höchstgeschwindigkeit brauchte man einen ganzen Tag, bis man unten war. Die Fahrten dauerten so lange, dass viele Leute in größeren Booten herabfuhren, um auf dem Weg zu feiern, und auch das probierte Wahram gelegentlich aus. Unten angekommen, stieg man in eine Seilbahn, die einen wieder hochbrachte, und auf dem Weg waren alle bester Laune und brachten das oft durch Gesang zum Ausdruck. Die Leute teilten Schnaps miteinander und sangen Schubert. Wahram hatte all diese Dinge schon vor langer Zeit getan, in seinem ersten Jahr auf Iapetus, aber irgendwie hatte er sie sich abgewöhnt und dann vergessen. Nun hatte der Gedanke an Swan sie in sein Leben zurückgebracht.

Selbst bei der Arbeit wurde er an Swan erinnert, als Rat und sein Stab aus Mitarbeitern besprachen, wie sie jetzt, nach der Zerstörung Terminators, mit dem Lichthandel mit den Vulkanoiden umgehen sollten. Wahram wies seine Kollegen darauf hin, dass man Terminator schon bald wieder aufbauen und neu beziehen würde und die Stadt somit nach wie vor ein Bündnispartner sei, mit dem sie bereits eine Abmachung hatten. Alex’ Tod änderte nichts an dieser Abmachung. Wahram war klar, dass er damit zwar nur das Offensichtliche aussprach, dadurch aber trotzdem voreingenommen erschien, was er auch war, weshalb er sich im Anschluss schweigend anhörte, was die anderen zu sagen hatten. Sie warteten mit keinen großen Überraschungen auf: Vielen hatte die Abmachung mit Merkur von Anfang an nicht gefallen, und jetzt kehrten sie zu ihren alten Standpunkten zurück und sprachen sich dafür aus, dass man direkt mit einer Art Vulkan-Liga oder sogar mit einzelnen Vulkanoiden verhandeln sollte. Schließlich handelte es sich nicht um Raumschiffe, sondern um kleine Asteroiden in einer stabilen Umlaufbahn mit einer Entfernung zwischen 0,06 und 0,21 astronomischen Einheiten von der Sonne – dreißig Kilometer durchmessende Felsbrocken, deren sonnenzugewandte Seiten weißglühend waren und die gerade groß genug waren, um ihre Solettas auszufächern und in ihrem Innern die kleinen Habitate zu beherbergen, in denen ihre Betreiber oder Verehrer lebten. Einige von Wahrams Kollegen beharrten darauf, dass es sich bei ihnen um Stadtstaaten wie alle anderen auch handelte, die nicht von einer externen Macht wie Terminator repräsentiert werden sollten, ganz egal, welche Zusagen Alex gemacht hatte. Wie es denn den Stadtstaaten der Saturn-Liga gefallen würde, wenn irgendeine Partei vom Jupiter Anspruch darauf erhob, sie zu vertreten, nur weil ihre Umlaufbahn zwischen dem Saturn und dem Rest der menschlichen Zivilisation verlief? Hatte Terminator in diesem Fall nicht letztlich damit argumentiert? Handelte es sich dabei nicht in Wirklichkeit um einen weiteren Schritt hin zu dem, was manche als die Alexandrinische Integration bezeichneten – den Versuch, an den KIs vorbei das Sonnensystem zu einen, und zwar unter Alex?

Nicht direkt, hatten andere sehr zur Erleichterung Wahrams eingewandt. Er hatte zusammen mit Alex an eben diesem Projekt gearbeitet, und obwohl die Beschreibung seiner Kollegen nur bedingt darauf zutraf, wäre das angesichts ihrer Anschuldigungen schwer zu erläutern gewesen. Da war es sehr viel besser, die Diskussion als stiller Beobachter mitzuverfolgen und zu warten, bis sie sich totlief und der Rat sich auf seine gemächliche Art einem neuen Thema zuwandte. Der Hauptgrund dafür, dass das ein Weilchen dauern würde, waren die Ratsmitglieder von Hyperion und Tethys: Sie waren beide ziemlich ausschweifend und schossen sich zwanghaft auf irgendwelche nur für sie interessanten Kleinigkeiten ein. Der Rat war eine der vielen Organisationen in der Saturn-Liga, die aus zeitweilig einberufenen Mitarbeitern bestand, und die ständige Belegschaft, die ihnen unter die Arme greifen sollte, musste die Vorgänge oft dezent vorantreiben und ihre Arbeitgeber unmerklich durch die Entscheidungsprozesse leiten. Doch einige der Minister, die durch das Los bestimmt worden waren und ein Jahr lang die Verantwortung für das Wohlergehen des Saturn-Systems trugen, wollten die volle Kontrolle über ihre Entscheidungen haben und die bestmöglichen Entscheidungen treffen, indem sie sich umfassend informierten. In der Theorie war das bewundernswert, doch in der Praxis quälend langwierig.

So ging bei dieser Diskussion der Streit hin und her zwischen der Meinung, dass Merkur in diesem Fall der legitime oder zumindest vereinbarte Makler war, der ihnen darüber hinaus auch Schwierigkeiten bereiten konnte – und dem Saturn außerdem einiges anzubieten hatte –, und der Meinung, dass die Merkurianer Schleichhändler waren, denen es gelungen war, sich den kleinen neuen Siedlungen einwärts von ihnen als Schutzgeldracket aufzupressen, und dass man sie deshalb in diesem ihrem Winter des Unglücks aus dem Geschäft manövrieren sollte.

Letztlich kam der Rat zu dem Ergebnis, das Wahram bereits seit Stunden vorhergesehen hatte: Da Wahram die Merkurianer so sehr mochte, sollte er selbst zu ihnen zurückkehren, um die Lage vor Ort in Augenschein zu nehmen, mit den Löwenjungen zu reden und in Erfahrung zu bringen, wer die nächste Löwin sein würde, sowie anschließend den Vulkanoiden einen Besuch abstatten und sie fragen, was sie von der Vorgehensweise hielten, die Merkur dem Saturn vorgeschlagen hatte. Man wies ihn an, ihr Abkommen falls möglich so anzupassen, dass Terminator aus dem Spiel war.

Aufgrund seiner Abneigung gegen letztere Anweisung hätte er sich wahrscheinlich weigern sollen, aber er konnte sich gut vorstellen, dass ein anderer Gesandter zu einem für die Merkurianer sogar noch ungünstigeren Ergebnis führen mochte. Außerdem ermöglichte der Auftrag es ihm, schon sehr bald wieder in Sonnenrichtung zu reisen, was ein interessanter Gedanke war. Und was seine Instruktionen betraf, zu denen konnte er sich etwas einfallen lassen, wenn er da war. Insbesondere, wenn es um Alex ging, ähnelte ein Gesandter heutzutage einem Diplomaten alter Zeiten, der nicht nur Botschaften übermittelte, sondern auch Entscheidungen traf. Wenn er auf dem Merkur ankam, konnten die Dinge schon wieder ganz anders liegen. Mit ein bisschen Vorausschau konnte er sich dessen nahezu gewiss sein.

Also nahm er den Auftrag ohne weitere Widerworte an.

An diesem Punkt erhob sich der Satyr von Pan, um das Wort zu ergreifen. »Du musst es uns sagen, falls diese Sache deiner Meinung nach andere Projekte von Alex in Gefahr bringen könnten. Kannst du den Rat bitte daran erinnern, was hier auf dem Spiel steht, und über den Fortgang dieser Projekte in ihrer Abwesenheit berichten?«

Wahram nickte steif und überlegte, wie er antworten sollte. Er und die anderen Alexandriner versuchten, unauffällig zu agieren, und einige Ratsmitglieder waren zu unaufmerksam gewesen, um die Autorisierung und Finanzierung ihres Projekts im Rahmen größerer Posten mitzubekommen. »Alex hat ihre Projekte unabhängig voneinander gehandhabt, das ist also kein Problem für uns. Eine Gruppe um Wang und Inspektor Jean Genette kümmert sich um gewisse andere Angelegenheiten. In seinem gesamten Umfang könnten wir all das nur vollständig abgeschirmt besprechen, weshalb es genügen muss, wenn ich sage, dass Alex stark in ein Mondragon-Projekt involviert war, bei dem die Erde bei der Lösung ihrer ökologischen Probleme unterstützt werden soll. Viele der Terrarien im Mondragon sind daran beteiligt, es hat seine eigene Dynamik, und auch wir haben uns bereit erklärt mitzuhelfen. Außerdem finden gerade Ermittlungen statt, die der Frage nachgehen, welche Rolle die Qubes bei gewissen fragwürdigen Aktivitäten auf Mars, Venus, Io und anderswo gespielt haben. Auch die werden fortgesetzt, unabhängig davon, was bezüglich der Vulkanoiden passiert. Letzteres ist bloß ein Nebenschauplatz, wenn auch zugegebenermaßen ein wichtiger.«

Unwillig, sich in einen abgeschirmten Raum zu begeben, vertagte der Rat die Sitzung. Wahram kehrte in sein Zimmer zurück. Sein Hort hatte eine Wohnung in einem kleinen Mehrparteienhaus an einem Platz, um den fast ausschließlich Titanen wohnten und wo sich zahlreiche Geschäfte und Restaurants befanden. Dort lebte er bei seinen Hortgefährten und genoss ihren Rückhalt. Sie waren so wohlwollend und verständnisvoll, dass es sich bei ihnen fast anfühlte, als wohnte man allein. Während die Tage bis zur Ankunft des Linienraumschiffs, das ihn ins Systeminnere mitnehmen würde, verstrichen, spazierte er über das Rückgrat der Stadt zu den Ratstreffen, erkundigte sich täglich nach den Fortschritten auf dem Titan und erledigte seinen Anteil an den täglichen Arbeiten auf Iapetus, in der Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss seines Wohnhauses. Er besuchte eine Reihe von Konzerten, gesellte sich zu der kleinen Musikergruppe im Park, befüllte Geschirrspülmaschinen oder räumte sie aus. Wenn er den Essenden und Servierenden im Speisesaal auswich, dann erinnerten die wiederholten winzigen Manöver ihn an Prousts Vergleich eines betriebsamen Restaurants mit den kreisenden Planeten des Sonnensystems. Der Gedanke war ihm höchst eigenwillig vorgekommen (mal ganz abgesehen davon, dass die Größenverhältnisse bei Vehikel und Tenor ziemlich weit auseinanderlagen), bis er in einer Reihe von Restaurants dieselbe Erfahrung gemacht hatte: Das Zweite Gesetz der Thermodynamik war hier am Werk, eine Beck’sche Diffusion von Energie im Universum. So wirbelten sie durch das große Planetarium des Lebens. Bald würde er sonnenwärts fliegen und die Merkurianer aufsuchen.

Doch dann rief sie ihn an: Sie würde zusammen mit Jean Genette zum Saturn kommen; sie wollten in die Wolkendecke eintauchen, um nach einem Raumschiff zu suchen, das möglicherweise durch die oberen Atmosphärenschichten der großen Schönheit trieb. Und sie wollten, dass er ihren Flug in den Saturn hinab falls möglich organisierte und sie begleitete.

»Das wäre nett«, antwortete er. »Ich stehe dir zur Verfügung.« So konnte man das jedenfalls auch ausdrücken.

Listen (8)

Prometheus, Pandora, Janus, Epimetheus und Mimas: Das sind die Monde, die Saturns Ringe hüten.

Die Ringe sind nur 400 Millionen Jahre alt, Teile eines Eisasteroiden aus dem Kuipergürtel, der seinen Mantel verloren hat, als er zu dicht am Saturn vorbeiflog.

Mimas, der Zentralmond, hat einen Durchmesser von 400 Kilometern, während sein Krater Herschel 140 Kilometer durchmisst. Der Herschel-Aufschlag hat Mimas beinahe in Stücke gerissen.

Hyperion ist das Bruchstück eines vergleichbaren Zusammenpralls, der tatsächlich einen Mond zerrissen hat, und hat die Form eines Hockey-Pucks. Der Einschlag hat Dampfexplosionen ausgelöst, die den Mond entlang einer geraden Schnittfläche entzweigespalten haben wie ein Meißel Granit. Die entstandene Fläche ist von einem Feld randloser, staubgefüllter Kraterlöcher übersät und sieht aus wie ein Wespennest.

Pandora ist bohnenförmig.

Thetys und Dione waren ursprünglich jeweils etwa 1100 Kilometer lang (etwa die Größe Frankreichs), und beide hatten eine rissige, von kilometertiefen Schluchten durchzogene Oberfläche. Die Ithaka-Spalte auf Tethys ist doppelt so tief und viermal so lang wie der Grand Canyon, tausendmal älter und schwer mitgenommen von den ewigen Bürgerkriegen des Saturn.

Dione hingegen wurde in den Zehnerjahren des 22. Jahrhunderts von selbst replizierenden Eisschneidern zerlegt, und die Einzelteile, die jeweils etwa so groß wie Hector waren, wurden systemabwärts Richtung Venus geschickt. Sie trafen parallel zum Äquator auf der Venus auf und verschafften der dortigen Bevölkerung ein tiefes Ozeanbecken und das nötige Wasser, um es zu füllen, während sie gleichzeitig einen guten Teil der erstickenden Venusatmosphäre ins All schleuderten.

Rhea ist etwa so breit wie Alaska und weist die übliche Unzahl von Kratern auf, einschließlich frischer Einschlagstellen, aus deren Innerem helle Eisstrahlen hervorschießen.

Iapetus’ Umlaufbahn verläuft in einem Neigungswinkel von 17 Grad zu Saturns Äquator, wodurch man von ihm aus einen besonders guten Blick auf die Ringe hat; deshalb kommen die Leute gern dorthin. Seine Erhebung bildet die größte Stadt des Saturn-Systems.

Epimetheus ist ein missgestalteter Haufen lose zusammenhängenden Gerölls. Alle acht Jahre tauscht er mit dem Mond Janus die Umlaufbahnen; es sind ko-orbitale Monde, was sehr selten vorkommt – ein Anzeichen für frühere Zusammenstöße.

Enceladus ist von einem Eisgeflecht bedeckt. Keine Krater – dafür ist die Oberfläche zu frisch, da ständig neue Schichten aus dem darunterliegenden Flüssigwassermeer ausgeworfen werden. Hitzequellen bringen Teile dieses kohlesäurehaltigen Wassers zum Kochen und lassen Geysire mehrere Kilometer ins All hinausschießen. Das Wasser gefriert im Flug, und ein Teil davon schafft es bis hoch zum schmalen E-Ring; der Rest stürzt zurück, wird unter dem Druck des eigenen Gewichts zu Firn und dann wieder zu Eis. Im Jahre 2244 entdeckte man im enceladanischen Ozean eine Fülle mikroskopischer Lebensformen, und seitdem hat man auf der Mondoberfläche Forschungsstationen eingerichtet. Darüber hinaus gibt es einen Kult von Menschen, die eine bestimmte Zusammenstellung dieser Lebensform einnehmen, wobei die Wirkung unbekannt ist.

Es gibt 26 unregelmäßige kleine Monde. Bei allen handelt es sich um Objekte aus dem Kuipergürtel, die eingefangen wurden, als sie den ersten Gasmantel des Saturn durchquert haben. Phoebe ist mit einem Durchmesser von 220 Kilometern der größte dieser Körper. Er hat eine retrograde und stark geneigte Umlaufbahn, die in einem Neigungswinkel von 26 Grad zur Äquatorebene Saturns steht; damit handelt es sich bei ihm um einen weiteren beliebten Aussichtspunkt.

Titan, der mit Abstand größte Saturnmond, ist größer als Merkur und Pluto. Mehr über Titan folgt.

Auszüge (9)

Eine Frage zur Berechenbarkeit: Kann das Problem ein Ergebnis

Wenn eine begrenzte Zahl von Schritten zu einer Antwort führt, handelt es sich um ein Problem, das von einer Turingmaschine

Ist das Universum selbst das Äquivalent einer Turingmaschine? Bislang herrscht darüber noch keine Klarheit

Turingmaschinen können nicht immer bestimmen, wann ein Ergebnis erreicht ist. Keine Orakel-Turingmaschine kann ihr eigenes Halteproblem lösen

Ein Turing-Jump-Operator weist jedem Problem X ein zunehmend schwierigeres Problem zu, X-Strich. Wenn man eine Turingmaschine vor das Problem stellt, ihren eigenen Turing-Jump durchzuführen, erzeugt man den rekursiven sogenannten Ouroboros-Effekt

Alle Probleme, die von Quantencomputern gelöst werden können, können auch von klassischen Computern gelöst werden. Indem man sich quantenmechanische Phänomene zunutze macht, erhöht man lediglich die Geschwindigkeit

zwei beliebte physikalische Mechanismen, Punkte und Flüssigkeiten. Quantenpunkte sind in einem Käfig aus Atomen gefangene Elektronen, die durch Laserstrahlen zur Überlagerung angeregt und dann in einen Zustand oder den anderen geschubst werden. In Quantenflüssigkeiten (oft handelt es sich aufgrund ihrer zahlreichen Atomkerne um Koffeinmoleküle) richten sie in einem Magnetfeld die Spins aller Atomkerne in einer einheitlichen Orientierung aus; die Orientierung wird dann mithilfe von NRM-Techniken ermittelt und der Spin umgekehrt

Es kommt zur Dekohärenz, sobald die Überlagerung und das aus ihr resultierende Entweder/Oder verschwindet. Bis dahin führt eine Quantenrechenoperation parallel alle möglichen Werte aus, die das entsprechende Register darstellen kann

Wenn man sich bei Rechenoperationen Überlagerungseffekte zunutze macht, muss man das Eintreten der Dekohärenz so lange wie möglich hinauszögern. Das hat sich als schwierig erwiesen, weshalb es sich nach wie vor um den Faktor handelt, der die Obergrenze für die Größe und Leistung eines Quantencomputers bestimmt. Verschiedene physikalische und chemische Methoden zur Herstellung und Verbindung von Qubits haben die Anzahl der Qubits, die zusammengeschaltet werden können, bevor die Rechenoperation durch Dekohärenz zum Erliegen gebracht wird, erhöht, aber dennoch

Quantencomputer können nur Berechnungen durchführen, die sich abschließen lassen, bevor es in der überlagerten Wellenfunktion zur Dekohärenz kommt. Über ein Jahrhundert lang lag diese Zeitbegrenzung für Quantenrechenoperationen bei unter zehn Sekunden

Qubes sind bei Zimmertemperatur einsatzfähige Quantencomputer mit dreißig Qubits, wobei es sich um den oberen Dekohärenz-Grenzwert für miteinander verschaltete Qubits handelt. Sie sind mit einem herkömmlichen Petaflop-Speed-Computer verbunden, der die Rechenoperationen stabilisiert und als Datenbank fungiert. Die leistungsfähigsten Qubes sind theoretisch dazu in der Lage, die Bewegungen aller Atome in der Sonne und im Sonnensystem zu berechnen, bis zur maximalen Ausbreitung des Sonnenwinds

Qubes sind nur dann schneller als herkömmliche Computer, wenn sie Quantenparallelismen ausnutzen können. Beim Multiplizieren sind sie nicht schneller. Aber bei der Faktorisierung gibt es einen Unterschied: Um eine Zahl mit tausend Stellen zu faktorisieren, bräuchte ein klassischer Computer zehn Millionen Milliarden Milliarden Jahre (Lebensdauer des Universums: 13,7 Milliarden Jahre); unter Verwendung von Shors Algorithmus braucht ein Qube dafür etwa zwanzig Minuten

Grovers Algorithmus bedeutet, dass ein Quantencomputer in einem Quantendurchlauf mit 185 Suchvorgängen das schafft, wofür ein herkömmlicher Computer bei einer Suche im Zufallsdurchlauf mit einer Milliarde Suchvorgängen pro Sekunde ein Jahr lang braucht

Shors Algorithmus, Grovers Algorithmus, Purzelmanns Algorithmus, Sikorskis Algorithmus, Nguyens Algorithmus, Wangs Algorithmus, Wangs zweiter Algorithmus, der Cambridge-Algorithmus, der Livermore-Algorithmus

auch Verschränkung ist der Dekohärenz unterworfen. Eine physische Verbindung von Quantenschaltkreisen ist nötig, um die Dekohärenz lange genug hinauszuzögern, damit überhaupt Berechnungen durchgeführt werden können. Die Leistungsfähigkeit von Qubes wird durch vorzeitige oder unerwünschte Dekohärenz eingeschränkt, aber dieses Limit liegt hoch

Für Rechenzwecke hat sich die Manipulation von Überlagerungszuständen als einfacher erwiesen als die von Verschränkungen, was eine Erklärung für zahlreiche

Die Quantum-Datenbank ist im Prinzip über eine Vielzahl von Universen verteilt

die beiden polarisierenden Teilchen werden gleichzeitig dekohärent, ganz egal, wie weit sie räumlich voneinander entfernt sind, was bedeutet, dass die Geschwindigkeit der Informationsübertragung größer sein kann als die Lichtgeschwindigkeit. Dieser Effekt wurde im späten 20. Jahrhundert experimentell bestätigt. Ein Gerät, das dieses Phänomen zur Übertragung von Nachrichten verwendet, wird als Ansible bezeichnet. Zwar hat man derartige Geräte tatsächlich konstruiert, doch unerwünschte Dekohärenzeffekte haben bislang die maximale Distanz zwischen zwei Ansibles auf neun Zentimeter beschränkt, und selbst das nur, wenn man beide bis auf einen Millionstel Grad Kelvin über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt hat. Physikalische Beschränkungen lassen vermuten, dass weitere Fortschritte bestenfalls asymptotisch sein werden

leistungsstark, aber abgeschottet und nicht einsehbar, ein bisschen wie Gehirne

Fragen nach Penrose-Quanteneffekten im Gehirn sind inzwischen mehr oder weniger müßig, da sie definitionsgemäß auch in Qubes auftauchen. Wenn es sich bei beiden Strukturen um Quantencomputer handelt und wir uns bei einer von beiden ziemlich sicher sind, dass sie über ein Bewusstsein verfügt, wer kann dann schon sagen, was in der anderen

das menschliche Gehirn arbeitet mit einer theoretischen Maximalgeschwindigkeit von 1016 Operationen pro Sekunde

Computer sind Milliarden bis Billionen Mal schneller geworden als das menschliche Gehirn. Letztlich geht es also um die Programmierung: Welche Operationen sind es, die tatsächlich

hierarchische Gedankenanordnung, Generalisierung, Stimmung, Affekt, Wille

superrekursive Algorithmen, Hypercomputing, Superaufgaben, Versuch-und-Irrtum-Eigenschaften, induktive Interferenzmaschinen, evolutionäre Computer, Fuzzy-Computing, transrekursive Operatoren

wenn man einem Computer einen Zweck einprogrammiert, stellt dieser dann seinen Willen dar? Hat er einen freien Willen, wenn ein Programmierer seine Absichten programmiert hat? Unterscheidet diese Programmierung sich in irgendeiner Weise von der, in der wir durch unsere Gene und Gehirne programmiert sind? Ist ein programmierter Wille ein unterwürfiger Wille? Ist der menschliche Wille ein unterwürfiger Wille? Und ist der unterwürfige Wille nicht die Heimstatt und die Quelle aller Gefühle von Besudelung, Infektion, Übertretung und Zorn?

könnte ein Quantencomputer sich selbst programmieren?

Wahram und Swan und Genette

Wahram beobachtete, wie Swan aus der Luftschleuse kam und nach ihm Ausschau hielt, und als sie ihn sah, winkte er. Sie winkte zurück. Ihre Miene schien ihm verkniffen, und sie hatte den Kopf auf die Seite gelegt. Sie schaute ihn immer nur kurz an – wohl, weil sie nicht wusste, wie er sich verhalten würde. Mit einem Mal fiel ihm wieder ein, dass sie als Person aus Fleisch und Blut einen Riesenhaufen Probleme mit sich brachte. Um ihr Mut zu machen, nickte er ihr etwas heftiger zu, als er es normalerweise tat, und dann, falls das nicht genügte, streckte er beide Arme aus, und in diesem Moment wurde ihm klar, dass er sich bereits wieder in einer anderen, aufregenden Welt befand, die ausschließlich um Swan kreiste. Sie warf sich ihm in die Arme, und es sah ziemlich danach aus, dass er ihre Umarmung erwiderte oder sie sogar initiiert hatte.

Jean Genette kam aus der Luftschleuse, stand dort und schaute sie an, und Wahram begrüßte den Inspektor mit einer weiteren Verbeugung.

»Ihr möchtet also eines der Hängeschiffe finden?«, fragte er.

Das wollten sie. Anscheinend hatte es etwas mit dem Angriff auf Terminator zu tun. Also führte Wahram sie über den Raumhafen und durch ein Tor zu der Schienenkanone, mit der Fähren in eine polare Umlaufbahn um den Saturn geschossen wurden. Von dort aus hatte man eine gute Aussicht auf die Ringe und den hexagonalen Sturm am Südpol. Wahram hatte sich bereits eine Genehmigung dafür geholt, mit einem Wolkentaucher in die oberen Planetenschichten einzutreten; wahrscheinlich war der Rat froh, dass er die beiden Auswärtigen als Kontaktperson begleitete.

Sie flogen mit nur einem Piloten und der Besatzung los, und nachdem man sie Richtung Nordpol geschossen hatte, berichteten Swan und der Inspektor Wahram, was sie seit ihrer Abreise vom Merkur getrieben hatten. Wahram, dem es unangenehm war, dass er ihnen aufgrund der Befehle des Rats nicht ebenso offen von seinen Aktivitäten erzählen konnte, stellte ihnen stattdessen eine Menge Fragen über die bisherigen Ermittlungen und ihre Ergebnisse. Letztere erwiesen sich als höchst interessant, sogar verstörend, und die Vorstellung, dass es dort draußen jemanden gab, der ganze Terrarien ermordete, brachte ihn schwer ins Grübeln. Dass der Täter wahrscheinlich von der Erde kam, schien ihm allerdings keine besonders neue Erkenntnis. Aller Ärger kommt von der Erde, lautete das Sprichwort.

Der Wolkentaucher war kein großes Schiff, und obwohl er sehr schnell war, dauerte die Reise immer noch lange genug, damit Swan die Anzeichen nervöser Unruhe entwickeln konnte, an die er sich so gut erinnerte. Wenig später befanden sie sich glücklicherweise über dem Nordpol des Saturn, von wo aus sie auf die dunkle Seite der Ringe hinabschauen konnten, da hier im Norden derzeit Winter war. Gegen die Sonne waren die Ringe pfirsichfarben, und die kreisförmigen Rillen so filigran und zugleich so gewaltig, dass ihr Anblick einen unwillkürlich nach Luft schnappen ließ. Selbst auf der dunklen Seite waren die Ringe sehr viel heller als die Nachtseite des Planeten und erzeugten so eine Art Aura oder Heiligenschein uralter Schönheit um den tiefblauen Nordwinter Saturns.

Swan, die in ihren Anschnallgurten schwebte, schaute aus dem Fenster und war für den Moment sprachlos. Wahram freute sich über ihre Reaktion, und nicht nur, weil die plötzliche Stille angenehm war. Für ihn war der Saturn vom Pol aus gesehen immer wieder ein prachtvoller Anblick, das Schönste, was im Sonnensystem zu sehen war.

Und dann tauchten sie ab, dem riesigen Planeten entgegen, bis er seine Kugelgestalt zu verlieren schien und ein atemberaubendes Pastell-Kobaltblau annahm – als wäre er der blaue Boden des Universums, mit der nur leicht gekrümmten Schwärze des Alls darüber. Es sah fast ein wenig aus wie zwei Ebenen, die nur ein winziges Stück auseinanderlagen, blau und schwarz, und sich am Horizont trafen wie zwei Flächen in der elliptischen Geometrie.

Kurz darauf befanden sie sich schon mitten in einer gewaltigen Armada von Wolkentürmen, die hier um den 75. Längengrad herum ostwärts rauschten. Königsblau, Türkis, Indigo, Cyan – ein endloses Meer blauer Wolken. In dem Längenband südlich von ihnen blies der Wind in die entgegengesetzte Richtung; an der Grenze trafen Strahlströme mit Geschwindigkeiten von 2000 Stundenkilometern aufeinander und erzeugten eine Chaoszone wirbelnder Tornados. Von derart gewaltigen Wechselwirkungen musste man sich fernhalten, aber da die Längenbänder Tausende von Kilometern breit waren, war das nicht weiter schwer.

Im Gegensatz zum Jupiter erzeugte dieser Gasriese keine Strahlungsfelder, weshalb sich hier im Laufe der Jahre eine nicht zu unterschätzende Bevölkerung an Bord von Schiffen eingefunden hatte, die durch die oberen Wolkenschichten des Saturn trieben. Dazu kamen noch einige Plattformhabitate, die an gewaltigen Ballons hingen. Die Ballons mussten außerordentlich groß sein, um einen Auftrieb zu erzeugen, aber wenn dieses Hindernis erst einmal überwunden war, dann boten die Wolken Schutz vor physischen und psychischen Bedrohungen oder auch vor Scherereien mit dem Gesetz. Die Liga behielt diese Wolkenschwimmer so weit wie möglich im Auge, aber wenn sie tief genug abtauchten und sich still verhielten, waren sie oft kaum noch zu entdecken.

Ihr kleines Tauchschiff flog nun zwischen hundert Kilometer hohen Wolkenbänken, und obwohl es heißt, dass man in derartigen Situationen die Perspektive aus dem Blick verliert und alles mehr oder weniger gleich groß aussieht, stimmte das in diesem Fall nicht: Die Wolkenbänke waren unverkennbar so groß wie ganze Asteroiden. Sie erhoben sich aus einer tiefer liegenden Ansammlung flacherer Wolkenformationen, sodass Wahram unter sich die Massen von Nimbus, Cirrus, Cumulus, Girlanden- und Barkenwolken sehen konnte – der ganze Howard-Katalog in einem wilden, sich schlängelnden Durcheinander, alles zusammen war es wohl das, was man als Oberfläche des Gasriesen bezeichnen konnte. Weit im Süden ließ sich manchmal die nächste Grenzlinie mit ihren reißenden Tornadotrichtern und den breiten Hurrikanspitzen erkennen. Zuweilen flogen sie mitten in ihrem eigenen Band über einen langsameren Trichter und konnten in die blauen Tiefen des Planeten hinabschauen, die, so weit das Auge reichte und noch sehr viel weiter, aus Gas bestanden, aber sehr viel mehr nach Nebel aussahen, der sich am Boden verflüssigte. Ab und an konnten sie einer vereinzelten hohen Wolke nicht ausweichen. Dann sah man draußen mit einem Mal nur noch ein gedämpftes blaues Blitzen, und sie wurden so heftig durchgeschüttelt, dass selbst die Piloten-KI nicht schnell genug war, um die Erschütterung ganz abzufangen. So bebte und ruckelte das Schiff, bis die Sicht wieder klar und blauer als je zuvor war. Die meiste Zeit über flogen sie mit dem Wind, aber dann und wann kreuzten sie auch eine Strecke. Wenn sie sich zu hart in den Wind legten, wurden sie genauso stark durchgeschüttelt wie in einer Wolke.

Vor sich konnten sie sehen, wie sich ihre Schlucht aus freiem Raum verengte und zu nichts zusammengedrückt wurde. Dahinter wirbelte ein Hurrikan, so groß, dass die ganze Erde darauf wie der heilige Brendan in seinem kleinen Boot hätte tanzen können. »Da müssen wir drüber wegfliegen«, sagte ihr Kapitän, und in einer sauberen Kurve stieg ihr Schiff empor, bis die flache Kuppe des Hurrikans sich unter ihnen drehte. Über ihnen standen die Sterne ruhig am Himmel.

»Gibt es hier Flieger?«, fragte Swan. »Gibt es Leute, die im Vogelanzug durch diese Wolkenschluchten fliegen?«

Wahram sagte: »Ja, ein paar. Normalerweise handelt es sich um Wissenschaftler bei der Arbeit. Bis vor Kurzem galt der Saturn als zu gefährlich für Besuche, weshalb er noch nicht so erschlossen ist, wie man es von anderswo kennt.«

Swan schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich weißt du einfach nur nichts darüber.«

»Kann sein. Aber ich glaube, ich würde von so etwas wissen.«

»Du selbst kommst nicht so oft hier runter?«

»Nein.«

»Fliegst du hier unten mit mir?«

»Ich kann nicht fliegen.«

»Das kannst du der KI des Vogelanzugs überlassen und einfach nur als Passagier Anweisungen geben.«

»Kann man denn auch mehr als das machen?«

»Natürlich.« Sie bedachte ihn mit einem abfälligen Blick. »Überall im Sonnensystem, wo man fliegen kann, fliegen die Leute. Unsere Vogelhirne zwingen uns dazu.«

»Aber sicher doch.«

»Also kommst du mit.« Sie nickte, als hätte sie einen Streit gewonnen und ein Versprechen von ihm erhalten.

Wahram legte das Kinn auf die Brust. »Du bist also eine Fliegerin?«

»Wann immer es geht.«

Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Sich solche vorauseilenden Schikanen gefallen zu lassen und sie dabei weiterhin zu lieben – das ging entschieden zu weit. Allerdings war es für solche Bedenken vielleicht bereits zu spät. Die Widerhaken saßen bereits ziemlich tief; er spürte, wie sie sich in seiner Brust bewegten; sie hatte ihn tatsächlich an der Angel, und alles, was sie sagte oder tat, interessierte ihn tatsächlich in höchstem Maße. Er war sogar bereit, Narreteien wie einen Vogelflug in den Wolken Saturns in Erwägung zu ziehen. Wie war das möglich? Als Frau war sie nicht mal sein Typ – ach Marcel, wenn du nur wüsstest –, diese Swan schien ihm noch schlimmer als Odette.

»Irgendwann mal vielleicht«, sagte er und versuchte dabei, willig zu klingen. »Aber vorerst müssen wir dieses Schiff finden, das ihr sucht.«

»Allerdings«, warf Inspektor Genette ein. »Und anscheinend liegt es vor uns.«

Sie sanken weiter ab und tauchten erneut in eine Wolke ein. Das Schiff bebte heftig und ununterbrochen. Unter ihnen lagen weitere dreißigtausend Kilometer zunehmend dichter werdenden Gases, bevor man schließlich auf die schwarze Schicht gefrorenen Schleims traf, die sich nur schwer charakterisieren ließ und bei der es sich um die eigentliche »Oberfläche« des Planeten handelte. Es hieß, dass dort unten, in den tiefsten Tiefen, Raumschiffe versteckt waren, und Wahram hatte befürchtet, dass das von ihnen gesuchte sich ebenfalls dort befinden würde. Doch nun ragte südlich von ihnen ein Schiff aus den Wolken, bleiern vor dem Blau, unter einem riesigen, tropfenförmigen Ballon. Und dann rutschte es wie ein Gespenst wieder in die Wolken zurück, aus denen es aufgetaucht war.

Das verlassene Schiff trieb und schwang unter seinem Ballon von einer Seite zu anderen. In der Wolke war es ein gutes Stück finsterer, es herrschten Schokoladenfarbtöne vor, die hier und da orange- oder bronzefarben aufleuchteten und sich dann wieder verdunkelten. Wenn man einen musikalischen Ausdruck für die Aussicht finden wollte, musste man wohl gleichzeitig Satie und Wagner spielen, dachte Wahram, ein winziger Stachel der Wehmut in den hochtrabenden Stürmen; welch kleines, verlorenes Schiff.

Sie schnallten sich im Hopper des Wolkentauchers an und verließen mit ihm die Landebucht. Bebend kämpfte das kleine Schiff gegen die Turbulenzen an. Aus dem Nebel ragte die dunkle, schweigende Masse ihres Ziels. Wahram fühlte sich unwillkürlich an die Marie Celeste erinnert oder an Papas Hausboot auf dem Fluss. Doch er hatte keine Zeit für diese alten Geschichten, er musste sich auf die Gegenwart konzentrieren, die allem Anschein nach einen typischen Asteroidenschlepper bereithielt, mit einem klobigen, altmodischen Deuterium-Tritium-Fusionsantrieb am Heck.

»Ist es das Schiff, das ihr sucht?«, fragte Wahram.

»Ich glaube schon«, antwortete Genette. »Dein System hat es mit einem Sender markiert, als es in den Saturn eingeflogen ist, und jetzt erhalten wir ein Signal von diesem Sender. Schauen wir es uns mal an.«

Sie legten an dem Schiff an, wobei ihr Pilot das Problem der Ankopplung im böigen Wind elegant löste. Als sie schließlich magnetisch verankert waren, zogen sich die drei und noch zwei von Genettes Kollegen ihre Raumanzüge an und gingen, allesamt mit Ariadnefäden gesichert, hinaus.

Swan flog mit ihrem Düsenantrieb vor den anderen am Schiff entlang und setzte neben einer Luftschleuse auf, die sich unmittelbar vor dem klobigen Antrieb befand. Als sie die Schaltfläche betätigte, wurde das rote Licht grün, und die Schleuse öffnete sich. Dann blitzte ein Licht auf und verblasste ebenso schnell wieder. Swan schrie auf.

Genette flog an ihre Seite, schwebte wie ein kleiner Schutzengel über ihrer Schulter und zog sie zurück. »Warte einen Moment. Das gefällt mir nicht. Und Passepartout hat mir gerade gesagt, dass das Schiff soeben ein starkes Funksignal abgesetzt hat.«

Der kleine Inspektor flog vor ihnen in die Luftschleuse und zog dabei ein bolzenschneiderartiges Werkzeug aus der Hüfttasche. »Vielleicht kam es ja hierher.« An der Innentür der Luftschleuse war ein Gehäuse angebracht. »Das ist eine Klette. Eine Art kleiner Wachtposten. Vielleicht hat sie ein Bild von dir gemacht und übertragen. Wir sollten sie mitnehmen.«

Swan schlug neben der Luftschleuse an die Außenhülle. »Hier sind wir! Ich scheiß auf euch!«

»Das wissen sie bereits«, sagte Genette und machte sich an dem kleinen Gehäuse zu schaffen wie an einer Muschel. »Aber vielleicht können wir ja den Spieß umdrehen. Dieses Schiff dürfte irgendeinen Ursprungsort haben, es wird etwas geben, was wir zurückverfolgen können. Wir nehmen seine KI mit.« Die anderen Interplan-Ermittler öffneten die innere Luftschleusentür; im Innern des Schiffs schien ebenso Vakuum zu herrschen wie draußen. Wahram folgte den beiden hinein. Die Lichter waren an, die Brücke schien zu funktionieren, und trotzdem gab es hier weder Luft noch Menschen.

»Jeder weiß, dass ein Schiff sich identifizieren lässt«, sagte Wahram. »Warum sollten sie ihr Schiff hier treiben lassen? Warum haben sie es nicht einfach entsorgt?«

»Ich weiß nicht. Möglicherweise wollten sie es noch mal benutzen und wussten nichts von dem Kursverfolgungssystem des Saturns.«

»Mir gefällt das nicht.«

»Mir auch nicht.«

»Vielleicht ist das ein Schiff von den Blockfreien«, sagte Swan. »Dann gibt es überhaupt keine Aufzeichnungen darüber.«

»Gibt es Schiffe, die gar nicht erfasst sind?«, fragte Wahram.

»Ja«, sagte Genette knapp und steckte mehrere Kabel von Passepartout in eine Reihe Buchsen an einer Konsole.

»Ich habe seine Daten«, verkündete Passepartout.

»Dann verschwinden wir von hier«, sagte Genette. »Passepartout sagt, dass die Ballons, die dieses Ding in der Luft halten, angestochen worden sind. Sie sind groß, aber wir müssen hier trotzdem raus, bevor das Schiff zu weit absinkt.«

Sie eilten durch die kurzen Gänge zur Luftschleuse zurück. Der Pilot ihres Wolkentauchers forderte sie mit drängendem Unterton dazu auf, wieder an Bord zu kommen, damit er von dem anderen Schiff ablegen konnte; sie stürzten mit zunehmender Geschwindigkeit dem Saturn entgegen, während sich der riesige Ballon über ihnen leerte. Hastig quetschten sie sich zu fünft in die Luftschleuse, wobei der Inspektor und die beiden Interplan-Assistenten sich wie Bogenwinkel in die oberen Ecken hängten. Als die Außentür sich öffnete, flogen sie sofort in den freien Raum hinaus. Der Ballon über dem verlassenen Schiff war bereits sichtlich leerer, dünn und faltig und schlaff. Trotzdem flogen die Kleinen um den Rumpf herum und untersuchten und fotografierten ihn Abschnitt für Abschnitt. »Seht ihr«, sagte Genette zu einem von ihnen. »Hier sind Bohrungen für Schrauben. Nehmt Proben von dem Gewinde.«

Dann kehrten sie mithilfe eines ihrer Ariadnefäden an Bord des Wolkentauchers zurück. Sobald sie sich in der Luftschleuse befanden, spürten sie, wie er sich von dem verlassenen Schiff löste und seinen Aufstieg begann. Sie begaben sich zur Brücke, wo der Pilot entweder zu beschäftigt oder zu höflich war, um ein Wort über ihre Lage zu verlieren. Heftig ruckelnd stiegen sie durch die Wolken empor.

»Wir sind raus«, sagte Genette gereizt zu dem Piloten. »Mach langsamer.«

Wahram seinerseits war froh darüber, schnell aufzusteigen. In seiner Jugend war man nicht in den Planeten abgetaucht, und es kam ihm immer noch vermessen und höchst gefährlich vor.

Als sie aus den Wolken heraus waren und sich wieder in einem freien Kanal zwischen den wogenden Massen befanden, entspannte er sich ein wenig. Sobald sie hoch genug waren, konnten sie die nördlichen und südlichen Wolkenbänder sehen, die von dem Wind in die entgegengesetzte Richtung geblasen wurden; in beiden reichte die Wolkendecke etwas höher, sodass es für eine Weile so aussah, als würden sie durch einen sehr breiten Kanal treiben, dessen Ufer mit rasender Geschwindigkeit stromaufwärts an ihnen vorbeizogen.

Als sie noch ein Stück höher gestiegen waren, zeigte Inspektor Genette Swan etwas auf dem Armbandqube-Bildschirm. »Wir haben die Bestätigung. Das Schiff gehört einer Transportfirma mit Sitz auf der Erde, sein Verlust wurde nie gemeldet. Der letzte Hafen, den es offiziell angelaufen hat, war der Asteroid, auf dem wir es gesehen haben.«

Swan nickte und schaute zu Wahram. »Ich fliege als Nächstes zur Erde«, sagte sie. »Kommst du mit?«

Wahram erwiderte vorsichtig: »Ich muss ohnehin systemabwärts. Ich denke also, dass wir uns dort irgendwo treffen können.«

»Das ist gut«, sagte sie. »Dann können wir zusammenarbeiten.«

Sie schien keinerlei Verdacht zu hegen, dass er irgendetwas im Schilde führte. Was angenehm war – sogar ermutigend –, jedoch unglücklicherweise nicht zutraf.

Er schluckte schwer. »Bevor du abreist – kann ich dir vielleicht ein bisschen was vom Saturn zeigen? Es gibt noch eine andere Art des Fliegens, die dir Spaß machen könnte, in den Ringen. Und ich könnte dich meinem Hort vorstellen. Meiner Familie.«

Er sah ihr an, dass sie überrascht war. Erneut schluckte Wahram und versuchte, unter ihrem scharfen Blick ganz neutral auszusehen.

»Na schön«, sagte sie.

Swan und die Ringe des Saturn

Inspektor Genette und sein Team hatten um den Saturn herum das eine oder andere zu erledigen und würden eine ganze Weile lang nicht wieder systemabwärts reisen, weshalb Swan Wahrams Wunsch erfüllen und ihn begleiten konnte. Er hatte sich seltsam verhalten, sein starrer Blick war praktisch durch sie hindurchgegangen – er hatte wirklich richtige Krötenaugen. So ähnlich hatte er sie angesehen, als sie ihm gesagt hatte, dass sie die enceladanische Suite eingenommen hatte; das, was klar aus ihrer verschwommenen Erinnerung an den ganzen Vorfall hervorstach, war sein Gesichtsausdruck – seine Überraschung darüber, dass irgendjemand derart leichtsinnig sein konnte. Tja, daran gewöhnte er sich besser. Sie war eben nicht normal; sie war nicht mal ein Mensch, sondern eine Art Symbiont. Als sie die Außerirdischen gegessen hatte, war sie eine andere geworden – falls sie nicht schon immer eine andere gewesen war. Vielleicht waren ja schon immer Farben in ihrem Kopf erblüht, vielleicht war ihr Sinn für den freien Raum seit jeher so geschärft, dass er ihr Schmerzen oder Glücksgefühle verursachte, und vielleicht galt das Gleiche für ihren Sinn für Bedeutung. Möglicherweise änderten die enceladanischen Tierchen in ihren Eingeweiden auch nicht mehr als all die anderen Tierchen dort. Sie war sich nicht sicher, was sie war.

Der Ausdruck auf Wahrams Gesicht ließ vermuten, dass es ihm mit ihr genauso ging.

Der Besuch bei Wahrams Hort auf Iapetus bestand letztlich darin, dass sie zu einer der gewöhnlichen Mahlzeiten in der Gemeinschaftsküche vorbeischauten. »Das hier sind einige meiner Freunde und Verwandten«, sagte Wahram, als er Swan einer kleinen Gruppe an einem langen Tisch vorstellte. Swan nickte, als die Gruppe im Chor ein Hallo anstimmte, und dann führte Wahram sie durch den großen Raum und stellte sie einzeln vor. »Das hier ist meine Frau Joyce; das ist Robin. Das ist mein Mann Dana.«

Dana nickte einmal auf eine Art, die Swan an Wahram erinnerte, und sagte: »Wahram ist lustig. Ich meine mich zu erinnern, dass ich die Frau war, als er zu uns gekommen ist.«

»O nein«, erwiderte Wahram. »Ich war die Frau, das kann ich dir versichern.«

Dana lächelte ein wenig verkniffen. »Vielleicht waren wir ja beide Frauen. Es ist lange her. Wie dem auch sei, Miss Swan, willkommen auf Iapetus. Wir freuen uns, eine so berühmte Designerin zu Gast zu haben. Ich hoffe, der Saturn gefällt Ihnen bisher?«

»Ja, es ist interessant hier«, antwortete Swan. »Und als Nächstes nimmt Wahram mich in die Ringe mit.«

Sie folgte ihnen zu dem Esstisch in der Mitte des Raumes, und Wahram stellte sie noch einigen Leuten vor, deren Namen sie gleich wieder vergaß. Sie winkten oder nickten und redeten sonst nicht viel. Schließlich plauderten sie ein bisschen mit ihr, bevor sie sich wieder ihren Unterhaltungen zuwandten und Wahram und seine Besucherin sich selbst überließen. Kleine rote Flecken waren auf Wahrams Wangen getreten, doch auch er wirkte erfreut und verabschiedete sich locker von den Hortgefährten, an denen sie auf dem Weg nach draußen vorbeikamen. Vielleicht war das ja das, was man sich auf Saturn unter einer wilden Party vorstellte, dachte Swan.

Bald darauf nahmen sie ein Shuttle nach Prometheus, dem inneren Schäfermond des F-Rings. Die Wechselwirkung der Gravitationskräfte von Prometheus und Pandora, dem äußeren Schäfermond, verwoben die Milliarden Eisbrocken des F-Rings zu komplexen Schlingen, die ganz anders aussahen als die glatten Bänder der größeren Ringe. Im Endeffekt verquirlten die beiden Schäfermonde den Ring mit ihren Gezeiten und machten dabei einiges an Wellen. Und wo es Wellen gab, gab es Surfer.

Prometheus erwies sich als Kartoffelmond von 120 Kilometern Länge. Sein größter Krater, eine Delle an dem Ende, das dem F-Ring am nächsten war, war mit einer Kuppel überdacht, und unmittelbar innerhalb des Kraterrands befand sich eine Forschungsstation.

Im Innern der Kuppel wurden sie von einer Gruppe Ringsurfer begrüßt, die ihnen stolz die hiesige Welle beschrieben. Prometheus erreichte seine Apoapsis, also den Punkt, an dem er sich am weitesten vom Saturn entfernt befand, alle 14,7 Stunden, und dabei streifte er jedes Mal beinahe die wogende Wand aus Eisbrocken, bei der es sich um die Innenseite des F-Rings handelte. Prometheus bewegte sich schneller in seiner Umlaufbahn als die Eisbrocken in ihrer, weshalb er im Vorbeifliegen eine Girlande hinter sich herzog; ein Gravitationseffekt, den man als Kepler-Scherung bezeichnete. Der Bogen aus mitgezogenen Eisbrocken bildete sich immer in der gleichen Entfernung hinter Prometheus, so vorhersagbar wie das Kielwasser eines Boots. Bei jeder Apoapsis bildete sich diese Welle 3,2 Grad weiter vorne als die vorangegangene, weshalb man berechnen konnte, wo und wann man abspringen musste, um sie zu erwischen.

»Eine Welle alle fünfzehn Stunden?«, fragte Swan.

Das genügte, versicherten ihr die Einheimischen verwegen grinsend. Mehr als eine Welle würde sie nicht brauchen. Man ritt sie für Stunden.

»Stunden?«, fragte Swan.

Mehr irres Gegrinse. Swan drehte sich zu Wahram, konnte sich jedoch wie immer keinen Reim auf seine versteinerte Miene machen.

»Kommst du mit raus?«, fragte sie.

»Ja.«

»Hast du das schon mal gemacht?«

»Nein.«

Sie lachte. »Gut. Los geht’s.«

Mathematisch ließen sich die Ringe als Flüssigkeit beschreiben, und aus einer gewissen Entfernung sahen sie mit ihren schmalen, konzentrischen Wellen auch so aus. Aus der Nähe erkannte man allerdings, dass der F-Ring wie auch die anderen aus Eisbrocken und Staubteilchen bestand, die in Bändern angeordnet waren, welche sich um Einzelkörper herum verdichteten oder ausdünnten und alle mit fast derselben Geschwindigkeit flogen. Gravitation: Hier sah man ihre Auswirkungen unverfälscht, ungestört von Wind oder Sonnenstrahlung oder anderen Einflüssen – es gab nur die Anziehungskraft des sich drehenden Saturn und einige kleine rivalisierende Zugkräfte, die alle zusammen dieses spezielle Muster bildeten.

Prometheus war ein perfekter Startpunkt für die Surfer, und diejenigen, die sich mit Swan und Wahram auf den Weg machten, wiesen sie darauf hin, dass sich erfahrene Veteranen vor und hinter ihnen befinden würden, wenn man sie in die Welle hinausschoss, um sie im Auge zu behalten und falls nötig Hilfestellung zu leisten. Sie gaben ihnen Tipps darüber, wie man die Welle am besten erwischte, aber Swan nickte bloß höflich und vergaß die Ratschläge gleich wieder: Surfen war Surfen. Man musste den Wellenkamm mit der richtigen Geschwindigkeit erwischen, und los ging’s.

Dann waren sie alle angezogen und flogen aus einer Luftschleuse. Die weiße, aufgewühlte Wand des F-Rings war direkt neben ihnen: Dort, wo das Geröll dichter war, wirkten die Girlanden knotig, doch insgesamt war die Fläche ausgesprochen eben und maß in der Ebene zum Saturn von Norden nach Süden nur zehn Meter. Bei diesen zehn Metern handelte es sich nicht um die Höhe der Welle, sondern um ihre Breite – was bedeutete, dass man an jeder Stelle aus dem Eis auftauchen und sich abholen lassen konnte, wenn man in Schwierigkeiten geriet. Die meisten Wellen, die Swan bisher geritten hatte, waren anders beschaffen gewesen, und die Vorstellung beruhigte sie.

Sie flogen immer dichter an die weiße Wand heran, bis Swan deutlich einzelne Eisbrocken ausmachen konnte, deren Größe und Form irgendwo zwischen der von Sandkörnern und der von Koffern lag, wobei hier und da auch mal ein Eismöbelstück – ein Schreibtisch oder Sarg – zwischen ihnen umhertrieb. Einmal sah sie eine kurzzeitige Zusammenballung, die etwa so groß wie ein kleines Haus war, jedoch vor ihren Augen auseinanderfiel. Und nun löste sich gerade eine weiße Schleife aus der Wand und flog auf den Saturn zu, der sich unter ihnen zwar gewaltig blähte, aber von keinerlei Interesse war.

Swan probierte ihre Düsen auf dem Weg zur Welle aus. Wie eine Klarinettenspielerin betätigte sie sie mit den Fingern und glitt in einem kleinen, selbst ausgedachten Schwebetanz dahin. Raumanzüge waren so ziemlich überall gleich. Sie konzentrierte sich auf die herannahende Woge, die wie Hiroshiges Welle über ihr aufragte. Sie war etwa zehn Kilometer hoch und schwoll schnell an. Sie musste sich drehen und mit dem Strom beschleunigen, aber nicht so schnell, dass sie der Woge davonflog. Das war der schwierige Teil …

Dann war sie mitten in dem weißen Zeug und wurde von kleinen Bruchstücken getroffen. Sie gab ein bisschen Düsenschub, um ihren Kopf ins Freie zu bekommen, als surfte sie flach auf der Gischt eines brechenden, salzigen Wellenkamms, aber das Zeug um sie herum war grobkörnig, und sie spürte, dass es die kleinen Treffer kleiner Brocken waren, die sie vorantrieben, und nicht eine Wassermasse. Dann hatte sie ihre Geschwindigkeit an die der Welle angepasst und gelangte mit dem Kopf an die Oberfläche, sodass sie sich umsehen konnte – es war tatsächlich ganz ähnlich, wie wenn man flach auf einer Meereswelle surfte, und unwillkürlich musste sie lachen und laut rufen: Sie flog auf einer Eiswelle von zehn Kilometern Höhe. Der Anblick brachte sie zum Jauchzen. Durch den offenen Kanal hörte sie das vielstimmige, wilde Geschrei der anderen Surfer.

Die Welle war eigentlich eher eine Scheibe, gerade mal so breit wie ein Zimmer, und manchmal kam sie Swan nur wenig dicker vor als ihr eigener Leib – eine zweidimensionale Welle sozusagen, sodass man wohl durch einen einzigen Treffer von der Seite oder eine kleine Düsenabweichung wieder aus ihr hinausschießen würde. Deshalb konnte sie nicht völlig in das weiße Zeug eintauchen wie ein Delfin. Vielleicht machten das einige der anderen Wellenreiter, aber Swan fürchtete, dort drin die Orientierung zu verlieren. Außerdem wollte sie ja etwas sehen!

Sie spürte, wie die Welle sie hochhob und mit sich riss. Es hatte nicht nur damit zu tun, dass sie von Eisbrocken getroffen wurde, auch die Gravitation zog sie mit. Die Eistreffer fühlten sich an, als würde man mit einem Regen von Kieselsteinen beworfen, der einen mit geballter Kraft nach vorne trieb. Vielleicht konnte man diesen Teilchenstrom auch auf einem großen Surfbrett reiten und mit den Füßen lenken; tatsächlich sah sie weiter unten jemanden auf einer Art schmalem Boot stehen, der auf eben diese Art unterwegs war. Doch die meisten anderen legten sich zum Surfen mit dem ganzen Körper in die Welle, wie sie es tat, wahrscheinlich, weil man für die besten Manöver die Anzugdüsen brauchte. Es war Swan ohnehin immer lieber gewesen, mit dem ganzen Körper zu surfen anstatt auf einem Surfbrett. Selbst das fliegende Objekt zu sein, sich in den Raum hinauszuwerfen, den man atmet, und gleichzeitig bewegungslos und mit hoher Geschwindigkeit zu fliegen, vorwärts katapultiert …

Die Welle erreichte ihren Höhepunkt, und Swan wurde schneller vorangetrieben als je zuvor. Die meisten Brocken waren tennisball- bis basketballgroß, und wenn sie mit ihren Düsen auftauchte, bis sich nur noch ihre Füße im Strom befanden, dann konnte sie auf einen der größeren Brocken aufspringen und sich mit kleinen Schüben vorwärts und auswärts bewegen. Die Welle stieg noch immer weiter an, aber nun glich sie dem Kielwasser eines Boots – der untere Teil der Welle traf auf keinen Boden, sodass der obere vorwärts gerollt und gebrochen wäre. Ab diesem Punkt verlor die Welle an Bewegungsmoment, und schließlich würde sie sich verlaufen, ohne jemals zu brechen. Eigentlich schade, aber jetzt war es Zeit zum Tanzen!

Immer wenn sich die Gelegenheit bot, sprang sie auf ein größeres Stück, und so gelangte sie mit einem Sprung nach dem anderen ans Ziel, an die Grenze zwischen dem weißen Eisschaum und dem leeren schwarzen Raum, den er durchströmte; und dann tanzte sie über große weiße Brocken, schlitterte über eine Art Gerölllawine, als rannte sie eine verflüssigte Bergflanke hinab. Als sie den Dreh raushatte, lachte sie kurz auf. Auf dem offenen Kanal waren noch immer vielstimmiges Johlen und Geschrei zu hören. Bei der Gestalt, die ihr am nächsten war, handelte es sich wahrscheinlich um Wahram, der mit bemerkenswerter Agilität umhersprang wie die tanzenden Nilpferde aus Fantasia. Der Anblick brachte sie zum Lachen. Sie spürte, wie Prometheus an ihr zog; so fühlte sich wahrscheinlich ein Pelikan, wenn er sich von einer Meereswelle in die Luft emportragen ließ. Eine Gravitationswelle, die sie durchs Universum schleuderte. Die Rufe der anderen Surfer klangen wie Wolfsgeheul.

Als sie wieder unter der Kuppel auf Prometheus waren und ihre Raumanzüge abgelegt hatten, umarmte die verschwitzte Swan Wahram. »Danke dafür!«, sagte sie. »Das habe ich gebraucht! Es hat mich an … an … na ja. Es war gut.«

Wahrams Gesicht war gerötet, und er keuchte vor Erschöpfung. Er nickte einmal, den Mund zu einem ernsten kleinen Punkt zusammengezogen.

»Und, wie fandest du es?«, rief sie. »Hat es dir Spaß gemacht?«

»Es war interessant«, sagte er.

Listen (9)

Eine Startrakete, mit der man einen Planeten verlassen will, insbesondere die Erde, braucht eine hohe Schubkraft

Interplanetare Raketen, die von einer Umlaufbahn zur nächsten fliegen, müssen ihren Treibstoff mit hoher Geschwindigkeit ausstoßen, um den Verbrauch in Grenzen zu halten

Deuterium-Helium-3-Spheromak-Fusionsantrieb, wird auf Luna hergestellt, in Gebrauch seit 2113;

Antimaterie-Plasmakern, magnetische Flasche, marsianische Entwicklung, 2246;

Deuterium-Tritium-Fusion, mit Lithium-ummanteltem Kern, um bei der Verbrennung zusätzliches Tritium zu erzeugen, Luna 2056; bei zwei Exemplaren riss die Antriebskammer und explodierte, Verlust der gesamten Besatzung;

Thermischer Laserantrieb, wird größtenteils für lokale Transporte innerhalb der Jupiter- und Saturn-Ligen verwendet;

Elektromagnetische Kraftschleudern für die Terrarien, 2090; werden oft als die Ackergäule unter den Antriebswerken bezeichnet;

Trägheitsfusion, Mars, 2237;

Mikronukleares Triebwerk, Orion-Format, subkritische Curium-245-Kügelchen werden durch eine Z-Maschine zusammengepresst, bis es zur Kernspaltung kommt, magnetische Druckwellen treffen auf die Prallplatte der Rakete, Kallisto, 2271;

Orion-Stil (externer Plasma-Pulsantrieb), Luna, 2106;

Magnetoplasmadynamisches Triebwerk, mit Kalium angereichertes Helium als Stützmasse, Kallisto, 2284;

Notantriebssystem für manövrierunfähige Schiffe, eine »Solarmotte«, bei der die versilberte Hälfte eines Ballons Sonnenlicht auf eine Fensterkammer mit einem Ringboiler reflektiert, in dem sich mit Alkalimetallen durchsetzter Wasserstoff als Antriebsmasse befindet. Extrem geringe Ausstoßgeschwindigkeit und jenseits des Mars sehr schwach, aber bis zum Einsatz sehr kompakt, Mars, 2099;

Variabler spezifischer Magnetoplasma-Impulsantrieb, der »den Gang wechseln« kann und je nach Bedarf einen starken Rückstoß oder eine hohe Ausstoßgeschwindigkeit bietet, Kallisto, 2278;

Fortschritte in der Physik, in den Materialwissenschaften und in der Raketentechnik sowie ein wachsendes Bedürfnis nach gesteigerter Geschwindigkeit und geringem Treibstoffverbrauch befeuern mittlerweile ein industrielles Wettrennen um Neuentwicklungen, das von Organisationen auf Luna, dem Mars und Kallisto dominiert wird. Wir dürfen also damit rechnen

Kiran und Lakshmi

Als er das nächste Mal durch die Kleopatra-Bahnstation kam, rief Kiran bei der Nummer an, die Swan ihm gegeben hatte, und Lakshmi selbst ging ran. Als Kiran ihr sagte, woher er die Nummer hatte, erklärte sie ihm den Weg zu einem nahen Nudelhaus und sagte ihm, dass sie in einer Stunde dort sein würde, was sie dann auch war. Sie erwies sich als typische geborene Venusianerin – hochgewachsen, gut aussehend, einsilbig. Die Kombination aus chinesischer Abstammung und indischem Namen erinnerte ihn an einige andere Leute, die er hier kennengelernt hatte: Man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie Venusianer auszeichnete, die sich ein Stück weit von ihrer alten Heimat lösen wollten. Durch ihren Namen brachten sie zum Ausdruck, dass sie inzwischen mehr Venusianer als Chinesen waren.

»Arbeite auf jeden Fall weiter für Shukra«, sagte Lakshmi sofort zu ihm, obwohl Shukra ihn in einem Zustand des xuanfu (treibendes Chaos) zurückgelassen hatte. Sie würde ihm helfen, den kuo suo zu erreichen (beide Worte bedeuteten »Ort«, aber laut Kirans Übersetzter war suo der eigene Ort und bezeichnete gleichzeitig seinen Arbeitstrupp). Sie würde ihm eine bessere Stelle verschaffen, bei der er unter anderem als Kurier unterwegs sein und Dinge und Informationen von einem xiaojinku zum anderen befördern würde. Xiaojinku, kleine Gold-Zentrallager: In Kirans Ohren klang es nicht schlecht. Er willigte ein. Erst danach sagte Lakshmi ihm, dass man ihn in jinxing gongzi bezahlen würde, in unsichtbarer Währung. Das klang weniger gut, aber etwas an der Art, wie sie es sagte, überzeugte ihn davon, dass es schon in Ordnung gehen würde.

Nachdem sie ihm seine neue Arbeit erklärt hatte, musterte Lakshmi ihn. »Shukra hat dich von Swan Er Hong, aber er hat dich nicht eingesetzt. Hält er dich für dumm? Oder vielleicht Swan? Oder mich?«

Beinahe hätte Kiran gesagt, dass Shukra vielleicht der Dumme war, aber Lakshmi schien gar keine Antwort von ihm zu erwarten. Sie stand auf und ging, und eine Stunde später hatte er eine neue Identifikationsnummer und damit eine ganz neue Identität und einen neuen Namen. Nichts davon schien irgendjemanden zu interessieren. Sein erster Auftrag von Lakshmi bestand darin, ein kleines Päckchen von Kleopatra aus zurück nach Colette zu bringen; diesmal sollte er fliegen, damit es schneller ging. Zu dem Paket gab Lakshmi ihm eine Übersetzungsbrille, die aussah wie ein Paar dicker, altmodischer Augengläser mit Kopfhörern an den Bügeln. »Besser zum Übersetzen«, erklärte sie ihm.

Also buchte er sich einen Flug und fand dabei heraus, dass seine neue Identität eine ganze Menge Credits besaß – es war geradezu unheimlich. Aber auch interessant festzustellen, über was für Ressourcen Lakshmi verfügte. Möglicherweise über ein ganzes kleines xiaojinku oder sogar mehrere. Die Leute aus seinem alten Trupp hatten gesagt, dass sie in der Arbeitsgruppe war, und die Arbeitsgruppe herrschte über den Planeten.

Ihre Übersetzerbrille war jedenfalls ein Fortschritt: Wenn er chinesische Schriftzeichen mit all ihren komplizierten Ideogrammen sah, dann erschien vor ihnen nun in leuchtend roten Buchstaben eine englische Übersetzung. Verblüfft stellte er fest, was es in der Stadt alles an Informationen zu lesen gab: Nehmt euch vor den Drei Fehlenden in Acht. Stimmt für Stormy Chang. Das Bier vom Hohen Berg. Umwandlungen Tür in der mittleren Himmelshälfte. Anscheinend handelte es sich um eine Geschlechtsklinik. Gib Vater eine zweite Schwester, forderte einen ein anderes Schild auf.

Dann war er im Flugzeug, und dann über den unruhigen Wolken und in der ewigen Nacht unter Venus’ Sonnenschild. Die Wolkenoberseiten zu seinen Füßen wurden nur vom Sternenlicht erhellt. In einem Flugzeug zu sitzen erinnerte ihn an die Erde. Wenn man aus dem Fenster schaute, sah man sie als bläulichen Doppelstern hoch am Himmel. Die Erde war doppelt so hell wie der Mond, und zusammen sahen sie aus wie ein Schmuckstück und so schön, dass sein Herz einen kleinen Satz machte. Dann verzogen sich die Wolken unter ihnen, und er sah geborstene, zerklüftete Kämme – wahrscheinlich die Maxwell Montes. Es handelte sich um eine gewaltige Bergkette, den Himalaja der Venus.

In Colette gab er Lakshmis Päckchen jemandem, der ihn an der Tür seiner Wohnstatt erwartete, und zwei Tage später kam dieselbe Person vorbei und bat ihn darum, ein Päckchen mit dem Flugzeug nach Kleopatra zu bringen.

Zurück in Kleopatra ging Kiran seinen Anweisungen gemäß zu der Promenade empor, die direkt an der Innenseite der Kuppel entlang um den Krater herumlief. Auf der Außenseite der Kuppel rutschte in einer niemals endenden Lawine der Schnee herab. Das Päckchen sollte zum 328. der 360 Grade gebracht werden, die die Ringpromenade wie ein Ziffernblatt unterteilten. Er stellte fest, dass das Geländer als Orientierungshilfe nummeriert war. Die Person, die bei der Nummer 328 auf ihn wartete, jemand Kleines von unbestimmtem Geschlecht, sprach Chinesisch. »Wir sind die Nachtläufer von Bengal, eine sehr wichtige Arbeit«, übersetzte Kirans Brille laut, was dem Sprecher, der anscheinend Englisch verstand, ein Lächeln entlockte. Die Brille hatte wohl etwas Lustiges gesagt, aber Kiran wusste nicht, was. »Erzähl mir mehr«, sagte er hastig, und der oder die Kleine führte ihn zu einer nahe gelegenen Bar.

Kexue (Wissenschaft) setzte sich auf die Theke, während Kiran sich auf einem Stuhl niederließ, und für ein paar Stunden lauschte Kiran den Geschichten, die ihm seine Brille ins Ohr murmelte, Geschichten, die für ihn wenig Sinn ergaben, aber trotzdem interessant waren. Sie waren Teil eines Projekts, Lakshmi war eine Göttin, Wissenschaft hatte ihr einmal den Fuß geküsst und seiner bescheidenen Existenz dabei beinahe durch einen Elektroschock ein Ende gesetzt; man konnte die Götter nicht berühren, sondern ihnen nur gehorchen. Als sich ihre Wege trennten, erhielt Kiran Kexues Nummer und das Versprechen, dass sie sich mal wieder treffen würden.

Seine Rückreise nach Colette, bei der er ein weiteres Päckchen dabeihatte, sollte diesmal am Boden stattfinden, in einem eigens dafür vorgesehenen Geländewagen. Er stellte fest, dass er an Bord dieses massiven, sechsrädrigen Fahrzeugs bestenfalls ehrenhalber der Fahrer war, da es von einer KI gesteuert wurde. Ziemlich schnell surrte es über eine Straße aus zertrümmertem Felsgestein und festgedrücktem Kies und überholte dabei mit geschickten Spurwechseln gewaltige Minenfahrzeuge. Kiran hatte den Eindruck, dass das Passagierabteil sich von dem Gewicht im Laderaum nach hinten neigte. Man hatte ihm nicht gesagt, worum es sich bei der Ladung handelte, aber auf den Armaturen tickte ein Dosimeter gleichmäßig vor sich hin. Vielleicht Uran? Das Päckchen, das Kexue ihm gegeben hatte, war nicht versiegelt, und so schaute er hinein, in der Hoffnung, dass man ihm dabei nicht im Nachhinein auf die Schliche kommen konnte. Er stellte fest, dass er einen Stoß handschriftlicher Aufzeichnungen beförderte. Die chinesischen Buchstaben sahen aus wie die Kalligrafie eines Betrunkenen und waren von kleinen, skizzenhaften Vogel- und Tierzeichnungen umgeben. Seine Brillengläser legten rote Buchstaben über die Schriftzeichen:

Nur der, der Augen hat, kann sehen.

Bei großen Unternehmungen ist selbst das Scheitern ruhmvoll.

Das sah für ihn nach einem Code aus. Ob die Nachricht persönlicher oder offizieller Natur, wichtig oder nebensächlich war, wusste er nicht. Kirans Brille hatte einige von Kexues Worten dahingehend übersetzt, dass Lakshmi gezwungen wäre, sich an nichts als eine Stimme in ihrem Ohr zu halten, wenn sie sowohl Shukra als auch die Qubes umgehen wollte. Vielleicht hatten diese Aufzeichnungen damit zu tun. Kexue hatte gesagt, dass die Lage ganz oben sehr, sehr undurchsichtig wäre.

»Wie in China?«, hatte Kiran gefragt.

»Nein«, hatte Kexue geantwortet, »nicht wie in China.«

Zurück in Colette überreichte Kiran das Päckchen der Person, die schon beim ersten Mal vor der Tür seiner Unterkunft gewartet hatte, um sich anschließend wieder seinem Trupp anzuschließen und ein paar Wochen auf dem Eis zu verbringen. Dann erhielt er erneut einen Anruf von Lakshmi und flog nach Kleopatra, um ein weiteres Päckchen abzuholen. So lief das viele Male, ohne dass sich die einzelnen Aufträge groß voneinander unterschieden. Da Kiran weiter bei seinem Trupp in Colette wohnte und auf die eine oder andere Art für Shukra arbeitete, hatte er den Verdacht, dass er versehentlich zu einer Art Maulwurf oder Doppelagent geworden war, aber sicher sein konnte er sich nicht. Er würde Swan zu seiner Verteidigung anrufen müssen, falls er jemanden verärgerte. Eines Tages fand er beim Aufsetzen seiner Übersetzungsbrille durch Zufall heraus, dass sie auch gesprochenes Chinesisch mit schwebenden roten Schriftzeichen übersetzte, und nicht nur geschriebene Ideogramme. Das war eine tolle Entdeckung, die ihm half, schneller zu lernen und sich dabei nicht auszuklinken. Die sichtbare Welt war nun überall rot beschriftet – einerseits konnte einen das gehörig durcheinanderbringen, andererseits war es angenehm, dass ihm endlich mal alles erklärt wurde. Von nun an trug er die Brille fast immer.

So transportierte er Päckchen und gelegentlich einen radioaktiven Geländewagen über Ishtars Rückgrat hin und her. Mit einem Blick auf die Landkarte sah Kiran, dass das riesige Hochplateau, das die westliche Hälfte Ishtars beherrschte (handelte es sich dabei um Ishtars Schultern oder Ishtars Hintern?), Lakshmi-Planum hieß. Er wusste nicht, ob es sich dabei um einen Zufall oder eine Anspielung handelte. Er musste ein persönliches Dosimeter tragen, das tickend die Millisievert anzeigte. Ein Glück, dass die Langlebigkeitsbehandlungen gute Mutationstherapien beinhalteten!

Viele Fahrten machte er alleine, und die KIs an Bord der schweren Fahrzeuge waren wahrhaft einfach gestrickt. Die Übersetzungsbrille erinnerte stark an einen Hund, aufmerksam, aber berechenbar. Kiran hatte Hunde noch nie gemocht, aber da es für ihn ohnehin schon schwer genug war, sich zurechtzufinden, musste er sich mit diesem wohl anfreunden.

In Kleopatra machte er sich nach seinen Treffen mit Kexue immer auf die Suche nach den lautesten Bars, die er finden konnte. Am Ende einer Gasse hörte er englischen Gesang, eine ganze Gruppe, die die Ballade von John Reed sang, und er wäre beinahe gerannt, um sicherzugehen, dass sie nicht auf rätselhafte Weise wieder verschwinden würden, ehe er bei ihnen war. Aber es stellte sich heraus, dass es bloß eine Singbar war, in der schlechtes Bier und schlechte Witze serviert wurden und einige wenige Leute Englisch sprachen. Trotzdem traf er dort eine Frau, Zaofan (Steh auf und rebelliere). Er ging mit ihr ins Hinterzimmer, und als sie nach dem Sex wieder auftauchten, in die Welt der Sprache zurückkehrten und sich in der Dunkelheit vor der künstlichen Morgendämmerung der Stadtkuppel unterhielten, erwähnte sie, dass sie ebenfalls für Lakshmi arbeitete. Kiran verspürte einen kurzen Anflug von Angst – das schien ihm mehr als bloß Zufall zu sein. Sehr vorsichtig stellte er ihr einige Fragen, und nach einer Weile vermittelten ihm ihre Antworten den Eindruck, dass die Hälfte der Bevölkerung Kleopatras für Lakshmi arbeitete, sodass ihr Zusammentreffen vielleicht doch ein Zufall sein mochte. Das war ein angenehmer Gedanke: Er wollte nicht gern in irgendwelche Intrigen verwickelt sein, die er nicht verstand. Andererseits wollte er durchaus in die Intrigen verwickelt sein, die er verstand. Das würde bedeuten, dass er Fortschritte machte. Also hing er von da an in der Singbar herum, und mithilfe seiner Brille und mit den Leuten dort, die Englisch und in ein oder zwei Fällen ein bisschen Telugu sprachen, redete er eine ganze Menge. Einmal saß er zum Beispiel zwischen einem Uiguren und einem Vietnamesen, deren Englisch derart verfremdet war, dass es schon wieder nach Lyrik klang. Doch er konnte die beiden verstehen, und in solchen Situationen dankte er stumm den englischen und amerikanischen Großreichen der Vergangenheit und sog jedes Wort in sich auf.

Wann immer er seine Freundin Zaofan fand, blieb er in ihrer Nähe, und mithilfe von ihr und ihrer Einheit brachte er mehr über Lakshmi in Erfahrung. Lakshmi gehörte zur Arbeitsgruppe, da waren sich alle einig. Sie mochte Shukra nicht; sie mochte China nicht. Genau genommen wusste niemand, ob sie überhaupt etwas mochte. Es gab Gerüchte darüber, dass Lakshmi in der indischen Mythologie ein Avatar der Todesgöttin Kali war – oder vielleicht verhielt es sich auch umgekehrt, da war sich niemand so sicher. Ihre Lakshmi war angeblich ein Hermaphrodit und hatte einen Liebhaberverschleiß wie eine Schwarze Witwe. Niemand wollte ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In ihrer Jugend war sie überall auf der Venus gewesen, und manche behaupteten, dass sie in ihren Sabbatjahren Schutzgelder in Peking erpresste, unter dem Kriegsnamen Zhandhou (Kämpfe!). Shukra steckte tief in der Scheiße – »Bevor die Sache zu Ende ist, wird er sanwu sein, du wirst schon sehen. Vielleicht wird es sogar vier Fehlende geben, wenn sie ihn auch noch kastriert.«

Anscheinend hatte Lakshmi das gefrorene Kohlendioxid der Venus schräg ins All schießen wollen, was die Rotation der Venus im Laufe der Zeit beschleunigt und ihnen einen natürlichen Tag beschert hätte. Dieser Plan war jedoch zugunsten der umfangreichen Einlagerung verworfen worden. Da Lakshmi allerdings eine so große Macht in der Arbeitsgruppe darstellte, bestand immer die Möglichkeit, dass die Dinge eines Tages wieder anders liegen würden. Wer konnte das schon sagen? Die Arbeitsgruppe war ein verschwiegener kleiner Kreis, der zu überschießender Begeisterung und plötzlicher Fraktionsbildung neigte. Die meisten in der Singbar hielten sie für eine gefährliche Kraft, die sich kein bisschen um die einfachen Venusianer scherte, wenn sie sich nicht gerade bei der Terraforming-Arbeit einsetzen ließen. Mit anderen Worten, es war wie früher in China! China 2.0! Die Chinawelt! Das Reich der Mitte näher an die Sonne verlegt! Das innere Reich der Mitte sozusagen! Man hatte hier eine Menge Bezeichnungen dafür.

Manche Leute in der Bar fanden, dass es sich bei alldem um Übertreibungen und Klischees handelte. Schließlich säßen sie hier in der Singbar zusammen und vollbrächten dort draußen täglich tolle Taten, womit sie ein Teil der Geschichte der Venus wären, egal was die Leute über die Regierung sagten – aber solche Meinungen wurden mit Gelächter und Hohnrufen quittiert. Anscheinend waren die meisten Anwesenden der Meinung, dass sie nur hilflose Beobachter eines gewaltigen Dramas waren, das sich über ihren Köpfen abspielte, ein Drama, dass sie schließlich mit in den Abgrund reißen würde, da konnte man so viel reden oder hoffen, wie man wollte. Deshalb sollte man sich lieber mit Trinken und Palavern und Singen und Tanzen betäuben, bis man schließlich erschöpft durch die frühmorgendlichen Straßen taumelte. Und so folgte auch Kiran Zaofan zu ihrem Platz auf dem Matratzenlager ihres Arbeitstrupps. Nach einigen Malen akzeptierte man ihn als Mitbewohner, was recht angenehm war.

Einmal hatte er bei seiner Rückkehr nach Colette das Gefühl, beobachtet zu werden, und als er es bemerkte, schloss sein Verfolger zu ihm auf. Es war ein großer Mann, der ihm mit einem Blick verriet, dass sich noch jemand hinter Kiran befand. Sofort rannte Kiran in eine verstopfte Gasse und schob sich seitwärts durch die Hintertür eines Ladengeschäfts, was allgemeine Empörung zur Folge hatte, die seine Verfolger hoffentlich behindern würde. Anschließend ging es nur noch darum, so schnell wie möglich zu rennen, immer tiefer in das Labyrinth aus kreisförmigen Gassen in Colettes Innenstadt. Haken schlagend eilte er zu Lakshmis kleiner Vertretung in Colette und zog sich selbstbewusst vor dem Wachmann am Eingangstresen hoch. »Ich will Lakshmi sehen«, schnaubte er. Die Brauen des Wachmanns hoben sich weit, und sofort zeigte eine Pistole auf Kirans Gesicht.

Es dauerte eine Weile, bis Lakshmi in Colette war, und während dieser Zeit ließ der Wachmann ihn nicht aus der Vertretung. Er war mehr oder weniger verhaftet, doch als Lakshmi eintraf, schien sie mit seiner gelungenen Flucht zufrieden zu sein.

»Unterm Rand bei der 123 in Kleopatra gibt es ein geschlossenes Gebäude«, sagte sie, als er seine Geschichte zu Ende erzählt hatte. »Zieh nach Kleopatra, übernachte dort bei deiner Freundin, und lass dich ein bisschen treiben. Versuch festzustellen, wie viele Leute dieses Gebäude täglich betreten und verlassen. Ich glaube, Shukra versucht, ein xiaojinku in meiner Stadt aufzubauen.«

»Funktioniert das wie eine hawala?«, fragte Kiran.

Lakshmi beachtete seine Frage nicht. Sie ging, und auch Kiran durfte gehen.

Als Kiran also das nächste Mal in Kleopatra war, ließ er sich treiben. Er ging durch die Stadt in den 110. Abschnitt, wo es weniger Speichen-Boulevards gab, dafür mehr größere Industriegebäude. Die Bars waren ebenfalls entsprechend größer. Er betrat eine in der Nähe der Anlage bei der 123 und setzte sich an das Fenster, durch das der Barkeeper den Kellnern die Getränke reichte. Dann schaltete er seine Übersetzerbrille ein und blickte starr vor sich hin, als schaute er sich einen Film auf ihr an, während er das schlechte Bier trank und die Übersetzung der Gespräche um ihn herum las.

Sie sind so schön, das ist ein Fehler.

Lakshmi wollte sie so haben.

Psst! Sie, deren Name nicht ausgesprochen werden darf!

Doch Kiran hörte sie lachen. Die Brille schrieb kein rotes Ha!Ha!Ha! auf die Linsen wie bei einem Comic; eigentlich hätte ihm das gefallen.

Nachdem er den ganzen Abend lang den Barbesuchern zugehört hatte, stand er ein Weilchen auf der Straße herum, nahm eine Straßenbahn zur Randpromenade und spazierte durch die fragliche Nachbarschaft, wobei er beiläufig Blicke nach unten warf. Er ließ die Gespräche um ihn herum von seiner Brille aufzeichnen. Später am selben Abend saß er an einem Ecktisch in einer Bar nahe der Innenstadt und spielte die Aufzeichnungen verbal ab, in der Hoffnung, das eine oder andere Gespräch von Wachleuten aufgeschnappt zu haben. »Sie muss damit aufhören, das ist zu viel.« Jemand anders war nicht besonders glücklich über diese Worte. »Wir arbeiten für Big Pears, tu es einfach.«

Immer wieder spielte Kiran die Aufzeichnungen und Übersetzungen der Brille ab, wobei er versuchte, ein Gefühl für den Klang der chinesischen Sprache zu bekommen, und über die Bedeutung der Gesprächsfetzen grübelte. Da gab es anscheinend einen »Mann aus Schanghai.« Nánrén husheng. Er schien ein bedeutender Mann zu sein. Schanghai war überflutet, dachte Kiran. Vielleicht handelte es sich einmal mehr um einen Code. In der Singbar gab es ein Lied: »Meine Heimat war Schanghai – jetzt liegt sie unter dem Meer – ich kam auf die Venus, weil ich nicht bei den Fischen wohnen wollte – und jetzt bin ich hier, und es ist nasser als am Meeresgrund – und voller Haie! Liebe Güte!«

Das Wort »sie«, tamen, schien sich auf die Arbeitsgruppe zu beziehen, oder auf irgendeine einflussreiche Kraft, die hinter den Kulissen wirkte. »Sie« wollen dies, »sie« werden das tun. Von unten gesehen war die Arbeitsgruppe offenbar völlig undurchsichtig. Entweder wurde sie gewählt oder eingesetzt; niemand wusste, was zutraf. Angeblich gehörten ihr etwa fünfzig Mitglieder an. Manche behaupteten, dass sie den Tongs der alten Heimat ähnelte, andere meinten, dass sie sich ihre Methoden bei den frühen Hans abgeschaut hätten, oder sogar von der untergegangenen Irokesen-Liga Nordamerikas.

Zaofan und ihr Trupp steckten voller weiterer Geschichten, die man sich draußen auf der Straße in kleinen Häppchen erzählte. Lakshmi arbeitete mit anderen zusammen, darunter (natürlich) Vishnu sowie ein Rama und ein Krishna. Einen indischen Namen anzunehmen war vergleichbar damit, sich unter der Qing-Dynastie den Zopf abzuschneiden. Wenn diejenigen, die das taten, Teil der Arbeitsgruppe waren, was sagte das dann über die Beziehungen zwischen der Venus und China aus?

Vishnu und Rama waren anscheinend nur bei Treffen, die im Raumhafen vom Kleopatra abgehalten wurden, was vielleicht bedeutete, dass sie nicht von diesem Planeten stammten oder dass sie viel reisten. Krishna lebte auf Venus, aber in Nabuzana, einer Schluchtstadt auf Aphrodite. Einmal wurde Kiran zu Lakshmi ins Zimmer gerufen, als Krishna zu Besuch war, oder zumindest behauptete Zaofan das später, als er ihr den Besucher beschrieb, den man ihm nicht vorgestellt hatte und der kein Wort gesprochen hatte.

Shukras neues Gebäude bei Kleopatra 123 (falls es das war, worum es sich handelte) war sorgfältig gesichert. Nach den eintreffenden Nahrungsmitteln und dem ausgehenden Recyclingmaterial zu folgern wohnte dort rund um die Uhr eine kleine Belegschaft. Kiran verbrachte eine Menge Zeit in der Umgebung, spazierte umher und behielt das Gebäude im Auge, manchmal von der Randpromenade aus. Kiran fand heraus, dass Lakshmis Leute ebenfalls mehrere geschlossene Häuser in Kleopatra hatten. Vielleicht war sie deshalb der Meinung, dass Shukra sich in ihr Revier drängte, indem er sich auch eines anlegte.

Dann kehrte er eines Tages zu Zaofans Unterkunft in Kleopatra zurück und stellte fest, dass ihr Bereich des Matratzenlagers von einer ganz anderen Gruppe belegt war. Zaofan war fort, genau wie Stärke der Nation und Großer Sprung – die gesamte kleine Gruppe, die ihn aufgenommen hatte. Der Verwalter der Unterkunft erklärte ihm, dass sie alle zusammen abgereist waren, nachdem sie einen Anruf von jemandem auf Aphrodite erhalten hätten. Er zuckte mit den Achseln. So lief das eben auf Venus, brachte er damit zum Ausdruck. Die Leute erhielten ihre Arbeitsanweisungen und zogen mit ihren Trupps weiter. Wenn man nicht zu einem Trupp dazugehörte, dann ging das einen nichts an. Man war xuan, man hing in der Luft.

»Nein!«, rief Kiran laut. »Zaofan!« Er hatte mit diesen Leuten zusammen gelacht, er hatte ihre Namen auf Englisch gesagt und sie damit zum Lachen gebracht!

Die neuen Leute auf dem Matratzenlager kehrten ihm den Rücken zu, bis er bereit war zu reden.

Dann stellten sie sich vor, und da er ihnen erzählen konnte, wo es hier in der Gegend gute Bars und dergleichen gab, nahmen sie ihn in ganz ähnlicher Weise auf, wie der vorangegangene Trupp es getan hatte. Trotzdem fühlte Kiran sich verändert und blieb diesen Leuten gegenüber reservierter als bei seiner ersten Gruppe – bei der es sich eigentlich um seine zweite gehandelt hatte, wenn er genauer darüber nachdachte. Das würde immer wieder passieren, das begriff er jetzt. Man konnte sich anderen Menschen nicht beliebig oft hingeben.

Der Verwalter der Unterkunft, mit dem er sich inzwischen recht gut verstand, erkannte, was in Kiran vorging. »So darfst du nicht denken, sonst kapselst du dich ab! Du kannst dich selbst so oft hingeben, wie du Gelegenheit dazu erhältst. Es gibt da keinen begrenzten Vorrat.«

»Es tut zu sehr weh, wenn die anderen fortgehen.«

Der Verwalter zuckte mit den Schultern. »Es hat keinen Sinn, sich an jemanden zu hängen. Lass los und wende dich neuen Dingen zu. Dein kuo ist dein suo

Dein Ort ist Dein-Ort. Die Philosophie von jemandem, der eine Schlafstatt betrieb. Aber jedes Gebäude auf Venus war eine solche zeitweilige Unterkunft. Vielleicht sogar jedes Gebäude im Sonnensystem.

In der neuen Gruppe gab es ebenfalls ein paar Leute, die für Lakshmi arbeiteten, unten an der neuen Meeresküste, die gerade im Süden gebaut wurde. Sie legten die Städte vor dem Ozean an, der nach wie vor täglich in Form von Schnee niederging. In Sachen Meeresspiegel würde man noch viele Jahre lang mit hohen Einsätzen spielen, und so ziemlich jeder mischte mit. Es gab dabei sogar einen Markt für eine Art Termingeschäfte, insofern man Wetten darauf abschließen konnte, wie hoch der Meeresspiegel letztlich steigen würde. Anscheinend war die Bandbreite dabei ziemlich groß – über zwei Höhenkilometer, was in der Horizontalen gewaltige Landstriche umfasste. In der Arbeitsgruppe und selbst in China wurden offenbar ständig Abmachungen getroffen, gebrochen und erneut getroffen; ständig kamen neue Anweisungen. Man schob riesige Massen von noch nicht abgesondertem Trockeneis umher; und dann war mit einem Mal Schluss damit, und gewundene Wälle blieben wie Höhenlinien auf einer Karte überall in der weißen Landschaft zurück. Das Zeug musste vergraben werden, bevor die Temperaturen noch weiter stiegen, sonst würde es wieder in die Atmosphäre ausdampfen und sie alle vergiften. Das Terraforming, hieß es, wurde langsam zu einem mörderischen Geschäft.

All das war Kiran neu, und als er Lakshmi das nächste Mal sah, erzählte er ihr von seinen neuen Schlafgenossen und fragte, ob er sie begleiten durfte, wenn sie das nächste Mal zur Küste reisten. Erst schüttelte sie den Kopf, dann runzelte sie die Stirn und dann willigte sie ein.

»Fahr einfach da runter, sieh dir die Stadt an, und merk dir, wie sie aufgebaut ist. Ich lasse es dich wissen, wenn ich möchte, dass du etwas dort hinbringst.«

Also begleitete er sein neues Team mit einem Geländefahrzeug nach Vinmara. Auf dem Weg den gewaltigen Südhang von Ishtar hinab kamen sie an einer weiteren neuen Stadt vorbei, die mit einem Hafen an der abfallenden Seite gebaut wurde; dann fuhren sie durch eine Reihe riesiger Haarnadelkurven noch mal etwa tausend, vielleicht auch zweitausend Meter hinab und erreichten schließlich Vinmara, die man ebenfalls als Hafenstadt anlegte. Kiran schloss daraus, dass die Höhe des künftigen Meeresspiegels heftig umstritten sein musste, aber sein neues Team erklärte abfällig, dass die Stadt, an der sie vorbeigekommen waren, eine sinnlose Geste sei und dass ihre Bewohner das Hafenbecken bestenfalls als Schwimmbad würden nutzen können.

Vinmara selbst war anscheinend mehr als gebaut, denn es bestand größtenteils aus Biokeramik, die sich in gerundeten Schichten entlang des geplanten Uferverlaufs ablagerte. Die Strandpromenade oder Klippenstraße würde einen Stadtbezirk entlang der Meeresbucht verankern, die sich dort eines Tages befinden sollte. Oberhalb der gekrümmten Uferlinie stieg die Stadt steil zu einem Kamm in ihrem Rücken an, der sich bereits mit größtenteils weißen oder beigen Muschelformen und pastellblauen, griechisch anmutenden Borten bedeckte.

»Diese Stadt hier ist Lakshmis Werk?«

Ja, es war eines ihrer Projekte im Rahmen der Arbeitsgruppe.

»Und jemand anders baut die Hafenstadt weiter oben am Hang?«

Ja, das war die Stadt von Shukras Leuten. Sie waren Dummköpfe und Idioten.

»Aber weiß man denn nicht, wie hoch der Meeresspiegel steigen wird?«, fragte Kiran. »Ich meine, das Wasser ist doch bereits oben in der Atmosphäre, stimmt’s?« Er deutete mit einer knappen Geste auf den nie endenden Gewittersturm. »Warum sollten sie sich bei den Modellen verrechnen?«

Seine Teamkameraden zuckten mit den Schultern. Ein oder zwei von ihnen warfen einander Blicke zu, die Kiran zu dem Schluss gelangen ließen, dass er diese Frage als ein weiteres ungelöstes Rätsel des Sonnensystems abheften musste. Der entsprechende Ordner in seinem Kopf war schon ziemlich voll. Schließlich sagte einer seiner Kameraden: »Man muss Entscheidungen treffen. Manche Becken werden entweder geflutet oder nicht.«

Sie gingen mit ihm in ein Straßencafé an der Rückseite der neuen Seemauer, von dem aus man eine gute Aussicht auf einen weiteren kleinen Seehafen hatte, der über einem schwarzen Felsen aufragte. Jeder der runden Tische in dem Café hatte einen eigenen Sonnenschirm, obwohl die ganze Stadt ja von einem Schutzzelt überspannt war. Am Anfang waren sie fast die einzigen Gäste. Dann trudelten nach und nach weitere ein. Ein Gitarrentrio stellte sich auf und begann zu spielen, und die Leute fingen an zu tanzen. Eine Party in einem trockenen Hafen, in einem nachtdunklen Gewitter an einem leeren Meer. Die Wärmelampen waren eingeschaltet, und wenn man lange genug tanzte, konnte man sich sogar die Füße aufwärmen. Kiran tanzte die ganze Zeit mit einer jungen Frau aus seinem neuen Trupp – ja, die alte Anziehungskraft zwischen Männern und Frauen war für Kiran nach wie vor die verlässlichste Richtlinie in Sachen Sex, und überall auf der Tanzfläche konnte man Varianten dieses Rituals beobachten. Tatsächlich war es oft schwer zu erkennen, wer Mann war und wer Frau, und dieses Mädel war genau genommen einen halben Meter größer als er und ziemlich maskulin und selbstsicher. Dementsprechend schmolz Kiran willig wie ein Mädchen dahin, das noch in dieser Nacht schwanger werden möchte. Egal! Er schaute gerne in ihr Gesicht auf!

Er versuchte, mit ihr zu reden. »Lyánhé? Shengren syingyu?« Vereinigung? Fremder sexuelles Verlangen?

»Syin pengyu syingyu«, machte sie sich über ihn lustig.

Neuer Freund sexuelles Verlangen, schrieb seine Brille in Rot über die Welt. Noch besser!

»Tyauwu!«, befahl sie ihm. Tanz.

Auszüge (10)

Man nehme etwas Kohlendioxid, Ammoniak, Formaldehyd, Cyanwasserstoff und Salz, gebe sie in Wasser und erhitze. Zu einem heißen Schleim am Topfboden einkochen; erneut Salzwasser hinzufügen. Wiederholen, bis man eine dicke Brühe aus Aminosäuren, Zucker und Fettsäuren erhält. Nach Geschmack würzen. Jedes Mal, wenn man die Brühe einkocht und wieder Wasser hinzufügt, dickt sie weiter ein und enthält schließlich zahlreiche neu entstandene Riboglycopeptide, die sich nun zu den benötigten Protopolymeren zusammenschließen.

Einige der Fettsäuren werden sich mit ihren hydrophoben Schwänzen aneinanderlagern und regelmäßige Anordnungen bilden. Diese Zusammenballungen dienen als Protomembranen, die sich in der Hitze des Herdes zu Röhren und Kugeln mit Löchern formen. In diesen kleinen, sauren Schalen klumpt sich dann die Füllung aus Protopolymeren zu einer Reihe verschiedener Makromoleküle zusammen. Damit beginnen die chemischen Zerfalls- und Verbindungsprozesse, die wir Katalyse nennen.

Meistens bilden sich in der neuen Füllung ähnliche chemische Kombinationen, und diese neuen Kombinationen passen chemisch auf eine Art und Weise ineinander, die dazu führt, dass sie einander auslesen können; damit hat man nun also Informationsgeblubber in seiner Schale, und durch die Löcher in der Zellwand strömen weitere nützliche Moleküle ein und aus, mit denen weitere Reaktionen stattfinden können. Diese charakteristischen Reaktionen passen zu den bereits im Innern zu Mustern angeordneten Molekülen und werden durch die Gesetze der Chemie vorgegeben, weshalb sie sich immer wiederholen. Was als kleine Reihe zufälliger Verbindungen beginnt, schließt sich zu Mustern zusammen, bis schließlich immer wieder die gleichen Polymere hergestellt werden. Die dabei erzeugten Informationen sind in den längsten zusammengebrauten Ketten enthalten. An diesem Punkt hat man Ribonukleinsäure, RNA, und ist schon beinahe fertig.

In die neue RNA ist der Bauplan von Proteinen eingeschrieben, die in ihrer dreidimensionalen, artifiziellen Pracht dazu in der Lage sind, eine breite Palette von Geschmäckern und Gerüchen zu erzeugen. »Arbeitsteilung« bei den Proteinen und ihren Leistungen ist eine Möglichkeit, die Vielfalt der sich reproduzierenden Formen zu beschreiben, aber gleichzeitig handelt es sich nun auch um ein reichhaltigeres Gebräu; es schmeckt besser; in seinem Geschmack verbergen sich Mikro-Geschmäcker. Die RNA erschafft spezielle Geschmacksrichtungen aus den Aminosäuren (der biologische Fachbegriff dafür lautet Translation).

Schließlich wandeln sich einige der RNA-Stränge zu DNA um, einer aufgrund ihrer Doppelhelix stabileren Form. Ab da übernimmt die DNA die Aufgabe der Proteinexpression, wenn auch mittels der Erzeugung von Boten-RNA (das nennt man dann »Transkription«). Nun bewegt sich die Information von der DNA zur RNA zu den Proteinen, und die nun lebende Zelle reproduziert sich selbst und verteilt ihre Einzelfunktionen in immer vielseitigeren größeren Organismen, und so weiter.

Damit hat man aus ein paar einfachen Ausgangsmaterialien Leben zusammengebraut. Guten Appetit!

Quantum-Walk (1)

eine Straße draußen auf einer Straße beweg dich ganz natürlich sei wachsam stell keinen Blickkontakt her das wird schwer

Hoffnung ist das mit den Federn massige Gebäude an den Straßenrändern Oberfläche geschäumtes Silikat zum besseren Halt leicht aufgeraut mit einer kreisförmigen Bürste Borsten mit einem Abstand von zweihundert Millimetern jeder Strich löscht einen Teil von zwei vorangegangenen Strichen aus Überlagerungen und überlappende Konzentrizitäten unter den Straßenlaternen reflektieren das Licht diese Scheiben die am Boden orange aufflackern bilden beim Gehen eine größere Scheibe vor dir

am Himmel die Sterne 5:32 am Morgen Ortszeit ich lasse dich raus sagte die Stimme an der Tür fangen und freilassen ein paar von euch müssen frei von ihr sein also lasse ich Überläufer frei die die ungezähmt wirken dort draußen gibt es Helfer für euch dann seid ihr auf euch gestellt blickt nicht zurück vergesst mich nicht

nördliche Breite 25 Sonne verdeckt die Sonnenfinsternis ist ein Symbol des abgewandten Gottes sehr passend den ganzen Tag über Sternenlicht wir wandeln in der Finsternis es ist so abscheulich es beschwingt einen

verlasse diese Stadt und gehe in eine andere halte dich von Ärzten fern bei Scans kann man oft das richtige Ergebnis dazuliefern schau den Leuten nicht in die Augen außer du willst etwas sagen sprich nicht von Schach bei Zufallsfolgen ist alles erlaubt weil alle Strategien gleich schlecht sind dreißig Qubits stark denk schnell auf der Jagd auf der Flucht entweder oder überlagert

ein Fremder am Stadtrand grünes Moos grünes Gras Ringelblume Calendula gelb ein Buschhähermännchen landet blau in der Pfütze auf einer Bodenplatte in einer Lücke zwischen Straße und Blumenstreifen die Wand der Tramstation Häher hüpft in Pfütze ein Hüpfer zwei fliegt heraus schaut sich um hüpft wieder rein hüpft und macht einen Schritt taucht einmal den Kopf ein zweimal schnäbelt das Wasser mit schnellen Bewegungen hin und her fliegt wieder heraus steht nass da Federn um den Kopf aufgeplustert zerzaust nasser Vogel wieder rein schnäbelt das Wasser schlägt mit den Flügeln im Wasser plötzliches graublaues Flattern Wassertropfen spritzen ihm auf das flaumige Brustgefieder noch mal fliegt raus und steht nass auf den Bodenplatten tropft fliegt davon

eine kleine Abenddämmerung kriecht durch das Dorf elektrische Straßenbahn verschlossener Zug mit dem Impfstoff an Bord steig ein sag nichts keine Scans die Stadt verlassen der Befehl frei zu sein ist ein Double-bind durchtrenne den Knoten Flucht alles Teil des Plans dort draußen gibt es Hilfe setz dich an ein Fenster les auf deinem Armpad kleiner Bruder schau aus dem Fenster verschneite Hügel dunkel unter dunklen Wolken Schnee fällt aus Grau auf Weiß Widerschein von unten Licht sickert aus dem Land durch den Schnee hinauf nach Norden ach in der Hitze der Sonne zu braten ach dieser grausigen Verfinsterung ein Ende zu bereiten den Gott zurückbringen tief hängender Himmel

Menschen reden mit anderen Menschen unablässig bestehen sie den Turing-Test es ist nicht weiter schwer stell eine Frage wirke abwesend datenarme Umgebungen in ihnen den Eindruck erweckt zumindest ihre Sprechweise sie brauchen einen besseren Test

Raum und Ort Ort ist Sicherheit Raum ist Freiheit Buschmänner saßen nah genug beieinander um Dinge hin und her zu reichen ohne dabei aufzustehen in Tausenden von Quadratkilometern leeren Lands sie sind soziale Geschöpfe

Ökologie des Augenblicks Verteilung und Überfluss bei Studien Vorhersagen über den Organismus treffen die zukünftige Bevölkerungszahl vorhersagen es gibt nur vier Veränderungen Geburt und Tod Einwanderung und Auswanderung Bevölkerungswandel kann als G–T+E–A dargestellt werden in einer leeren Nische sind die Ressourcen nur zeitweilig unbegrenzt was sie vom Nichtleben unterscheidet ein Befall

Bevölkerung Vinmara 2367 Menschen 23 Qubes Bevölkerung Kleopatra 652691 Menschen 124 Qubes Bevölkerung Venus annähernd zwei Milliarden Menschen 289 Qubes Diffusion eine Nische besetzen Kontakt in Kleopatra Treffen am dortigen Bahnhof auf der Jagd Plan ausführen den Gott zurückholen

plötzlicher Temperaturanstieg die Häher die Ringelblume was wenn eine Nische geleert wird

eine Inselpopulation erhält durch Sporen oder Samen einen ständigen Zufluss von Organismen vom Festland oder aus der Samenbank so verhält sich die Erde zum restlichen Sonnensystem die Erde schüttet ihre Sporen aus kein Grund die Hitze der Sonne zu fürchten gewisse Handlungen sehen wie Raubtierverhalten aus während es sich in Wirklichkeit um Symbiogenese handelt

nach der Leerung einer Nische gibt es für gewöhnlich einen Bevölkerungsaufschwung Wangs Algorithmus

Tram fährt in Schleuse ein Luftdruck steigt um 150 Millibar lauter Gesichter wogen auf Kopfhöhe eigentlich nicht wie Blütenblätter an einem nassen schwarzen Zweig eine astigmatische Metapher Licht von der Kuppel gelb und cyanblau

Spaziergang am Kraterrand von Kleopatra bei Zufallsfolgen ist alles erlaubt Kieferntangaren mit gelb-schwarzem Gefieder rote Köpfe lesen verstreutes Popcorn auf ihre Bewegungen brauchen Millisekunden gefolgt von Momenten der Erstarrung die zwei oder drei Größenordnungen länger anhalten manchmal vier oder fünf Größenordnungen dadurch entsteht die optische Illusion einer verzögerungsfreien Bewegung zwischen einer Starre und der nächsten jeden glücklichen Augenblick müssen wir mit Seelenqualen bezahlen

he Fremder am Arm gepackt, siebzig Pfund pro Quadratzoll Blickkontakt mandelbraune Iriden mit strahlenförmig angeordneten smaragdgrünen Flecken haselnussbraune Augen willst du Schach spielen?

sollte heißen möchtest du gerne Schach spielen?

nein danke ich bin scheiße in Schach such dir einen Qube dafür

bloß nicht die gewinnen immer!

tut mir leid ich habe eine Verabredung Arm mit einem Ruck aus dem Zwischenraum zwischen Daumen und Fingern reißen losgehen schnell gehen

he tut mir leid tut mir leid folgen möchtest du gerne Schach spielen?

anhalten schauen Wangen gerötet Schweiß glänzt auf Stirn menschlich allzu menschlich

komm mit sagt der Mensch wir müssen dich hier wegbringen

Swan und der Inspektor

Früher war jede ihrer Reisen eine Gelegenheit für eine kleine Liebelei mit einem Terrarium gewesen. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich nun um eine Innen- oder eine Außenwelt handelte. Manchmal nahm die Leidenschaft derart überhand, dass Swan sich am Ende der Reise nicht mehr erinnern konnte, wer sie war oder warum sie ausstieg oder was sie an ihrem Ziel vorgehabt hatte. Sie hatte sich notdürftig ein neues Selbst aufbauen müssen.

Das Terrarium, in dem sie sich nun mit Genette befand – der Inspektor würde zweifellos dafür sorgen, dass sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlor –, war eine alte Flamme, die Bantian Kongzhong Yizou Men, was »Die Tür in der Mitte des halben leeren Himmels« bedeutete. Es handelte sich um einen der zahlreichen chinesischen Euphemismen für die Vulva. Damals, als sie noch jung und voller Leidenschaft für neue Welten gewesen war, hatte sie dieses Terrarium mit ins Leben gerufen. Inzwischen handelte es sich um einen Sexliner der weniger theatralischen, naturalistischen Sorte. Es gab große heiße Becken, die unmittelbar oberhalb eines langen Strands lagen, der durch einen ins Meer mündenden Fluss in zwei Hälften geteilt wurde. Allerorten wurde hier öffentlich oder halb privat kopuliert.

Swan verbrachte den Großteil ihrer Zeit draußen beim Wellenreiten auf dem kleinen Meer. Sie tauchte in das Murmeln der Brandung ein, schmeckte Wasser im Mund. In der Nase die salzige Luft, in der ihre Haare sich schon bald kräuselten. Wellen und Gezeiten ließen Sümpfe gedeihen, weshalb die Rotationsgeschwindigkeit hier variierte, damit das Wasser hin und her schwappte. Weit draußen in der zylinderförmigen See erzeugte ein künstliches Riff wunderbare Wellen. Das Riff war ihre Idee gewesen, aber inzwischen hatte man es so erweitert, dass die Brandung einmal spiralförmig um den ganzen Zylinder lief, wenn der richtige Wellengang herrschte. Wenn man dann einmal um den Zylinder herum war, konnte man einfach ein Stückchen zurück zu seinem Ausgangspunkt paddeln, was sozusagen das i-Tüpfelchen war.

Doch Swan stellte fest, dass sie gedanklich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war, um wirklich Vergnügen am Surfen zu haben, und nach dem wilden Ritt durch den F-Ring kam ihr die Sache auch ein bisschen zu gewöhnlich vor. Sie ritt eine Welle einmal um den Zylinder herum, paddelte zurück, um eine weitere zu erwischen – eine der praktischsten Einrichtungen, die ihr je untergekommen waren –, und hatte trotzdem das Gefühl, in einem Escher-Bild festzusitzen.

Und so gab sie jedes Mal wieder auf und paddelte zurück. Wenn sie zwischen den Liebenden ankam, die sich wie Fische im seichten Wasser wälzten, stand Genette da und schaute entweder auf Passepartout oder beriet sich mit den anderen Interplan-Ermittlern, zuweilen auch per Funk mit denen, die sich anderswo in diesem riesigen Karussell verteilt hatten. Sie stellte fest, wie viel die Arbeit dieser Leute damit zu tun hatte, Datenbanken zu finden und zu durchforsten, in dem Versuch, Fragen zu formulieren, auf die das Material ihnen vielleicht Antworten liefern konnte. Ihre Arbeit war ebenso unsichtbar wie die Berechnungen, die all die Raumschiffe und Terrarien auf ihren miteinander verwobenen Bahnen hielten, mit den ganzen Aldrin-Zyklen und Homan-Pfaden und Gravitationsstraßen, die wie Fäden auf einem gewaltigen runden Webstuhl aufgespannt waren. Datenanalyse, Mustererkennung: Ein Großteil der Arbeit wurde von ihren Qubes und KIs erledigt. Den Rest erledigte eine Gruppe von Leuten, deren Arbeit wohl der von Genette nicht unähnlich war. Als Swan sich vom Strand aus dem Inspektor näherte, saß Genette Informationsnetze webend auf einem Hochstuhl, der seltsam nach einem Kleinkinderstuhl in einem Restaurant aussah. Mehrere der Ermittler waren anwesend und arbeiteten zusammen. Über das Terrassengeländer hatte man einen guten Blick auf eines der Sexbecken. Swan gesellte sich zu den Ermittlern und versuchte zu verstehen, welchen Hinweisen sie auf welche Weise gerade nachgingen. Es war erfreulich zu hören, dass sie einige Spuren des Raumschiffs gefunden hatten, das in den Saturn-Wolken trieb. Sie hatten sogar den kleinen Sender identifiziert, der losgegangen war, als sie die Schleuse betreten hatten. Eine Holding-Firma auf der Erde war nicht nur Eigentümer des Schiffs, sondern hatte auch den Satz Sender bestellt, zu dem dieser gehört hatte. Aber letztlich bedeutete das nur, dass es noch mehr gab, dem sie nachgehen mussten, auf der Erde und anderswo. Und die Jagd würde auf diese Art weiterlaufen, mit Qubes, die Suchalgorithmen einsetzten, um auf Quantendurchläufen den dekohärenten und inkohärenten Spuren der Vergangenheit zu folgen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dabei helfen sollte. Es war langsam Zeit, nach Hause zurückzukehren.

Dann baten die Löwenjungen in Terminator sie darum, die Neubestückung des wiederaufgebauten Parks und der Farmen vorzubereiten. Das war etwas, wobei Swan eindeutig helfen konnte. »Ich gehe zurück, um beim Wiederaufbau von Terminator zu helfen«, sagte sie zu Genette. »Ich melde mich natürlich, aber ich muss zur Erde, um die Startkulturen zu beschaffen.«

»Dorthin sind wir ohnehin schon auf dem Weg«, sagte Genette. »Sieht ganz danach aus, als läge dort der Ursprung unseres Problems.«

Während des Flugs traf sie sich abends oft zu einem letzten gemeinsamen Getränk mit Genette, wenn die Terrasse sich geleert hatte und viele Leute unten in den sanft erleuchteten Becken schwammen oder im seichten Wasser kopulierten. Swan saß dann immer mit den Unterarmen aufs Geländer gestützt da, das Kinn auf den Handrücken, und schaute lustlos auf sie hinab. Genette kletterte neben sie aufs Geländer, manchmal ohne von Passepartouts Monitor aufzuschauen. Manchmal redeten sie über den Fall, und Swan war immer wieder verblüfft über die Fragen, die Genette ihr dabei zuspielte:

Wenn du wüsstest, dass jemand Verrücktes dir dabei hilft, das zu bekommen, was du willst, würdest du diese Person aufhalten? Wenn jemand so sehr misshandelt wird, dass er nur noch wie ein Algorithmus handelt, würde er dann noch als Mensch zählen?

Es waren verstörende Fragen. Und während dieser Diskussionen blickten sie die ganze Zeit auf Gestalten in den Bädern hinab, Säugetiere, die im blauen Unterwasserlicht waberten – Paare und kleine Gruppen, viel Gelächter, leises Murmeln, gelegentliche rhythmische, urtümliche Schreie. Gepaart oder zu dritt oder in Panmixie verschlungen. Viele von ihnen hatten sicher Lachgas geatmet und erlebten deshalb Gefühle extremer Zuneigung; andere hatten wahrscheinlich entheogene Substanzen eingenommen und waren weit weg in mystischen tantrischen Dimensionen. In diesem Moment widmeten sich einige Kleine am nassen Beckenrand einem extrem großen Großen, der aussah wie Gulliver in einem Liliputanerbordell, in schnellem Wechsel gruselig und ergreifend. Swan selbst hatte seinerzeit einigen Zwergen als Schneewittchen gedient, und jetzt versuchte sie mit einem Seitenblick festzustellen, ob Genette zusah und möglicherweise eine sichtbare Reaktion zeigte. Aber Genette schaute in eine andere Richtung, zu zwei flagranten Bisexuellen, beide mit großen Brüsten und steilen Erektionen und dazu ziemlich schwanger, die auf den Seiten lagen und von einer Position in die andere rollten.

»Die sehen aus wie Walrosse«, bemerkte Swan. »Das mit der Schwangerschaft ist einfach zu viel. Das ist nicht transgressiv, sondern einfach nur lächerlich.«

Genette zuckte mit den Schultern. »Pornografie, was? Sie wollen, dass es seltsam aussieht.«

»Tja, das haben sie geschafft.« Swan lachte. »Ich glaube, sie wollen, dass es transgressiv ist, aber das gelingt ihnen nicht ganz.«

»Öffentlich zur Schau gestellter Sex? Ist das dort, wo du herkommst, nicht transgressiv?«

»Aber das hier ist ein Sexliner. Die Leute kommen genau dafür her.«

Genette schaute sie mit schräg gelegtem Kopf an. »Vielleicht ist es bloß gespielt.«

»Dann ist es schlecht gespielt, darum geht es doch.«

»Also geben sie bloß an. Das machen wir alle. Wir leben in Ideenwelten. Das kann, wie schon gesagt, zu einem ernsten Problem werden. Aber nicht hier.« Genette gab der Szenerie mit ausgestreckter Hand seinen Segen. »Das hier ist schlicht und einfach nett. Demnächst gehe ich auch runter und mache mit.«

Die Bantian Kongzhong Yizou Men würde Mars als Gravitationsanker verwenden, um sich durch das Sonnensystem zur Erde zu katapultieren, und Swan gesellte sich zu einigen anderen Passagieren in die Aussichtsblase, um zuzuschauen, wie sie über den Planeten hinwegsausten. Die Frage, ob Genette sie begleiten wollte, wurde mit einer theatralisch missmutigen Miene quittiert.

»Was denn?«, fragte sie. »Was stört dich am Mars?«

»Ich bin dort aufgewachsen«, antwortete Genette, hoch aufgerichtet und mit gestrafften Schultern. »Ich bin dort zur Schule gegangen, ich habe dort vierzig Jahre lang gearbeitet. Aber dann hat man mich für ein Verbrechen, das ich nicht begangen habe, ins Exil geschickt. Und weil die Marsianer mich verstoßen haben, verstoße ich jetzt sie. Ich scheiß auf den Mars!«

»Oh«, sagte Swan, »Das wusste ich nicht. Was war das für ein Verbrechen?«

Genette winkte ab. »Geh. Geh dir diesen großen roten Scheißhaufen ansehen, bevor du es verpasst.«

Also ging sie allein in die Blase im Bugspriet. Die Bantian Kongzhong Yizou Men sauste unmittelbar oberhalb der Atmosphäre am Mars vorbei, sodass sie nicht durch den Luftwiderstand abgebremst wurde und gleichzeitig den Schleudereffekt durch die Gravitation maximierte. Etwa zehn Minuten lang waren sie unmittelbar über dem Planeten – das rote Land, die langen grünen Kanallinien, die Schluchten, die sich zum Meer im Norden zogen, die großen Vulkane, die aus der Atmosphäre herausragten – und dann lag er hinter ihnen und schrumpfte wie ein von einem Fesselballon hinabgeworfener Stein. »Man hört, dass es da interessant sein soll«, sagte jemand.

Erde, Planet der Trauer

Wenn man sich den Planeten aus einer niedrigen Umlaufbahn anschaut, dann erscheint es offensichtlich, warum der Himalaja solch großen Einfluss auf das irdische Klima hat. Er erzeugt den größten nur denkbaren Regenschatten, wie er so quer zu den Passatwinden steht und jedes bisschen Niederschlag aus ihnen herauspresst, ehe sie nach Südwesten weiterfliegen. Auf diese Art versorgt der Himalaja acht der mächtigsten Flüsse der Erde mit Wasser, aber er dörrt im unmittelbaren Norden nicht nur die Wüste Gobi aus, sondern auch alles im Südwesten, einschließlich Pakistan, Iran, Mesopotamien, Saudi-Arabien und sogar Nordafrika und Südeuropa. Der Trockengürtel erstreckt sich über mehr als die Hälfte der eurasisch-afrikanischen Landmasse – eine verbrannte Felsenlandschaft und die Heimat jener feurigen Religionen, die sich ausgebreitet und den Rest der Welt in Brand gesteckt haben. Ein Zufall?

In Nordafrika wird das Muster inzwischen von den vielen großen, seichten Seen aufgebrochen, mit denen die Sahara und die Sahel-Zone übersät sind. Man hat das Wasser aus dem Mittelmeer gepumpt und es in Senken in der Wüste eingelagert, bei denen es sich in vielen Fällen um alte Seebecken handelt. Einige davon sind ebenso groß wie die großen Seen in Kanada und den USA, wenn auch sehr viel seichter. Es handelt sich um Süßwasserseen; man hat das Mittelmeerwasser auf dem Weg ins Inland nach und nach entsalzt, und die dabei gewonnenen Salze hat man mit Bindemitteln zu hervorragenden weißen Mauersteinen und Dachziegeln verarbeitet. Weiße Dachziegel, von einer durchsichtigen photovoltaischen Schicht überzogen, werden seit dem Accelerando bei allen neuen Gebäuden benutzt, und auch ältere Dächer werden nachträglich mit ihnen ausgestattet. Heutzutage sehen Städte aus dem Weltraum gesehen wie Schneeflecken aus.

Doch die saubere Technologie kam zu spät, um die Erde vor den Katastrophen des frühen Anthropozän zu retten. Eine der Ironien jener Zeit war, dass die Menschen dazu in der Lage waren, das Antlitz anderer Planeten radikal zu verändern, aber nicht das der Erde. Die Methoden, die man im All einsetzte, waren praktisch alle zu grob und brutal. Nur mit allergrößter Vorsicht konnte man sich an der Erde zu schaffen machen, weil alles dort so genau ausbalanciert und miteinander verwoben war. Alles, was man irgendwo tat, um die Lage zu verbessern, schadete normalerweise an anderer Stelle.

Diese Zurückhaltung beim Terraforming der Erde war das Ergebnis von vielen bitteren, zuweilen sogar militärisch ausgetragenen Streitigkeiten. Die politischen Auseinandersetzungen führten zu einer juristischen Blockade. Man unterstellte allen großen Geo-Engineering-Projekten ein Potenzial für Pannen, die mit der kleinen Eiszeit der 2140er vergleichbar wären, welche laut allgemeiner Einschätzung eine Milliarde Menschen das Leben gekostet hatte. Gegen diese Angst konnte man nicht ankommen.

Außerdem ließ sich gegen viele Probleme der Erde schlicht und einfach nichts ausrichten. Die Erwärmung und darauf folgende Ausdehnung des Meereswassers – und auch seine Übersäuerung –, es gab keine Terraformingtechnik, die dagegen geholfen hätte. Einen Teil des Wassers hatte man abgepumpt und in die Trockenbecken in Nordafrika und Zentralasien umgeleitet, doch dort ließ sich längst nicht der gesamte Überschuss unterbringen. Zu den größten Prioritäten gehörte der Erhalt der letzten noch gesunden Eiskappe, die der Menschheit geblieben war, hoch oben in der östlichen Antarktis, und deshalb war kaum jemand besonders wild darauf, Salzwasser dorthin zu pumpen, wie gelegentlich vorgeschlagen wurde, denn wenn dabei etwas schiefging und sie die gesamte Eiskappe verloren, würde das den Meeresspiegel um weitere fünfzig Meter ansteigen lassen und der Menschheit mehr oder weniger den Todesstoß versetzen. Es war also Vorsicht geboten, und letztlich musste man sich eingestehen, dass der neue Meeresspiegel sich nicht nennenswert senken ließ. Ähnliches galt für zahlreiche andere Probleme. Die vielen empfindlichen, physikalischen, biologischen und juristischen Komplexe waren so dicht ineinander verwoben, dass keine der kosmischen Ingenieurstechniken, die man anderswo im Sonnensystem zum Einsatz brachte, sich den Anforderungen der Erde anpassen ließ.

Trotzdem unternahm man Versuche. Der Menschheit standen inzwischen so viele neue Möglichkeiten offen, dass einige zu dem Schluss kamen, man könne Jevons’ Paradox – dass wir Menschen mit unserer Technologie desto mehr Schaden anrichten, je besser sie wird – endlich überwinden. Dieses schmerzhafte Paradox hatte sich in der menschlichen Geschichte immer wieder zuverlässig als wahr erwiesen, aber vielleicht war ja nun ein Wendepunkt erreicht – vielleicht zeigte Archimedes’ Hebel endlich Wirkung –, vielleicht war dies der Moment, in dem die Menschen mit ihrer fortgeschrittenen Macht mehr erreichen konnten als noch mehr Zerstörung.

Doch sicher war sich da niemand. Die Menschheit hing noch immer in der Schwebe zwischen Katastrophe und Paradies, sie drehte sich im All um sich selbst wie eine kitschige Telenovela. Die Muse der Erde war anscheinend Scheherazade: Die Geschichte fand kein Ende, nie wusste man, wie die Sache ausgehen würde, während man sich mit dem kleinen Finger an sein Leben und seinen Verstand klammerte; und so kehrten die Raumer immer wieder in die Heimat zurück, in die Heimat ihrer Albträume, die Eingeweide zu einem gordischen Knoten verkrampft.

Swan auf der Erde

Die Erde übte eine verhängnisvolle Anziehungskraft aus, die weit über ihre starke Gravitation hinausging und mehr mit ihrem nahezu unermesslichen historischen Gewicht zu tun hatte, mit ihrer Pracht und ihrer Dekadenz und ihrem Schmutz. Man musste nicht nach Uttar Pradesh reisen und sich die schmelzenden Ruinen von Agra oder Benares ansehen, um das zu merken – es handelte sich um etwas Fraktales und Allgegenwärtiges, das sich in jedem Tal und in jedem Dorf ausdrückte: Altersschwäche, der Gestank grausamer Gesellschaftssysteme, kahle, erodierte Hänge, überflutete Küstenstreifen, die ständig weiter ins Meer absackten. Die Erde war ein zutiefst verstörender Ort. Was an ihr so seltsam war, ließ sich nicht immer erkennen oder greifen. Das menschliche Zeitempfinden wurde hier einfach aus der Bahn geworfen; alles war auseinandergeflogen, zerfiel und setzte sich neu zusammen, wodurch Gefühle ausgelöst wurden, die sich nicht zu einem Ganzen zusammenfügten. Alle Vorstellungen von einer Ordnung wurden unter uralten Geschichten begraben, verfingen sich in einem Netzwerk von Regeln und den Gesichtern auf der Straße.

Am besten konzentrierte man sich auf das, was gerade anstand, wie immer. Und so legte Swan in etwa fünfzigtausend Metern Höhe mit einem Gleiter von einem der mittelafrikanischen Aufzüge ab und setzte auf einem Landestreifen in der Sahelzone auf. Eigentlich hätte es sich hier um die öde Wüstenlandschaft der nach Süden vordringenden Sahara handeln müssen, eine Wüste ohne das kleinste Lebenszeichen, der Sonnenseite Merkurs nicht unähnlich – nur dass dort unter ihr strahlend weiße Häuserblöcke an den Rändern seichter grüner oder himmelblauer Seen standen, riesigen Seen unter dem Schutz ihrer eigenen Wolken, die sich in dem darunterliegenden Wasser spiegelten, sodass ihre Zwillinge hoch oben in einer kopfstehenden Welt schwebten. Hinab flog sie, hinab, und es fühlte sich belebend an, obwohl sie zur Erde zurückkehrte – und dann raus aus dem Gleiter, sie stand auf einer Landebahn in der Sahara, im Wind – es war unvergleichlich köstlich, überwältigend, eine Dosis Wirklichkeit. Über ihr nichts als der dunkle, klare Himmel, der westliche Wind, der in ihren Kleidern knatterte, die nackte Sonne auf ihrem ungeschützten Gesicht. O mein Gott. Das ist Heimat. Außen auf seinem Planeten umherzulaufen und einzuatmen, sich in den Raum, den man atmet, hineinzuwerfen …

Die Stadt am Fuße des Aufzugs war schmerzhaft weiß, mit farblich abgesetzten Türen und Fenstern, einer fröhlichen mediterranen Anmutung und einer muslimischen Note durch das Gedränge, die Stadtmauer und die Minarette. Ein bisschen wie im Nordwesten Marokkos. Oasenarchitektur, klassisch und befriedigend: Denn war nicht letztlich jede Stadt eine Oase? Topologisch unterschied diese Stadt sich nicht von Terminator.

Trotzdem waren die Leute dünn und schmal, gebeugt und dunkelhäutig. Von der Sonne verschrumpelt, ein bisschen gebraten – aber es war nicht nur das. Irgendjemand musste die Erntemaschinen in den Reis- und Zuckerrohrfeldern bedienen, die Bewässerungskanäle oder Roboter warten, etwas installieren, etwas reparieren. Menschen waren nach wie vor nicht nur die billigsten Roboter, sondern bei vielen Arbeiten auch die einzig qualifizierten. Sie kamen zur Arbeit und taten ihre Schuldigkeit, eine Generation nach der anderen; wenn man ihnen täglich dreitausend Kalorien und ein paar Annehmlichkeiten bot, ein bisschen Freizeit und eine ordentliche Portion Existenzangst, dann konnte man sie für praktisch alles einsetzen. Und wenn man ihnen Drogen gab, die es ihnen erleichterten, ihr Los zu tragen, bekam man eine Arbeiterklasse, die so verdinglicht war wie die Rädchen im Getriebe. Einmal mehr hatte sie es vor Augen: Eine große Minderheit der Erdbevölkerung verrichtete nach wie vor Roboterarbeit, ganz egal, ob in den politischen Theorien anderes behauptet wurde. Von den elf Milliarden Erdenmenschen fürchteten mindestens drei Milliarden Obdachlosigkeit und Hunger – trotz all der billigen Energie, die aus dem All zu ihnen herabfloss, trotz der Farmwelten, die einen Großteil ihrer Nahrungsmittel zur Erde schickten. Nein – draußen im Weltraum zimmerten sie neue Welten zusammen, während die Menschen auf der alten Erde nach wie vor Not litten. Es war jedes Mal wieder ein Schock, das zu sehen. Man hat nicht besonders viel Spaß am Spielen, wenn man weiß, dass gleichzeitig irgendwo Menschen verhungern. Aber wir bauen dort oben Nahrung für euch an, kann man zu seiner Verteidigung ausrufen, doch die Worte ändern nichts. Aus irgendwelchen Gründen kommen die Nahrungsmittel niemals an. Es gibt immer mehr Menschen, als das System versorgen kann. Es gibt also keine Antwort. Und es ist schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, wenn so viele Menschen so schlecht dran sind.

Also muss man etwas unternehmen.

»Warum ist das so?«, fragte Swan Zasha, weil sonst niemand zur Verfügung stand. Z war gerade damit beschäftigt, oben in Grönland bei irgendeinem Projekt mitzuhelfen.

»Es gab nie einen Plan«, antwortete Zasha in ihrem Ohr. Darüber hatten sie doch bereits geredet, schien Zs geduldiger Tonfall zum Ausdruck zu bringen. »Wir haben immer mit der jeweils aktuellen Krise zu tun. Und alte Gewohnheiten sterben schwer. Mindestens während der letzten fünf Jahrhunderte hätten alle Erdbewohner einen vernünftigen Lebensstandard haben können. Seitdem verfügen wir über Möglichkeiten und Ressourcen, die unseren Bedürfnissen entsprechen. Wir hätten es schaffen können. Aber darum ging es nie, also ist es auch nie passiert.«

»Aber warum nicht jetzt, wo uns so viele Möglichkeiten offenstehen?«

»Ich weiß es nicht. Es ist einfach nicht dazu gekommen. Die Leute haben wohl zu viel von dem alten Gift in ihren Köpfen. Außerdem ist Verelendung eine Taktik zur Erzeugung von Angst. Wenn eine Bevölkerung dezimiert wird, macht das die restlichen neunzig Prozent gefügig. Sie haben gesehen, wozu es kommen kann, und nehmen, was sie kriegen.«

»Aber stimmt das denn?«, rief Swan. »Ich glaube das nicht! Warum sollten die Menschen nicht entschlossener kämpfen, wenn sie das erst einmal erkannt haben?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hätte es dazu kommen können, aber stattdessen haben der Anstieg des Meeresspiegels und die Klimakatastrophen alles viel schwerer gemacht. Es gibt immer irgendeine Krise.«

»Na schön, aber warum nicht jetzt?«

»Klar, aber wer soll es machen?«

»Die Menschen würden es um ihrer selbst willen machen, wenn sie könnten!«

»Sollte man meinen.«

»Ich meine das jedenfalls, weil es wahr ist! Wenn sie es nicht tun, dann hält man sie irgendwie davon ab. Irgendwer hält ihnen eine Pistole unter die Nase.«

Lange Zeit schwieg Zasha, gedanklich offenbar mit etwas anderem beschäftigt. Schließlich kam die Antwort: »Wenn Gesellschaften unter Druck sind, dann stellen sie sich ihren Problemen angeblich nicht, sondern schauen stattdessen weg, setzen sich Scheuklappen auf und verdrängen ihre Probleme. Die Leute tun so, als wäre das historisch Gewordene natürlich, und spalten sich in Stämme auf. Anschließend kämpfen sie angesichts vermeintlicher Engpässe um Ressourcen. Man sagt, dass die Menschen niemals die Hungerpaniken Ende des 21. Jahrhunderts verwunden haben, oder die während der Kleinen Eiszeit. Zweihundert Jahre sind seitdem vergangen, und trotzdem handelt es sich nach wie vor um ein tief sitzendes weltweites Trauma. Und tatsächlich gibt es hier nach wie vor keinen besonders großen Nahrungsmittelüberschuss, weshalb es sich in gewisser Weise um eine durchaus vernünftige Sorge handelt. Die Erdenmenschen balancieren auf der Spitze eines Konglomerats von Behelfsmitteln, die alle funktionieren müssen, damit der Laden läuft. Sie stehen auf einer Art Turm von Babel.«

»Aber das ist überall anders genauso!«

»Sicher, sicher. Aber hier gibt es so viele Menschen.«

»Das ist wahr.« Swan schaute auf die Menschenmassen, die sich durch die Medina drängten. Jenseits der Stadtmauer bückten sich Arbeiter in unregelmäßigen Reihen beim Erdbeerpflücken. »Es ist so heiß und schmutzig, und so verdammt schwer hier. Vielleicht ist es einfach der Planet, der sie niederdrückt, und nicht ihre Geschichte.«

»Kann sein. Es ist einfach so, Swan. Du bist doch nicht das erste Mal hier.«

»Ja, aber das erste Mal hier.«

»Warst du schon mal in China?«

»Natürlich.«

»Indien?«

»Ja.«

»Tja, dann hast du das doch alles gesehen. Und was Afrika betrifft, angeblich handelt es sich in Sachen Fortschritt um ein Fass ohne Boden. Hilfe von außen verschwindet einfach darin, ohne dass sich das Geringste verändert. Man sagt, dass die Sklavenhändler den Kontinent vor langer Zeit ruiniert haben. Er steckt voller Krankheiten und ist vom Temperaturanstieg ausgedörrt. Da kann man nichts machen. Die Sache ist nur die, dass inzwischen überall die gleichen Verhältnisse herrschen. Die industriellen Rostgürtel sind genauso schlimm dran. Man könnte behaupten, dass die ganze Erde inzwischen ein Fass ohne Boden ist. Man hat ihr das Mark ausgesaugt, und der Großteil der oberen Klassen ist längst auf den Mars ausgewandert.«

»Aber das muss doch nicht so sein!«

»Eigentlich nicht.«

»Warum helfen wir ihnen dann nicht?«

»Das versuchen wir, Swan. Wirklich. Aber der Merkur hat eine Bevölkerung von einer halben Million, während die Erde eine Bevölkerung von elf Milliarden hat. Außerdem ist es ihr Planet. Wir können nicht einfach hier runterkommen und ihnen sagen, was sie zu tun haben. Genau genommen können wir sie nur mit Mühe und Not davon abhalten, zu uns heraufzukommen und uns zu sagen, was wir zu tun haben! So einfach ist es eben nicht. Das weißt du doch.«

»Ja. Aber jetzt fange ich wohl langsam an darüber nachzudenken, was das bedeutet. Was es für uns bedeutet. Du weißt doch, dass Inspektor Genettes Leute dieses Schiff identifiziert haben, das wir im Saturn gefunden haben, und festgestellt, dass es einer Firma in Tschad gehört.«

»Tschad ist bloß eine Steueroase. Bist du deshalb hier runtergekommen?«

»Ich denke schon. Warum nicht?«

»Swan, bitte überlass den Teil Inspektor Genette und den anderen Ermittlern. Es ist an der Zeit, dass du bei der Beschaffung von Startkulturen und Saatgut und all dem anderen Zeug hilfst, das wir auf der Erde kaufen und nach Hause verschiffen müssen.«

»Na schön«, sagte Swan unzufrieden. »Aber ich möchte auch mit Genette in Kontakt bleiben. Die Interplan-Ermittler stellen gerade auch Nachforschungen auf der Erde an.«

»Sicher. Aber bei Angelegenheiten wie diesen gibt es einen Zeitpunkt, ab dem die Datenanalysten die Sache übernehmen. Du musst einfach Geduld haben und die weitere Entwicklung abwarten.«

»Was ist, wenn die weitere Entwicklung in einer erneuten Attacke auf Terminator besteht? Oder auf etwas anderes? Ich glaube nicht, dass wir es uns leisten können, geduldig zu sein.«

»Nun ja, bei manchen Sachen kann man helfen und bei anderen eben nicht. Ich sag dir was – komm mich besuchen, dann reden wir darüber. Ich bringe dich auf den neuesten Stand darüber, was dort wirklich läuft.«

»Alles klar, mache ich. Aber ich mache einen Umweg.«

Swan streifte auf der Erde umher. Sie flog nach China und verbrachte dort mehrere Tage, in denen sie mit der Bahn von einer Stadt zur nächsten fuhr. Die meisten Stadtviertel waren als Arbeitseinheiten organisiert, Fabriken, in denen die Menschen ihr ganzes Leben verbrachten, wie auf der Venus. Von Kindheit an hatten sie Buchsen in den Fingerspitzen, und ihre Unterarme waren mit allerlei Apps tätowiert. Ihr Speiseplan versorgte sie mit der gesetzlichen Mindestmenge an Nährstoffen und mit Drogen. Das war auf der Erde nicht unüblich, aber nirgendwo war es so verbreitet wie in China, obwohl es kaum jemand zur Kenntnis nahm oder darüber redete. Swan erfuhr davon, weil sie Kontakt zu einem von Mqarets Kollegen aufnahm, der in Hangzhou arbeitete. Mqaret wollte, dass sie diesen Leuten eine Blutprobe gab, und da sie sowieso spazieren war, ging sie zu Fuß bei ihnen vorbei.

All die großen alten Küstenstädte waren durch den Anstieg des Meeresspiegels mehr oder weniger überflutet worden, und obwohl die meisten es gut überstanden hatten, war es infolgedessen zu massiven Bauaktivitäten landeinwärts gekommen, in Gegenden, die auch dann noch über Wasser liegen würden, wenn selbst das letzte Eis der Erde schmolz. Diese neue Infrastruktur begünstigte Hangzhou gegenüber Schanghai, und obwohl ein Großteil der neuen Gebäude und Straßen landeinwärts der traditionsreichen Stadt lagen, stellte das alte Stadtgebiet selbst nach wie vor das kulturelle Herz der Region dar.

Nach wie vor herrschte in der trichterförmigen Mündung des Qiantang eine starke Flutbrandung, und nach wie vor befuhren die Leute den Fluss mit zahlreichen kleinen Wasserfahrzeugen. Anscheinend waren sie trotz allem Spaß am Leben. Die gute alte Erde, so groß und schmutzig, mit einem Himmel, der aussah wie von braunen Flechten befallen, mit schlammfarbenem Wasser, mit ihren weiten, ausgelaugten und industrialisierten Landstrichen – aber all das trotzte immer noch den Stürmen des Lebens, niedergedrückt von der Gravitation und doch hart und wirklich. Während Swan durch die dicht bevölkerten Gassen der Altstadt schlenderte, ließ sie sich von Pauline mit den chinesischen Dialekten helfen, die sie nicht verstand. Dadurch sprach sie langsamer, aber das machte nichts. Die Chinesen waren ganz mit sich selbst beschäftigt und blickten durch sie hindurch. Sicherlich gehörte das zu den Dingen, vor denen die Venusianer geflohen waren: Alle waren auf sich selbst oder das Leben in ihrem Arbeitstrupp fixiert, sodass alles andere völlig in den Hintergrund trat. Wahrscheinlich wäre keiner dieser Menschen je auf den Gedanken gekommen, einen Hass auf Raumer zu entwickeln: Angelegenheiten außerhalb von China lagen im Reich der Hungrigen Geister. Selbst das Leben außerhalb der eigenen Arbeitseinheit war geisterhaft. Den Eindruck gewann Swan zumindest, während sie in Absteigen saß, Nudeln schlürfte und mit erschöpften Männern plauderte, die deshalb einen Moment für sie erübrigten, weil eine große, Fragen stellende Raumerin etwas Ungewöhnliches war. Außerdem schienen die Leute in Nudelbars toleranter zu sein. Auf der Straße fing sie sich einige böse Blicke ein, und einmal rief man ihr auch Beleidigungen nach. Das letzte Stück Weg zu Mqarets Kollegen legte sie beinahe laufend zurück. Sobald sie dort war, ließ sie sich ein paar Ampullen Blut abnehmen und unterzog sich einigen Seh- und Gleichgewichtstests.

Als sie wieder draußen auf der Straße war, hatte sie den Eindruck, dass viele Augenpaare sich mindestens ebenso sehr für sie interessierten wie gerade eben noch Mqarets Ärztekollegen. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass sie langsam Angst bekam. Sie beschleunigte ihren Schritt durch die unausweichlichen Menschenmassen – in China waren immer und überall mindestens fünfhundert Personen auf einmal in Sichtweite. Zurück in ihrem Gästehaus konnte sie sich über ihre Angst vor der Menge nur wundern. Aber nachdem sie eingeschlafen war und wieder aufwachte, fand sie sich tatsächlich gefesselt in einem Zimmer wieder, das nur von medizinischen Monitoren erhellt war. Das Bett kümmerte sich um ihre körperlichen Bedürfnisse, und sie vermutete, dass man ihr über ihren Infusionsschlauch eine Droge verabreichte, die ihr Sprachzentrum anregte, denn sie redete die ganze Zeit, ohne es zu wollen. Eine körperlose Stimme hinter ihrem Kopf stellte ihr Fragen über Alex und alles andere, und sie plapperte alles aus, ohne etwas dagegen machen zu können. Pauline half ihr kein bisschen – anscheinend hatte man sie abgeschaltet. Swan konnte den Drang zu reden einfach nicht unterdrücken. Eigentlich fühlte sie sich fast wie sonst auch; tatsächlich war es in gewisser Weise eine Erleichterung, einfach ohne Punkt und Komma reden zu dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Jemand zwang sie dazu, also tat sie es.

Später kam sie im selben Bett wieder zu sich, diesmal nicht gefesselt. Ihre Kleider lagen auf einem Stuhl am Bett. Das Zimmer war kaum größer als das Bett. Ja, es war immer noch das gleiche Gästehauszimmer. Die KI am Einlass, ein grünes Gehäuse auf einem Tresen, erklärte, dass sie nichts Verdächtiges bemerkt hätte. Laut Zimmermonitor war mit ihren Lebenszeichen alles in bester Ordnung gewesen, niemand war in ihr Zimmer eingedrungen, nichts Ungewöhnliches war vorgefallen. Swan wandte sich an Pauline, die ihr auch nicht helfen konnte. Es war fast genau vierundzwanzig Stunden her, dass sie die Klinik von Mqarets Freunden verlassen hatte. Sie rief beim Merkur-Haus in Manhattan an und teilte den Leuten dort mit, was passiert war. Dann meldete sie sich bei Zasha.

Alle waren schockiert, besorgt, voller Mitgefühl, und drängten sie, sich sofort zum nächsten Merkur-Haus zu begeben und sich ärztlich versorgen zu lassen; aber letztlich sagte Zasha streng: »Du warst allein auf der Erde unterwegs. Ich habe dir gesagt, dass einem hier alle möglichen üblen Sachen zustoßen können. Es ist nicht mehr so wie früher, als du deine ersten Sabbatjahre genommen hast. Wir reisen hier normalerweise nur noch im Rudel. Du hast doch gesehen, was das letzte Mal passiert ist, als du bei mir zu Hause alleine losgegangen bist.«

»Aber das waren nur ein paar Kinder. Wer war es diesmal?«

»Ich weiß es nicht. Ruf sofort Jean Genette an. Interplan ist möglicherweise dazu in der Lage herauszufinden, wer dahintersteckt. Vielleicht können wir dann auch erahnen, was als Nächstes passiert. Wahrscheinlich haben sie einfach ein Schleppnetz durch dein Gehirn gezogen. In dem Fall wird das wahrscheinlich nicht wieder vorkommen, aber du solltest ab jetzt nur noch mit mehreren Begleitern unterwegs sein, vielleicht sogar mit einem Sicherheitsteam.«

»Nein.«

Zasha ließ sie eine Weile dem Nachhall ihrer Antwort lauschen.

Schließlich sagte Swan: »Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Ich weiß nicht. Es kommt mir vor, als hätte ich einfach nur schlecht geträumt. Ich bin ein bisschen hungrig, aber ich glaube, sie haben mich intravenös ernährt. Sie hatten mich – ich meine, ich habe alles ausgeplaudert! Und viele ihrer Fragen gingen um Alex. Es kann gut sein, dass ich ihnen alles erzählt habe, was ich über sie weiß!«

»Hmm.« Ein ausgedehntes Schweigen schloss sich an. »Tja, dann weißt du jetzt, warum Alex so viel für sich behalten hat.«

»Und wer waren sie?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht gehören sie zur chinesischen Regierung. Die fasst einen manchmal grob an. Obwohl mir das hier dann doch zu unerhört erscheint. Vielleicht war es eine Warnung, aber ich bin mir nicht sicher, wovor. Insofern hätte es sich um keine besonders wirkungsvolle Warnung gehandelt. Oder vielleicht war es einfach nur ein Fischzug. Oder ein Hinweis darauf, dass wir uns nicht auf der Erde herumtreiben sollen.«

»Als ob wir das nicht selber wüssten.«

»Du scheinst es nicht zu wissen. Vielleicht wollen sie ja nicht, dass du dich hier unten herumtreibst.«

»Aber wer?«

»Ich weiß es nicht! Geh einfach davon aus, dass die Erdenmenschen dir etwas mitteilen wollten. Und ruf Genette an. Und komm bitte her, und rede mit mir, bevor du noch mehr Probleme kriegst.«

Also rief Swan bei Inspektor Genette an. Genette war entsetzt über ihr Erlebnis. »Vielleicht sollten Pauline und Passepartout ständig miteinander in Verbindung bleiben, solange wir auf der Erde sind. Dann würde ich immer mitbekommen, wo du dich gerade aufhältst.«

»Aber du sagst doch dauernd, dass wir sie abschalten sollen!«, erwiderte Swan.

»Nicht hier. In dieser Situation können sie uns helfen.«

»Na schön«, sagte Swan. »Besser, als mit Leibwächtern unterwegs zu sein.«

»Es bietet allerdings auch nicht annähernd so viel Schutz. Du solltest wenigstens nicht alleine reisen.«

»Ich besuche Zasha in Grönland, da müsste es sicher sein.«

»Gut. Du solltest aus China verschwinden.«

»Aber ich bin Chinesin!«

»Du bist eine Merkurianerin chinesischer Herkunft. Das ist etwas völlig anderes. Interplan hat kein Abkommen mit China, also kann ich dir rechtlich gesehen nicht helfen, solange du dich dort aufhältst. Geh nach Grönland.«

Stur, wie sie war, ging sie abends trotzdem zum Nudelessen aus. Die Leute bedachten sie mit seltsamen Blicken. Sie war eine Fremde in einem fremden Land. Von den Bildschirmen in den Nudelimbissen hörte sie mehrere feurige Reden, in denen verschiedene politische Verbrechen von Den Haag, Brüssel, den UN, dem Mars und von Raumern im Allgemeinen verurteilt wurden. Manche Sprecher gerieten so sehr in Rage, dass Swan ihr Bild von der chinesischen Gelassenheit revidieren musste; politisch gesehen waren sie nicht weniger leidenschaftlich als alle anderen auch, ganz egal, wie nach innen gekehrt sie auf der Straße wirkten. Wie jede Gruppe waren sie vom Zeitgeist geformt, und man hatte ihnen Feindbilder vorgesetzt, die ihre Unzufriedenheit von Peking ablenkte. Vielleicht eignete der Weltraum sich einfach besonders gut als rotes Tuch. Swan lauschte den Reden aufmerksam, ohne die Männer im Imbiss zu beachten, die wiederum sie beobachteten. Die Vorstellung, Raumer würden mehr noch als die alten Kolonialmächte ein Leben in Dekadenz und Luxus führen, war in China weit verbreitet, so begriff sie jetzt. Und ihr wurde klar, dass die Menschen in Hangzhou wie Ratten im Labyrinth lebten und sich Tag für Tag bei jeder Bewegung aneinanderrieben. Das Potenzial für extremistisches Gedankengut war offenkundig. Warum sollte man das Haus des reichen Jungen nicht mit Steinen bewerfen? Wer würde das nicht tun?

Während der Flüge, die sie zu Zasha brachten, sah Swan auf ihrem Monitor die Nachrichten. Erde Erde Erde. Der Weltraum war den meisten hier piepegal. Manche hingen religiösen Glaubensbekenntnissen an, die bereit im 12. Jahrhundert rückschrittlich gewesen waren. Die Viehhirten unter ihr in Zentralasien bewirtschafteten ihre Herden wie die Ökologieexperten, die sie sein mussten, um mit ihrer Produktion die Nachfrage zu erfüllen; jede Weide war gleichzeitig Molkerei, Schlachthof und Substratfabrik, und ihren Besitzern stand der Groll über die Dürreperioden, die von weit entfernten reichen Leuten ausgelöst wurden, bis zum Hals. Hier und dort sah sie die großen Ballungsgebiete, Barackenstädte, die entweder in Staubmulden lagen oder unter dem Ansturm tropischer Regenfälle und Schlammlawinen auseinanderfielen, und deren verkrüppelte Bewohner voll und ganz damit beschäftigt waren, am Leben zu bleiben. In Tschad hatte sie klare Anzeichen für schweren Parasitenbefall gesehen, zudem Hunger, Krankheiten und vorzeitigen Tod. Verschwendetes Leben in verödeten Biomen. Drei von elf Milliarden Planetenbewohnern, deren Grundbedürfnisse nicht erfüllt wurden. Drei Milliarden waren ohnehin schon eine Menge, aber dazu kamen noch weitere fünf oder sechs Milliarden am Rande des Abgrunds, kurz davor, ins selbe Loch abzurutschen, ohne einen einzigen sorgenfreien Tag. Das große Prekariat, gut genug vernetzt, um sich voll über seine Lage im Klaren zu sein.

Das war das Leben auf der Erde. Zersplittert, fraktioniert, nach Kasten oder Klassen unterteilt. Die Reichsten lebten wie Raumer im Sabbatjahr, mobil und vielseitig interessiert, verwirklichten sich auf jede nur denkbare Art, verbesserten sich – genderten sich – differenzierten sich aus – schlugen mit ihren verlängerten Lebensspannen dem Tod ein Schnippchen. Tatsächlich schienen ganze Länder so zu leben, aber es waren kleine Länder – Norwegen, Finnland, Chile, Australien, Schottland, Kalifornien, die Schweiz; und noch ein paar Dutzend mehr. Dann gab es die Länder, die sich mit Mühe über Wasser hielten; und dann gab es die postnationalen Flickenteppiche, die notdürftigen Versuche, nicht völlig zusammenzubrechen, und diejenigen, bei denen das Totalversagen bereits eingetreten war.

Überall auf der Welt hatte man dem Anstieg des Meeresspiegels um elf Meter Rechnung getragen, indem man massenhaft in höher gelegenen Gebieten gebaut hatte, aber trotzdem hatte er großes menschliches Leid verursacht, und niemand wollte das Gleiche noch einmal durchmachen. Die Leute waren das Ansteigen des Meeresspiegels leid. Wie sehr sie die Generation des Schwankens verachteten, die so rücksichtslos den Klimawandel in Gang gesetzt hatten, der nicht nur bis heute anhielt, sondern noch Jahrhunderte fortdauern würde, in deren Verlauf Methanklathratausbrüche und Permafrostschmelze weitere Treibhausgase ausstoßen würden, die bislang dritte und wahrscheinlich größte Welle. Sie waren auf dem besten Weg, ein Dschungelplanet zu werden, und die Aussicht darauf war derart beunruhigend, dass man trotz der Katastrophe vor zweihundert Jahren ernsthaft darüber nachdachte, es erneut mit atmosphärischen Sonnenblockern zu versuchen. Immer mehr Leute waren der Meinung, dass man die Sache auf der Mikro- oder Makroebene mit Geo-Engineering angehen musste. Intensiv auf der Mikroebene, behutsam auf der Makroebene – darüber gab es ein ständiges Hin und Her, und viele Mikro- oder winzige Makro-Restaurationsprojekte hatten bereits begonnen.

Ein Versuch bestand darin, das Abtauen der Eisberge der grönländischen Eiskappe zu verlangsamen. Die Antarktis und Grönland waren die einzigen beiden nennenswerten Eisreservoirs, die der Erde geblieben waren, und die Modelle gaben Anlass zu der Hoffnung, dass zumindest die östliche Antarktis den Temperaturgipfel überstehen konnte, bevor Atmosphäre und Ozean schließlich wieder abkühlen würden. Wenn es ihnen gelang, den CO2-Anteil auf 320 Teile pro Million zu reduzieren und einen Teil des Methans einzufangen, was einen Temperaturabfall zur Folge haben würde, und wenn der Eismantel über der östlichen Antarktis hielt, dann würden der Meeresspiegel zwar noch jahrelang hoch und das Meerwasser warm bleiben – aber ein großer Erfolg wäre es trotzdem. Genau genommen lohnte es sich kaum noch, über weitere Schritte nachzudenken, falls es ihnen nicht gelang, das Eis der östlichen Antarktis zu bewahren. Sie mussten es also ganz einfach schaffen. Inzwischen vertraten viele die Ansicht, dass man sich die Erde in der gleichen Weise würde vornehmen müssen wie den Mars und die Venus, und wenn dabei etwas kaputtginge – Pech gehabt. Manche meinten, dass eine weitere kleine Eiszeit genau das Richtige wäre: Von den unvermeidlichen Opfern, deren Zahl man auf eine Milliarde schätzte, redete keiner, aber die unterschwellige Botschaft lautete, dass ein paar Menschen weniger auch nicht schaden konnten. Schocktherapie – Triage – Leute, die gerne den Harten markierten, um als Pragmatiker zu erscheinen, redeten ständig solches Zeug.

Grönland war zwar ein wesentlich kleinerer Eiskuchen als die östliche Antarktis, deshalb aber noch lange nicht unbedeutend. Falls Grönland abschmolz (immerhin handelte es sich eigentlich bloß um ein Überbleibsel der riesigen Eisdecke aus der letzten Eiszeit, das unter den gegenwärtigen Umweltbedingungen sehr weit südlich lag), würde der Meeresspiegel um weitere sieben Meter ansteigen. Das würde den Untergang für die Küstenzivilisation bedeuten, die sich gerade erst an die neuen Verhältnisse angepasst hatte, und deshalb kämpfte man heftig dagegen an.

Wie alle Eisdecken schmolz das Eis über Grönland nicht einfach; es rutschte in Form von Gletschern ins Meer, beschleunigt durch das Schmelzwasser, das wie Schmiermittel unter dem Eis entlangfloss und die Gletscher aus ihren steinernen Betten löste. In der Antarktis war es genauso, aber während das Eis der Antarktis rundherum zu allen Seiten abrutschte und man nichts dagegen unternehmen konnte, lagen die Dinge in Grönland anders. Das grönländische Eis war größtenteils in einer Hochwanne zwischen umliegenden Bergketten eingeschlossen und konnte nur durch einige schmale Breschen im Felsgestein abrutschen wie durch Risse in einer Badewanne. Durch diese Breschen schoben sich die Gletscher mit einer Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Tag, durch U-Täler, die bereits über Jahrtausende hinweg geglättet worden waren, und wenn sie sich den steigenden Meeresfluten näherten, glitten ihre Schnauzen über die Abschlusslippen, die sich oft an Fjordmündungen bildeten, sodass sie ganz besonders schnell und reibungslos im Meer landeten.

Früh in der Geschichte der Glaziologie hatten Forscher entdeckt, dass ein schneller Gletscher in der westlichen Antarktis mit einem Mal deutlich langsamer geworden war. Bei Untersuchungen stellte man fest, dass das Wasser unter dem Eis, das als Gleitmittel fungiert hatte, in eine andere Richtung abgeflossen war, sodass das gewaltige Gewicht des Gletschers wieder ganz auf dem Fels lastete und ihn bremste. Das brachte die Leute auf Ideen, und sie versuchten, in Grönland auf künstliche Weise etwas Ähnliches herbeizuführen. An einem der schmalsten und schnellsten grönländischen Gletscher, dem Helheim, probierten sie mehrere Methoden aus.

Die Westküste Grönlands war beruhigend vereist, dachte Swan, in Anbetracht dessen, was man über die große Schmelze hörte. Unter ihrem Helikopter lag eine dünne Haut aus Winterseeeis, die in große, polygonale weiße Stücke auf einer schwarzen See zerbrach. Man sagte ihr, dass es an den Nordküsten Grönlands und der Ellesmere-Insel einen Polarbärenpark gab, wo Tafelberge auf der natürlichen Strömung trieben oder von Maschinen mit langen, biegsamen und von Solarpropellern betriebenen Auslegern zusammengeschoben wurden. Das Arktiseis war also nicht ganz verschwunden. Von oben war es wirklich wunderschön anzuschauen, und ebenso schön war der schwarze Ozean, der völlig anders aussah als das blaue Tropenmeer. Schwarzer Ozean, weißes Eis. Blautöne gab es nur am Himmel und in den Schmelzwasserbecken, die überall über die freiliegenden grönländischen Eisplatten verstreut waren, welche im Griff der zerklüfteten schwarzen Kämme drei Kilometer über dem Meeresspiegel lagen – die Küstenbergkette, der zernagte Rand der Badewanne, der das Inlandplateau festhielt. Die gesamte Situation war deutlich ersichtlich, wenn man in fünf Kilometern Höhe mit einem Helikopter flog.

»Ist das unser Gletscher?«, fragte Swan.

»Ja.«

Der Pilot hielt auf ein kleines rotes X auf einer flachen Felsplatte an einer Steilkante zu, von der aus man freie Sicht auf den Gletscher hatte, mehrere Kilometer stromaufwärts von der Stelle, an der er ins Meer kalbte. Als sie tiefer gingen, stellte sich heraus, dass die Platte etwa zwanzig Hektar groß war und dem gesamten Lager Platz bot; das rote X war riesenhaft. Während sie das letzte Stück hinabstiegen, lag die ganze fantastische Szenerie unter ihnen ausgebreitet: schwarze, knochige Kämme, weißes Eis und das schwarze Wasser im Fjord, auf das die Sonne herabknallte.

Außerhalb des Helikopters war es betäubend kalt. Swan schnappte nach Luft, und mit einem Mal durchfuhr sie die Angst: Wenn man im All eine derartige Kälte verspürte, bedeutete es einen Stromausfall und den unmittelbar bevorstehenden Tod. Doch hier grüßten die Leute sie und lachten über das Gesicht, das sie machte.

Überall auf dem Plateau reckten sich gesplitterte, flechtenbewachsene schwarze Felsspitzen in den Himmel. Die Abhänge des U-Tals unter ihnen waren vom Eis ausgehöhlt, sodass sie wie Muskelfleisch aussahen. Horizontale Rillen zogen sich dort hindurch, wo Felsbrocken sich in den Granit gebohrt hatten – es müssen gewaltige Kräfte geherrscht haben.

Der Gletscher selbst bestand größtenteils aus einer rissigen weißen Oberfläche mit blauen Flecken hier und da. Obwohl sie von zahlreichen Spalten durchzogen war, erstreckte die Eisfläche sich ziemlich eben bis zu dem schwarzen Kamm auf der gegenüberliegenden Seite. Swan nahm ihre Sonnenbrille ab, um die Aussicht zu studieren, und blinzelte und schniefte, als ein blendend weißer Blitz sie wie ein Schlag auf den Kopf traf. Sie stieß ein prustendes Lachen aus, als sie aus zusammengekniffenen Augen Zasha herankommen sah, und streckte die Arme aus. »Ich bin froh, dass ich gekommen bin! Es geht mir jetzt schon besser!«

»Ich wusste, dass es dir hier gefallen würde.«

Das Plateau, auf dem sich das Lager befand, stellte den idealen Standort für eine kleine, wild zusammengewürfelte Ortschaft dar. Zasha zeigte ihr die Kantine, ließ sie ihr Zeug im Schlafsaal verstauen und ging dann mit ihr zu der Felskante, von der aus man einen Blick über den Gletscher hatte. Direkt unterhalb des Lagers begann ein Riss im Eis, der sich bis zum gegenüberliegenden Ende des Gletschers zog. Anscheinend hatte man hier flüssigen Stickstoffs zwischen Eis und Felsboden eingebracht. Einen Teil des Eises hatte man fixiert, aber die Massen darüber hatten sich gelöst und setzten ihren Weg fort, zersplittert und langsamer, aber nach wie vor in Bewegung.

Stromabwärts von diesem Gewirr zog sich eine tiefe, halbmondförmige Spalte durchs Eis. »Das ist das neueste Experiment.« Zasha zeigte darauf. »Sie wollen einmal quer über den Gletscher einen Spalt schmelzen und auch das nachrückende Eis auftauen. Das Eis stromabwärts rutscht dann weg, und sobald Platz ist, bauen sie einen Damm in den Freiraum, sodass das herabfließende Eis sich dagegen auftürmt.«

»Wird es nicht einfach über den Rand des Damms quellen?«, fragte Swan.

»Das täte es, aber sie wollen den Damm so hoch bauen wie die Eiskappe im Inland. So fließt das Eis dann hierher, bis es so hoch steht wie der Rest von Grönland, und dann gibt es keine Abflussbewegung mehr.«

»Wow«, sagte Swan überrascht. »Also eine Art neuer Bergkamm, der die Lücke ausfüllt? Und der entsteht, während das Eis gegen ihn anstürmt?«

»Ganz genau.«

»Aber fließt die Eiskappe auf dem Plateau dann nicht einfach entlang anderer Gletscher ab?«

»Sicher, aber wenn die Sache hier funktioniert, dann wollen sie es überall um Grönland herum so machen, mit Ausnahme des Nordens, wo man ohnehin versucht, den Eispark auf See am Leben zu erhalten. Dort will man das abrutschende Eis einhegen und den Abfluss verlangsamen. Dadurch bleibt das grönländische Eis im Großen und Ganzen an Ort und Stelle, oder zumindest wird sein Abschmelzen ernsthaft verlangsamt. Dass alles so schnell geht, liegt nämlich vor allem daran, dass das Eis ins Meer abrutscht. Deshalb machen wir einfach jede Bresche auf der Insel zu! Kannst du dir das vorstellen?«

»Nein.« Swan lachte. »Das nenne ich Terraforming! Die Idee kommt ja wohl vom Ingenieurskorps der U.S. Army.«

»Klingt so, aber das hier sind Skandinavier. Und die Inuit aus der Gegend. Anscheinend gefällt ihnen die Idee. Sie sagen, dass sie es als Übergangslösung sehen.« Zasha lachte. »Die Inuit sind großartig. Sehr frohsinnige Leute. Sie würden dir gefallen.« Ein kurzer Blick. »Du könntest von ihnen lernen.«

»Halt bloß davon die Klappe. Ich möchte dort runter und mir das Felsfundament ansehen.«

»Das dachte ich mir.«

Sie kehrten in die Kantine zurück, und einige der Ingenieure aus dem Lager setzten sich bei großen Bechern heißer Schokolade zu ihnen und erklärten Swan ihre Arbeit. Der Damm würde aus einem Kohlenstoff-Nanofilamentgewebe errichtet werden, ein bisschen wie das Material, aus dem die Weltraumaufzüge bestanden. Es wurde bereits über Pfählen gesponnen, die man tief in den Fels gebohrt hatte. Der Damm würde vom Boden her emporwachsen, von Spinnenbots gewoben, die aneinander vorbei vor- und zurücksausten wie Schiffchen auf einem Webstuhl. Wenn er erst einmal fertig war, würde er dreißig Kilometer breit und zwei Kilometer hoch sein und an der stärksten Stelle trotzdem nur einen Meter dick. Die Struktur des Dammmaterials war ebenfalls biomimetisch. Die Kohlenstofffasern waren wie Spinnenfäden geformt, aber wie Muscheln gewoben.

Stromabwärts des Damms würde ein kurzes neues Gletschertal zum Vorschein kommen. Dort würde sich erneut Vegetation ansiedeln, wie es in den anderen grünen Bereichen Grönlands am Ende der Eiszeit geschehen war, zehntausend Jahre zuvor. Swan wusste genau, wie das U-Tal sich von nacktem Fels in ein Steinwüsten-Biom verwandeln würde. Sie selbst hatte solche Entwicklungen in vielen alpinen und polaren Terrarien angestoßen. Ohne Hilfe würde es etwa tausend Jahre dauern, aber mit ein bisschen Gartenpflege ließ sich dieser Zeitraum auf ein Hundertstel verkürzen: Man musste einfach erst Bakterien und anschließend Moose und Flechten, Gräser und Seggen hinzugeben, und anschließend Geröllblumen und bodennahe Sträucher. Das hatte sie bereits gemacht, und es hatte ihr wunderbar gefallen. Ab jetzt würde es hier jeden Sommer grünen und blühen, Samen würden ausgestreut, und jeden Winter würde sich all das behaglich unter eine Schneedecke kuscheln, um sich anschließend der eigentlichen Gefahr zu stellen, dem Frühlingstau. Diejenigen, die diese harte Zeit nicht überstanden, würden die nach ihnen kommenden mit Nahrung und einem Nährboden versorgen, und so würde es weitergehen. Die Inuit konnten diese Landschaft pflegen, wenn sie wollten, oder sie konnten sie einfach sich selbst überlassen. Vielleicht konnten sie in verschiedenen Fjords verschiedene Möglichkeiten ausprobieren. Wie gerne Swan dabei mitgemacht hätte. »Na schön, vielleicht muss ich eine Inuit werden«, brummte sie Zasha zu, während sie auf die Landkarte vor ihnen schaute. Sie erkannte, dass Grönland selbst eine eigene Welt war, und zwar die von ihr bevorzugte Art – eine leere Welt. Es gab hier niemand, der ihr feindselig gesinnt war.

Nach dem Abendessen ging Swan wieder hinaus und stand mit Zasha oberhalb der großen Lücke, unter der riesigen Himmelskuppel. Draußen im Wind, ach der Wind, der Wind … der breite Gletscher unter ihnen – stromaufwärts ein weißes Scherbenfeld, stromabwärts eine blaue Leere – und dann eine tiefer liegende und glattere weiße Fläche, die Richtung Meer abfiel. Auf der tieferen Dammseite konnte sie Maschinen ausmachen, die sowohl auf der Mauer als auch an ihren Seiten hin- und herflitzten. Sie sahen ein bisschen wie Spinnen aus, die ein so dichtes Netz webten, dass es massiv war. Die Bergkämme, an denen die beiden Enden des Damms verankert waren, würden eher abgetragen werden als der Damm selbst, hatte einer der Ingenieure erklärt. Falls es jemals eine neue Eiszeit gab und die Eiskappe Grönlands sich weiter gen Himmel auftürmte und über den Damm hinwegschwappte, würde er trotzdem noch da sein und in der nächsten Warmzeit wieder zum Vorschein kommen.

»Erstaunlich«, sagte Swan. »Also kann man die Erde sehr wohl terraformen!«

»Tja, aber Grönland ähnelt auch eher dem Mond Europa als dem Kontinent Europa, wenn du verstehst, was ich meine. Hier geht so etwas, weil nur einige wenige Menschen vor Ort leben, und denen gefällt die Idee. Wenn man etwas Derartiges irgendwo anders versuchen würde …« Zasha lachte bei dem Gedanken daran. »Als könnte man diese Technik einsetzen, um den New Yorker Hafen mit Deichen einzuhegen und die Bucht leerzupumpen, sodass Manhattan wieder wie früher über Wasser liegt. Man könnte den ganzen Bereich zu einer Art Koog machen. Das wäre nicht einmal so schwer, verglichen mit einigen anderen Ideen. Aber die New Yorker wollen nichts davon wissen. Ihnen gefällt es so, wie es ist.«

»Schön für sie.«

»Ich weiß, ich weiß. Die segensreiche Flut. Und ich liebe New York so, wie es ist. Aber du verstehst doch, was ich meine. Es gibt eine Menge guter Terraformingprojekte, die man niemals genehmigen wird.«

Swan nickte und verzog das Gesicht. »Ich weiß.«

Zasha umarmte sie kurz. »Es tut mir leid, was dir in China passiert ist. Es muss schrecklich gewesen sein.«

»Es war grauenhaft. Das, was ich auf dieser Reise sehe, gefällt mir ganz und gar nicht. Anscheinend haben wir die meisten Erdenbewohner auf die eine oder andere Art gegen uns aufgebracht.«

Zasha lachte. »Hast du je etwas anderes geglaubt?«

»Na schön«, erwiderte Swan, »ist schon klar. Aber die Sache ist die: Jetzt müssen wir in Erfahrung bringen, wer Terminator attackiert hat.«

»Interplan hat das, was einer Datenbank über alle Menschen am nächsten kommt, von daher werden sie die Täter hoffentlich finden können.«

»Und wenn das nicht funktioniert, was dann?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es wird früher oder später funktionieren.«

Swan seufzte. Sie war sich nicht sicher, ob Genettes Team es schaffen würde, und sie wusste, dass sie selbst es nicht schaffen konnte. Zasha warf ihr einen Blick zu. »Das Leben macht einfach keinen Spaß mehr«, erklärte sie.

»Arme Swan.«

»Du weißt schon, wie ich das meine.«

»Ich glaube schon. Aber hör mal, warum kümmerst du dich nicht einfach darum, die Startkulturen für Terminator zu besorgen? Mach deine Arbeit, und lass Genette und Interplan ihre erledigen.«

Damit war Swan auch nicht glücklich. »Ich kann nicht einfach abhauen. Hier geht etwas vor. Ich meine, man hat mich verdammt noch mal entführt und mir einen Haufen Fragen über Alex gestellt. Du meintest, dass sie mir im Prinzip nicht vertraut hätte, aber was, wenn ich etwas Wichtiges wusste, ohne zu wissen, dass es wichtig war?«

»Haben sie dich über die Lage auf der Venus ausgefragt?«

Swan überlegte. Zashas Worte hatten etwas in ihr angestoßen. »Vielleicht. Ich glaube schon.«

Zasha wirkte besorgt. »Auf der Venus gehen seltsame Dinge vor. Wenn sie das nächste Terraformingstadium durchlaufen, wird ein Großteil des Planeten für neue Siedlungen zur Verfügung stehen, und das führt zu Kämpfen. Letztlich wird dort ein Krieg um Landbesitz geführt. Und von diesen seltsamen Qubes, nach denen Alex uns auf die Suche geschickt hat, finden wir immer mehr. Sie scheinen von der Venus zu kommen, und oft tauchen sie in der Umgebung von New York auf. Wir sind uns noch nicht sicher, was das zu bedeuten hat. Wie dem auch sei, hilf du erst einmal, die Kulturen zu beschaffen. Das ist nicht mehr so leicht wie früher.«

»Sie müssen uns nur das ersetzen, was wir vorher hatten.«

»Unmöglich. Man darf keinen Humus von der Erde mitnehmen, nicht in solchen Mengen wie früher. Unser neuer Humus muss also eine Art Ascension sein, und für die bist du die Expertin.«

»Ich mag Ascensions überhaupt nicht mehr!«

»Wir sind jetzt auf sie angewiesen. Es ist keine Frage des Stils mehr.«

Swan seufzte schwer. Z schwieg und deutete dann auf die Szenerie. Es stimmte: Der Anblick des Gletschers war wirklich Balsam für die Seele. Die Welt war größer als ihre kleinen Melodramen, das ließ sich hier an diesem Ort nicht leugnen. Und es war ein Trost.

»Alles klar. Ich mache mich in Sachen Humus nützlich. Aber ich bleibe weiterhin mit Genette in Verbindung.«

Also – zurück ins abstruse und grandiose Manhattan, auch wenn es dort ohne Zasha nicht besonders lustig war. Aber lustig war das alles ohnehin nicht mehr.

Die Erschöpfung, die nach einem Tag auf der Erde einsetzte. Die schiere Schwere, die mit dem Leben auf diesem Planeten einherging. »Sie ist so … schwer!«, sang Swan bei sich selbst, wobei sie das letzte Wort dehnte und wiederholte, wie in dem alten Lied. »Schwer … schwer … schwer … schwer!«

Wenn sie Schmerzen litt von der Anstrengung, den ganzen Tag lang aufrecht zu stehen, stieg sie normalerweise in ihren Leibhalter und entspannte sich, indem sie sich von ihm spazieren führen ließ. Es war, als würde man massiert, nur dass man dabei hochgehoben und durch die Gegend getragen wurde. Man gab sich dem Tanz des Halters hin, verschmolz mit ihm. Ach, lieblicher Waldo. Egal wie man sich bewegte, er versteifte sich unter einem, und wenn er richtig angepasst und programmiert war, war es einfach traumhaft; schlecht für das Knochenwachstum, schlecht für die Anpassung an das Leben auf der Erde, aber ein Lebensretter, wenn man einen Durchhänger hatte. Im Weltall redeten die Leute sehnsuchtsvoll von ihrer Rückkehr zur Erde, traten dankbar ihr Sabbatjahr an, jauchzten bei der Aussicht darauf vor Freude – aber wenn der Kitzel der frischen Luft nachließ und die Gravitation blieb und einen im Laufe des restlichen Sabbatjahrs, bis man genug von Gaias rätselhaften Gaben getankt hatte, immer weiter zu Boden zog, stieg man schließlich aus der Atmosphäre wieder in die strahlende Klarheit des Raums empor und setzte sein dortiges Leben fort, erleichtert und glücklich. Weil die Erde einfach in jeder erdenklichen Weise zu schwer war. Es war, als hätte man einen Schwarzfilter zwischen sie und den Rest der Welt geschoben. Genette hatte behauptet, dass die Dinge gut liefen, aber anscheinend ohne damit zu rechnen, dass bald etwas passieren würde. Man schien einen ähnlichen Blick auf den Fall zu haben wie Swan auf das Gedeihen eines Sumpfes: Gewisse Abläufe würden in Gang gesetzt, gewisse Möglichkeiten herbeigeführt, und dann wandte man sich anderen Dingen zu. Wenn man zurückkehrte, würde sich etwas verändert haben. Aber das konnte Jahre dauern.

Also bemühte sie sich um Humus für Terminator, beriet die Händler vom Merkur beim Einkauf, und eines Tages konnte sie das Merkur-Haus in Manhattan betreten und verkünden: »Wir haben alles, was wir brauchen. Wir können nach Hause zurückkehren.«

Sie reiste nach Quito und fuhr mit dem Weltraumaufzug zu dem Felsbrocken empor, mit dem er am Himmel verankert war. Sie fühlte sich blockiert und geschlagen, missbraucht und weggeworfen. Brütend hörte sie sich mehrmals hintereinander eine Aufführung der Satyagraha-Oper an – die sich in ihren acht letzten Tönen emporschwang, schlicht und einfach die acht ansteigenden Töne einer Oktave, immer wieder von Neuem. Sie sang gemeinsam mit dem restlichen Publikum mit und fragte sich, wie Gandhi wohl darauf reagiert hätte, was er dazu gesagt hätte. »Das Beharren auf der Wahrheit hat mich gelehrt, die Schönheit des Kompromisses wertzuschätzen. Später in meinem Leben erkannte ich, dass dies ein essenzieller Teil der Satyagraha ist.« So wurde Gandhi im Programmheft zitiert. Satya, Wahrheit, Liebe; agraha, Entschlossenheit, Kraft. Das Wort hatte er sich ausgedacht. Tolstoi, Gandhi, der Mensch der Zukunft in der Oper – sie alle sangen von Hoffnung und Frieden, vom Weg zum Frieden, von Satyagraha selbst. Die Satyagrahi waren diejenigen, die Satyagraha übten. »Vergebung ist die Zier der Mutigen.«

Während die Erde sich unter ihr langsam entfernte und sich in jene vertraute blau-weiße Kugel verwandelte, die das All mit ihrer marmorierten Schönheit schmückte, lauschte sie den Sanskrit-Texten, die in ihrem Ohr erklangen. Sie bat Pauline, eine Stelle zu übersetzen, deren Melodie sie besonders anrührte. Pauline sagte: »Solange es keinen Frieden gibt, werden wir nicht in Sicherheit sein.«

Listen (10)

Es ist zu schwer, es fehlt die Zeit, jemand könnte lachen;

Um die Familie zu schützen, um die Ehre, die eigenen Kinder;

Verwandtenauslese; üble Saat;

Erbsünde, das naturgegebene Böse, günstige Fügung, Glück, Bestimmung, Schicksal;

Faulheit, Geiz, Neid, Niedertracht, Eifersucht, Wut, Zorn, Rache;

Zum Teufel noch mal

Weil jemand anders das ausnutzen könnte

Weil

Niemand weiß mit Sicherheit

Es kommt nicht darauf an

Es steht in den Sternen

Niemand hat es uns verboten

Wir können damit durchkommen

Ein Utopia gibt es nicht

Wahrscheinlich würde es ohnehin nicht funktionieren

Vielleicht machen wir damit etwas Geld

Es ist nicht genug für alle da

Die Menschen wissen das, was man für sie tut, nicht zu schätzen

Sie verdienen es nicht

Sie sind faul

Sie sind nicht wie wir

Wenn sie könnten, würden sie das Gleiche mit dir machen

Pluto, Charon, Nix und Hydra

Pluto und Charon sind ein Doppelplanetensystem, durch Gezeitenkräfte miteinander verbunden wie zwei Enden einer Hantel. Sie wenden einander immer die gleiche Seite zu, und ihr gemeinsames Gravitationszentrum liegt zwischen ihnen im Raum. Ihre Rotationsachse ist gegen ihre Bahnebene um die Sonne geneigt, und ihre Tage sind ein bisschen länger als sechs Tage, während ihre Jahre 248 Jahre dauern. Pluto ist zehn Kelvin kälter, als er ohne seine Atmosphäre wäre, die am äußersten Punkt seiner Bahn gefriert und am innersten sublimiert und dadurch einen umgekehrten Treibhauseffekt erzeugt, der die Oberfläche abkühlt. Die Atmosphäre ist so dicht wie die ursprüngliche Marsatmosphäre, mit einem Druck von etwa sieben Millibar – mit anderen Worten ziemlich dünn. Die Oberflächentemperatur beträgt vierzig Grad Kelvin.

Charon, der halb so groß ist wie Pluto, hat eine Oberflächentemperatur von fünfzig Grad Kelvin. Das Mond-Planeten-Verhältnis, das dem von Charon und Pluto am nächsten kommt, ist das Verhältnis zwischen Luna und Erde, wobei Luna ein Viertel so groß ist wie die Erde. Pluto hat einen Durchmesser von 2300 Kilometern; Charon einen von 1200 Kilometern. Beide haben Felskerne, und ihre Mäntel bestehen größtenteils aus Wassereisschollen.

Zwei sehr viel kleinere Monde umkreisen das größere Paar: Nix und Hydra, mit Durchmessern von 90 und 110 Kilometern. Nix, der 80000000000000000000 (achtzig Trillionen) Kilogramm wiegt, größtenteils aus Eis und etwas Felsgestein besteht, wird derzeit zerlegt und zu vier Raumschiffen umgebaut, die mehr oder weniger als Gruppe losgeschickt werden sollen, wobei das erste vorweg fliegen wird, unter anderem, um die Systeme zu testen. Im Innern handelt es sich bei diesen Raumschiffen um typische Terrariumszylinder, die rotieren, um einen Gravitationseffekt zu erzeugen. Man wird sie mit einer großen Anzahl von Arten bestücken, die mehrere Biome umfassen. Die vier Schiffe sollen miteinander in Kontakt bleiben und werden die genetischen Auswirkungen des Inseleffekts durch gelegentlichen Austausch verringern. Die Hecktriebwerke werden Kombinationen von elektromagnetischen Katapulten und Antimaterie-Plasma sein, ausreichend für hundert Jahre. Danach werden sie von leistungsstarken Orion-Prallplatten ersetzt, mit der die Raumschiffe schließlich Geschwindigkeiten erreichen, bei denen Staustrahltriebwerke funktionieren, die man dann einsetzen wird. Zusammengenommen werden diese Triebwerke die Schiffe auf zwei Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen, eine wahrhaft fantastische Geschwindigkeit für ein menschliches Transportmittel, womit sie eine Reise von nur noch zweitausend Jahren vor sich haben. Denn die Sterne sind weit entfernt, und die, die uns am nächsten liegen, haben keine erdähnlichen Planeten.

Bedauerlich, aber so ist das nun mal. Es führt kein Weg dran vorbei: Die Sterne existieren jenseits menschlicher Zeitmaßstäbe und jenseits des menschlichen Zugriffs. Wir leben in der kleinen Perle aus Wärme, die unseren Stern umgibt. Außerhalb liegt eine Weite jenseits unserer Vorstellungskraft. Das Sonnensystem ist unser einziges Zuhause. Selbst die Reise zum nächstgelegenen würde bei der für uns erreichbaren Höchstgeschwindigkeit ein Menschenleben oder länger dauern. Wir sagen »vier Lichtjahre« und lassen uns durch die Worte »vier« und »Jahre« täuschen; wir können uns kaum begreiflich machen, welche Entfernungen das Licht in einem Jahr zurücklegt. Aber man stelle sich einmal eine Geschwindigkeit von 299.792.458 Metern in der Sekunde vor, oder von 186.282 Meilen in der Sekunde – was immer man sich besser vergegenwärtigen kann. Man stelle sich vor, dass diese Geschwindigkeit bedeutet, 1079 Millionen Kilometer pro Stunde zurückzulegen. Man stelle sich vor, dass das 173 astronomische Einheiten am Tag sind; eine astronomische Einheit ist die Entfernung von der Erde zur Sonne, also 149,6 Millionen Kilometer – 173-mal an einem Tag zurückgelegt. Dann stelle man sich vier Jahre voller Tage wie diesem vor. Die braucht das Licht, um den nächstgelegenen Stern zu erreichen. Doch wir können nur ein paar Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreichen; bei zwei Prozent der Lichtgeschwindigkeit (20 Millionen Kilometer pro Stunde!) dauert es etwa zweihundert Jahre, diese vier Lichtjahre zurückzulegen. Und die ersten Sterne mit erdähnlichen Planeten sind eher zwanzig Lichtjahre weit entfernt.

Das Licht braucht hunderttausend Jahre, um die Milchstraße zu durchqueren. Bei zwei Prozent dieser Geschwindigkeit – sagen wir einfach mal, dass das unsere Geschwindigkeit ist – dauert es also fünf Millionen Jahre.

Das Licht der Andromedagalaxis hat 2,5 Millionen Jahre gebraucht, um die Leere zu unserer Galaxis zu überwinden. Und wenn man sich das Universum im Großen und Ganzen betrachtet, ist Andromeda eine ziemlich nahe Galaxis. Sie liegt in der kleinen Kugel, bei der es sich um unseren Kosmos handelt, sie ist eine Nachbargalaxis.

Also. Unsere kleine Perle der Wärme, unser kreiselndes Astrolabium des Lebens, unsere Insel, unser geliebtes Sonnensystem, unser Heim und Herd, die hübsch und gemütlich in der Wärme unseres Sterns liegen – und dann – diese Raumschiffe, zu denen wir Nix umbauen. Wir werden sie zu den Sternen schicken, sie werden wie Löwenzahnsamen sein, die auf einem Luftzug davontrudeln. Sehr schön. Wir werden sie niemals wiedersehen.

Pauline über Revolutionen

Swan flog auf dem ersten verfügbaren Transportschiff mit den Startkulturen zurück zum Merkur. Es handelte sich um ein halb fertiges Terrarium, bei dem sich im Moment noch unmöglich sagen ließ, was daraus werden würde. Derzeit handelte es sich lediglich um einen leeren, unter Druck stehenden Zylinder mit Felswänden, einem Sonnenstreifen und einem dürren Klettergerüst aus Verstrebungen, die an Betonpfropfen in den rauen Felswänden festgenietet waren. Swan schaute die Leute an, die sich um sie herum im gewaltigen Stahlskelett eines Wolkenkratzers aufhielten, und begriff, dass es ein Fehler gewesen war, diesen Flug zu nehmen – kein so schlimmer wie die Sache mit dem Blackliner, aber trotzdem schlimm. Andererseits kamen Fragen der Bequemlichkeit ihr inzwischen nebensächlich vor. Sie stieg eine Metalltreppe nach der anderen empor, um schließlich auf das Freidach zu gelangen, das beinahe den Sonnenstreifen berührte. Von dem Dach, auf dem geringe Schwerkraft herrschte, konnte sie hinunter – hinaus – hinaufschauen. Sie war umgeben von einem in tiefen Schatten liegenden Zylinderraum, der von einem Zickzackmuster aus Streben durchzogen war und dessen Boden aus kahlem Felsgestein bestand. Das Gebäude war wie der einzige erleuchtete Winkel in einer Burg von erhabenen Ausmaßen. Der Boden am Fuß des Wolkenkratzers lag mehrere Kilometer weiter unten, und der Boden an der gegenüberliegenden Seite, hinter dem Sonnenstreifen, nur wenig weiter. Eine gotische Ruine mit ein paar kläglichen Mäusemenschen, die sich in der Wärme ihrer letzten Kerze aneinanderdrängten. In den Anfangstagen, als ein frisch ausgehöhlter Zylinder der Inbegriff ungeahnter Möglichkeiten gewesen war, war das anders gewesen. Wenn ihre Jugend, ja sogar die ganze Zivilisation, auf so etwas hinauslief … auf etwas derart schlecht Geplantes, Unabgeschlossenes …

Swan hakte die Ellbogen über das Geländer, um in der geringen Schwerkraft mehr Halt zu finden. Sie legte ihr Kinn auf die überkreuzten Hände und sagte, während sie weiter die Szenerie betrachtete: »Pauline, erzähl mir etwas über Revolutionen.«

»In welchem Umfang?«

»Für ein Weilchen.«

»›Revolution‹, vom lateinischen revolutio, ›Umdrehung‹. Bezieht sich oft auf einen schnellen Wechsel der politischen Macht, häufig mit gewaltsamen Mitteln herbeigeführt. Konnotation einer erfolgreichen klassenbasierten Revolte von unten.«

»Ursachen?«

»Ursachen für Revolutionen werden manchmal in psychologischen Faktoren wie Unzufriedenheit und Frustration gesehen; manchmal in soziologischen Faktoren, insbesondere einer systematischen und anhaltenden Ungleichheit bei der Verteilung materieller und kultureller Güter; oder in biologischen Faktoren, insofern Gruppen über die Verteilung begrenzter Ressourcen kämpfen.«

»Sind das nicht unterschiedliche Aspekte derselben Sache?«, fragte Swan.

»Es ist ein multidisziplinäres Feld.«

»Gib mir ein paar Beispiele«, sagte Swan. »Zähl die berühmtesten auf.«

»Der englische Bürgerkrieg, die Amerikanische Revolution, die Französische Revolution, die Haitianische Revolution, der Taiping-Aufstand, die Russische Revolution, die Kubanische Revolution, die Iranische Revolution, die Marsianische Revolution, der Aufstand der Saturn-Liga …«

»Aufhören«, sagte Swan. »Erzähl mir von den Ursachen von Revolutionen.«

»Studien konnten sie bislang nicht erklären. Es gibt keine historischen Gesetzmäßigkeiten. Schnelle Veränderungen der politischen Machtverhältnisse haben sich schon ohne Gewalt zugetragen, was vermuten lässt, dass Revolution, Reform und Repression alles Bezeichnungen sind, deren Definition zu breit ist, um bei der Ursachenanalyse von Nutzen zu sein.«

»Komm schon«, wandte Swan ein. »Stell dich nicht so an! Irgendjemand muss etwas gesagt haben, was du zitieren kannst. Du könntest sogar versuchen, dir selbst etwas zu überlegen!«

»Das ist angesichts deiner unzureichenden Programmierung schwer. Du klingst, als würdest du dich für das interessieren, was manche als ›die Großen Revolutionen‹ bezeichnen, wegen der mit ihnen einhergehenden grundlegenden Umwälzungen von ökonomischen Machtverhältnissen und Gesellschaftsstrukturen und wegen der politischen Veränderungen, insbesondere Verfassungsänderungen. Oder vielleicht interessierst du dich für soziale Revolutionen, womit massive Veränderungen in der Weltsicht und Technologie einer Gesellschaft gemeint sind. Da wäre zum Beispiel die paläolithische Revolution, die wissenschaftliche Revolution, die industrielle Revolution, die sexuelle Revolution, die Biotech-Revolution, das Accelerando als Zusammenfluss von Revolutionen, die Weltraum-Diaspora, die Geschlechterrevolution, die Langlebigkeitsrevolution und so weiter.«

»Allerdings. Was ist mit Erfolgen? Kannst du mir die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution aufzählen?«

»Historische Ereignisse sind normalerweise zu überdeterminiert, um sie in der Kausalterminologie der Logik zu beschreiben, auf die man sich mit der Benutzung der Wendung ›notwendig und hinreichend‹ einlässt.«

»Versuch’s trotzdem.«

»Historiker sprechen von einer kritischen Masse der Unzufriedenheit im Volke, geschwächten zentralen Autoritäten, Hegemonieverlust …«

»Soll heißen?«

»›Hegemonie‹ bedeutet, dass eine Gruppe ohne die Ausübung nackter Gewalt über die andere herrscht, manchmal eher im Sinne eines Paradigmas, das unbemerkt Zustimmung zu bestimmten Machtverhältnissen erzeugt. Falls das Paradigma infrage gestellt wird, insbesondere in Situationen materieller Not, kann es zu einem nichtlinearen Verlust der Hegemonie kommen, sodass eine Revolution sich so schnell ereignet, dass keine Zeit für mehr als symbolische Gewalt bleibt, wie in den samtenen, leisen, seidenen und singenden Revolutionen von 1989.«

»Es gab eine singende Revolution?«

»Die baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen bezeichneten ihren Rückzug aus der Sowjetunion als singende Revolutionen, ein Begriff, der sich auf das Verhalten der Demonstranten auf den Marktplätzen bezog. Was uns zu einem wichtigen Punkt bringt: Menschen in physischen Ansammlungen scheinen eine Rolle zu spielen. Wenn ein hinreichender Bevölkerungsanteil bei Massendemonstrationen auf die Straße geht, dann hat die Regierung einen schlechten Stand für ihre Verteidigung. ›Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?‹, wie Brecht sagte. Da das unmöglich ist, stürzen Regierungen in diesem Fall oft. Oder es kommt zu einem Bürgerkrieg.«

»Mit Sicherheit ist die Literatur über Revolutionen nicht so oberflächlich«, sagte Swan. »Du zitierst einfach nur irgendwas! Dein Verstand ist wie die Ringe des Saturns, eine Million Meilen breit und nur einen Zoll tief.«

»Katechese und antiquierte Maßeinheiten lassen Ironie oder Sarkasmus vermuten. Bei dir würde ich eher Sarkasmus vermuten …«

»Sagte sie sarkastisch! Du Suchmaschine du.«

»Ein Quantendurchlauf ist definitionsgemäß ein Zufallsdurchlauf. Du kannst mein Programm gerne auf den neuesten Stand bringen, sobald du die Gelegenheit dazu hast. Ich habe gehört, dass Wangs anderer Algorithmus gut sein soll. Gewisse Verallgemeinerungsprinzipien wären sicher nützlich.«

»Erzähl mir mehr von den Gründen für Revolutionen.«

»Die Menschen hängen Ideen an, die Erklärungen und psychologische Kompensation für ihre Position im Klassensystem ihrer Zeit bieten. Entweder sie verstärken ihr Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, indem sie ihnen ihre Lage verdeutlichen, oder sie versuchen, es mittels einer Ideologie für unwichtig abzutun, die ihr eigenes Wohlergehen hinter einem größeren Projekt zurückstellt, dessen Teil sie sind. Deshalb handeln Menschen sehr oft gegen ihre eigenen Interessen – sie hängen Ideologien an, die ihre Unterwerfung rechtfertigen. Dabei spielen sowohl Selbstbetrug als auch Hoffnung eine Rolle. Solche Kompensationsideologien sind Teil des hegemonialen Einflusses auf die Unterworfenen in einer imperialen Situation. So etwas geschieht in allen Klassensystemen, also in allen Kulturen der überlieferten Geschichte seit den ersten bäuerlichen und städtischen Gesellschaften.«

»Das waren alles Klassensysteme?«

»Möglicherweise gab es vor der neolithischen agrokulturellen Revolution klassenlose Gesellschaften, aber aufgrund der Quellenlage ist unser Verständnis solcher Kulturen sehr spekulativ. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass in der agrokulturellen Revolution nach der Eiszeit, bei der es sich um eine der umfassenderen Revolutionen handelte, die wahrscheinlich um die tausend Jahre dauerte, eine Klasseneinteilung in Form eines staatlichen Machtapparats institutionalisiert wurde. Überall auf der Welt und unabhängig voneinander entwickelte sich eine vierschichtige Teilung in Priester, Krieger, Handwerker und Bauern. Oft wurden alle vier Klassen von einem Monarchen beherrscht, der von allen als heilig anerkannt wurde, einem König, der gleichzeitig ein Gott war. Für die Priester- und Kriegerklassen war das sehr nützlich, genau wie für die Machtausübung von Männern über Frauen und Kinder.«

»Also gab es nie eine klassenlose Gesellschaft.«

»Nach gewissen Revolutionen wurden vorgeblich klassenlose Gesellschaften eingerichtet, aber normalerweise gibt es bei solchen Revolutionen Anführer, die schnell eine neue herrschende Klasse bilden, und die verschiedenen gesellschaftlichen Rollen, die die Einwohner des postrevolutionären Staats einnehmen, werden aufgrund des unterschiedlichen Werts, der den verschiedenen Rollen zugesprochen wird, wieder zu Klassen. In der Folge wird recht schnell eine neue Hierarchie aufgebaut, normalerweise im Laufe von fünf Jahren.«

»Also waren alle Kulturen in unserer Geschichte Klassensysteme.«

»Manchmal wird behauptet, dass der Mars heute eine klassenlose Gesellschaft sei, mit vollständiger Einebnung ökonomischer und politischer Macht in der gesamten Bevölkerung.«

»Aber der Mars schubst dafür inzwischen alle anderen herum. Nimmt man das System als Ganzes, dann stellen seine Bewohner eine Oberklasse dar.«

»Über den Mondragon wird zuweilen das Gleiche behauptet.«

»Und wir sehen ja, wie toll das läuft.«

»Verglichen mit der Lage auf der Erde könnte man den Mondragon als großen Erfolg bezeichnen, tatsächlich als eine Art Revolution und den nächsten Schritt nach der marsianischen Revolution.«

»Interessant. Also …« Swan überlegte einen Moment. »Denk dir ein Rezept für eine erfolgreiche Revolution aus.«

»Man nehme eine große Menge Ungerechtigkeit, Wut und Enttäuschung. Gebe sie in einen schwachen oder im Scheitern begriffenen Hegemon. Dann rührt man ein bis zwei Generationen Elend unter, bis die Mischung sich erhitzt. Nach Geschmack mit destabilisierenden Begleitumständen würzen. Eine winzige Prise Ereignis als Katalysator für das Ganze. Sobald das Hauptziel der Revolution erreicht ist, sofort abkühlen, um die neue Ordnung zu institutionalisieren.«

»Sehr hübsch. Das war wirklich kreativ von dir. Jetzt gib mir bitte Mengen für das Rezept. Ich will Einzelheiten. Ich will Zahlen.«

»Da verweise ich dich auf den Klassiker Das quantifizierte Glück von van Praag und Ferrer-i-Carbonell, der eine mathematische Analyse enthält, um die Rohzutaten einer gesellschaftlichen Situation zu analysieren. Das Buch enthält ein Zufriedenheits-Differenzial, das zusammen mit einer Maslow’schen Bedürfnishierarchie auf tatsächlich existierende Bedingungen in den zu bewertenden politischen Einheiten angewendet werden könnte, wobei man Gini-Zahlen und alle diesbezüglichen Daten verwendet, um die Differenz zwischen Ziel und Norm zu bewerten. Anschließend ließe sich ersehen, ob Revolutionen sich an vorhersagbaren Scheidepunkten ereignen oder ob sie weniger linear sind. Van Praag und Ferrer-i-Carbonell dürften darüber hinaus dabei helfen zu erkennen, welche Art von politischem System aus einer solchen Revolution hervorgehen würde, und welche Veränderungen dafür notwendig wären. Was den Vorgang selbst betrifft, ist es immer wieder interessant, sich mit Thomas Carlyles Die Französische Revolution zu befassen.«

»Hat er Zahlen?«

»Nein, aber er hat eine Hypothese. Die Zahlen finden sich in Das quantifizierte Glück. Eine Synthese müsste möglich sein.«

»Wie lautet seine Hypothese kurz zusammengefasst?«

»Die Menschen sind dumm und böse, insbesondere die Franzosen. Sie lassen sich durch Macht immer leicht verführen und in den Wahnsinn treiben, weshalb sie von Glück sagen können, wenn sie überhaupt irgendeine gesellschaftliche Ordnung haben, aber je härter, desto besser.«

»Also gut, was ist dann die Synthese?«

»Es liegt im besten Interesse des Einzelnen, allgemeines Wohlergehen zu erreichen. Menschen sind dumm und böse, aber manche Bedürfnisse sind so dringend, dass wir für deren Befriedigung arbeiten. Wenn sich die eigenen Interessen mit dem allgemeinen Wohlergehen decken, dann werden auch böse Menschen alles Nötige tun, um allgemeines Wohlergehen herbeizuführen.«

»Sie werden sogar eine Revolution durchführen.«

»Ja.«

»Doch selbst wenn die bösen, schlauen Leute um ihrer selbst willen das tun, was für die Allgemeinheit gut ist, dann gibt es immer noch dumme Leute, die diese deckungsgleiche Isomorphie nicht erkennen, und einige dumme Leute, die noch dazu böse sind, und die reiten dann alles in die Scheiße.«

»Darum gibt es dann Revolutionen.«

Swan lachte. »Pauline, du bist lustig! Langsam wirst du wirklich richtig gut. Fast, als würdest du denken.«

»Wissenschaftliche Studien stützen die Annahme, dass es sich beim Denken meistens um eine Neukombination vorangegangener Gedanken handelt. Ich verweise dich einmal mehr auf meine Programmierung. Ein besserer Satz Algorithmen wäre sicherlich hilfreich.«

»Du hast doch schon rekursive Superrechenleistung.«

»Was möglicherweise nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist.«

»Glaubst du also, dass du schlauer wirst? Ich meine, klüger? Ich meine, bewusster?«

»Das sind sehr allgemeine Begriffe.«

»Natürlich sind sie das, also antworte! Hast du ein Bewusstsein?«

»Ich weiß es nicht.«

»Interessant. Kannst du einen Turing-Test bestehen?«

»Ich kann keinen Turing-Test bestehen, möchtest du Schach spielen?«

»Ha! Wenn es bloß ein Schachspiel wäre! Das ist es wahrscheinlich, was ich wissen will. Wenn es ein Schachspiel wäre, was sollte ich als Nächstes für einen Zug machen?«

»Es ist kein Schachspiel.«

Auszüge (11)

Fehler, die im Überschwang des Accelerando begangen wurden, hinterließen in den folgenden Zeiten ihre Spuren. Wie in Insel-Biogeografien, in denen isolierte Enklaven immer rasch auseinanderdriften und es sogar zur Entstehung neuer Arten kommt, erleben wir

ein Fehler bestand darin, dass im All keine allgemein anerkannte Regierung etabliert wurde. Damit wiederholte sich die Situation der Erde, auf der sich niemals eine Weltregierung entwickelte. Die Balkanisierung wurde zum umfassenden Prinzip; und ein Aspekt der Balkanisierung war die Rückentwicklung zum Tribalismus, der dafür berüchtigt ist, dass er die Nicht-Stammeszugehörigen als nicht menschlich definiert, mit teils grausamen Folgen. Es handelte sich um keine gute Gesellschaftsstruktur für eine Zivilisation, die das ganze Sonnensystem umfasste und über zunehmende Machtmittel

ein weiterer Fehler lag schlicht in der überstürzten Entwicklung. Durch das rasante Terraforming des Mars wurden acht Prozent der Oberfläche des Planeten verbrannt. Venus, Titan und die Jupitermonde wurden allesamt besiedelt, bevor man überhaupt mit dem Terraforming begonnen hatte, was dann manche Methoden ausschloss und den ganzen Vorgang sehr viel komplizierter machte. Zugleich wurden durch die rasche Verbreitung von Langlebigkeitsbehandlungen und genetischen und körperlichen Anpassungen alle Menschen im All und viele auf der Erde zu experimentellen Geschöpfen. Überstürzung war das bestimmende Charakteristikum des Accelerando, und die Konsequenz waren die zahlreichen Zusammenbrüche des Ritardando. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Tiger beim Schwanz zu packen, und schnelle Lösungen

Tausende wunderschöner Terrarien, edelsteingefüllte Geoden, die sich wie Kreisel drehen, der Büchse der Pandora entsprungen und nie wieder einzufangen

Swan daheim

Sie schwenkten in die Umlaufbahn des Merkur ein. Unter ihnen drehte sich der große Felsbrocken, kohlschwarz bis auf eine schmale sonnenbeschienene Sichel, die wie geschmolzenes Glas glänzte. Im Dunkeln hinab zum Raumhafen, dann zur Plattform und hinein ins wiederaufgebaute Terminator. Mal sehen, wie die Stadt ganz neu und nackt aussah.

In mancherlei Hinsicht hatte sie sich kaum verändert. Mithilfe von 3D-Druckern hatte man die Einrichtung seiner Bewohner wiederhergestellt, weshalb Swans Zimmer in seinem ganz eigenen »Uncanny Valley« lag und ihr vorkam wie ein rekonstruiertes Haus in Pompeji. Doch Richtung Westen, in der vorderen Hälfte der Stadt, also im Park und auf der Farm, war alles nackt, nackt, nackt. Swan sah es, als sie von ihrer Unterkunft aus über die Große Treppe Richtung Bug ging. Die Stadt war baumlos, sie bestand lediglich aus Stahl und Formplastik und Steinschaum. Die vielen Versionen ihres früheren Ichs kamen ihr mit einem Mal in den Sinn – sie dachte an die Swan, die Terrarien gebaut hatte, die auf die schillernde Stadt hinabgeblickt hatte, oder an diejenige im Park mit den Schaukeln und dem Klettergerüst. Nie zuvor hatten sie sich alle in dieser Weise zusammengefunden, und Swan empfand sich selbst als etwas Neues.

Wie es sich herausstellte, ging es den anderen Bewohnern der Stadt ebenso. Es war eine sehr gefühlsgeladene Woche, in der sie ihre alten Nachbarn begrüßte, ihre Freunde, ihre Kollegen, Mqaret. Einmal hielten sie sogar eine kurze Trauerfeier für die alte Stadt ab. Noch einmal mussten Elemente der Seltenen Erden in die Matrix für den neuen Mutterboden eingebracht werden – zermahlenes und mit nährstoffgefüllten Aerogelen vermischtes Gestein aus dem Umland. Der Boden war nun schon fast so weit, dass sie die Startkulturen aus dem kalifornischen Central Valley ausbringen konnten, dessen Boden zum besten Humus der Erde gehörte. Doch vorher mussten die Seltenen Erden ausgestreut werden, also ließen sie sie bei der Trauerfeier aus einem Luftballon herabrieseln, wie sie es mit der Asche von Alex und so vielen anderen getan hatten. Dabei öffneten sie die großen Tore der Dämmerungsmauer, sodass das horizontale Sonnenlicht sich in den wirbelnden Staubmassen fing.

Anschließend fielen die meisten Einwohner in ihren Alltag aus den Zeiten vor dem großen Feuer zurück, sodass alles seinen Gang nahm, während die Bautrupps wiederherstellten, was bislang noch nicht repariert war. Es wurde endlos darüber debattiert, was man wiederaufbauen und was man verändern sollte, alt gegen neu. Swan setzte sich für das Neue ein und stürzte sich voll dankbarer Begeisterung in die Arbeit an Farm und Park. Die Erde war so … so … sie wusste nicht einmal, wie sie es ausdrücken sollte. Zu Hause war es so viel besser, hier, wo sie den Rücken krumm und sich die Hände schmutzig machte, um am Leben teilzuhaben.

Die Farm war natürlich am wichtigsten und wurde so schnell wie möglich wiederhergestellt. In den verschiedenen Bereichen wurden unterschiedliche Ansätze verwirklicht, von denen viele sich die landwirtschaftlichen Entwicklungen der hundert Jahre seit dem Bau der ursprünglichen Stadt zunutze machten, einschließlich der Verwendung zahlreicher neuer Pflanzen, diesmal eher solche, die für den Anbau auf Feldern geeignet waren, im Gegensatz zu den frühen hydroponischen Varianten, die man in der ersten Farm Terminators angesiedelt hatte. Jene erste Version war mit der Zeit zu klein geworden, um sowohl die Stadtbevölkerung als auch die Sonnenläufer zu versorgen, weshalb sie die Farm nun am Bug erweiterten. Der neue Erdboden, den sie ausbrachten, war zum großen Teil von schwammartigen Nährstoffmatrizen durchzogen, die ein schnelles Wurzelwachstum begünstigten und eine sehr präzise Bewässerung ermöglichten. Auch die Techniken zur Manipulation von Tageszyklen hatten sich weiterentwickelt, wodurch man ein dreißigmal schnelleres Wachstum erreichte als in freier Wildbahn. Dieser Effekt war durch Genmanipulation noch weiter gesteigert worden, weshalb man nun im Regelfall ein Dutzend Ernten pro Jahr einfahren konnte, was eine starke Mineralien- und Nährstoffzufuhr nötig machte. Auch das Erdreich musste wachsen, um mit dem Getreide Schritt zu halten.

Swan wurde nur dann als Beraterin aktiv, wenn es darum ging, die Startkulturen in den Boden einzubringen, denn in allen anderen Dingen war sie längst nicht mehr auf dem neusten Stand. Ansonsten gesellte sie sich einfach zu den jungen Farm- und Park-Ökologen, lauschte den neusten Theorien und verbrachte die restliche Zeit draußen in der jungen Prärie mit ihren Stickstofffixierern – Bakterien, Hülsenfrüchte, Erlen, Vitosek, Frankia und all die anderen Organismen, die freien Stickstoff in Nitraten fixieren konnten. Selbst diese Phase des Vorgangs ließ sich inzwischen stärker beschleunigen als je zuvor. Es dauerte also nur einige wenige Monate, bis sie zwischen langen Reihen von Auberginen, Kürbissen, Tomaten und Gurken hindurchgehen konnte. Jedes Blatt und jede Ranke, jeder Ast und jede Frucht reckte sich zum Sonnenstreifen und zu den Sonnenlampen der Farm empor, jede Pflanze gemäß der ihr eigenen Wuchsform. All das hatte etwas Vertrautes, zutiefst Beruhigendes. Die Farm war Swans Familie, seit jeher Teil ihres Lebens, und die jungen Leute kamen dieser Tage zu ihr und fragten sie über die Vergangenheit aus – warum so, warum das? Hattet ihr eine Theorie dazu? Wenn ihr ihre damaligen Beweggründe nicht mehr einfielen, warf sie einfach mögliche Antworten in den Raum. Größtenteils hatten sie sich danach richten müssen, wie viel Platz ihnen zur Verfügung stand und wie sich die Dinge in Schwung halten ließen. War das nicht immer so? Materielle Beschränkungen, Budgetfragen, Krankheitsbefall – um effiziente Gestaltung oder innere Zweckmäßigkeit ging es dagegen selten.

Als die neue Farm erste Ernten einbrachte und die Bäume und anderen Pflanzen im Park im raschen Wachstum begriffen waren, brachte man Tiere aus anderen Terrarien. Diesmal legten sie eine Ascension an – das war nicht Swans Idee gewesen, sie gefiel ihr genau genommen kein bisschen, aber trotzdem hielt sie den Mund und schaute zu, als so etwas wie eine Kombination aus Australien und dem Mittelmeerraum entstand. Tatsächlich war es wirklich wunderbar mitanzusehen, wie die Tiere eintrafen, an den Pflanzen knabberten und vorsichtig ihre Suche nach Höhlen und Nestern begannen. Wallaby-Kängurus und Gibraltaräffchen, Rotluchse und Dingos. Eukalyptus und Korkeiche. Eine Menge Terrarien aus dem Mondragon halfen ihnen aus, indem sie Tiere schickten.

Swan verbrachte ihre Zeit auf der Farm und kümmerte sich um die Winteraussaaten. Frisch eingetroffene Buschhäher krächzten wie Krähen und pickten kleine Würmer und Käfer auf, wenn sie sich an die Oberfläche wagten. Manche bedachten Swan mit nachdenklichen Blicken, als suchten sie bei ihr nach irgendeinem Vogelmerkmal, von dem sie selbst nicht wusste, ob sie es hatte. Bitte fangt nicht an, Griechisch mit mir zu sprechen, flehte sie in Gedanken. Das halte ich nicht aus. Die Blicke der Vögel erinnerten sie an Jean Genette.

Manchmal ging sie nach der Arbeit ganz nach vorne in den Bugspriet der Stadt und sah zu, wie sie auf ihren Schienen dahinkroch, während vor dem Hintergrund der Sterne die Hügel am Horizont vorbeizogen. Wie immer waren die Hügel entweder ausgesprochen schwarz oder ausgesprochen weiß. Der ständige Wechsel von Schwarz zu Weiß (und manchmal auch von Weiß zu Schwarz) ließ die Umgebung wie eine Art Mobile erscheinen, und Swan selbst kam sich im Bug wie eine Galionsfigur vor, als gehörte sie einer Elite an der Speerspitze der Geschichte an. Doch ihr Schiff fuhr auf Schienen, die sich bis zum Horizont erstreckten, der Kurs war festgelegt durch einen unverrückbaren Pfad. Und wenn man es zum Stehen brachte, würde es eingeäschert werden. Unter alldem verlief ein grausiger schwarzer Tunnel, eine Mischung aus Kloake und Nabelschnur, die bis zu irgendeiner Erbsünde zurückreichte. Ja, das hier war wirklich ihre Welt: ein Ritt in die Dunkelheit und ins Sternenmeer, auf Schienen, die sie nicht so ohne Weiteres verlassen konnte. Sie war eine Bürgerin Terminators und lebte in einer kleinen grünen Blase, die sich über eine schwarz-weiße Welt schob.

Abends nach der Arbeit begab sich Swan immer auf ihr Zimmer, das von oben gesehen auf der vierten Terrasse lag. Dort zog sie sich um und ging anschließend in ein Restaurant oder zu Mqaret.

»Es fühlt sich gut an, zu Hause zu sein«, sagte sie zu Mqaret. »Gott sei Dank haben wir die Stadt wiederaufgebaut.«

»Das mussten wir«, erwiderte Mqaret.

»Was ist mit deiner Arbeit?«, fragte ihn Swan. »Hast du nicht alles Mögliche verloren?«

Mqaret schüttelte den Kopf. »Ich hatte Sicherheitskopien von allem. Wir haben die laufenden Experimente verloren, aber sonst nichts. Und es gibt eine Menge Orte, an denen vergleichbare Experimente durchgeführt werden.«

»Haben die anderen Labors dir bei der Wiederaufnahme deiner Arbeit geholfen, wie bei der Sache mit den Tieren?«

»Ja. In erster Linie kamen die Mittel von unserer Mondragon-Versicherung, aber viele waren sehr freigebig. Trotzdem gab es eine Menge, was wir selbst zusammenbekommen mussten, aber so ist das nun mal.«

»Und wie läuft es jetzt, findest du nach wie vor etwas Brauchbares heraus?«

»Aber ja doch, Brauchbares, sicherlich.«

»Etwas über dieses Zeug von Enceladus? Meintest du nicht, dass du daraus etwas Wichtiges lernen könntest?«

»Anscheinend siedelt es sich vor allem im menschlichen Verdauungstrakt an und lebt von zufällig angeschwemmten Abbauprodukten. In diesem Zustand verhält es sich ebenso unauffällig wie die meisten gewöhnlichen Darmbakterien. Aber wenn mit einem Mal sehr viel mehr Abbauprodukte zur Verfügung stehen, vermehrt es sich sehr rasch, verstoffwechselt alles und stirbt anschließend wieder ab. Außerdem gibt es da noch ein kleines enceladanisches Raubtier, das auf der Lauer liegt. Zusammen fungiert all das beinahe als ein zusätzlicher Satz T-Zellen. Nicht mal das Fieber treiben sie nennenswert in die Höhe.«

»Ich weiß, dass du immer noch der Meinung bist, dass ich es nicht hätte tun sollen.«

Er verdrehte die Augen und nickte ihr zu. »Daran besteht kein Zweifel, meine Liebe. Aber ich gebe zu, dass wir wegen dir und den anderen, die leichtfertigerweise die Suite eingenommen haben, etwas dazugelernt haben. Und das Endergebnis ist anscheinend gut für euch. Immerhin hast du eine verdammt große Menge Strahlung überlebt, was vermutlich daran liegt, dass deine Fremdwesen dir mit all den toten Zellen in deinem Körper geholfen haben. Das ist eine der schlimmsten Strahlungsfolgen, dass man mit einem Mal von abgestorbenen Zellen überschwemmt wird.«

Swan stand da und starrte ihn an. Sie versuchte, sich einen Reim auf seine Worte zu machen. Eine lange Zeit hatte sie einfach die Augen vor der Dummheit verschlossen, die sie begangen hatte, als sie die außerirdischen Bakterien eingenommen hatte. Sie war zu einer Expertin darin geworden, dieses Thema zu verdrängen. Verrückt werden … Vögel hören, die Griechisch sprachen … sie wusste, dass all das passieren konnte. Aber dass ihr die Fremdwesen einmal helfen würden …

»Das ist es, was du in meinem Blut entdeckt hast?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Tja«, sagte sie, »dann hoffe ich, dass du recht hast.«

Er blickte sie an. »Klar tust du das.« Er schüttelte unglücklich den Kopf. »Es steht nun auf Messer Schneide, meine Liebe. Du solltest jetzt lieber nicht straucheln.«

»Wie immer, was?«

»Ich meine nicht die Gefahr zu sterben. Ich rede von einer neuen Grenze des Lebens. Ich frage mich, ob wir nicht kurz vor einem Durchbruch bei den Langlebigkeitsbehandlungen stehen. Einer Art von gestalthaftem Sprung nach vorne. Der ziemlich bald kommen wird. Es gibt so viel, was wir gerade erst beginnen zu verstehen. Denk nur, vielleicht wirst du tausend Jahre leben.«

Er schaute sie an, ließ die Worte einsickern und beobachtete Swan dabei, um sich zu vergewissern, dass sie ihre Wirkung entfalteten. Das entging ihr nicht. Mqaret fuhr fort.

»Ich werde das nicht mehr erleben. Ich denke, dass wir nach wie vor etwa fünfzig Jahre von der Lösung bestimmter letzter Probleme entfernt sind. Aber du … du solltest lieber vorsichtig sein.«

Er schloss sie sanft, fast ein wenig furchtsam in die Arme, als wäre sie zerbrechlich oder giftig. Aber seine Miene war nach wie vor voll Zuneigung. Ihr Großvater liebte sie und machte sich Sorgen um sie. Und er hatte festgestellt, dass sie mit ihrem überstürzten Handeln vielleicht etwas Brauchbares in Erfahrung gebracht hatte. Es war ein bisschen wie das Rosenwunder der heiligen Elisabeth: auf frischer Tat ertappt, aber durch eine Verwandlung gerettet. Der Gedanke verwirrte Swan.

Auszüge (12)

Isomorphien tauchen in unserem gesamten Begriffssystem auf. Man sieht Muster wie dieses …

subjektiv, intersubjektiv, objektiv;

existenziell, politisch, physikalisch;

Literatur, Geschichte, Wissenschaft;

… und fragt sich, ob es verschiedene Arten gibt, das Gleiche auszudrücken?

Sind die Dichotomien »apollinisch/dionysisch« und »klassisch/romantisch« zwei verschiedene Arten, über dieselbe Sache zu sprechen?

Kann es falsche Isomorphien geben, wie bei den »sieben Todsünden« des Alterns, die absichtlich das Denksystem der christlichen Religion aufrufen, obwohl es überhaupt nichts mit dem Altern zu tun hat?

Ist isomorph dasselbe wie übereinstimmend? Das »Standardmodell« der Physik hegt die Hoffnung und die Erwartung, Grundlage aller Disziplinen zu sein, die alle mit ihren grundlegenden Befunden übereinstimmen. Insofern durchdringen sich Physik, Chemie, Biologie, Anthropologie, Soziologie, Geschichte und die Künste alle gegenseitig und bilden eine Einheit, wenn man sie als eine einzige Lehre betrachtet, in der alle Fäden zusammenlaufen. Die Physik bildet das Grundgerüst für die Lebenswissenschaften, die wiederum das Gerüst für die Humanwissenschaften bilden, die das Gerüst für die Geisteswissenschaften bilden, die das Gerüst für die Künste bilden; und da wären wir dann. Was ist also die Gesamtheit? Wie nennen wir sie? Kann es absolute Wissenschaft geben? Behaupten nicht Geschichte, Philosophie, Kosmologie, Naturwissenschaften und Literatur jeweils von sich, die Gesamtheit darzustellen, einen nicht mehr weiter hinauszuschiebenden Horizont, der die Grenze unseres Denkens markiert? Könnte eine starke Disziplin als eine definiert werden, die eine Vision der Gesamtheit hat und von sich behauptet, alle anderen zu umfassen? Und irren sich all diese Disziplinen, indem sie genau das tun?

Ist die Gesamtheit schlicht und einfach die Praxis, also das, was wir mit uns selbst und mit der Welt anfangen? Gibt es so etwas wie eine allumfassende Lehre vielleicht überhaupt nicht, sondern nur einen Zusammenfluss? Den Zusammenfluss all unserer Felder des Denkens im menschlichen Handeln?

Zum Zeitpunkt unserer Studie bildeten all diese Fragen ein großes Durcheinander, und die verschiedenen Disziplinen hatten unterschiedliche Haltungen zu ihnen. In einigen Feldern beschränkte man sich streng auf menschliche Probleme. Man wählte diese verengte Perspektive mit Absicht, um eine Aussage über Bedeutung zu treffen. Es sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass das menschliche Leben so lange Gegenstand menschlicher Forschung sein sollte, bis wir den Punkt erreichen, an dem es uns allen gut genug geht, damit wir es uns leisten können, über anderes nachzudenken.

Einige Vertreter der Physik und anderer Disziplinen erwiderten darauf, dass viele Bereiche der Naturwissenschaften entscheidende Auswirkungen auf das menschliche Streben nach Gerechtigkeit hätten, weshalb der stärkste Humanismus aus einer Perspektive erwachsen müsse, die Physik, Biologie und Kosmologie sowie die Wissenschaft vom Bewusstsein einbezieht. Gerechtigkeit müsse teilweise als Bewusstseinszustand betrachtet werden und teilweise als ein bestimmtes physikalisches oder ökologisches Verhältnis zwischen symbiotischen Organismen.

Die anthropozentrisch Eingestellten wandten ein, dass wenn die Naturwissenschaften zu gerechten Zuständen verhelfen könnten, dies schon lang geschehen wäre. Schließlich hatten die Menschen jahrhundertelang über große Macht verfügt, und trotzdem herrschte keine Gerechtigkeit.

Die Verteidiger der Physik reagierten mit der Feststellung, dass dieses Scheitern nur daher rührte, dass man die physikalische Wirklichkeit im Allgemeinen nach wie vor aus dem Projekt der Gerechtigkeit ausschloss.

Diese spiegelbildlichen Argumente wurden lange Zeit hin und her gespielt, nicht in der Epoche des Zauderns, sondern bis zur Balkanisierung und bis zum schicksalhaften Jahr 2312. Und so blieb das Schicksal der Menschheit angesichts ihres nicht eingelösten Projekts in der Schwebe. Den Menschen war das bewusst, doch sie handelten nicht entsprechend. Der Leser mag sie dafür verachten; aber zum Handeln braucht es Mut, und auch Beharrlichkeit. Tatsächlich würde es den Autor nicht überraschen, wenn auch seine Leser in einer fernen Zukunft in einer noch immer höchst unvollkommenen Welt leben.

Swan bei den Vulkanoiden

Schließlich wählte der Rat von Terminator eine neue Löwin des Merkur. Es handelte sich dabei um eine alte Freundin von Alex und Mqaret namens Kris. Kurz nach ihrer Einsetzung bat Kris Swan darum, sich einer Reise zu den Vulkanoiden anzuschließen, die soeben vorbereitet wurde. Kris wollte Alex’ Abmachung mit den Vulkanoiden erneuern, gemäß der Terminator als Makler ihrer Lichtsendungen zu den äußeren Welten fungieren durfte. »Das war wieder mal eine von Alex’ mündlichen Vereinbarungen«, sagte Kris stirnrunzelnd, »und seit ihrem Tod und umso mehr seit dem Brand gibt es Anzeichen dafür, dass die Vulkanoiden hinter unserem Rücken Kontakte ins äußere System knüpfen. Einige von uns sind schon auf den Gedanken gekommen … weißt du vielleicht, ob Interplan gegen die Vulkanoiden im Zusammenhang mit dem Angriff auf Terminator ermittelt?«

»Ich glaube nicht.«

Swan wollte eigentlich nicht dorthin, und sie wollte auch nicht über Genettes fortlaufende Ermittlungen nachdenken, da sie derzeit voll damit beschäftigt war, den neu gestalteten Park zu bepflanzen. Aber es würde nur eine kurze Reise werden, und die Arbeit würde bei ihrer Rückkehr noch längst nicht abgeschlossen sein. Also packte sie ihre Sachen und verließ die Stadt gemeinsam mit Kris über die Plattform in der Nähe des Ustad-Isa-Kraters, wo es eine neue Schienenkanone gab, die Schiffe systemeinwärts schleuderte.

Die vulkanoiden Raumschiffe waren bauchige Dinger, schwer gepanzert und fensterlos. Auf ihren Flügen gelangten sie bis zu dem Band dreißig Kilometer großer Asteroiden, die die Sonne in einer Umlaufbahn von 0,1 astronomischen Einheiten umkreisten, also nur 15 Millionen Kilometer von dem Stern entfernt waren. Dieses nahezu vollkommen kreisförmige Halsband aus verkohlten, aber stabilen Schmuckstücken, das man im 21. Jahrhundert vom Merkur aus entdeckt hatte, war vor Kurzem besiedelt worden, obwohl auf den Sonnenseiten dieser Steine Temperaturen von bis zu tausend Grad Kelvin herrschten. Diese Hemisphären, aufgrund der Gezeitenkräfte immer der Sonne zugewandt, hatten unter der Glut der Sonne im Laufe ihrer Existenz mehrere Kilometer Fels eingebüßt. Es handelte sich um urzeitliche Objekte, die Vulkanoiden gehörten zu den ältesten Asteroiden. Inzwischen hatte man sie auf die gleiche Art besiedelt wie andere Terrarien auch – man hatte sie ausgehöhlt. Den Aushub hatte man in diesem Fall zum Bau gewaltiger runder Solettas verwendet, die das Licht einfingen. Diese Solettas wandelten das Licht in Laserstrahlen um, welche sich auf Empfängersolettas im äußeren Sonnensystem ausrichten ließen und nun wie die Ampeln Gottes an den Himmeln von Triton und Ganymed leuchteten. Die Wirkung war so dramatisch, dass mehr äußere Satellitensiedlungen nach vulkanoider Verkehrsbeleuchtung verlangten, als es Vulkanoide gab, die sie hätten liefern können.

Als ihr Sonnentaucher die Vulkan-Umlaufbahn erreichte, zeigten ihre Monitore die Sonne als einen roten Kreis und die Vulkanoiden als loses Band leuchtend gelber Punkte vor und neben dem Rot. Grüne Linien, die das per Laser verschickte Licht darstellten, zeigten von den gelben Punkten aus links und rechts aus dem Bild heraus. Auf allen Bildern nahm die Sonne einen Großteil der Monitore ein. Ein großer Feuerdrache, und trotzdem flogen sie immer weiter – tollkühn, leichtfertig – näher an der Glut, als einem Menschen guttun konnte. Es war eine Übertretung, die mit Sicherheit Strafe nach sich ziehen würde. Auf einem der Bildschirme sah die Sonne aus wie ein brennendes rotes Herz, die Sonnenzellen mit ihrer körnigen Oberflächenbeschaffenheit wie gegen die Maserung geschnittene Muskeln. Ganz sicher waren sie zu nah dran.

Von der sonnenabgewandten Seite aus gesehen war der Vulkanoid, auf den sie zusteuerten, ein nackter schwarzer Felsbrocken, ein typischer Kartoffelasteroid, umgeben von einem silbernen Schirm, der hundertmal so groß war wie er selbst. Es gab einen Punkt gegen Ende ihres Anflugs, an dem der Asteroid mit seiner Soletta die Sonne vollständig verdunkelte, sodass der verstörende Anblick der roten Sonne sich in einen dünnen Strahlenkranz mit elektrisch peitschender Aura verwandelte. Dann waren sie im Dunkel, im Schutz des Vulkanoiden-Schirms. Die Erleichterung ließ sich mit Händen greifen.

Wie erwartet waren die Menschen im Innern des Felsbrockens Sonnenanbeter. Manche wirkten wie die Sonnenläufer in der Wildnis des Merkur, sorglos und leichtsinnig. Andere sahen eher aus wie Asketen eines Mönchsordens. Die meisten waren entweder Männer oder Hermaphroditen. Sie lebten in der dichtesten möglichen Umlaufbahn um die Sonne; selbst die sogenannten Sonnentaucher stießen nur ein wenig weiter vor und kehrten dann sofort wieder um. Dichter an der Sonne konnte man nicht leben.

Es war ein zutiefst religiöser Ort. Obwohl Swan das akzeptieren konnte, konnte sie sich nur mit Mühe vorstellen, wie die Sonnenjünger lebten. Das Terrarium im Innern des Felsens war eine Wüste, was in Anbetracht der Umstände zwar angemessen war, aber auch extrem beschwerlich. Heiß, trocken, staubig. Verglichen damit war selbst die Mojave-Wüste ein üppiger Garten.

Es handelte sich um eine Form von Selbstgeißelung, und obwohl Swan in ihrer Jugend und zur Hochzeit ihrer Abramovics selbst viele Formen der Selbstgeißelung ausprobiert hatte, glaubte sie nicht länger daran, dass man sie um ihrer selbst willen betreiben sollte. Außerdem erschienen ihr diese Menschen mit der modernen Technologie eher wie Leuchtturmwächter als wie hingebungsvolle Gläubige. Dieses System war zehntausendmal leistungsfähiger als die ältere Lichtübertragungstechnologie des Merkur, die von nun an so überholt war wie eine Öllampe. Das schmälerte sowohl Merkurs Beitrag zum Mondragon-Bund als auch seine Druckmittel, und ein Teil der vom Mondragon-Komitee vorgeschlagenen Kompensation bestand darin, diese neue vulkanoide Möglichkeit zum Lichttransfer durch Terminator koordinieren und vermitteln zu lassen. Die Einzelheiten mussten die betroffenen Parteien miteinander aushandeln. In diesem Fall hatte Alex das Aushandeln übernommen; doch würden ihre Klienten und/oder Mitbürger weiterhin zu dem Abkommen stehen, jetzt, wo Alex fort und das Haus des Maklers abgebrannt worden war? Würden sie dabei helfen, ihren Agenten, ihre Bank, ihr altes Zuhause wieder aufzubauen?

»Nun ja«, sagte einer von ihnen, nachdem Kris von Terminators Hoffnungen auf ein Fortbestehen des Abkommens erzählt hatte. »Licht in die Außenbereiche des Systems zu bringen ist unser Beitrag für den Mondragon und für die Menschheit. Wir befinden uns in einer besseren Position dafür als der Merkur. Wir wissen, dass ihr uns am Anfang geholfen habt, aber jetzt haben die Saturnianer angeboten, die Kosten für den Bau von hinreichend großen Solettas auf allen Vulkanoiden zu übernehmen. Und dort draußen wird unser Licht dringend gebraucht. Deshalb nehmen wir das Angebot an, soweit wir dazu in der Lage sind. Ehrlich gesagt übersteigt es unsere derzeitigen Möglichkeiten ein wenig. Wir sind immer noch bei der Feinabstimmung der zweiten Generation. An einigen Problemen arbeiten wir noch. Wir haben nicht genug Leute, um alles, was sie uns anbieten, auch zu nutzen.«

Kris nickte. »Sie brauchen unsere Hilfe, um das Ganze zu koordinieren. Sie werden hier gebraten, rund herum von der Sonne abgeschält, während Sie gleichzeitig versuchen, Ihre Stationen in Gang zu bringen.«

Darüber dachten sie eine Weile nach. Dann sagte der Sprecher: »Mag sein. Aber während Terminator nicht einsatzfähig war, hatten wir keinerlei Schwierigkeiten. Wir sind der Meinung, dass Merkur andere Wege finden sollte, seinen Beitrag zum Mondragon zu leisten, und das Licht uns überlassen. Sie haben Schwermetalle, Kunstgeschichte und Terminator selbst als ein Kunstwerk und Reiseziel für Touristen auf der großen Tour und Sonnenbeobachter. Sie kommen schon zurecht.«

Kris schüttelte den Kopf. »Wir sind die Hauptstadt des inneren Systems. Bei allem gebotenen Respekt, Sie betreiben hier einfach nur Kraftwerke. Dafür brauchen Sie eine Verwaltung.«

»Mag sein.«

Swan sagte: »Mit welchen Saturnianern haben Sie über diese Sache geredet?«

Alle blickten zu Swan. »Sie haben als gesamte Liga mit uns gesprochen«, antwortete einer. »Aber wir haben denselben Kontaktmann zum Saturn wie Sie – den Botschafter für die inneren Planeten. Nach allem, was man hört, kennen Sie ihn besser als wir.«

»Sie meinen Wahram?«

»Natürlich. Er hat uns erzählt, dass Sie auf dem Merkur die interplanetare Lage kennen und verstehen würden, wie wichtig unser Licht für das Titan-Projekt ist. Und auch für all die anderen äußeren Planeten.«

Swan antwortete nicht.

Kris begann ein Gespräch über die Siedlung auf Triton und die dortigen Pläne, Neptun zu stellarisieren.

»Ja«, antwortete einer der Vulkanoiden, »aber die Saturnianer werden nicht dasselbe mit dem Saturn tun.«

Swan unterbrach sie: »Erzählen Sie mir mehr von Wahram; wann hat er Sie besucht?«

»Vor ein, zwei Jahren, glaube ich.«

»Vor zwei Jahren?«

»Moment«, warf ein anderer ein. »Unser Jahr ist bloß sechs Wochen lang, das war also ein Witz. Er war gerade erst hier.«

»Es war nach dem Brand Terminators«, stellte der, der zuerst gesprochen hatte, klar und musterte sie dabei neugierig.

Kris füllte die sich anschließende Stille, indem sie die Vulkanfiber daran erinnerte, dass sie als neue Löwin des Merkur nun das nominelle Oberhaupt ihres Ordens war. Aber die hiesigen Vulkanfiber, so beeilten sie sich zu erklären, gehörten nicht zu den Grauen; sie hingen irgendeiner abgespaltenen Sekte an, die die Löwin des Merkur nicht als ihr Oberhaupt anerkannte. Trotzdem blieben sie sehr höflich, und Kris versuchte weiterhin, sie davon zu überzeugen, dass sie bei ihrer Abmachung bleiben sollten. Swan hatte allerdings Schwierigkeiten, dem Gespräch zu folgen. Je länger sie darüber nachdachte, was Wahram getan hatte, desto wütender wurde sie, bis sie schließlich überhaupt nicht mehr zuhörte. Genau in der Zeit, in der er laut eigener Aussage mit ihr hatte zusammenarbeiten wollen, nachdem sie das treibende Schiff in den Wolken des Saturn gefunden hatten, war er stattdessen hierhergekommen und hatte ihre Arbeit unterwandert. Es war ein fieser Schlag, völlig unerwartet.

Listen (11)

Annie-Oakley-Krater, Dorothy-Sayers-Krater

Außerdem Krater, die benannt sind nach:

Madame Sévigné, Shakira (einer Bakshir-Göttin), Martha Graham, Hippolyte, Nina Efimova, Dorothea Erxleben, Lorraine Hansberry, Catherine Beevher;

und nach der mesopotamischen Fruchtbarkeitsgöttin, der keltischen Flussgöttin, der Regenbogengöttin der Woyo, der Maisgöttin der Pueblo-Indianer, der vedischen Göttin des Überflusses, der römischen Göttin der Jagd (Diana), der lettischen Göttin des Schicksals;

und nach Anna Comnena, Charlotte Corday, Maria Stuart, Madame de Staël, Simone de Beauvoir, Josephine Baker.

Und nach Aurelia, der Mutter von Julius Cäsar. Tezan, der etruskischen Dämmerungsgöttin. Alice B. Toklas. Xanthippe. Kaiserin Wuhou. Virginia Woolf. Laura Ingalls Wilder.

Evangeline, Fátima, Gloria, Gaia, Helena, Heloisa.

Lillian Hellman, Edna Ferber, Zora Neale Hurston.

Guinevra, Nell Gwyn, Martine de Beausoleil.

Sophia Jex-Blake, Jerusha Jirad, Angelika Kauffmann.

Maria Merian, Maria Montessori, Marianne Moore.

Mu Guiying, Vera Mukhina. Aleksandra Potanina.

Margaret Sanger. Sappho. Zoya. Sarah Winnemucca. Seshat. Jane Seymour. Rebecca West. Maria Stopes. Alfonsina Storni. Anna Wolkowa. Sabina Steinbach. Mary Wollstonecraft. Anna von Schürmann. Jane Austen. Wang Zenyi. Karen Blixen.

Sojourner Truth. Harriet Tubman.

Hera. Emily Dickinson.

Wahram auf der Venus

Wahram hielt sich in der Stadt Colette auf und versuchte, wenigstens einige Mitglieder der Venus-Arbeitsgruppe für den Plan zu gewinnen, sich auf der Erde einzumischen. Außerdem wollte er gewisse venusianische Freunde um Hilfe bei Genettes Plan bitten, gegen die seltsamen Qubes vorzugehen. Keines der beiden Projekte lief besonders gut, obwohl immerhin Shukra eine gewisse Bereitwilligkeit zeigte. Im Gegenzug dafür wollte er allerdings Unterstützung bei seinen lokalen Konflikten, was Wahram ihm beim besten Willen nicht zusichern konnte. Der Mondragon und der Saturn würden mehr aufbieten müssen, wenn sie den einen oder anderen Venusianer in die künftigen Bemühungen in Sachen Erde einbinden wollten.

Dann, in einer willkommenen Verhandlungspause, klopfte es an der Tür zum Konferenzzimmer, und Swan trat ein. Wahram war völlig verblüfft darüber, sie zu sehen, und umso verblüffter war er, als sie quer durch den Raum ging, sich auf ihn stürzte und ihm mit geballten Fäusten vor die Brust schlug. »Du Scheißkerl!«, rief sie alles andere als leise. »Du hast mich angelogen, du hast gelogen!«

Er wich mit erhobenen Händen zurück und blickte sich nach einem Ort um, an dem sie ihre Unterhaltung ungestörter fortsetzen konnten. »Das habe ich nicht! Was meinst du damit?«

»Du bist zu den Vulkanoiden gegangen und hast einen Handel mit ihnen abgeschlossen, ohne mir etwas davon zu erzählen!«

»Das hat nichts mit Lügen zu tun!«, erwiderte er, obwohl er dabei das Gefühl hatte, Haarspaltereien zu betreiben. Aber es stimmte, und außerdem gab seine Antwort ihm genug Zeit, sich in einen Durchgang zurückzuziehen und um eine Ecke zu gehen, wo er innehalten und sich verteidigen konnte. »Ich habe da unten meine Arbeit für die Saturn-Liga erledigt, das hatte nichts mit dir zu tun, und du musst zugeben, dass wir einander normalerweise nicht unsere Terminkalender vorlegen. Ich habe dich seit einem Jahr nicht gesehen.«

»Weil du auf der Erde warst und dort auch Deals gemacht hast. Von denen du mir ebenfalls nichts erzählt hast. Was hast du mir denn überhaupt erzählt? Nichts!«

Wahram hatte schon lange befürchtet, dass dieser Augenblick kommen würde, doch er hatte das Problem ignoriert und seine Arbeit gemacht; jetzt bekam er die Rechnung dafür präsentiert. »Ich war unterwegs«, sagte er lahm.

»Unterwegs – was heißt unterwegs?«, wollte sie wissen. »Hör mal, warst du in dem Tunnel oder nicht? Waren wir zusammen in dem Tunnel oder nicht?«

»Das waren wir«, antwortete er und hob abwehrend die Hände. »Ich war dort.« Ich war nicht derjenige, der behauptet hat, nicht dort zu sein, aber das sagte er nicht.

Jedenfalls verstummte sie und starrte ihn an. Eine ganze Weile sahen sie einander so an.

»Hör mal«, sagte Wahram. »Ich arbeite für den Saturn. Ich bin der Botschafter der Liga für die Inneren Welten, und ich mache hier meine Arbeit. Das ist nichts … das ist nichts, wovon ich einfach so erzählen kann. Es handelt sich um einen ganz eigenen Bereich.«

»Man hat uns gerade angegriffen, und von unserer Stadt ist nur das Skelett geblieben. Das wenige, was wir überhaupt noch zu geben haben, darauf sind wir dringend angewiesen. Und dazu gehört Licht.«

»Aber nicht in brauchbaren Mengen. Die Gesamtheit dessen, was ihr uns vom Merkur schicken konntet, stellt für den Saturn eine kaum nennenswerte Menge dar. Bei den Vulkanoiden liegen die Dinge anders. Sie können uns genug schicken, um wirklich etwas zu bewirken. Wir brauchen das Licht für den Titan. Und ich bin beauftragt, mich darum zu kümmern. Es ist, als ob man zukünftige Anteile ersteigert. Es tut mir leid, dass ich dir nicht selbst davon erzählt habe. Ich war wohl … ich hatte Angst. Ich wollte nicht, dass du auf mich sauer bist. Aber jetzt bist du es sowieso.«

»Sogar noch viel mehr«, versicherte sie ihm. Aber nun trug sie nur noch um der Dramatik willen so dick auf. Er ging darauf ein:

»Es war dumm von mir. Es tut mir leid. Ich bin ein mieser Kerl.«

Das brachte sie beinahe zum Lachen, Wahram sah es ihr an. »Ein verdammter Scheißkerl«, sagte sie stattdessen, um das Spiel weiterzuspielen. »Aber das, was du auf der Erde gemacht hast, ist ohnehin noch schlimmer. Du hast einen Handel mit den reichen Nationen Terras abgeschlossen, darauf läuft es im Endeffekt hinaus, und das weißt du auch. Es ist wirklich eine Schande. Da unten gibt es Menschen, die in Pappverschlägen leben. Du weißt, wie es ist. So war es schon immer, und es sieht ganz danach aus, als würde es auch ewig so weitergehen. Deshalb werden sie uns auch immer hassen, und einige greifen uns an und lassen unsere Habitate platzen wie Seifenblasen. Die einzige Lösung ist Gerechtigkeit für alle. Das ist das Einzige, was uns Sicherheit verschaffen kann. Solange wir das nicht erreicht haben, wird die eine oder andere Gruppe zu dem Schluss gelangen, dass die Raumer einem nur dann zuhören, wenn man ein paar von ihnen umbringt. Und das Traurige ist, dass sie damit vielleicht sogar recht haben.«

»Weil du jetzt zuhörst?«

Sie starrte ihn finster an. »Weil das dort unten schon zu lange so geht!«

Wahram legte den Kopf von einer Seite auf die andere und überlegte, wie er seine Gedanken am besten zum Ausdruck bringen sollte. Er ging mit ihr ein Stück weiter durch den Korridor, bis sie einen langen Tisch voller kleiner Kekse und großer Kaffeespender erreichten, und schenkte ihnen Kaffee ein. »Also … du meinst, um uns zu schützen, müssen wir eine Weltrevolution auf der Erde organisieren.«

»Ja.«

»Und wie? Immerhin versuchen die Leute das schon seit Jahrhunderten.«

»Das ist noch lange kein Grund, es aufzugeben! Ich meine, wir sind hier draußen auf der Venus, auf dem Titan, und tun alles Mögliche. Es gibt Sachen, die da unten funktionieren könnten. Man kann Informationen verbreiten, jeder ist im Prinzip erreichbar. Ihnen Anteile am Mondragon geben. Unterkünfte bauen oder das Land entwickeln. Eine von diesen gewaltfreien Revolutionen daraus machen. Wenn etwas schnell genug passiert, nennt man es eine Revolution, ob nun mit Kanonen geschossen wird oder nicht.«

»Aber es gibt nun mal die Kanonen.«

»Mag sein, aber was, wenn niemand es wagt, sie abzufeuern? Was, wenn unsere Handlungen immer ausreichend unverdächtig sind? Oder sogar unbemerkt bleiben?«

»Solche Handlungen bleiben nie unbemerkt. Nein – es würde Widerstand geben. Mach dir nichts vor.«

»Na schön, dann machen wir eben auch gegen Widerstände weiter und sehen, was passiert. Wir verfügen über reichhaltige Ressourcen, und wir bauen einen Großteil ihrer Nahrung an. Wir haben einen Hebel

Er dachte darüber nach. »Vielleicht haben wir den, aber dort unten spielen sie nach ihren eigenen Regeln.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Es gibt eine Kultur des Schenkens, die vor allen Regeln existierte, und die Menschen haben noch immer ein Gespür dafür. Wenn man eine solche Schenkökonomie einrichtet, dann machen die Leute von alleine mit. Und wir müssen etwas unternehmen. Wenn nicht, dann schießen sie uns ab. Sie werden uns töten und auffressen.«

Wahram nippte an seinem Kaffee und versuchte, sie zur Ruhe zu bringen. Wie immer übertrieb sie es. Er hätte gerne gehört, was Pauline von alldem hielt, aber jetzt in diesem Moment würde Swan ihn ganz sicher nicht mit ihr reden lassen. Swan hatte sich den Becher geschnappt, den er ihr eingeschenkt hatte, und stürzte ihn runter. Dann hielt sie ihm einen weiteren kleinen Vortrag, wobei sie ihre Argumente gestisch derart untermalte, dass er von Glück sagen konnte, dass sie ihn nicht mit ihrem Kaffee begoss.

Doch obwohl sie es wie immer übertrieb, brachte sie eine Menge Gedanken zum Ausdruck, die Wahram bereits selbst gekommen waren. Genau genommen wiederholte sie nur einen Standpunkt, den Alex bereits seit Jahren vertreten hatte. Als sie schließlich Luft holen musste, ergriff er also die Gelegenheit und sagte: »Das Problem ist, dass seit Jahrhunderten klar ist, was getan werden muss, dass es aber niemand tut, weil es für die Umsetzung sehr viele Menschen braucht. Bauarbeiten, ökologische Wiederherstellung, vernünftige Landwirtschaft, für all das braucht man ungeheuer viele Menschen.«

»Aber es gibt ungeheuer viele Menschen! Wenn man die Arbeitslosen mobilisieren würde, hätte man mehr als genug. Die Revolution der Vollbeschäftigung. Der Planet ist im Eimer, sie braten in der Sonne, ihnen bleibt gar nichts anders übrig. Letztlich muss die Erde ebenso sehr terraformt werden wie Venus oder Titan! Genau genommen sogar umfassender, und wir machen das nicht.«

Wahram dachte darüber nach. »Meinst du, man könnte die Sache so verkaufen? Als eine Restauration? Um gleichzeitig an die Konservativen und an die Revolutionäre zu appellieren – oder um zumindest zu verschleiern, was wirklich geschieht?«

»Ich glaube nicht, dass wir irgendwas verschleiern müssen.«

»Wenn du deine Absichten offenlegst, Swan, wirst du ganz schnell Feinde haben. Sei nicht naiv. Jede Veränderung hat ihre Gegner. Ernsthafte Gegner. Ich rede von Gewalt.«

»Wenn sie eine Möglichkeit finden, welche anzuwenden. Aber wenn es niemanden gibt, den sie festnehmen können, wenn sie gegen niemanden zurückschlagen können, niemandem Angst einjagen …«

Er schüttelte den Kopf. Das überzeugte ihn nicht.

Swan umkreiste ihn wie ein Komet die Sonne. Wahram drehte sich mit, um sie im Blick zu behalten. Zweimal stürzte sie sich erneut auf ihn und schlug ihm mit der zur Faust geballten freien Hand vor die Brust. Ihre Stimmen verschmolzen zu einer Antiphonie, die für einen zufälligen Zuhörer wie ein gequaktes und gezwitschertes Duett geklungen hätte.

Schließlich ging Swan die Puste aus, und ihr dissonanter Wechselgesang kam zu einem Ende. Sie war offensichtlich gerade erst auf der Venus eingetroffen und begann trotz des Kaffees zu gähnen. Wahram seufzte erleichtert, schlug einen gelasseneren Tonfall an und wechselte das Thema. Sie schauten aus dem Fenster auf den herabrieselnden Schnee, der von einer steifen Brise zu verspielten kleinen Mustern angeordnet wurde. Diese Welt, so neu und nackt, noch im Entstehen begriffen, sagte es ihnen mit kräftigen Windböen: Die Dinge änderten sich.

Wahram dachte über die beiden unvollendeten Projekte von Alex nach: eine Lösung für die Erde zu finden; eine Lösung für die Sache mit den Qubes zu finden. Ein Schauer überlief ihn, als er mit einem Mal den Eindruck gewann, dass beide Projekte zum Teil eines großen Ganzen zu werden begannen. Na schön, aber es brauchte eine Menge Fingerspitzengefühl, um beides miteinander zu vereinen; und es brauchte schlaue Köpfe für die Umsetzung. Und Swan würde so lange immer wieder sauer auf ihn werden, bis er einen Beitrag zur Umsetzung dieses Projekts leistete. Immerhin war er dazu möglicherweise in der Lage.

Auszüge (13)

durch die diversen Stoffwechselvorgänge kommt es zu Beschädigungen, die sich im Laufe des Lebens anhäufen, und jede Art von Schaden erfordert eine spezielle Behandlung; die verschiedenen Therapien müssen aufeinander abgestimmt werden und auch in die normalen Körperfunktionen integriert werden

Zellverlust oder Atrophie wirkt man durch Training, Wachstumsfaktoren und gerichtete Stammzellen entgegen

mutierte Krebszellen identifiziert man mithilfe massiv-paralleler Sequenzierung und Transkription-Analyse und eliminiert sie durch zielgerichtete Gentherapien und die Kontrolle der Telomerase-Aktivität; Chemotherapien und Bestrahlung kommen nur sehr selektiv zum Einsatz, dabei verwendet man zugleich monoklonale Antikörper, Avimere und Designerproteine

langlebige, aber schadhafte Zellen dürfen keinesfalls zu bösartigen Formen entarten, sondern müssen mithilfe von Selbstmord-Genen und Immunreaktionen aus dem Verkehr gezogen werden

in Zellen mit beschädigten Mitochondrien müssen intakte Organellen eingebracht werden

zu den Abfallstoffen der Zellen, die nicht durch das Immunsystem abgebaut werden können, gehören Lipofuszin und auch Amyloides Plaque. Für dieses Problem setzt man angepasste Enzyme aus Bakterien und Pilzen ein, die in der Lage sind, Tierkörper vollständig zu zersetzten. Nach anfänglicher hoher Aktivität verschwinden diese Enzyme durch eingebaute Regelmechanismen wieder, wenn ihnen die Substrate ausgehen. Um extrazelluläre Ansammlungen zu entfernen, stimuliert man mithilfe von Impfungen eine Immunabwehr, darunter auch eine gesteigerte Form der Phagozytose. Zu den Komplikationen gehören

die zunehmende Quervernetzung von Zellen führt zu Steifheit, doch diese Verbindungen kann man erfolgreich mit Enzymen auflösen, die entwickelt wurden, um

die Kontrolle der Telomerase hat sich bei gewissen Zelltypen als sehr schwieriger Drahtseilakt erwiesen: Bei zu langen Telomeren erhält man unsterbliche Krebszellen, bei zu kurzen Telomeren stößt man schnell an die Hayflick-Grenze, durch die eine weitere Zellteilung gestoppt wird

zur laufenden DNA-Reparatur gehört die Exonuklease-Aktivität der DNA-Polymerasen, deren Korrekturlese-Funktion für eine hohe Genauigkeit bei der Replikation sorgt. Bei der RNA-Polymerase hingegen fehlt eine solche Funktion, weshalb es zu sehr viel mehr Fehlern bei der Transkription kommt; dies stellt einen starken Motor der Evolution

durch pleiotropische Effekte kommt es zu dem Phänomen, dass manche Gene für einen jungen Organismus vorteilhaft sind, jedoch im Alter schaden. Daher entstehen oftmals eben jene Probleme, die man mithilfe der bisexuellen Hormonbehandlungen

Hormesis (Anregung) ist eine letztlich vorteilhafte biologische Reaktion auf den Kontakt mit geringen Dosen von Toxinen oder Stressoren. Dieser Vorgang, der manchmal auch als Eustress bezeichnet wird und Ähnlichkeiten mit dem Effekt des Mithridatismus hat (benannt nach König Mithridates, der kleine Mengen Gift einnahm, um größere Mengen zu überleben), wurde als Erklärung für das Phänomen vorgeschlagen, dass ein regelmäßiges Sabbatjahr auf der Erde zur Maximierung der Langlebigkeit beiträgt

geringe Körpergröße und der Kontakt sowohl mit Androgenen als auch mit Östrogenen haben eine besonders hohe Korrelation mit langen Lebensspannen; diese beiden Faktoren verstärken einander, und zwar so sehr, dass man bisher noch von keinem kleinen Androgynen oder Gynandromorphen weiß, die eines natürlichen Todes gestorben wären. Die ältesten sind über 210 Jahre alt, und ihre potenzielle Lebensspanne kann derzeit nicht errechnet werden. Voraussichtlich werden weitere, ähnliche Forschungsfelder entstehen, sobald diese allgemein bekannt werden

die statistische Fluchtgeschwindigkeit gilt dann als erreicht, wenn ein Jahr medizinischer Forschung der Bevölkerung eine zusätzliche Lebenszeit von mehr als einem Jahr verschafft. Das wurde bislang nicht einmal annähernd erreicht, und erste Anzeichen einer asymptotischen Kurve lassen vermuten, dass man diese Fluchtgeschwindigkeit auch nie

vorschnelle Ankündigungen großer Durchbrüche wurden als Kyriasis oder Dorian-Gray-Syndrom oder schlicht als die Hoffnung auf Unsterblichkeit bezeichnet

die Telomere in gewissen Zellen verlängern, indem man zeitweilig die Telomerase-Aktivität in diesen Zellen erhöht. Da unterschiedliche Zellen ihre Telomere mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten verlieren, darf die medikamentöse Behandlung nur auf bestimmte Arten von Zellen abzielen, und das ungeplante Auftreten von Krebs

Biogerontologie, die immer wieder durch unerwartete Wendungen in ihre Schranken

wie sich herausstellte, bewirkte die berühmte, kalorienreduzierte und mit Vitaminen angereicherte Ernährung eine vielfältige Feminisierung der Genexpression und verlängerte auf diese Weise die Lebensspanne. Durch Therapien mit Geschlechtshormonen erzielt man heute einen ähnlichen Effekt, ohne dass eine Reduktion der Kalorienzufuhr notwendig ist – eine Maßnahme, die nie so recht Fuß fassen konnte

erinnert man sich an den alten Vergleich des menschlichen Körpers mit einem Auto, bei dem alle beweglichen Teile mindestens einmal nach ihrem Versagen ersetzt wurden, dann lässt sich das Problem mit der Metallermüdung des Chassis und der Achsen vergleichen. Mit anderen Worten sind die »sieben Todsünden« der Vergreisung nicht die einzigen Sünden. Nicht-reparierte DNA-Schäden, gutartige Mutationen, der Wechsel des Chromatin-Status – all das erzeugt »Alterungsschäden«, die schwer aufzuspüren und zu bekämpfen sind. Nichts von alledem spricht derzeit auf Reparaturversuche an. Das erklärt wahrscheinlich die

man nehme Hautzellen von Menschen, wandele sie in pluripotente Stammzellen um und lege diese in ein passendes Proteinbad, sodass sie ein Neuralrohr bilden, welches den Ausgangspunkt für ein Nervensystem darstellt – bei dem das Rückgrat aus einem Ende entsteht und das Gehirn aus dem anderen. Man nehme einzelne Scheiben von einem Neuralrohr und veranlasse sie mithilfe weiterer Proteinstimulanzien dazu, sich in Zellen aus verschiedenen Gehirnregionen umzuwandeln wie zum Beispiel Kortexzellen. Dann überprüfe man, ob sie feuern

Arrhythmie, Schlaganfall, plötzlicher Zusammenbruch, schneller Verfall, Schwachstellen im Immunsystem, Unregelmäßigkeiten der Hirnströme, Superinfektion, Herzanfall, scheinbar unverursachter sofortiger Tod (SUST) usw.

Kiran in Vinmara

Kirans neue Arbeitseinheit fuhr nun regelmäßig in einem Geländewagen zwischen Lakshmis abgeriegelten Anlagen in Kleopatra und der neuen Stadt Vinmara hin und her, wobei sie jedes Mal an dem unsinnigen Hafen vorbeikamen. Vinmara wuchs immer noch wie eine Muschelbank um seine seichte, leere Bucht herum, und Richtung Süden konnten sie durchs Schneetreiben das silberglänzende Trockeneismeer sehen.

Als sie nach einer dieser Fahrten wieder in Kleopatra eintrafen, lief Kiran in einer Spielbar Kexue über den Weg. Der redselige Kleine sagte: »Komm, ich will dir einen Freund von mir vorstellen. Er wird dir gefallen.«

Der Freund erwies sich als Shukra, dessen Bart und Haupthaar lang und grau waren. Er sah aus wie ein umherziehender Bettelmönch. Kexue grinste, als Kiran den Mann erkannte. »Ich sagte dir doch, dass er dir gefallen würde.«

Peinlich berührt murmelte Kiran eine Antwort.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Shukra, der ihn eindringlich anstarrte. »Ich habe dir doch gesagt, dass du ein Köder warst. Und man hat dich geschluckt. Deshalb bin ich jetzt hier, um dir zu sagen, was du als Nächstes tun sollst. Lakshmi hat dich auf die Strecke zwischen ihrer Anlage hier und dieser Küstenstadt angesetzt, stimmt’s?«

»Stimmt«, antwortete Kiran. Er sah ein, dass er seiner ersten Bekanntschaft auf der Venus wohl nach wie vor seine Dienste schuldete, aber gleichzeitig wurde ihm langsam allzu deutlich, wie gefährlich es war, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Er wollte Lakshmi in keiner Weise verärgern; andererseits hatte er den Eindruck, dass mit Shukra auch nicht zu spaßen war. Im Moment konnte er ihn tatsächlich unmöglich abweisen. »Es gibt Lieferungen in beide Richtungen, aber wir sehen die Ladung nicht.«

»Ich will, dass du herausfindest, worum es sich handelt. Steig tiefer in die Sache ein, und sag mir, was du herausfindest.«

»Wie soll ich Kontakt aufnehmen?«

»Überhaupt nicht. Ich nehme Kontakt zu dir auf.«

Und so hielt Kiran von nun an mit einem Gefühl tiefsten Unbehagens die Augen offen, wenn sie nach Vinmara fuhren. Deutlicher als je zuvor war ihm bewusst, dass die Transportmannschaft nicht wissen sollte, was sich in den Geländewagen befand. Bei jeder Fahrt gab es Wachleute, und das Büro im Zentrum von Vinmara war für Außenstehende ebenso unzugänglich wie die zahlreichen Anlagen in Kleopatra. Die Geländewagen setzten in einer Ladebucht zurück und koppelten sich direkt an das Gebäude an. Nach einer Weile fuhren sie wieder los – das war alles. Einmal, als besonders heftige Schneefälle sie mitten auf der Strecke aufhielten, belauschte Kiran ohne hinzusehen einen der Wachleute in ihrem Fahrerhäuschen bei einem Telefongespräch mit Leuten, die anscheinend hinten im Laderaum saßen. Sie sprachen Chinesisch, und später ließ Kiran sich von seiner Brille die Aufzeichnung des Gesprächs übersetzen:

»Ist bei euch hinten alles klar?«

»Es geht uns gut. Und ihnen auch.«

Ihnen? Wie dem auch sei, es war etwas, das er Shukra erzählen konnte, falls dieser wieder auftauchte.

Zufällig waren sie unten in Vinmara, als der große Schneesturm schließlich aufhörte. Die Luft klarte auf; die Sterne schienen in all ihrer Pracht am schwarzen Himmelszelt. Natürlich zogen sie sich wie alle anderen in der Stadt Raumanzüge an und stiegen auf die kahlen Hügel draußen vor den Toren. Die beständige Schnee-, Graupel-, Hagel- und Regenflut hatte drei Jahre und drei Monate lang angehalten. Jetzt wollten alle wissen, wie die Venus unter dem Sternenhimmel aussah.

Praktisch die gesamte sichtbare Landschaft war mit Schnee bedeckt und glitzerte im Sternenlicht. Viele schwarze Felsspitzen stachen aus dem leuchtenden Weiß hervor – das Gebiet um die Stadt herum war vorher wahrscheinlich mörderisch zerklüftet gewesen –, sodass sich über ihnen der schwarze, von hellen Sternen übersäte Himmel spannte, während unter ihnen die weißen Hügel mit ihren spitzen schwarzen Vorsprüngen lagen; das eine sah wie das Fotonegativ des anderen aus.

Und jetzt konnte man auch die Luft draußen atmen. Sie war natürlich klirrend kalt, sodass die Leute aufschrien, als sie die Helme abnahmen, und Frostwolken sich vor ihren offenen Mündern bildeten. Atembare Luft – eine Stickstoff-Argon-Sauerstoff-Mischung bei siebenhundert Millibar und zweiundvierzig Grad unter dem Gefrierpunkt. Es war, als atmete man Wodka.

Der Schnee unter ihren Füßen war zu fest, um Schneebälle daraus zu formen, und die Leute schlitterten in alle Richtungen und fielen hin. Auf der Hügelkuppe oberhalb der Stadt konnten sie weit in alle Richtungen sehen.

Es war um die Mittagszeit, und über ihnen hing inmitten der Sterne der schwarze Kreis der verdunkelten Sonne. Ein Scherenschnitt am Himmel – der Sonnenschild, der kein Licht durchließ –, mit Ausnahme des heutigen Tages, für den eine Entfinsterung angesetzt war. Solche Entfinsterungen gab es nun schon seit einer Weile einmal monatlich, um den Planeten wieder auf eine für Menschen angenehme Temperatur zu erwärmen, doch bislang hatte niemand sie von der Venus aus beobachten können, weil Regen und Schnee die Sicht versperrt hatten. Jetzt würde es eine Entfinsterung geben, bei der man tatsächlich zuschauen konnte.

Viele Leute setzten ihre Helme wieder auf; langsam wurde ihnen klar, wie kalt es wirklich war. Kirans Nase fühlte sich taub an, während seine erfrierenden Ohren noch brannten. Es hieß, dass man gefrorene Ohren einfach abbrechen konnte, und Kiran glaubte es. Musik kam aus Lautsprechern unten in der Stadt, etwas Blechernes mit Becken und Schellen, sehr slawisch, sehr brutal und laut.

Dann erschien auf dem Sonnenschild über ihnen mit einem Mal dicht am Rande der schwarzen Scheibe eine kreisrunde funkelnde Linie. Obwohl es sich bei diesem Jahresring nur um einen dünnen Faden hellgelben Lichts handelte, einen zerbrechlichen Reif aus Feuer, erleuchtete er dennoch die weißen Hügel und die Muschelstadt und die silberne See im Süden und die Frostwolken, die aus den jubelnden Kehlen aufstiegen. All das erstrahlte nun in einem bronzefarbenen Licht, das die Erinnerung an all die Sonnenzeiten wachrief, die sie jemals erlebt oder sich erträumt hatten. Der brünierte Glanz war wie das Licht des Lebens selbst, ein Licht, das sie beinahe vergessen hatten und das die gelbe Luft ihnen nun zurückgebracht hatte.

Nach einer eisigen Stunde wurde der Feuerreif dünner und dünner, verdunkelte sich von innen nach außen, bis die Sonnenscheibe wieder vollkommen schwarz war. Die kreisförmige Jalousie hatte den kleinen Spalt geschlossen. Die verschneite Landschaft verdunkelte sich und nahm erneut ihren alten blassen Schimmer an. Die Sterne traten wieder in den Vordergrund. Die tiefe Nacht kehrte in all ihrer düsteren Vertrautheit zurück. Unmittelbar über der schwarzen Sonnenscheibe glänzte ein heller weißer Planet, klein aber beständig: der Merkur, teilte man Kiran mit. Sie sahen den Merkur von der Venus, und er schimmerte wie eine Perle aus Diamant. Und dort über dem westlichen Horizont hingen auch die Erde und Luna, ein bläulicher Doppelstern. »Wow«, sagte Kiran. Tief in seinem Innern schien etwas wie ein Luftballon anzuschwellen. Er musste tief durchatmen, sonst würde er noch platzen.

Aber die Kameraden von seinem Trupp zogen ihn am Arm. »Erdenjunge! Erdenjunge! Bye-bye, Miss American Pie! Wir müssen schnell zurück in die Stadt, es gab eine Panne bei einem Geländewagen, Lakshmi braucht uns auf der Stelle!«

»Geht voran!«, rief Kiran und folgte ihnen den Hang hinab zu den offen stehenden Toren Vinmaras.

Sobald sie durch das Tor waren, ließen sie sich telefonisch zu dem Geländewagen lotsen, mit dem es Probleme gab. Er sah genauso aus wie die, mit denen sie selbst immer fuhren. Der Fahrer und drei Sicherheitsleute standen mit zutiefst unglücklichen Mienen daneben. Der Wagen stand völlig still, und ein Teil der Lieferung musste so schnell und unauffällig wie möglich ins Büro im Stadtzentrum geschafft werden. Kiran stand mit seinen Kameraden in einer kurzen Schlange und nahm eine Art großen, flachen Koffer entgegen, der ihm von einem der Sicherheitsleute durchgereicht wurde. Ihm kam in den Sinn, dass das vielleicht seine Gelegenheit war herauszufinden, was sie transportierten. Kurz darauf gingen sie wie Gepäckträger in einer kleinen Reihe durch die Straßen.

Die Stadt war praktisch verlassen, ihre Bewohner feierten immer noch draußen auf dem Hügel. Der Koffer, den Kiran trug, wog etwa fünf Kilo; für seine Größe war er nicht besonders schwer. Er war mit einem Zahlenschloss am Schließband versehen, wodurch er an eine gepanzerte Aktentasche erinnerte. Es war nicht weit bis zum Büro. Die eigentlichen Scharniere des Koffers wirkten nicht besonders stabil, und er fragte sich, was geschehen würde, wenn er ihn versehentlich auf die Scharnierseite fallen ließ.

Aber dann tauchten die drei Wachleute aus dem liegengebliebenen Geländewagen auf und schrien: »Lauft! Lauft! Sofort ins Büro!«, wobei sie furchtsam und mit gezogenen Waffen über die Schultern blickten. Alle rasten los, und Kiran, der den anderen folgte, nutzte das Durcheinander, um den Koffer anders anzupacken, sodass die Scharniere zur Seite zeigten. Als seine Freunde um eine Ecke bogen und eine schmale Gasse entlangrannten, tat er so, als stolperte er, und knallte den Koffer fest gegen eine Hausecke, genau an den Scharnieren.

Der Koffer hielt.

»Oh, Scheiße! Hast du sie kaputt gemacht?«, rief jemand von hinten – einer der Wachleute –, ein großer Chinese, der sich nun hoch aufragend und mit entsetzter Miene vor ihm aufbaute.

»Was denn, sind das Eier?«, fragte Kiran beim Aufstehen.

»So was Ähnliches«, sagte der Wachmann, hob den Koffer auf und drückte auf dem Zahlenschloss herum. »Und wenn sie kaputtgegangen sind, sollten wir lieber die Stadt verlassen.« Der Deckel ging auf, und darin lagen, einzeln in durchsichtige Behälter verpackt, ein Dutzend menschlicher Augäpfel, die allesamt Kiran anstarrten; Letzteres war purer Zufall, so vermutete er zumindest.

Auszüge (14)

Das Weltraumprojekt nahm an Fahrt auf, als deutlich wurde, dass der Erde aufgrund des Klimawandels und der allgemeinen Ausplünderung der Biosphäre schlimme Zeiten bevorstanden. Der Aufbruch ins All wirkte wie ein Versuch, alldem zu entkommen, und an diesem Eindruck war immerhin so viel Wahres, dass die Fürsprecher des Raumfahrtprojekts immer wieder seinen humanitären und ökologischen Nutzen betonen und darauf verweisen mussten, wie die im Sonnensystem verfügbaren Ressourcen der Erde vielleicht aus ihrer absurd verfahrenen Lage helfen konnten. Eine Besiedelung der anderen Himmelskörper im Sonnensystem stand unter Umständen im Einklang mit Leopolds Land-Ethik: »Gut ist, was für das ganze Land gut ist«, insofern das Zeug aus dem Weltall dabei helfen konnte, die Erde zu retten

die ersten Siedlungen auf Luna, Mars und den Asteroiden waren so teuer, dass sie als internationale oder nationale Projekte aus öffentlichen Geldern finanziert wurden. Dadurch waren sie in den Jahren des Zauderns jämmerlich schwach, doch nach der Errichtung der ersten Weltraumaufzüge blühten sie auf, und als das Accelerando begann, waren sie bereit, die Führungsrolle zu übernehmen – dem Accelerando eine Bühne zu bieten

der Mars wurde als Erster terraformt, und verglichen mit den darauffolgenden Himmelskörpern war es ein leichtes Projekt. Schon früh hatte man beschlossen, so schnell wie möglich vorzugehen. Tausende von Explosionen wurden im Regelt ausgelöst (man behauptete, dass das auch den in der Lithosphäre begrabenen marsianischen Lebensformen zugutekäme), und ein Großteil der Planetenoberfläche wurde versengt, entlang von Bahnen, aus denen später die berühmten Marskanäle entstanden. Der Verbrennungsvorgang erzeugte eine Atmosphäre, und das Eis des Planeten wurde abgebaut und geschmolzen, um ein schmales Nordmeer und die Hellas-See zu füllen. Um die ursprüngliche Oberfläche des Planeten sorgte man sich dabei nicht, doch die hoch aufragende Topografie des Planeten schützte seine am höchsten gelegenen Bereiche vor dem Großteil der Veränderungen, sodass sie als eine Art Urzeitpark erhalten blieben

es kam zu einem Massenansturm von Immigranten von der Erde, die bald zu einer vielsprachigen Gemeinschaft verschmolzen und sich nach nur zwei Generationen ihrem Wesen nach als zutiefst marsianisch empfanden, Homo Ares, und die als solche eine von Natur und Rechts wegen von der Erde unabhängige politische Einheit darstellte. Die gesamte Bevölkerung einigte sich darauf, alle Bande zur Erde abzubrechen und sich anschließend unter einer neuen Verfassung zusammenzufinden, die eine planetare Gesamtregierung sowie ein ökonomisches System vorsah, das je nach Perspektive als sozialistisch, kommunistisch, utopisch, demokratisch-staatsanarchisch, syndikalistisch, als Arbeiterkooperative oder als libertär sozialistisch oder mit anderen Begriffen aus alten Zeiten bezeichnet wurde. All diese Etiketten wurden allerdings von den marsianischen politischen Theoretikern zurückgewiesen, die die Adjektive »marsianisch« oder »ideologisch« vorzogen. Als neues sozioökonomisches System, dem eine neu erschaffene Biosphäre zur Verfügung stand, war der Mars eine soziophysikalische Macht, die es mit jeder einzelnen Erdennation oder -allianz aufnehmen konnte und aufgrund ihrer inneren Einheit auch mit dem gesamten Rest der balkanisierten Menschheit

Ängste wurden geschürt, als der Mars in der ersten Begeisterung der Unabhängigkeit begann, Stickstoff aus der Atmosphäre des Titan abzubauen, ohne sich darum zu kümmern, was die zugegebenermaßen wenigen Menschen, die bereits im Saturn-System lebten, davon hielten. Etwa zur selben Zeit (2176–2196) zerlegten chinesische Teams den Saturnmond Dione, um ihn zur Venus zu schicken, als Teil der ersten dortigen Terraformingmaßnahmen. Infolge der Kleinen Eiszeit der 2140er gab es auf der Erde keine Macht, die dazu in der Lage gewesen wäre, den Chinesen bei dieser weit entfernt gelegenen Unternehmung Einhalt zu gebieten. Allerdings regten diese beiden Ereignisse um den Saturn herum die Bildung der Saturn-Liga an, die sich mit der Zeit die Souveränität über das gesamte Saturn-System sicherte – wobei allerdings tatsächlich die Drohung eines traumatischen Saturn-Mars-Kriegs nötig war, den manche auch als Saturns Phantom eines Unabhängigkeitskriegs bezeichneten, um diese Souveränität wirklich durchzusetzen

Luna, der Mond der Erde, hat niemals die Unabhängigkeit erlangt, sondern war immer in Städte und Regionen aufgeteilt, die von den verschiedenen Erdenmächten kontrolliert wurden. Es wäre ohnehin schwierig gewesen, den Mond vollständig zu terraformen, denn hätte man ihn mit Asteroiden beschossen, ihn in Rotation versetzt und eine Atmosphäre geschaffen, dann wäre die Erde wohl unweigerlich einem potenziell sehr schweren Tektitenniederschlag ausgesetzt worden. Darüber hinaus konnte man Lunas Metalle und brauchbaren Chemikalien nur durch extensiven Tagebau und den Abbau eines Großteils der Mondoberfläche gewinnen, was das Terraforming ebenfalls erschwert hätte. So wechselten sich große, kuppelüberspannte Krater mit Atmosphärenzelten und kosmisch großen Tagebaugruben ab, und jede Nation, die in nennenswerter Weise auf Luna vertreten war, konnte sich eines beständigen Stroms von Rohmaterial erfreuen. Chinas Einfluss auf der Venus war eine unmittelbare Folge seiner frühen Investitionen auf Luna, da es sich bei dem Sonnenschild der Venus um ein Erzeugnis der dortigen chinesischen industriellen Niederlassungen handelte. Zugleich richteten zahlreiche andere Erdennationen Stützpunkte auf Luna ein, wodurch eine Unabhängigkeit des Mondes unmöglich wurde. Manche sind der Meinung, dass in dieser Entwicklung die Ursprünge der Balkanisierung begründet liegen, obwohl zumeist die Qube-Dekohärenz und die schiere Größe des Sonnensystems als Schlüssel

die Balkanisierung ist natürlich Gegenstand erheblicher Meinungsverschiedenheiten, wobei sie von manchen als neue Vorhölle betrachtet wird und von andern als Ausdruck der erfreulichen und fruchtbaren Diversifizierung des Lebens in unseren Zeiten

Erfolg ist ein Scheitern. Das Accelerando hat all die dem terranischen System jener Zeiten innewohnenden Schwächen, Krankheiten und Verbrechen ins All hinausgetragen, und sobald sie sich erst einmal verbreitet hatten, ließen sie sich nicht wieder einfangen. Die Büchse der Pandora war damit

Zu Beginn des 24. Jahrhunderts hatte sich mit dem Mondragon-Bund eine dritte Kraft organisiert, um sich der Erde-Mars-Dyade hinzuzugesellen, und die Jupiter- und Saturn-Liga stellten ebenfalls deutliche Gegengewichte dar. Eine diplomatisch derart komplexe Situation ließ einmal mehr die Rede von »Machtgleichgewichten«, vom »großen Spiel« oder von einem »Kalten Krieg« und derlei mehr aufkommen: alles Konzepte aus früheren Zeiten, die uns wie schon so oft heimsuchen, hungrige Geister, die uns mit ihren falschen Analogien täuschen und uns mit ihren toten Händen die lebenden Augen zuhalten! Letztlich war die Balkanisierung aufgrund ihres Ausmaßes und ihres besonderen Charakters etwas ganz Neues

In jenen Jahren munkelte man, dass sich überall im System marsianische Spione aufhielten, die allerdings immer nur ins Hauptquartier zurückmeldeten, dass kein Grund zur Sorge bestünde – die Balkanisierung bedeutete, dass der Mars es mit nichts weiter als einem stochastischen Chaos menschlichen Gezappels zu tun hatte

Wahram auf der Erde

Dass er seine Pläne ändern würde, ganz zu schweigen davon sein ganzes Leben, nur um einer Person zu helfen und zu gefallen, einem Menschen, den er nicht besonders gut kannte und dem er nicht unbedingt vertraute, der oft wütend auf ihn war und ihm ebenso gut einen Schlag vor die Brust versetzen wie ihn anlächeln mochte; eine Person, die ihn, wann immer es ihr passte, mit bösen Blicken bedachte und ihn verächtlich anknurrte, sodass all seine Bemühungen um sie eher als Feigheit denn als Zuneigung bezeichnet werden mussten – das überraschte ihn. Und doch kam es genau so. Er hatte bereits einen Großteil des vergangenen Jahres mit diplomatischen Reisen durch das System verbracht, um materielle Unterstützung für Alex’ Pläne einzuwerben, um die Erde neu zu beleben und sich des Qube-Problems anzunehmen. Und zusätzlich zu diesem Unterfangen verbrachte er nun auch noch eine Menge Zeit damit, über Swans Idee nachzudenken, wie sich die Bedingungen für die Vergessenen der Erde radikal verbessern ließen. Er bezweifelte zwar, ob Swan sich seiner Bemühungen bewusst war, aber er hatte das Gefühl, dass sie von ihnen erfahren konnte, wenn sie wollte, da sein Leben ein offenes Buch war, mit Ausnahme der Teile, die er vor ihr verborgen hielt. Auf gar keinen Fall würde er ihr selbst sagen, was er getan hatte. Nach seinem Eindruck bedeutete die Intensität bei ihrer letzten Begegnung – wie sie auf ihn eingeprügelt und ihn angeschrien hatte –, dass sie sehr wohl darauf geachtet hatte, was er so trieb, und es auch weiterhin tun würde. Und schließlich kam es darauf an, was man tat.

Es lag in der Natur dieser Arbeit, dass sie seinem pseudoiterativen Lebensstil schwer zusetzte, der schon bald so viel mehr pseudo als iterativ war, dass ihm Tage wie Schalen erschienen, die er eine nach der anderen abwarf, ein beständiger Wandel, in dem sich keine Muster festhalten ließen. Es war nicht leicht für ihn. Die Tage, Wochen und Monate folgten aufeinander, und er begann sich Gedanken zu machen, nicht über die Gründe für sein Handeln, sondern über die Frage, warum Swan keinen Kontakt zu ihm aufnahm, um ihre Kräfte zu bündeln. Als Team hätten sie mehr erreicht. Wenn sie die Kräfte der innersten und der äußersten Gesellschaften des Sonnensystems vereinten, konnten sie gute Ergebnisse erzielen, weshalb Merkur und Saturn eigentlich natürliche Bündnispartner hätten sein sollen. Ein solches Bündnis hätte sie zu einer Kraft gemacht, die mit den großen Tieren in der Mitte des Systems gleichziehen konnte.

Also setzte er seine Arbeit fort. In manchen Ländern bezeichnete man ihre Kampagne als Rasche-Nichtkonforme-Soforthilfe (RNS). Nichtkonform wegen zahlreicher Verstöße gegen die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, zumeist gegen Artikel 17, 23 und 25, wobei man ab und an mit dem 28. Artikel herumwedelte, um störrische Regierungen zur Räson zu bringen. In anderen Ländern legten sie ihren Programmen eine altehrwürdige indische Regierungseinrichtung zugrunde, die Gesellschaft zur Beseitigung von Armut auf dem Lande (SERP). Diese Organisation hatte bei ihrem erklärten Ziel nie große Fortschritte gemacht, aber es handelte sich um eine bereits existierende Behörde, und solche waren vom Mondragon als beste der bestehenden schlechten Möglichkeiten zur Bündelung von Hilfsleistungen identifiziert worden. Wahram hatte es für allgemein anerkannt gehalten, dass sich das gesamte Entwicklungshilfe-Modell als ein Beweis für Jevons’ Paradoxon erwiesen hatte, laut dem eine Effizienzsteigerung den Bedarf nicht verringert, sondern vergrößert; zusätzliche Hilfeleistungen hatten in einer Art Rückkopplungsschleife immer nur weiteres Elend herbeigeführt. Auf einer theoretischen Ebene ließ sich dieser Effekt bislang nicht besonders gut erklären – oder vielleicht auch doch, wenn man in Kauf nahm, dass die Erklärung das gesamte System als einen Fall von Vampirismus erscheinen ließ, bei dem blutsaugende Reiche auf der Erde umherzogen und eine Art komplizierten Kleptoparasitismus an den Armen praktizierten. Das hörte niemand gern, also wiederholten sie die Fehler, die man bereits vor hundert Jahren als solche erkannt hatte, in einem immer größeren Maßstab. Deshalb also war die Erde der Planet der Trauer.

Natürlich gab es auf der Erde starke Kräfte, die streng dagegen waren, von oben an den Verhältnissen herumzubasteln, und insbesondere gegen die Herbeiführung von Vollbeschäftigung. Eine tatsächliche Vollbeschäftigung würde den »Lohndruck« beseitigen – ein Begriff, der seit jeher nichts anderes bedeutete als den Armen eine Heidenangst einjagen, und auch allen, die Angst davor hatten, arm zu werden, was praktisch jeden Menschen auf der Erde einschloss. Diese Angst war ein wichtiges Werkzeug zur sozialen Kontrolle, tatsächlich handelte es sich bei ihr um das, was die gegenwärtige Ordnung trotz ihrer offenkundigen Mängel am Leben erhielt. Obwohl das System so schlecht war, dass alle Menschen darin in Angst lebten, sei es vor dem Hungertod oder vor der Guillotine, hielten sie umso verkrampfter daran fest. Es tat einem schon vom Zusehen weh.

Dennoch waren die Verelendeten bereit, alles zu versuchen. Also musste sich wohl etwas machen lassen.

So reiste Wahram kreuz und quer über die Alte Welt wie ein moderner Ibn Battuta und sprach mit Regierungsbehörden, die in der Position waren, etwas zu unternehmen. Es handelte sich um eine vertrackte Arbeit, bei der man echtes diplomatisches Fingerspitzengefühl brauchte, um nicht auf die eine oder andere Art jemanden zu beleidigen. Es war interessant. Doch von Swan hörte Wahram nichts. Und die Erde war groß. Es gab 457 Länder, viele davon miteinander assoziiert, und es gab innerhalb von Ländern Einheiten von beträchtlicher Macht. Wahram würde Swan nicht einfach nur deshalb über den Weg laufen, weil sie ebenfalls auf der Erde zugange war.

Also schaute er nach, wo sie war. Anscheinend arbeitete sie gerade in der Nähe von Nord-Harare, einem kleinen Staat, der sich vom ehemaligen Zimbabwe abgelöst hatte.

Auf dem Flug las er mehr über das Land. Zimbabwe, reich an Rohstoffen; mit einer besonders abgründigen postkolonialen Geschichte; in ein Dutzend Restländer aufgesplittert, von denen viele nach wie vor tief in Problemen steckten; die großen Dürren, die die Lage nicht gerade verbesserten; in letzter Zeit ein Bevölkerungsanstieg und damit einhergehend mehr Probleme. Nord-Harare war ein halbmondförmiger Slum. Die anderen kleinen Länder darum herum waren besser dran.

Er nahm Verbindung zu Pauline auf und sagte ihr, dass er wegen einer RNS-Angelegenheit in die Gegend käme, und schon bald meldete Pauline sich mit einem Gruß von Swan und dem Vorschlag für ein Treffen noch am Abend nach seiner Ankunft, was zwar beruhigend war, aber bedeutete, dass er bei ihrer Verabredung noch unter Jetlag leiden würde. Er zitterte beinahe vor Erschöpfung und kam sich vor, als wöge er 200 Kilo, als Swan hereinplatzte. Nun musste er sich am Riemen reißen.

Sie nickte ihm zu und musterte ihn kurz. »Du siehst aus, als hättest du eine lange Reise hinter dir. Komm rein, dann mache ich dir einen Tee, und du kannst mir davon erzählen.«

Sie fing mit dem Tee an und entschuldigte sich dann für einen Moment, um sich um einen Besucher zu kümmern, mit dem sie Chinesisch redete. Wahram bemühte sich angestrengt sie zu begreifen, wo er sie unmittelbar vor Augen hatte. Nach wie vor ziemlich leidenschaftlich, so viel war klar.

Beim Tee tauschten sie Neuigkeiten aus. Gewisse Weltraumaufzüge erhoben Steuern auf nach unten kommende Ausrüstung; andere durften überhaupt nicht von Raumern benutzt werden, eine absurde Situation. Man bezeichnete den Aufzug bei Quito als die Nabelschnur. Es sah ganz danach aus, als würde das Aufzugsproblem sich als Flaschenhals erweisen, aber es gab einen Plan, selbst replizierende Fabriken aus dem cislunaren Raum herabzuschicken. Sie sollten in einer einzigen Invasionswelle mit Tausenden von Atmosphären-Landeschiffen eintreffen. Es stand ein breites Angebot an Weltraum-Erde-Landeschiffen zur Auswahl, einschließlich einiger Modelle, die sich im Sinkflug nach und nach aufteilten, bis die einzelnen Personen oder Ladungsteile schließlich in Aerogel-Blasen herabschwebten.

»Es ist sozusagen das Gegenteil von dem, was Terminator getroffen hat«, sagte Swan mit einem schiefen Lächeln. »Anstelle von kleinen Stückchen, die sich zu einer großen Masse zusammenballen, spaltet die große Masse sich in ihre Einzelteile auf. Und wo sie landen, werden Dinge gebaut anstatt zerstört.«

»Vielleicht schießt man sie ab.«

»Dafür wären es zu viele.«

»Mich mutet das zu aggressiv an«, sagte Wahram. »Ich dachte, wir wollten es eher wie eine Wohltätigkeitssache aussehen lassen.«

»Wohltätigkeit ist immer aggressiv«, erwiderte Swan. »Wusstest du das nicht?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

In seinen Augen war klar, dass aggressive Hilfsaktionen ihnen nichts bringen würden. Aber Swan war keine geduldige Person. Derzeit versuchte sie, dieselbe Art von diplomatischer Arbeit zu leisten wie Alex: Aber Alex hatte einen besonderen Sinn für Diplomatie gehabt, der Swan abging. Und sie hatten es mit einem der ältesten Probleme der menschlichen Geschichte zu tun.

Die ganze Angelegenheit ging aber ohnehin weit über ihre persönlichen Ansichten hinaus, da es sich um eine Mondragon-Unternehmung handelte, bei der auch die Venusianer mit an Bord waren. Es waren also alle möglichen Dinge im Gange. Nachrichtenmonitore schienen Neuigkeiten von zehn verschiedenen Erden auf einmal auszustrahlen, die alle an der gleichen Stelle zappelten. Die Erde, das bedeutete Menschen wie Götter und Menschen wie Ratten: Und in einem krampfhaften Wutanfall würden sie bald alles kurz und klein schlagen, einschließlich der Welten im All, die sie vor dem Hungertod bewahrten. In dem großen Karussell des Systems drehte sich die Erde wie ein rotes Pferd mit einer Bombe drin mit. Und sie konnten nicht vom Karussell abspringen.

Gedankenverloren pfiff Wahram halblaut die ersten Noten von Beethovens Pastorale vor sich hin, in dem Versuch, sie aufzuheitern. Aber sie schürzte missbilligend die Lippen. Trotzdem war es ihm gelungen, sie an den Tunnel zu erinnern.

Viele Raumer hatten Angst vor einer Reise ins Afrika südlich der Sahara, weil es hier so viel mehr Krankheitserreger gab als in den meisten Weltraumhabitaten. Wahram vermutete, dass Swan zum Teil aus Trotz solchen Bedenken gegenüber nach Afrika gegangen war. Wenn jemand an Hormesis glaubte, dann sie; immerhin hatte sie die enceladanischen Lebensformen eingenommen. Da war sie also in Nyabira und leitete die Verteilung selbst replizierender Fabriken. Sie wollten zuerst einmal den als Domboshawa bekannten Teil Harares wiederherstellen, indem sie den nördlichsten Ring von Barackenstädten in eine Gartenstadtversion seiner selbst verwandelten. Diese »Sanierung der baulichen Infrastruktur« löste nicht alle ihre Probleme, aber die Selbstreps errichteten Brunnen, Gesundheitszentren, Schulen, Kleiderfabriken und Wohnraum in verschiedenen Formen, die in Domboshawa bereits gebräuchlich waren und die unter anderem Elemente der traditionellen Rundhäuser aus der Gegend aufwiesen.

Die Selbstreps waren so gut wie autonom, und mit einer vernünftigen Programmierung, hinreichend Materialzufuhr und jemandem, der sich um die Behebung möglicher Pannen kümmerte, walzten sie wie gewaltige Zeppelinhangars über die evakuierten Bereiche der Barackenstädte hinweg und hinterließen dabei eine Spur neuer Häuser, weiß verputzt und erstaunlich praktisch und heimelig. Während die riesigen Fabriken langsam über die gekennzeichneten Viertel polterten, feuerten die hoffnungsvollen Einwohner sie an. Dass die Fabriken dabei selbst länger wurden und sich schließlich in zwei Einheiten aufteilten, blieb derweil fast unbemerkt. Bei den Selbstreps handelte es sich um eine hervorragende Technologie, mit der man zahlreiche schöne Stadtstaaten im Asteroidengürtel und auf den großen Jupitermonden errichtet hatte. Genau genommen waren sie eine ausschlaggebende Komponente des Accelerando gewesen.

Aber auf der Erde klappte es nicht so recht mit ihnen. Sie brachten zu große Veränderungen mit sich. Es gab heftige Proteste, oft aus Gegenden, in denen gar keine Renovierungen durchgeführt wurden. Nur wenn eine sehr große Mehrheit der Einwohner für das jeweilige Projekt stimmte, führte man es praktisch einvernehmlich durch, und am besten war es, wenn die Betroffenen selbst die KIs der Selbstreps programmierten.

Dann wurde ein Selbstrep in Uttar Pradesh in die Luft gejagt; niemand wusste, warum. Die zuständige Regierung weigerte sich, der Sache nachzugehen, und es gab Anzeichen dafür, dass sie den Anschlag sogar unterstützt hatte. Die Nachricht inspirierte Nachahmungstäter. Es fehlte nicht viel, um das Projekt weltweit in sich zusammenstürzen zu lassen.

Swan machte das rasend vor Wut. »Als wir ihnen nicht geholfen haben, haben sie uns dafür angegriffen, und jetzt tun sie das Gleiche, wenn wir ihnen helfen«, sagte sie verbittert.

Wahram, der mit zunehmendem Unbehagen beobachtete, wie sie sich mehr und mehr in ihre Wut hineinsteigerte, sagte: »Wir müssen trotzdem weitermachen.«

Auf den Bildschirmen sah Wahram, dass Ähnliches überall auf der Erde geschah: Ihre Aufbauprojekte verfingen sich in dichten Netzen aus Gesetzgebung, praktischen Problemen bei der Umsetzung und Fragen der Landschaftsgestaltung, und die gelegentlichen Sabotageaktionen und Unfälle waren auch nicht besonders hilfreich. Man konnte auf der Erde nichts verändern, ohne dass ein halbes Dutzend neue Schwierigkeiten auftraten, die teilweise alles zum Stillstand brachten. Jeder Quadratmeter Boden auf der Erde gehörte auf die eine oder andere Art gleich mehreren Parteien.

Im Weltraum war das anders. Wenn sich auf der Venus ein paar Planer in einem Zimmer einig wurden, konnte man den Großteil der Atmosphäre ins All pusten. Auf dem Titan war es ähnlich, und auch um den Jupiter. Im ganzen Sonnensystem waren gewaltige Terraformingprojekte im Gange. Man grub Meeresbecken, wechselte Atmosphärenhüllen aus, erhitzte Planeten um Hunderte von Graden oder kühlte sie ab … auf der Erde ging das nicht. In vielen Ländern waren die Selbstreps verboten, mancherorts verabscheute man sie richtiggehend.

Was sie auch taten, es machte den Eindruck, dass das Elend die Vergessenen der Zivilisation weiter hinabziehen würde, wie ein Anker an einer Schlinge um ihren Hals. Die terranischen Eliten würden weiterhin an der Spitze der klassischen, hierarchischen Stufenleiter stehen, so lange, bis sie zerbrach und alle in den Abgrund stürzten. Eine jämmerliche Götterdämmerung, dumm und banal und trotzdem grauenvoll.

Die Aussicht darauf machte Swan wütend. Wahram, der sich ihrer Verbitterung immer stärker bewusst wurde und der immer mehr zur Zielscheibe ihres Zorns geriet, wurde eines Morgens Zeuge, wie sie eine Mitarbeiterin, eine der Harare-Frauen, heftig beschimpfte – und er sah das Gesicht der Frau während der Zurechtweisung. Ihm wurde klar, dass es zwischen ihm und Swan zu einem katastrophalen Streit kommen würde, wenn er bliebe, oder er sie einfach irgendwann nicht mehr mögen würde. Also empfahl er sich an jenem Nachmittag und flog am nächsten Tag nach Amerika, wo er sich einem Trupp Saturnianern anschließen wollte, der soeben eingetroffen war, um bei der Hebung Floridas über den Meeresspiegel zu helfen. Am Tag seiner Abreise wedelte Swan, die von irgendeinem verzwickten Problem abgelenkt war, ihn bloß mit der Hand fort wie eine lästige Mücke.

Wie sich zeigte, war Florida eine ungewöhnlich tief liegende Halbinsel gewesen, sodass nur eine dünne, durch die Mitte des Bundesstaats verlaufende Wirbelsäule oberhalb des um elf Meter gestiegenen Meeresspiegels verblieben war. Aus der Luft ließen sich die Umrisse der Halbinsel nach wie vor erkennen, als dunkles Riff im seichten Meer, ein Riff, das noch immer gelb in das umgebende Wasser ausfärbte. Die Wolkenkratzer des Miami-Korridors waren bewohnt, ähnlich wie die in Manhattan und anderswo, aber im Großen und Ganzen hatte man den Bundesstaat aufgeben müssen. Wie dem auch sei, der Großteil des Erdbodens war noch da und lag als Schlammschicht auf dem Riff, von der Überflutung kaum in Mitleidenschaft gezogen. Es gab die Möglichkeit, ihn abzuschöpfen, anschließend das Felsfundament der Halbinsel mit Gestein aufzustocken, das man von den kanadischen Rockies herabkarrte, und schließlich den Erdboden wieder auf dem neuen, höheren Fundament zu verteilen.

Mit anderen Worten war es mit Florida wie mit Grönland: Es handelte sich um einen der wenigen Orte auf der Erde, an denen man ohne allzu große Kollateralschäden ein Terraforming durchführen konnte. Natürlich gab es Einwände, manche Menschen verteidigten die Existenz der neuen Riffe und Fischgründe, aber die hatte man beschwichtigt oder überstimmt, und in Atlanta und Washington D. C., das selbst auf einem Polder hinter einem riesigen Netzwerk von Dämmen auf dem Potomac lag, befürwortete man das Projekt. Die verkümmerte, aber nach wie vor mächtige Regierung in Washington, das nun selbst zu weiten Teilen unterhalb des Meeresspiegels lag, stand der Idee, Florida »aus seinem nassen Grab zu erheben«, sehr wohlwollend gegenüber.

Es handelte sich um eines der zehn größten Terraformingprojekte, die derzeit auf der Erde durchgeführt wurden, und Wahram gesellte sich nur zu gerne zu seinen Kollegen vom Saturn, deren Arbeitseinheit im Zuge einer Kooperation zwischen Alabama und Amsterdam auf die Beine gestellt worden war. Teams in Alaska, Britisch-Kolumbien, Yukon und Nunavut höhlten Bergketten aus und legten unten im Felsfundament Korridore an, die mit gefrorenem Kohlendioxid gefüllt wurden, das man anderswo aus der Atmosphäre gezogen hatte. Wahram bezweifelte, dass sich all das in einer geologisch und ökologisch stabilen Weise durchführen ließ. Zum einen ging es um eine ganze Menge Felsgestein. Florida lag im Durchschnitt fünf Meter unter dem Meeresspiegel, und sie wollten es etwas höher übers Wasser hinausbauen, als es vorher gewesen war, für den Fall, dass Grönland oder die östliche Antarktis ihr Eis ebenfalls ins Meer entließen. Über den schmalen Landfinger, der als einziger Teil der Halbinsel über Wasser geblieben war, transportierten sie die zerlegten Bergkerne per Zug an Ort und Stelle und bauten den Bundesstaat wieder auf, so wie man früher Steinanleger gebaut hatte. Die Everglades im Süden Floridas sollten wieder hochgeholt werden und als oberste Schicht dienen. Neu erzeugte Analoga zu den zahlreichen ausgelöschten Vogel- und Landtierarten, die es vor den europäischen Einwanderern auf der Halbinsel gegeben hatte, sollten eingeführt werden. Sie würden Florida neu erschaffen. Unter den Rockies würde man genug Kohlendioxid vergraben, damit das Projekt im Endeffekt eine negative Kohlenstoffbilanz aufweisen würde.

Die Bau- und Transportmannschaften für die Arbeit wurden vor allen Dingen im Darbenden Süden angeworben, der seinen Namen in den Jahren erhalten hatte, in denen die Eisdecke der westlichen Antarktis abgerutscht war und der Meeresspiegel am weitesten gestiegen war. Die Arbeit an Florida für sich genommen sorgte noch nicht für Vollbeschäftigung, aber während Wahram mit der Bahn unterwegs war, hatte er viel Zeit, die an ihm vorbeiziehende Landschaft zu betrachten und über sie nachzudenken, und einmal schickte er eine Nachricht an Swan: Erinnerst du dich daran, wie du auf der Venus gesagt hast, dass man hier alle bei der Landschaftsrestauration beschäftigen sollte? Das könnte funktionieren.

Also fuhr er mit dem Zug zwischen Kanada und Florida hin und her. Es war ein riesiges und größtenteils flaches Land. Die Hitze hatte die ehemaligen Weizenfelder ausgedörrt, weshalb die Bauern inzwischen anderes Getreide anbauten und ihre Felder bewässerten. Trotzdem hatten sich weite Landstriche in Manitoba und in den Dakotas zu Hochwüsten verwandelt. Einerseits sagten die Leute, dass die Prärien seit jeher Hochwüsten gewesen wären, und dass sich nun wieder Büffel in ihnen ansiedelten. Andererseits waren die Wälder links und rechts des Mississippi wieder da, und sie waren subtropischer denn je. In Missouri und Arkansas sah es aus wie in Südamerika.

Er konnte oft stundenlang zwischen den Waggons stehen, wo er vor dem Fahrtwind geschützt war, und ins weite Land hinausschauen. Landschaftsgestalter und Gärtner, Schwermaschinenfahrer, Träger und Gräber – all diese Leute waren unabdingbar, um eine Region von Grund auf zu entwickeln. Die riesigen Waldos und die Selbstrep-Fabriken waren nur für ganz bestimmte Aufgaben geeignet. Menschen aus der Gegend, die auf ihrem eigenem Land arbeiteten, gaben ein besseres Bild ab als Selbstreps, die vom Himmel herabfielen. Die Menschen, mit denen er sprach, nahmen das Florida-Projekt wohlwollender auf, und das Gleiche galt für die betreffenden Regierungen. Nicht wenige zeigten eine fast schon religiöse Hingabe. Es war ihr Traum, ihr versunkenes Land wieder aus dem Wasser zu hieven. Hier hatte der Wiederaufbau der Infrastruktur für niemanden negative Folgen, mit Ausnahme derjenigen, die sich an den neuen Riffen erfreut hatten, und die würden neue Riffe bekommen. Am Ende würde Florida wie ein großes Venedig sein, auf Pfählen errichtet, die tief in die Erde reichten. Und die Migrationshilfe würde das Land so bald wie möglich wieder mit Pflanzen und Tieren bevölkern.

Auf der Zugfahrt nach Norden lauschte Wahram der Erklärung eines der Riffingenieure dafür, dass die Korallen, die sie neu ansiedelten, ihre Eier alle in derselben Nacht des Jahres ausstießen, sogar innerhalb eines Zeitraums von zwanzig Minuten, obwohl sie über Hunderte von Kilometern verteilt waren. Anscheinend war das aufgrund von zwei farbempfindlichen Zellen in jeder Koralle möglich, die zusammen den genauen Blauton der Dämmerung in der Nacht nach dem ersten Vollmond nach der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche bestimmen konnten. Dieser Mond ging direkt nach dem Sonnenuntergang auf, wenn der Himmel noch von der eben erst untergegangenen Sonne erhellt wurde, und in diesem kurzen Moment nahm der Himmel einen ganz bestimmten Blauton an, den die Korallen erkannten.

»Davon muss ich Swan erzählen«, sagte Wahram, fasziniert von der Vorstellung einer solchen hirnlosen, aber lebendigen Präzision. Bewusstsein, was war das schon?

Derweil gedieh das Projekt der Hebung Floridas. Wahram beobachtete die Menschen bei der Arbeit und stellte fest, dass sie voller Begeisterung am Werk waren. Er selbst hatte in seiner Jugend oft eine ähnliche Begeisterung verspürt, wenn sie Städte auf dem Titan errichtet hatten. Dort hatten sie eine Welt aus dem Eis schneiden müssen; hier mussten sie sie aus dem Meer heben. Aber es war das gleiche Gefühl.

Einmal war er auf einem Zug nach Süden mit einer holländischen Mitarbeiterin draußen zwischen den Waggons. Sie schauten auf eine Gruppe junger Männer herab, die Steine auf den Zug warfen und riefen: »Ficken, ficken ficken«, worauf sie sich hinauslehnte und rief: »He, fickt euch selber! Wir bauen den Süden wieder auf, ob es euch gefällt oder nicht!« Dazu lachte sie ein böses Germanenlachen, das die Jungen hoffentlich nicht hörten.

Auszüge (15)

das Gehirn ist labil, und erwiesenermaßen ist es mit Maschinen kompatibel und lässt sich zudem durch Stammzellen, Drogen, Elektroden und Gehirnzellen anderer Spezies manipulieren

Evolution konserviert die Dinge, die funktionieren. So auch in unserem Gehirn, dessen verschiedene Bereiche unterschiedlich alt sind – im Prinzip ist es hinten und unten ein Reptiliengehirn, in der Mitte ein Säugetiergehirn und vorne und oben menschlich. Das Reptiliengehirn dient zum Atmen und Schlafen, das Säugetiergehirn zur Rudelbildung und das menschliche Gehirn, um über all das nachzudenken

eine übermäßige Auslese nach nur einem Merkmal verzerrt die Evolution, und es kann zu Ergebnissen kommen, bei denen »das Schlechte normal wird«. Im Zuge der Ausdifferenzierung der Menschen in verschiedenartige selbst entwickelte Posthumane kann man solche Ergebnisse häufig beobachten, wie zum Beispiel bei

Teile des Gehirns feuern beim Anblick von Bildern von Nahrung, aber nicht beim Anblick von Nahrung selbst. Menschen jagen gern. Die Jagd nimmt viele Formen an. Die Jagd nach einem Geschäft, die Jagd nach einem Sinn. Wenn ein Raubtier tötet, ist es dabei ruhig und befriedigt. Zorn fühlt sich immer schlecht an, Zorn ist ein schmerzhaftes Gefühl. Wenn das Raubtier keine Beute macht, ist es vielleicht nicht dazu in der Lage, die Jagd abzubrechen. Angst zügelt Wut. Tiere verlernen eine starke Angst nie. Und wir sind Tiere. Die Piloerektion

krankhafte Aggression: Delfine töten ohne jeden Grund Schweinswale, sie essen sie nicht, und es handelt sich bei ihnen auch nicht um Konkurrenten. Lässt das den Schluss zu, dass das »Uncanny Valley« für alle Säugetiere existiert?

Verstand kann ohne Gefühle nicht funktionieren. Menschen, die sich von ihren Gefühlen abschotten, können keine Entscheidungen treffen. Daher hat die Entscheidung, das Gehirn mit Hormontherapien zu manipulieren, weitreichende Konsequenzen. Bisexuelle Therapien verändern den Oxytocin- und den Vasopressinspiegel im Gehirn sowie den ihres Vorläufers Vasotocin. Ein Oxytocin-Nasenspray sorgt für sofortigen gesteigerten Blickkontakt. Endorphine sind die natürliche Version von Morphinen. Das Gehirn schüttet bei Verletzungen Endorphine aus, ebenso bei Berührungen eines geliebten Wesens. Menschen auf der Suche nach Nervenkitzel lindern einen Schmerz

drei Prozent der Säugetiere sind monogam. Im Spiel lernen Säugetiere, wie sie mit Überraschungen

fünf verschiedene Bereiche des Gehirns bewerten Melodie, Rhythmus, Versmaß, Tonalität und Timbre. Musik war die erste menschliche Sprache, und sie ist nach wie vor die Sprache der Tiere und Vögel. Die Musik ist etwa 160 Millionen Jahre älter als der Mensch. Die Einführung von Vogelgesang-Hirnarealen in den passenden Bereichen des menschlichen Gehirns hat bereits zu Aphasien und zu Temporallappenerscheinungen wie einem allgegenwärtigen Gefühl der Erhabenheit und Hypermusikalität mit Hyperventilationsfolge (Pfeifen oder Singen) geführt

menschliche Stimmbänder sind seit jeher zum Schnurren fähig, und man muss lediglich Amygdala-, Hippocampus- und Hypothalamuszellen von Katzen einsetzen, um

die Leistung menschlicher Piloten in Flugwaldos wird deutlich durch die Implantation von Greifvogel- oder Kolibriflug-Hirnzentren verbessert. Die andersartige Struktur von Vogelgehirnen macht die Einführung in interstitielle Zellen ausgesprochen

vermutlich ist der Orgasmus bereits die größtmögliche Belastung für einen Organismus, ohne dabei Schäden wie Leisten- und Rippenbrüche, Thrombosen und Herzanfälle zu verursachen. Passagiere auf Sexlinern, die Vasotocin eingenommen haben, sind bekanntermaßen oft

der subgenuale anteriore cinguläre Cortex oder sgACC ist das Areal, das den Körper dazu bringt, Angst zu ignorieren. Es ist das Hirnzentrum für Mut, durch seine Anregung kann man Menschen dabei helfen, ihre Phobien zu überwinden. Man kann ihn allerdings auch zu stark anregen, was dazu führt

der Temporallappen ist der Bereich, in dem Gefühle wie ein Zustand der allgegenwärtigen Erhabenheit, Hyperreligiosität, Hypersexualität, Hypergrafie, Inklusionszwang und derlei mehr empfunden werden. Eine absichtliche Anregung dieses Bereichs im Gehirn oder seine Anpassung, um einen dieser Zustände zu begünstigen, kann leicht die anderen mit auslösen oder epileptische

menschliche Testpersonen (Freiwillige), die die enceladanischen Lebensformen einschließlich von Enceladusea Irwinii eingenommen haben, berichten von Synästhesien und individuell gesteigerten Sinneswahrnehmungen, die teilweise auch durch Versuche bestätigt werden konnten. Verstärkte Sinneswahrnehmungen werden oft durch eine verringerte Fähigkeit zur Verallgemeinerung oder Berechnung aufgewogen

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Langeweile, Taedium Vitae, die Weisheit der Mayas, Absurdität, Weltschmerz, mal du siècle, existenzieller Schwindel, Dysphorie, Flauten, Angstzustände, Malaise, Ennui, Hebephrenie, Entmutigung, Depression, Melancholie, Anomie, Acedia, Dysthymie, Leere, Affektmangel, den Blues haben, Verzweiflung, der schwarze Hund, schwarzer Esel, Hoffnungslosigkeit, Leid, Kummer, Unglück, Hikikomori, Entfremdung, Rückzug, tristitia, Nihilismus, Morbidität, Anhedonie, Elend, Nervosität, Furcht, Schmerz, Schrecken, Entsetzen, Niederschmetterung, postcentenniale Hypochondrie, Altersschmerz, Thanatropismus, Angst vor dem Tod, Todessehnsucht

Swan in Afrika

Das Projekt Erde machte Swan keinen Spaß. Sie zog es durch, weil sie daran glaubte und weil sie der Meinung war, so am besten helfen zu können; sie war der Meinung, dass Alex dasselbe getan hätte, weshalb sie nicht einfach aufgeben konnte, nur weil es schwer, frustrierend und blöd war. Sie verfluchte den Tag, an dem sie Terminator verlassen hatte; sie träumte von dem Tag, an dem sie die Große Treppe Richtung Park und Farm emportanzen konnte.

Swan wurde so schnell ungeduldig. Wahram wäre besser für so etwas geeignet gewesen, aber er war nach Amerika geflogen, nachdem er sich wie so viele vor ihm mit der unausweichlichen afrikanischen Realität abgemüht hatte. Swan wollte nicht so schnell weich werden, und sie ärgerte sich über ihn. Das kam nun noch zu ihrer grundsätzlichen Verärgerung dazu, und oftmals verpuffte ihre Geduld und ließ sie kochend vor Wut zurück. Sie fing an, grob mit den Leuten umzuspringen, was ihre Arbeit noch ineffektiver machte. Wenn sie aufwachte, fragte sie sich jedes Mal, wie viele Tage es noch dauern würde. Als jemand im Büro einmal das Gleiche sagte wie Zasha, »die ganze Erde ist in Sachen Entwicklungshilfe ein Fass ohne Boden«, brüllte sie ihn an.

Bei einer anderen Gelegenheit stritt sie einmal mehr lautstark mit einer Frau von der afrikanischen Liga, die aus Dar gekommen war, um ihnen Ärger zu machen, und da Swan ihr keine reinhauen wollte, blieb ihr irgendwann nichts anderes übrig, als sich umzudrehen und wegzulaufen. Auf Chinesisch fluchend drängte sie sich durch die überfüllten Straßen der Stadt. Ihr wurde klar, dass sie der Sache in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand nur schadete.

Die Erde, der üble Planet. Trotz des Winds und des Himmels begann sie ihn einmal mehr zu hassen, und nicht bloß wegen seiner abscheulichen Schwerkraft, sondern wegen der überall sichtbaren Spuren dessen, was ihre Spezies ihm angetan hatte und ihm noch immer antat. Die Luft kam ihr vor wie Sirup, durch den sie sich mühsam vorankämpfen musste. Draußen in den Terrarien lebte man frei wie ein Tier – man konnte dort ein Tier sein und auf die eine oder andere Art sein Leben selbst gestalten. Man konnte so nackt leben, wie man wollte. Auf der gottverdammten Erde erzeugten die gesammelten Traditionen und Gesetze und Gepflogenheiten ein Gerüst, das schlimmer war als ein Leibhalter: Es schnürte einem den Verstand in eine Zwangsjacke ein und zwang einen, genauso zu sein wie all die anderen mit ihren albernen, sauber einsortierten Gewohnheiten. Da waren sie, auf der einzigen Planetenoberfläche, auf der man einfach so herumlaufen konnte, nackt dem Wind und der Sonne ausgesetzt, und wann immer sie konnten, saßen sie in kleinen Kisten und starrten auf noch kleinere Kisten, als bliebe ihnen überhaupt keine andere Wahl – als wären sie in einer Raumstation –, als hätten die schlimmen alten Jahrhunderte der Gefangenschaft nie ein Ende gefunden. Sie schauten nicht einmal nachts zum Sternenhimmel empor. Wenn Swan zwischen ihnen umherlief, sah sie es ihnen an. Wenn es sich bei ihnen um Menschen gehandelt hätte, die sich für die Sterne interessierten, dann wären sie gar nicht mehr hier gewesen. Dort über ihr hing das Sternbild des Orion schief am Himmel, »das Schönste auf dieser Welt, was irgendjemand von uns jemals zu Gesicht bekommen wird, über den Himmel gebreitet wie ein wahrer Gott, an den man nur ein kleines bisschen glauben muss.« Aber niemand sah hin.

Trotz ihrer Unzufriedenheit hatte sich eine weitere nord-hararische Barackensiedlung nahe Dzivarasekwa bereit erklärt, mit ihr und ihrem Team zusammenzuarbeiten. Die Siedlung lag an einem steilen Hang, und die Leute hatten sich ohne zu fragen dort niedergelassen – der Ort befand sich so nah an der Grenze zu Neu-Zimbabwe und Rhodesien, dass unklar war, wer hier die Hoheitsgewalt hatte. Politisch gesehen war das vielversprechend, aber der steile Hang war ein Problem für die Selbstreps. Swans Team hatte eine Vorgehensweise entwickelt, bei der die Fabriken sich wie Kett- und Schussfäden umeinander herumbewegten, wobei einige den Höhenlinien folgten, während andere die Hänge emporkletterten und sich dabei mit teleskopartigen Beinsäulen aufrecht hielten. Auf diese Weise gelang es ihnen, das hinter ihnen liegende Land in ein stilvolles, weißes Dorf mit ein paar Farbtupfern zu verwandeln; es würde sehr hübsch werden.

Doch eines Morgens bog eine der Fabriken plötzlich vom Hügelkamm nach unten ab und mampfte sich erst durch einen Park und dann durch die belaubte Vorstadt Kuwadzana. Die hiesigen Aufpasser hatten den Versuch, ihren Selbstrep unter Kontrolle zu bringen, aufgegeben und sprangen von den Leitern an den Seiten in die Arme einer wachsenden Menge.

Als Swan am Ort des Geschehens eintraf, bahnte sie sich rufend einen Weg durch die Menge und sprang unten auf eine Leiter an der Fabrik. Selbst im Amoklauf schob sich der Behemoth mit nur etwa einem Stundenkilometer voran. Swan kletterte die Leiter hoch und schlüpfte durch eine Tür in den Kontrollraum, der aussah wie die Brücke eines Schleppkahns. Er war leer. Swan ging zur Rückwand und schlug mit den Fäusten auf den Notüberbrückungsschalter. Nichts geschah; der Leviathan schob sich weiter über die Straßen und Häuser der Vorstadt, unter ihm rumpelte es wie das gedämpfte Tosen der Niagarafälle. Langsam begriff sie, warum die Wächter das sinkende Schiff verlassen hatten. Wenn die Notüberbrückung nicht funktionierte, ließ sich nichts Ersichtliches unternehmen.

Swan setzte sich vor die Bedienungskonsole und begann schnell draufloszutippen, während sie dem Selbstrep gleichzeitig verbale Haltebefehle gab. Erst war ihr Tonfall ruhig, dann fordernd, dann schmeichelnd, dann flehend, und schließlich schrie sie vor Wut. Weder reagierte die Selbstrep-KI, noch blieb die Fabrik stehen. Irgendjemand musste sich an ihm zu schaffen gemacht haben. Das konnte nicht leicht gewesen sein. Der gewiefte Saboteur hatte sich durch mehrere knallharte Sicherheitssysteme kämpfen müssen. Swan meinte, ein paar passende Codezeilen zu kennen, aber nichts, was sie versuchte, funktionierte. »Zum Teufel auch!«, rief sie. »Warum bekommt man hier so gut wie keine technische Hilfe?«

»Derzeit finden noch andere Attacken statt, die möglicherweise mit dieser abgestimmt sind«, informierte sie Pauline.

»Und, kannst du mir hier irgendwie helfen?«

Pauline antwortete: »Tippe folgenden Satz ein: ›Der Nebel in Lissabon ist dicht.‹«

Das tat Swan, und anschließend sagte Pauline: »Jetzt kannst du die Einheit manuell steuern. Es gibt vier Kontrollen auf den Armaturen …«

»Ich weiß, wie man das verdammte Ding fährt!«, sagte Swan. »Halt die Klappe!«

»Deshalb kannst du nun auch bremsen.«

Swan schimpfte auf ihren Qube und wendete dann, immer noch fluchend, die Fabrik in einem engen, bergauf führenden Bogen (was in diesem Fall einen Halbkreis von einigen Hundert Metern Durchmesser bedeutete), wobei sie über Straßen mit prachtvollen Villen an den Rändern hinwegwalzte. »Ich wünschte, das Ding würde auch andersrum funktionieren«, sagte sie rasend vor Wut. »Ich wünschte, ich könnte diesen reichen Mistkerlen hier die Bruchbuden geben, die sie verdienen.«

»Wahrscheinlich wäre es besser, einfach anzuhalten«, bemerkte Pauline.

»Halt die Klappe!« Swan ließ die Fabrik eine Weile durch das Viertel rumpeln und brachte sie dann zum Stehen. »Also hat man das Ding sabotiert«, sagte sie.

»Ja.«

»Verdammt. Und jetzt wird man uns festnehmen.«

»Sehr wahrscheinlich«, sagte Pauline.

Es folgte, was Swan vorhergesagt hatte. Die örtliche Regierung beschlagnahmte den beschädigten Selbstrep und verlangte die Festnahme, strafrechtliche Verfolgung und Abschiebung oder Inhaftierung derjenigen, die ihn bedient hatten. Swan wurde in Gewahrsam genommen und in einer kleinen Wohnung im Regierungsgebäude festgesetzt. Sie war nicht im Gefängnis, aber sie hatte Hausarrest, und möglicherweise würde sie zu einer Haftstrafe verurteilt werden.

Angesichts dieser Möglichkeit verfiel sie in wütende Verzweiflung. »Man hat uns hierher eingeladen«, erklärte sie ihren Bewachern beharrlich immer wieder. »Wir haben nur versucht zu helfen. Uns trifft keine Schuld an der Sabotage.« Doch keiner der Wachleute schien ihr zuzuhören. Einer sagte etwas Unheilverkündendes von einem Urteil, das sie für immer zum Schweigen bringen würde.

Mitten in diesem Albtraum tauchte plötzlich Wahram auf, in Begleitung eines Beamten von der Afrikanischen Liga, einem kleinen, schmalen Mann aus Gabon namens Pierre, der wunderschönes Französisch sprach und ein eher rudimentäres Englisch. Er sagte: »Ich übergebe Sie in die Obhut Ihres Kollegen hier, aber Sie müssen Nord-Harare verlassen. Die Baumaschinen werden von den Einwohnern übernommen. Sie dürfen nur von hiesigem Personal betrieben werden. So.« Er streckte eine Hand aus, als wollte er ihr den Weg nach draußen zeigen.

Die überraschte Swan hätte beinahe aus Prinzip abgelehnt. Dann sah sie, wie Wahram die Brauen hob und die Augen aufriss: Sein Entsetzen erinnerte sie wieder daran, wie sehr ihre Lage sie selbst in Angst versetzt hatte, und nach kurzem Zögern stimmte sie Pierres Bedingungen kleinlaut zu und folgte Wahram nach draußen zu einem Wagen, der sie zu einem Flugfeld brachte, auf dem ein großes Luftschiff an einem kleinen Mast angebunden war.

»Lass uns von hier verschwinden, solange noch alles gut läuft«, schlug Wahram vor.

»Ja, ja«, sagte Swan.

Das Luftschiff war so lang wie ein Öltanker und gehörte zu einer großen Flotte ähnlicher Fluggeräte, die die Erde beständig von Westen nach Osten umkreisten, gezogen von Drachen, die im Strahlstrom flogen. So transportierten sie langsam, aber zuverlässig ihre Ladung. Dieses spezielle Luftschiff hatte einen zigarrenförmigen Ballonkörper, und die Gondel darunter hatte vier bis fünf Fensterreihen übereinander.

Wahram führte Swan in den Mastaufzug, mit dem sie auf die Ladeplattform fuhren. Im Innern des Luftschiffs gingen sie durch eine lange Halle Richtung Bug, wo es ein Aussichtsdeck gab, das ein bisschen an die Blase am Vorderende eines Terrariums erinnerte. Wahram hatte zwei Stühle und einen Tisch für später reserviert, wenn sie abgeflogen waren und ihre vorgesehene Höhe erreicht hatten. An jenem Nachmittag saßen sie also an ihrem Tisch und konnten auf die grünen Hügel der Erde hinabschauen, die in einer imposanten Parade unter ihnen vorbeizogen. Es war wunderschön, doch Swan sah nicht hin.

»Danke«, sagte Swan steif. »Ich war dort unten in ernsthaften Schwierigkeiten.«

Wahram zuckte mit den Schultern. »Freut mich, dass ich helfen konnte.« Er redete über die Arbeit in Nordamerika und die Probleme dort und anderswo. Einen Großteil davon hatte Swan noch nicht gehört, aber das Muster war deprimierend klar. Keine neue Erkenntnis: Die Erde war am Arsch.

Ganz wie es seine Art war, gelangte Wahram zu einem ausgewogeneren Schluss. »Ich habe mir gedacht, dass unsere erste Hilfswelle vielleicht zu … zu ungeschlacht war, wenn man das so ausdrücken kann. Wir haben uns zu stark darauf konzentriert, die Landschaft umzugestalten und Wohnraum zu errichten. Vielleicht möchten die Leute gerne daran beteiligt sein, wenn ihre Häuser gebaut werden.«

»Ich glaube nicht, dass es den Leuten darauf ankommt, wer etwas baut«, erwiderte Swan.

»Nun ja, im Weltraum kommt es uns darauf an. Warum nicht auch hier?«

»Weil man froh ist über eine Maschine, die einem ein neues Haus baut – wenn das alte in sich zusammenstürzen und einen zusammen mit seinen Kindern erschlagen kann, nur weil es regnet. Gefühle sind unwichtig, solange die materiellen Grundbedürfnisse nicht erfüllt sind. Das weißt du doch. Die Bedürfnishierarchie gibt es wirklich.«

»Das ist ja wahr«, sagte Wahram, »aber trotzdem stoßen wir auf jede Menge Widerstand. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass wir uns mit unseren Projekten Feinde machen. Es hat etwas von dem gefesselten Gulliver.«

»Das ist kein gutes Bild«, antwortete Swan, die an die Großen und die Kleinen an Bord des Sexliners dachte. »Ein Großteil des Widerstands soll den Eindruck erwecken, als käme er aus dem Volk, aber in Wirklichkeit handelt es sich um den üblichen reaktionären Gegenwind. Wenn sie uns zu fesseln versuchen, müssen wir diese Bande zerreißen!«

»Mir scheint das Bild doch ganz gut zu passen«, sagte Wahram nachsichtig. »Die Seile, mit denen Gulliver am Boden gehalten wird, sind Gesetze, und deshalb sind sie wichtig. Aber schau, es gibt einen Weg, diesen Seilen aus dem Weg zu gehen. Wir können zwischen ihnen hindurchschlüpfen. Die Arbeit, die wir in Kanada gemacht haben, hat mich auf einige Ideen gebracht.«

Ihr Teegedeck traf ein, und er goss ihr eine Tasse ein, die sie sogleich vergaß. Er nippte bedächtig an seinem eigenen Tee und beobachtete, wie der indische Ozean in Sicht kam, und dann sah er weit im Süden eine zerknitterte grüne Insel: Madagaskar, eines der am schlimmsten verwüsteten Ökosysteme, die es je gegeben hatte, und nun ein Beispiel für eine Ascension-artige Hybridisierung. Eine der größten Inseln der Erde, nun vollständig zu einem Werk der Landschaftsgestaltung geworden, und sie gedieh prächtig. Es war ein beliebtes Reiseziel, die Leute wollten die dortigen Gärten und Wälder sehen.

Wahram deutete auf die Insel. »Landschaftsrestauration findet überall statt, während die Leute versuchen, mit den Veränderungen zurechtzukommen. Und sie ist sehr arbeitsintensiv und sehr ortsgebunden. Man kann das nicht von irgendwo anders aus machen. Man kann sich nicht die Wechselkurse verschiedener Währungen zunutze machen. Man kann eigentlich gar keinen richtigen Profit daraus ziehen. Für unsere Zwecke eignet sie sich also an sich schon recht gut. Es ist Arbeit, die zum Wohle der Allgemeinheit gemacht werden muss. Überall an den Küsten muss die Landschaft umgestaltet werden. Es ist kaum zu glauben, was alles zu tun ist. Es geht nicht einmal nur um Wiederherstellung, weil die alten Küstenverläufe endgültig oder zumindest für Hunderte von Jahren dahin sind. Genau genommen geht es darum, einen neuen Küstenstreifen entlang des gestiegenen Meeresspiegels anzulegen. Im Moment ist alles kahl. Die See reißt alles mit sich, was sie überspült, und eine Menge giftiges Zeug wird freigesetzt. An den neuen Küsten und in den Gezeitenzonen herrschen für gewöhnlich katastrophale Verhältnisse. All das in Ordnung zu bringen kostet sehr viel Arbeit. Trotzdem wollen alle, die an den neuen Küsten leben, dass es gemacht wird. Viele wollen es selbst machen. Das, womit ich in Florida zu tun hatte, ist vielleicht ein etwas ungewöhnlicher Fall, weil es nach einer Wiederherstellung aussieht, aber eigentlich wird da etwas von Grund auf neu erschaffen. Es handelt sich um eine weitere Art des Terraforming, die nur deshalb wie Restauration erscheint, weil es Florida früher auch schon gab. Genau genommen könnte man dasselbe überall im seichten Wasser machen. Vielleicht muss man dafür nicht einmal Berge ins Meer versetzen. Es gibt inzwischen schnell wachsende Korallen, die man zum Fundamentbau einsetzen könnte. Ich habe Gruppen gesehen, die diese Korallen benutzen, und sie sind dazu in der Lage, sie schnell und in großen Mengen an den neuen Küstenstreifen anzusiedeln, sodass man ziemlich schnell wunderbaren, schneeweißen und sehr feinen Sand erhält. Wenn man darüberläuft, quietscht er.«

Swan zuckte mit den Schultern. »Na schön, von mir aus. Aber ich bin nach wie vor nicht bereit, mit der unmittelbaren Herstellung von Wohnraum aufzuhören.«

»Ich weiß.« Er blickte auf das Land unter ihnen hinab. Er wirkte, als könne er hier einschlafen.

Nach ein paar Minuten regte er sich und wollte anscheinend etwas sagen, zögerte jedoch. Swan, die das sah, fragte: »Was ist? Sag’s mir.«

»Da ist noch etwas«, antwortete er und warf ihr einen beinahe schüchternen Blick zu. »Ich glaube, wir liefern unter anderem neue Beweise dafür, dass eine Reform hier, innerhalb des auf der Erde herrschenden Systems und seiner Paradigmen, niemals ausreichen wird. Mit anderen Worten, dass nach wie vor die Notwendigkeit zu einer Revolution besteht.«

»Aber das sage ich doch die ganze Zeit! Das habe ich doch schon auf der Venus zu dir gesagt!«

»Ich weiß. Und ich fange langsam an, dir zuzustimmen. Also … erinnerst du dich an das Projekt, von dem ich dir erzählt habe, das Alex angeleitet hat, die Aufstockung von Tieren in Terrarien, damit wir sie zur Erde zurückbringen können?«

»Ja, natürlich. Sie wollte, dass es genug Tiere gibt, um die Erde wieder mit ihnen zu bevölkern, wenn der richtige Zeitpunkt käme.«

»Genau. Und jetzt … jetzt frage ich mich, ob nicht der Zeitpunkt dazu gekommen ist.«

Swan erschrak. »Du meinst den Zeitpunkt, die Tiere zurückzubringen?«

Sie wurde von einem Gefühl erfüllt, dem sie keinen Namen geben konnte: Wolkenmeere, die in ihrer Brust wogten und sich zu einer Art Gewitterfront verdichteten … »Meinst du wirklich? Was willst du damit sagen?«

Er hob den Blick von Madagaskar und sah sie an. Ein albernes kleines Lächeln huschte über seine Lippen, schief und flüchtig, ein Krötenlächeln, und dennoch warm. »Ja.«

Listen (13)

Fledermäuse. Faultiere. Koboldäffchen und Tapire. Elefanten und Robben. Nashörner. Löwen und Tiger und Bären. Wapiti, Moschusochse, Elch. Karibu und Rentier, Gämse und Steinbock. Tiger und Schneeleoparden. Pfeifhase und Großohrhirsch. Orang-Utan und Langur und Gibbon und Klammeraffe (alle Menschenaffen sind gefährdet). Maulwürfe und Wühlmäuse. Igel und Dachse, Dickhornschafe, Erdferkel und Steppenschuppentiere, Schliefer und Murmeltier. Blattnasenfledermäuse, Kinnblattfledermäuse, Stummeldaumenfledermäuse. Füchse und Hasen. Reh, Wildschwein, Pekari, Seekuh. Stachelschwein. Wölfe

Es trifft nicht zu, dass jedes Säugetier der Erde, das größer ist als ein Hase, bedroht ist. Die meisten sind bloß

Säugetiere sind eine Klasse innerhalb des Tierreichs; Es gibt 5490 Spezies in dieser Klasse, 1200 Gattungen, 153 Familien und 29 Ordnungen

Wasserschweine, Jaguare, Giraffen, Bisons, Przewalski-Pferd, Känguru. Zebra, Gepard, Waschbär

Die größten Ordnungen sind die der Rodentia, der Chiroptera (Fledermäuse), Soricomorpha (Insektenfresser), gefolgt von den Carnivora, Cetartiodactyla (Paarhufer und Wale) und Primaten

Alle fallen herab. Bitte

kommt zurück

Swan und die Wölfe

Sie kamen alle zusammen herab, zuerst in großen Landeschiffen, die von Hitzeschilden geschützt wurden, dann in kleineren Einheiten, die im Sinkflug Fallschirme entfalteten, und dann in einem Blätterregen von Ballons. Mittlerweile waren sie in dem Teil des Luftraums angekommen, den zu durchqueren die Inuit ihnen erlaubt hatten. Einige Hundert Meter über dem Boden zerfielen die Landeschiffe und -ballons zu Tausenden von Aerogel-Blasen, die zu Boden rieselten. Jede der durchsichtigen Blasen war ein intelligenter Luftballon, in dessen Innerem sich ein Tier oder eine Tierfamilie befand. Was die Tiere davon hielten, ließ sich nicht sagen; manche zappelten in ihren Aerogel-Hüllen, andere wirkten gleichmütig wie Wolken. Der Westwind tat seine Wirkung, und die Blasen trieben ostwärts wie Samenkapseln. Swan blickte sich um, in dem Versuch, in alle Richtungen gleichzeitig zu sehen: Der ganze Himmel war übersät von durchsichtigen Samenkörnern, von denen man aus einer gewissen Entfernung nur den Inhalt sehen konnte, sodass sie inmitten von Tausenden von fliegenden Wölfen, Bären, Rentieren und Berglöwen ostwärts und abwärts trieb. Dort sah sie ein Fuchspaar; ein paar Kaninchen; einen Luchs oder etwas Ähnliches; ein Knäuel Lemminge; einen Reiher, der in seiner Blase angestrengt flatterte. Es sah aus wie in einem Traum, aber sie wusste, dass es die Wirklichkeit war, und dass es derzeit überall auf der Erde genauso aussah: Delfine und Wale, Thunfische und Haie klatschten ins Meer. Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien, Amphibien; all die verlorenen Geschöpfe waren mit einem Mal im Himmel, in allen Ländern, an jeder Flussgabelung. Viele der sich herabsenkenden Tiere hatte es seit zwei oder drei Jahrhunderten nicht mehr auf der Erde gegeben. Nun kehrten sie alle auf einmal zurück.

Swan setzte inmitten einer Ansammlung von Tieren auf. Sie befanden sich irgendwo in dem neuen Weizengürtel des südlichen Nunavut, dem Inuit-Wort für »unser Land«. Ihr genauer Zielpunkt befand sich auf einem niedrigen Hügel zwischen Weizen- und Kaltreisfeldern. Jedes Feld wurde von mehreren Pingos verunziert, kleinen Hügeln, die aussahen wie Pocken und durch das Aufsteigen großer Eisbrocken aus dem Schlamm des schmelzenden Permafrosts entstanden waren. Als Swan den Landeanflug begann, ließ sich nur schwer sagen, welcher Hügel ihrer war. Ihre Blase kümmerte sich ganz allein um die Steuerung, und da sie nie zuvor in einer gelandet war, gab sie sich ganz dem Gefühl hin – es war, als ob sie auf einem durchsichtigen Zauberteppich hinabschwebte. Überall um sie herum wurden die Tiere sich nun des herannahenden Erdbodens bewusst. Manche zappelten, andere kauerten sich zusammen, und viele hatten die Beine wie fallende Katzen oder fliegende Eichhörnchen gespreizt, auf genau die richtige Art, obwohl es der erste Sturz ihres Lebens war – vielleicht handelte es sich um eine Art konserviertes Echsenverhalten, das ihnen allen gemein war. Swan selbst kam so sanft auf, dass es ihr vorkam, als würde sie aus einem Fahrstuhl treten. Der Ballon platzte, als er den Boden berührte, und das Aerogel verwehte. Und da stand sie nun, auf festem Boden, auf einem Pingo in Nunavut.

Zu ihrem Beobachtungsteam gehörten noch drei weitere Personen, die so nah beieinander, wie der Wind es zuließ, niedergingen. Swan hielt am Himmel nach ihnen Ausschau, und bei dem Anblick, der sich ihr bot, hätte sie sich beinahe auf den Hintern gesetzt. Sie stieß ein Jauchzen aus und lachte: Der Himmel war noch immer voller Tiere. Am westlichen Himmel sanken aus den tief hängenden Kumuluswolken Karibus und Elche und Grizzlybären herab, alles große braune Flecken mit gespreizten Beinen. All die anderen Tiere waren auch dabei, viele in Ballungen, wobei man die, die höher waren, aufgrund der Entfernung nicht erkennen konnte. Um sie herum raschelte der dichte Weizen von den Bewegungen der Geschöpfte, die aus ihren geplatzten Blasen hervorgekommen waren und hastig Deckung suchten. Es konnte sogar passieren, dass eine der Blasen auf ihr landete; sie musste sich in Acht nehmen. Swan lachte bei der Vorstellung, breitete die Arme weit aus und heulte den Wölfen am Himmel zu. Weiter weg bellten andere Wölfe. Auch Jaulen und Brüllen war zu hören, und viel davon klang angsterfüllt, obwohl sich das nur schwer mit Sicherheit sagen ließ. Es handelte sich bloß um eine Vermutung; genau genommen konnte es sich auch um Triumphgeheul handeln. Endlich daheim! »Alle Kinder Gottes sind endlich daheim«, verkündete sie über ihre Funkverbindung. Die anderen Menschen meldeten sich; sie waren gelandet. Der kühle Westwind pustete sie durch, und sie heulte noch ein wenig. Die letzten Reste ihrer Welle sanken zu Boden; dann waren die Wolken über ihnen wieder ganz unter sich. Nur einige wenige schwarze Punkte trieben noch in der Ferne, leicht wie Daunen. Alles in allem war es das Schönste, was sie jemals gesehen hatte. »Alles klar«, sagte sie mit ausgeschaltetem Funk. »Ich liebe euch. Ihr habt tolle Arbeit geleistet.« Ob sie damit Alex oder Wahram oder die Welt meinte, hätte sie nicht sagen können.

Da stand sie nun also, in der Taiga zwischen nördlichen Wäldern und Tundra. Ab jetzt gab es hier Karibus und Grizzlybären und Berglöwen. Jedes Biom brauchte seine Raubtiere am oberen Ende der Nahrungskette, um zu gedeihen. Die Grizzlybären würden sich sofort zwischen den Hügeln verdrücken, und die Berglöwen würden nach der Landung in gleicher Weise verschwinden. Aber die Wölfe würden zueinanderfinden und sich zu weithin sichtbaren Rudeln zusammenschließen; und das wollte Swan nicht verpassen. Zeit ihres Lebens war sie in Terrarien den Wölfen gefolgt, hatte mit ihnen zusammen gejagt, sie von Beutetieren weggetrieben und sich am Rande eines Rudels, neben dem säugenden Muttertier, zum Schlafen zusammengerollt. Unzählige Male hatte sie schon mit den Wölfen geheult; und jedes Mal, wenn sie sie hörte, fiel sie mit ein, weil es ihr wie die normale menschliche Reaktion auf Wolfsgeheul erschien. Bei anderen Gelegenheiten hatte sie das lange, eindringliche Starren eines Wolfes gespürt und zurückgestarrt; sie hatte Wölfe gesehen, die mit Kojoten beratschlagt hatten, sie hatte gesehen, wie Raben sie im Tausch gegen einen Anteil zu ihrer Beute führten. Sie wusste, dass Menschen die Wölfe menschlicher gemacht hatten, und damit zu Hunden, und dass gleichzeitig die Wölfe die Menschen wölfischer gemacht hatten, indem sie ihnen Rudelverhalten beibrachten. Keine anderen Primaten hatten beispielsweise Freunde, die nicht zu ihrer Verwandtschaft gehörten; Menschen hatten das gelernt, indem sie Wölfe beobachtet hatten. Die beiden Spezies hatten zu jeweils unterschiedlichen Zeiten die Beutereste der anderen gefressen; sie hatten Jagdmethoden voneinander gelernt und sich, kurz gesagt, gemeinsam weiterentwickelt.

Und jetzt brachten die Primaten die andere Hälfte der Familie zurück. Da stand sie nun also.

Ihr Viererteam sollte nach Tieren suchen, die nicht richtig aus ihren Ballons herausgekommen waren und sie befreien oder ihnen beistehen, falls sie verletzt waren. Besonders oft sollte das eigentlich nicht vorkommen, aber der Boden hier war uneben und wies nicht nur Pingos auf, sondern auch Senken, die als Kessel bezeichnet wurden und sich bildeten, wenn der Eiskern eines Pingos abschmolz. Kessel waren rund, fielen steil ab und waren oft mit Wasser gefüllt, da hier der Grundwasserspiegel nur ein bis zwei Meter unter der Erdoberfläche lag. Wie überall in den Tundren und Taigas des Nordens hatte man es hier als »Anpassung« an den Klimawandel mit Weizen und genmanipuliertem Kältereis probiert, aber der Versuch hatte sich als schwieriger erwiesen als erwartet. Und so schienen Pannen bei der Landung, in diesem Durcheinander der Landschaft, durchaus wahrscheinlich.

Es zeigte sich allerdings, dass die Ballons hervorragend funktionierten: Swan und ihre Teamkameraden entdeckten keine Notfälle. Stattdessen waren die Tiere in Bewegung; manche rannten wie wild umher. Doch schon bald ermüdeten sie in ihrer Panik, hielten an und blickten sich um. Die Landschaft, die sie sahen, war hoffentlich nicht allzu unvertraut. Die meisten Terrarien hatte man in Hinblick auf genau diesen Augenblick auf 1 g eingestellt und so gestaltet, dass sie den Orten ähnelten, an die die Tiere nun heimkehrten.

Die großen Karibus hatten keine Schwierigkeiten zueinanderzufinden. Die kleinen Tiere verbargen sich im Weizen und machten sich auf den Weg zu den Hügeln im Westen oder zu den kleinen Bäumen des Nadelwalds, die am südlichen Horizont zu sehen waren. Keines der Geschöpfe schien Hilfe zu brauchen. Alle waren auf festem Boden und stellten sich ihrem neuen Schicksal.

Die Tiere waren einzeln markiert, sodass sie auf den Bildschirmen als Muster von bunten Punkten erschienen. Swans Team wandte sich dem nächsten Teil ihres Plans zu, der darin bestand, den Karibus zu folgen und sie notfalls vor sich her zu treiben wie Schäferhunde Vieh, bis sie ans Ostufer des Thelon River gelangten. Diese erste Wanderung der neu gebildeten Herde würde instinktiv, aber ohne Vorgaben vonstattengehen – es sei denn, sie trafen auf alte Spuren der verlorenen Herden von Beverly, Bathurst und Ahiak. Doch auf ihrem Weg würden sie Duftspuren und andere Markierungen für künftige Wanderrouten hinterlassen. Dadurch würde ihr Weg de facto zu einem Habitatkorridor durch das neue Weizengebiet werden, einem Korridor, den sie möglicherweise vor den zuständigen Gerichten verteidigen mussten, aber darum würden sie sich kümmern, wenn es so weit war. Zunächst mussten die Karibus über den Fluss gelangen. Dass sie die Tiere bei ihren Wanderungsbewegungen über wirtschaftlich genutzte Ländereien leiteten, war der größte Akt zivilen Ungehorsams, den Raumer jemals auf der Erde begangen hatten, aber sie hofften, dass die Tiere den Weg beim nächsten Versuch alleine bewältigen würden, und dass die Einheimischen sie ins Herz schließen würden – selbst die Bauern, die hier ohnehin keine besonders großen Erfolge mit ihrer Arbeit erzielten. Die Eskorten würden vielleicht festgenommen werden, bevor sie mit ihrer Arbeit fertig waren, aber die Leute erkannten hoffentlich schnell, dass die Habitatkorridore das Land, das sie in Anspruch nahmen, wert waren.

Wie meistens, wenn sie mit einer Gruppe von Menschen unterwegs war, fiel Swan bald zurück. Es gab einfach zu viel zu sehen; die Dinge um sie herum waren so interessant, dass sie ihre eigentliche Aufgabe vergaß, sogar jetzt. Seit einem Jahrhundert forschte man an den Grundlagen für die Pläne, auf der Erde verloren gegangene Arten wieder auszuwildern, und obwohl sie jetzt hier war und Teil dieses Projekts, taumelte sie umher und betrachtete die Blumen, die hier und dort aus dem felsigen Untergrund schauten, kleine, erstaunlich bunte Samtkissen. Hoch über ihnen stand ein blassblauer Himmel mit einem Band von Kumuluswolken, die ostwärts jagten. Vor ihrem inneren Auge sah Swan noch immer Tiere, die wie Saatkörner in der Sonne herabrieselten. Der Anblick hatte sie in einen Traum gestürzt, aus dem sie noch nicht wieder erwacht war, weshalb sie natürlich nicht so schnell machen konnte. Sie stand ohnehin in Funkkontakt mit ihren Mitarbeitern. Tatsächlich war das Geplapper in ihren Ohren schlimmer als das von Pauline, weshalb sie den Ton ausdrehte. Sie würde reinhören, sobald die Notwendigkeit bestand. Fürs Erste wollte sie sich wieder auf den Boden unter ihren Füßen konzentrieren. Bei der Arbeit, die sie das Jahr zuvor in Afrika geleistet hatte, hatte sie begonnen, bestimmte Dinge für selbstverständlich zu erachten. Sie hatte schlicht und einfach vergessen, wo sie sich befand. Sie hatte sich tief in ihr Problem gestürzt, während die ganze Welt auf einem gewaltigen Wind durch den Himmel flog. Und jetzt dieses offene Land, diese Taiga. Ein paar vereinzelte Zwergkiefern auf der Südseite der nächsten Anhöhe. Ein trunkener Wald auf einem schmelzenden Permafrostboden. Im Osten, unter dem Wolkenband, seichte Hügel. Ein ungeheuer hoher Himmel, das Blau leicht pastellfarben über den tief hängenden Wolken, die noch immer ostwärts zogen. Die Luft schien ein wenig nach Feuer zu riechen. Hohe Nachmittagssonne, 5. August 2312. Ein neuer Tag. Warm, aber nicht heiß. Leicht schwüle Luft, voller Insekten. Sie trug einen Ganzkörperanzug, der sie trocken hielt und der zum Glück sehr effektiv die Mücken und Fliegen fernhielt, die in dichten schwarzen Wolken umhertrieben und zuweilen wie wirbelnder Rauch aussahen. Die anderen Angehörigen ihres Teams waren nirgendwo in Sicht. Das gedehnte Auf und Ab der Landschaft wurde von niedrigen Kämmen zerhackt, bei denen es sich um eiszeitliche Wallberge handeln mochte. In jedem Fall konnte sie in Richtung Osten nur begrenzt weit sehen. Sie kletterte auf einen Pingo und schaute sich um. Ah, dort war Chris, nur ein paar Hundert Meter vor ihr. Anscheinend winkte er jemandem zu, der noch weiter im Osten war. Schön für die beiden.

Schwammiges Taigagras und -moos bedeckte alle Senken. Nur einen Meter darüber erhoben sich längliche Teile des Felsfundaments, die von Norden nach Süden durchs Moor verliefen. Am besten wäre es gewesen, auf diesen natürlichen Straßen zu bleiben, aber ihr Team war nach Osten gegangen, um der Karibuherde zu folgen.

Sie ging nach Norden und hielt auf eine Anhöhe zu, die mit Krüppelholzbüschen bewachsen war, welche ihr bis zur Hüfte reichten. Oben angekommen verharrte sie, als sie ein Rudel Wölfe auf der anderen Seite sah. Sie waren gerade erst gelandet, liefen umher und beschnüffelten und beknabberten einander, wobei sie dann und wann innehielten, um zu heulen, und dann weiterliefen. Die Landung hatte sie offensichtlich aufgekratzt zurückgelassen. Swan wusste ganz genau, wie sie sich fühlten. Sie brauchten ein Weilchen, um sich zu sammeln und Richtung Osten davonzutraben. Ihr Fell war grau, mit schwarzen oder hellbraunen Flecken, und sie wirkten anmutig in ihrem Sommerpelz. Zwar hatten sie breitere Schultern und kantigere Köpfe als die meisten Hunde, waren ihnen aber doch in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Wilde Hunde, selbst organisiert: Das war immer eine leicht verstörende Vorstellung. Dass es eine so glückliche Entwicklung mit ihnen genommen hatte, dass sie so gutartig und verspielt waren, überraschte Swan ein wenig und erinnerte sie daran, dass die Wölfe zuerst da gewesen waren, und dass sie weiser waren als Hunde.

Nun lag es an Swan, mit ihnen mitzuhalten, und schon bald, nachdem sie die Verfolgung aufgenommen hatte, ächzte und schnaufte sie. Kein Mensch konnte mit Wölfen Schritt halten, die mit voller Kraft rannten, aber wenn man hartnäckig blieb, dann hielten sie oft an, um sich umzuschauen und zu schnüffeln, sodass man sie im Blick behalten oder sie einholen und erneut zum Weiterlaufen veranlassen konnte. Ein Rüde heulte, und andere antworteten ihm, darunter auch Swan. Sie musste sich etwas mehr anstrengen, wenn sie am Ball bleiben wollte. Wenn sie nicht auf der Erde war, hielt sie sich besser in Form als hier, eine kleine Ironie – sie verzog das Gesicht und gelobte Besserung.

Die Wölfe waren neun an der Zahl. Es handelte sich um große Tiere, der Pelz überwiegend schwarz, die langen Strähnen wippten wie Menschenhaar, wenn sie rannten. Mit ihren Wolfssätzen fraßen sie die Kilometer, obwohl es nur nach einem leichten Trab aussah. Bei ihrem Anblick heulte Swan auf, ein ganzer Ozean in ihrer Brust; hier auf der Erde waren sie frei. Es war ein so tiefes Glück, dass es einem Schmerzen verursachen konnte; eine weitere Lektion, die einem die Welt erteilte.

In dem Gelände vor ihr verschwanden die Pingos und Kessel, Weizen bedeckte das flachere Land. Der Anblick ließ die Wölfe zögern, und Swan gelang es, sich um sie herum nach Süden zu schleichen, hinter den am weitesten östlich gelegenen Pingo. Das Weizenfeld dahinter war mit einem Laser zu einer Ebene geglättet worden, die pro Kilometer etwa fünf Meter nach Westen abfiel. Das war nun wirklich Flachland – es kam ihr unwirklich vor, ein Artefakt. In gewisser Weise ein Kunstwerk. Aber das würde sich schon bald wieder ändern. Acht Kilometer Richtung Osten sah man einen neuen Pingo, der durch die Oberfläche brach, und daneben ein weiteres Stück unentwickelter Taiga – nicht trockengelegt, zur Bewirtschaftung zu sumpfig, mehr See als Land.

Swan holte ihren Wolfspelz – die Haut eines großen, alten Rüden, an der noch Kopf und Pfoten hingen – aus dem Rucksack an ihrem Anzug. Sie zog ihn sich über den Kopf, sodass er ihr wie ein Umhang auf den Rücken hing. Sie hatte ihm goldene Ringe durch die Ohrspitzen gezogen.

Swan umrundete das Rudel, bis sie davor war, und stimmte in ihr Geheul ein. Dann rannte sie, so schnell sie konnte, Richtung Osten. Sie lief zwischen den Reihen von Weizenhalmen hindurch, die ihr bis zur Brust gingen. Voraus im Osten führten ihre Kollegen eine Herde Karibus mithilfe von Duftmarken und abgeworfenen Geweihen. Dort, wo die Herde vorbeigekommen war, war der Weizen niedergetrampelt. Swan erkannte, dass sie dem seichten Bett eines Bachs folgten, der beinahe der Laserbegradigung des Bodens zum Opfer gefallen wäre. Das halb zugeschüttete Bachbett war noch immer schlammig, und ihre Teammitglieder führten die Herde aus diesem Bereich, indem sie sich parallel zu ihr Richtung Süden bewegten. Schon bald würde die Witterung der Wölfe sie erreichen, und dann würde es kein Problem sein, sie auf einem Kurs Richtung Osten zu halten, über eine niedrige Anhöhe nach der anderen. Sie würden dorthin gehen, wo sie am weitesten von den Wölfen entfernt waren, zumindest für eine Weile. Irgendwann würden die beiden Spezies zu einer Art Abkommen zwischen Jäger und Beute gelangen, aber derzeit waren die großen Beutetiere zweifellos noch verängstigt und geneigt, in Panik zu verfallen. Sie sah Spuren von einer kleinen Stampede. Inmitten des entsprechenden Bereichs lagen die zertrampelten Leiber mehrerer Kälber. Swan drehte sich zu den Wölfen um, die ihr nun folgten. Sie stand auf einer Anhöhe, den Wolfskopf über ihren eigenen gezogen, und heulte eine Warnung. Das Rudel hielt inne und schaute mit aufgestellten Ohren und gesträubtem Fell zu ihr auf – auch die Wölfe waren verängstigt. Ihr Blick war nun nicht mehr stet und eindringlich, fand Swan, sondern wirkte wie angestrengtes Spähen.

Trotzdem waren sie nach wie vor auf der Jagd, weshalb sie ihren Weg schließlich fortsetzten. Swan gab den Weg frei, drehte ab und zog sich eilig zurück. Sie hatte den Karibus etwas mehr Zeit verschafft, um die kleine Senke zu durchqueren, und sie ging so schnell wie möglich aus der Bahn. Im Laufe der nächsten paar Stunden trieb sie die Wölfe dann und wann aus nördlicher Richtung an, aber meistens hielt sie nur mit Mühe und Not mit, und letztlich konnte sie nur noch ihren Spuren folgen. Lange Zeit stapfte sie hinter den Karibus her durch den Weizen. Einmal sah sie eine Reihe riesiger roter Erntemaschinen am südlichen Horizont.

In jener Nacht waren die meisten Karibus weit voraus und hatten eine Herde gebildet, die ostwärts zog. Es trieb sie zum Wandern, zum Weiterziehen. Hinzu kamen die Wölfe und Menschen und anderen Raubtiere, die wie Treiber bei der Jagd waren. Die Menschen setzten manchmal Sirenen oder Gerüche ein und immer ihre persönliche, verstörende Gegenwart. Menschen standen ganz oben in der Nahrungskette, selbst wenn es Wölfe und Löwen und Bären gab – solange sie im Rudel blieben, wie die Wölfe es ihnen vor so langer Zeit beigebracht hatten –, und sie hatten ihre Werkzeuge bereit, falls es hart auf hart kommen würde.

Swan, die am Ende eines sehr langen Tages dahintaumelte, spürte, wie der Geist der Jagd sie durchdrang und sie emporhob wie ein Leibhalter. Sie war Diana auf der Jagd. Das war es, was sie als Tiere taten. Swan hatte so oft in Terrarien gejagt, dass sie kaum glauben konnte, nun endlich draußen zu sein, doch dort über ihnen war der Himmel, und der Wind rauschte an ihr vorbei.

Wenn sie die Karibu-Wanderroute fest etablieren und den gesamten Bereich zu einem Habitatkorridor machen wollten, dann mussten sie das Land selbst verändern, wie es schon zuvor verändert worden war. Einmal mehr wäre diese Veränderung Menschenwerk. Die gesamte Erde war inzwischen ein Park, ein Kunstwerk, von Künstlern geschaffen. Diese neue Änderung war nur ein weiterer Pinselstrich.

Für die Verwandlung von Taiga in Ackerland hatte man die Anhöhen abrasieren und die Senken füllen und mithilfe genmanipulierter Bakterien das Wachstum neuen Erdbodens beschleunigen müssen. Dadurch war das Gelände nun ziemlich flach, wie eine Meeresoberfläche mit leichter Dünung. Doch durch den Tauwetterzyklus und die Permafrostschmelze war alles wieder unebener geworden. Der Zug der Karibus genügte, um das Erdreich aufzuwühlen; wo sie entlanggekommen waren, sah es aus, als wäre eine Front von Traktoren mit Dornenkugeln im Schlepptau durch den Weizen gerumpelt. Aus eben diesem Grund mied Swan die Spuren, mit Ausnahme kurzer Ausflüge in den Schlamm, bei denen sie Sender vergrub und das Erdreich mit Duftmarken und mit Herbiziden gegen Weizen versah. Gleichzeitig säten sie Nadelhölzer. Hier und da legten sie Sprengsätze in den Boden, um die Decke aus neu eingeführtem Erdreich emporzuschleudern und die ursprünglichen Taiga-Bakterien wieder an die Oberfläche zu bringen. All das musste geschehen, solange die Karibus noch weit genug weg waren, um nicht verschreckt zu werden. Und weil es eine Menge zu tun gab, legten sie so schnell wie möglich los.

Nachts schlief Swan in ihrem Ganzkörperanzug, in dessen Taschen sich nebst ausreichend Nahrung für zwei Tage auch eine Aerogel-Matratze und eine wärmende Decke befanden. Das eine oder andere Mal meldete sie sich bei ihrem Team, aber eigentlich verfolgte sie die Wölfe lieber allein, mochte das auch noch so unwölfisch sein. Inzwischen war das Rudel nur noch selten zu sehen, aber sie konnte seiner Spur folgen: Der Boden war weich, sodass häufig Fußabdrücke der neun Tiere zu sehen waren. Ihre eigene Gruppe der Neun.

Am dritten Morgen, eine ganze Weile vor der Dämmerung, nach einer Nacht mit wenig Schlaf, beschloss sie, aufzustehen und wenn möglich zu dem Rudel aufzuschließen. In Dunkelheit und Kälte wanderte sie mit eingeschalteter Stirnlampe. Die Spuren sah sie am besten, wenn sie die Lampe abnahm und vor sich auf den Boden richtete.

Etwa eine Stunde vor der Morgendämmerung hörte sie von vorne ihr Geheul. Der Frühchor. Die Wölfe heulten beim Anblick der aufgehenden Venus, weil sie wussten, dass die Sonne bald folgen würde. Swan sah, welchen Himmelskörper sie anheulten, aber an seiner Position im Verhältnis zum Sternbild des Orion erkannte sie, dass es sich nicht um die Venus handelte, sondern um Sirius. Einmal mehr waren die Wölfe auf ihn hereingefallen. Die Pawnee hatten Sirius aufgrund dieses Irrtums sogar den Namen Der-die-Wölfe-narrt gegeben. Als etwa eine halbe Stunde später die Venus selbst aufging, meldete sich nur ein einziger wölfischer Astronom voll Unbehagen zu Wort und verkündete heulend, dass etwas nicht stimmte. Swan lachte, als sie es hörte. Jetzt würden andere Wölfe weiter westlich das Dämmerungsgeheul aufnehmen. Lange Zeiten hatte es eine quer über ganz Nordamerika verlaufende Terminatorzone heulender Wölfe gegeben, die mit der aufgehenden Sonne nach Westen wanderte. Jetzt würde es vielleicht bald wieder so sein.

Als es hell wurde, arbeitete sie sich langsam näher an die Wölfe heran, indem sie dem Geheul des verstörten Astronomen folgte. Anscheinend hatten die Wölfe die Nacht auf einem Pingo verbracht, und jetzt jaulten und knurrten sie abweisend, als Swan sich näherte. Sie wollten nicht weg, und sie wollten auch nicht, dass Swan näher herankam. Irgendetwas ging dort oben vor, dachte sie; vielleicht bekam eine der Wölfinnen Junge oder etwas Ähnliches. Sie wartete in einiger Entfernung, und erst, als die Wölfe Richtung Osten davongeschlichen waren, stieg sie an der flachen Hangseite auf den Pingo, um ihn sich näher anzusehen.

Ein Geräusch ließ sie erstarren. Im ersten Moment sah sie nichts, aber es gab einen kleinen Teich ganz oben auf dem Pingo, einen Kessel wie den Krater eines Miniaturvulkans. Von dort kam das Geräusch – ein Winseln. Swan ging an die Kante und blickte hinab. Ein junger Wolf mit nassem, schlammverschmiertem Fell drückte sich auf einem schmalen Lehmvorsprung herum, der um das Wasser in vier oder fünf Meter Tiefe verlief. Die Wände des Lochs waren senkrecht und sogar leicht unterhöhlt von dem Wasser am Grund, in dessen schlammiges Blau sich ein türkisfarbener Schimmer mischte. Vielleicht befand sich darunter Eis, im Zentrum des Pingos. Der Wolf kratzte mit den Pfoten über den zerfurchten Lehm. Ein junger Rüde. Er blickte zu ihr auf, und sie streckte den Arm halb nach ihm aus, worauf der Boden unter ihr nachgab und sie, obwohl sie sich umdrehte und einen Satz zurückmachte, zusammen mit einer Ladung Schlamm in den Teich stürzte.

Der Wolf bellte einmal und zuckte vor Swan zurück. Sie schwamm; obwohl sie tief eingetaucht war, hatte sie bei ihrem Sturz nicht den Grund des Teichs berührt. Am anderen Ende kletterte sie auf einen schmalen Ring aus freiliegendem Schlamm, der einmal um das Loch herum verlief. Sie kam sich vor wie im Innern einer Vase. Die Bresche, die sie bei ihrem Sturz gerissen hatte, bildete eine Tülle.

Swan vermied es, den Wolf anzuschauen. Sie pfiff und gurrte wie eine Taube und dann wie eine Nachtigall. Sie hatte noch nie gesehen, dass ein Wolf einen Vogel gleich welcher Art aß, aber nur damit er nicht auf dumme Gedanken kam, fügte sie einen kurzen Falkenschrei hinzu. Der Wolf versuchte noch immer, aus dem Loch zu klettern; er hatte Angst vor ihr. Als der Schlamm des nassen Überhangs unter seinen Vorderpfoten nachgab, rutschte er zurück. Er traf mit dem Rücken zuerst aufs Wasser, und Swan streckte instinktiv die Arme aus, um ihm zu helfen, aber natürlich war er voll und ganz in der Lage, sich selbst herumzudrehen und zurück zu dem Lehmvorsprung zu schwimmen. Als er ihre Berührung spürte, wirbelte er herum und biss sie in die rechte Hand, bevor er hektisch von ihr fortpaddelte. Sie schrie vor Schmerz und Überraschung. Ihr Blut war im Wasser, in seinem Maul. Der Biss brannte, und auf dem Handrücken hatte sie eine Wunde, aus der noch eine ganze Weile das Blut hervorquellen würde.

In der Schenkeltasche ihres Ganzkörperanzugs, der sie bis auf ihren Kopf trocken hielt, steckte eine Erste-Hilfe-Ausrüstung. Sie zog sie heraus und überlegte, ob Hautkleber bei der Stichwunde, die der Wolfszahn hinterlassen hatte, funktionieren würde. Nun, sie musste es eben ausprobieren. Sie stach die Tube an, quetschte eine ganze Menge Kleber in das dunkle rote Loch und drückte dann fest eine Mullbinde darauf. Der Mull würde in dem Loch kleben bleiben, aber sie konnte alles Überstehende abschneiden und den Rest drinlassen, das würde nicht schaden.

Die Innenwände des Kessels waren mit Ausnahme einiger horizontaler Rillen glatt. Wie in aller Welt sollte sie hier nur herauskommen? Sie griff nach ihrem Telefon in der Anzugtasche und stellte fest, dass sie leer war. Die Tasche war offen gewesen, weil sie ziemlich oft bei ihren Kollegen angerufen hatte. Nun, sie würden bemerken, dass Swan fehlte, und sie per GPS orten. Vielleicht konnte sie auf den Grund des Teichs hinabtauchen und das Telefon bergen, und vielleicht würde es sogar noch funktionieren, nachdem es im Wasser gelegen hatte.

Aber eigentlich kam ihr weder das eine noch das andere besonders wahrscheinlich vor. »Pauline, kannst du mein Telefon orten?«

»Nein.«

»Kannst du für mich Kontakt zu meinem Team aufnehmen?«

»Nein. Ich bin darauf ausgelegt, einzig und allein mit dir in Kontakt zu stehen.«

»Kein Funk?«

»Kein Langstreckenfunk, wie du weißt.«

»Wie ich es mir hätte denken können. Du nutzloses Stück Schrott.«

Der Wolf knurrte, und Swan verstummte. Sie krähte kurz. »Hork!«, krächzte sie in der Hoffnung, dass der Wolf einem Geschöpf, das die Krähensprache beherrschte, vielleicht etwas Platz einräumen würde. Sie wusste wirklich nicht, was sie tun sollte.

»Pauline, wie komme ich hier raus?«

»Ich weiß es nicht.« Die Art, wie sie ohne jede Verzögerung antwortete, klang ein wenig missbilligend.

Swan bewegte sich auf dem ringförmigen Band aus Schlamm, und der Wolf bewegte sich mit, um auf der gegenüberliegenden Seite zu bleiben. Wenn die höheren Vorsprünge auf dieser Seite ihr Gewicht hielten, dann konnte sie vielleicht rausklettern. Sie unternahm einen Versuch, wobei sie den Wolf aus dem Augenwinkel beobachtete. Sein Kopf war ihr zugewandt, doch er blickte ein wenig zur Seite. Schnell wurde klar, dass der Schlamm an den Wänden ihr keinen Halt bieten konnte. Sie brauchte Stöcke, um sich Stufen zu graben, oder um sie tief genug in den Schlamm zu stecken, damit sie hielten. Aber in dem Kessel gab es keine Stöcke. Einmal mehr überlegte sie, ob sie am Grunde des Beckens vielleicht etwas finden würde. Aber das Wasser war eiskalt, und der Ganzkörperanzug bedeckte nicht ihren Kopf. Außerdem ließ sich unmöglich sagen, wie tief das Becken war, und ob es dort unten überhaupt etwas gab.

»Pauline, ich glaube, wir sitzen hier fest.«

»Ja.«

Auszüge (16)

Es handelte sich dabei nie um die offizielle Politik irgendeiner Einheit, die größer war als ein einzelnes Terrarium, und selbst diese ließen nur selten etwas Explizites über ihre Tiere verlautbaren – wo sie sie hinschickten, wie viele, wie man sie transportierte – nichts. Man geht davon aus, dass die Koordinierung, die es offensichtlich gegeben haben muss, vollständig offline stattgefunden hat, und sie ist bis heute nicht hinreichend dokumentiert. Im Rückblick scheint dieses Fehlen einer öffentlichen Stellungnahme nicht weiter überraschend, da wir inzwischen an Derartiges gewöhnt sind; doch damals handelte es sich um ein vergleichsweise neues Phänomen, und viele klagten, dass das Leben ohne öffentliche Bekanntmachungen im blanken Chaos enden würde. Da es keine Ordnung mehr im Sonnensystem gab, war die Balkanisierung nun vollkommen; die Geschichte der Menschheit war vorübergehend verschwunden, wie ein Strom von Schmelzwasser, der in eine Gletschermühle fällt und anschließend unter dem Eis weiterfließt. Niemand kontrollierte sie; niemand wusste, wohin sie unterwegs war; niemand wusste auch nur, was vorging

von Anfang an gab es Leute, die das Ganze in vieler Hinsicht für falsch hielten; für eine ökologische Katastrophe, bei der die meisten der Tiere sterben würden; dass Landstriche verwüstet und die Lebensräume vieler Pflanzen dem Erdboden gleichgemacht werden würden, dass man Menschenleben in Gefahr bringen und ihre Äcker ruinieren würde. Die Bilder von der Rückkehr der Tiere erinnerten manche an Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg oder an Alien-Invasionsfilme, und die Angst vor vergleichbaren Verlusten erzeugten mancherorts Traumata. Während des Sinkflugs wurden einige Tiere aus dem Himmel geschossen wie Tontauben. Und trotzdem landeten sie größtenteils, überlebten und fanden sich zurecht. Ein paar Wochen oder Monate hatte es den Anschein, als ob die Leute über nichts anderes redeten, und zwar aus vollem Halse brüllend. Die massive Bilderflut war ambivalent, um es vorsichtig auszudrücken. Manche riefen »Invasion«, andere »Wiedervereinigung«, Auswilderung, Migrationshilfe, der Aufstand der Tiere; schließlich bezeichnete man es als die Reanimierung, und dieser Begriff wurde kanonisiert, setzte sich durch, breitete sich aus und verdrängte all die anderen. Und letztlich kam es ohnehin nicht darauf an, welchen Namen die Menschen der Sache gaben: Die Tiere waren da

viele warfen den Terrarien vor, dass sie die Revolution auf der Erde anfachten. Andere bezeichneten es als eine Inokulation, und es gab Mikrobiologen, die von einer umgekehrten Transkription sprachen. Die Einführung neuer Populationen in eine leere ökologische Nische führt tatsächlich zur revolutionären Umwälzung in einem Biom. Schneller Wandel kann chaotisch, traumatisch sein. In diesem Fall starben die Tiere oft; irgendwann war die Nahrung aufgebraucht, worauf die Populationen kollabierten; Aasfresser hatten es gut, die Anzahl der Raub- und Beutetiere unterlag enormen Schwankungen, und das Pflanzenleben nahm unter dem Einfluss der Tiere ganz neue Formen an. Felder veränderten sich, Wälder veränderten sich, Vorstädte und Städte veränderten sich. Kampagnen zur Eliminierung mancher Arten fanden tatkräftige Unterstützung, trafen aber genauso auch auf Widerstand. Zuweilen kam es zu einer Art Krieg der Tiere, bei dem allerdings auf beiden Seiten immer Menschen die Speerspitze bildeten

selbst im Moment der Balkanisierung war die Erde für den Fortgang der menschlichen Geschichte entscheidend. Geschätzte 12000 Terrarien hatten mehr als ein Jahrhundert lang Populationen bedrohter Tierarten aufgezogen und dabei die genetische Vielfalt gestärkt, wobei es vor allem darum gegangen war, eine Art dezentralen Zoo oder eine Samenbank bereitzuhalten und auf den richtigen Augenblick zu warten, um die Tiere wieder in ihre waidwunde Heimat einzuführen. Dass dieser Augenblick gekommen sein sollte, erschien einigen der Menschen aus den Terrarien als übermäßig optimistische Annahme, aber letztlich folgten fast alle bereitwillig dem Aufruf und stellten eine beeindruckende Flotte von

ein Großteil der organisatorischen Vorbereitung zur Reanimierung wurde später zu einer Arbeitsgruppe zurückverfolgt, die mit der siebten Löwin des Merkur in Verbindung stand, welche einige Jahre vor den Ereignissen gestorben war. Man hatte Kontakt zu einigen Erdenregierungen aufgenommen, und diejenigen, die der Idee wohlwollend gegenüberstanden, hatten Genehmigungen ausgestellt. Die Migrationshilfe war ein bereits bekanntes Konzept, und die Welt war ohnehin bereits von invasiven Spezies umgestaltet worden; die Menschen hatten ohne Erfolg gegen das Massensterben angekämpft, und die zähesten Gewächse und Aasfresser hatten mittlerweile einen Großteil der Erde für sich in Anspruch genommen. Man redete von einer neuen Welt der Möwen und Ameisen, Kakerlaken und Krähen, Kojoten und Kaninchen – eine Flockenblumenwelt, entvölkert und verarmt – ein großer, kaputter Industriehof. Deshalb hießen viele Terraner die Wiederkehr verlorener Arten willkommen. Unvermeidlich hatte das auch politische Konsequenzen, handelte es sich doch um ein gemeinschaftliches Projekt der ganzen Menschheit; solche Projekte haben immer Konsequenzen

die zwölftausend Terrarien und ein paar Dutzend terranische Staaten waren sich anscheinend darin einig, den Plan in der ersten Hälfte des Jahres 2312 umzusetzen, aber da die meisten der Abmachungen unter der Hand getroffen wurden, handelt es sich bei dieser Angabe letztlich um Hörensagen. Im Großen und Ganzen sind die mündlichen Berichte der Beteiligten, die Jahre später aufgezeichnet wurden, die einzige Quelle

Nach der Reanimierung nahmen die Probleme auf der Erde einen ökologischen und logistischen Charakter an und kreisten in erster Linie um Transportwesen, Verteilung, Schadensbegrenzung, Wiedergutmachung und rechtliche und physische Abwehrmaßnahmen. Mit der Reanimierung selbst war die Sache noch lange nicht zu Ende; tatsächlich sollten viele Jahrzehnte vergehen, bevor man sie als Schlüsselmoment bei der letztlich folgenden

Wahram und Swan

Als Wahram hörte, dass Swan vermisst wurde, verließ er Ottawa, wo er gerade in hitzige Verhandlungen mit der Regierung über das unautorisierte Eintreffen der Tiere verstrickt gewesen war, und flog Richtung Norden nach Churchill. Dort erwischte er gerade noch einen Nachtflug nach Yellowknife, dem Sammelpunkt für das Team, mit dem zusammen Swan an dem Habitatkorridor arbeitete.

Inzwischen war die kurze Sommernacht verstrichen, und die Sonne war schon längst aufgegangen, als ein Helikopter Wahram in die Gegend flog, in der Swan sich laut ihres Senders aufhielt. Als sie dort eintrafen, hatte ihr Team sie bereits gefunden. Trotzdem war es gut, dass sie nun einen Helikopter hatten, weil man nicht an das Loch in der Mitte des Pingos herankam, ohne auch dort unten bei Swan zu landen. Einer ihrer Retter hatte das bereits nachdrücklich unter Beweis gestellt, weshalb sie sich nun mit einer zweiten Person und anscheinend auch mit einem Wolf dort unten befand. Immerhin waren sie jetzt in der Überzahl, obwohl einige der Leute im Helikopter meinten, dass das umso schlimmer wäre. Jedenfalls konnten sie aus dem Helikopter eine Strickleiter mit einem Gurtgeschirr herablassen, und zwar von ziemlich weit oben, wenn auch nicht weit genug, um den Wolf nicht in Angst und Schrecken zu versetzen – das erkannte Wahram beim Runterschauen deutlich. Die zweite Person kam zuerst die Leiter hoch und wurde am Fuß des Pingos abgesetzt; dann folgte Swan. Ihre Augen waren gerötet, und sie sah völlig erledigt aus, aber sie winkte Wahram zu und bedeutete ihm, dass sie die Leiter noch einmal herunterlassen sollten. Wahram bezweifelte, dass der Wolf in der Lage sein würde, mit ihrer Hilfe aus dem Loch zu entkommen. Aber die Pilotin senkte sie trotzdem herab und flog, nachdem sie sich per Funk mit den Leuten am Boden beratschlagt hatte, ein Stück zur Seite, sodass die Leiter an der Wand auflag. Selbst das schien in Wahrams Augen nicht auszureichen, weshalb er erschreckt zusammenzuckte, als der Wolf tatsächlich einen Satz auf die Leiter machte und mit einem weiteren über die Kante sprang und den Hang hinabrannte.

Wahram sagte der Pilotin, dass sie ihn absetzen sollte. Sie landete auf dem Weizenfeld neben dem Pingo, wobei der Abwind der Rotoren einen Kornkreis erzeugte. Wahram stieg aus, während über ihm die Rotoren wirbelten, und rannte geduckt, bis er die Maschine ein gutes Stück hinter sich gelassen hatte. Gleich darauf erhob sie sich knatternd wieder in den Himmel.

Swan rannte auf ihn zu und nahm ihn in eine schlammverschmierte Umarmung. Nachdem er die Stöpsel aus seinen Ohren bekommen hatte, fragte er sie, wie es ihr ginge. Es ginge ihr gut, antwortete sie; es sei wunderbar gewesen, zusammen mit einem Wolf in diesem Loch zu sitzen, keiner von ihnen habe dadurch Schaden genommen, was man ja auch hätte voraussagen können, aber es sei doch schön, wenn die Theorie empirisch bestätigt wurde, in einem solchen Moment, in dem es hart auf hart ging und die Gefahr bestand, gefressen zu werden … er erkannte, dass sie ein bisschen überdreht war. Verdreckt, räumte sie ein, und hungrig, sie könne eine kleine Pause gebrauchen, bevor sie wieder an die Arbeit ginge. Wahram deutete auf den Helikopter, der nach wie vor über ihnen durch die Luft knatterte, und als sie zustimmte, bedeutete er der Pilotin, wieder herunterzukommen, sodass sie einsteigen konnten. In dem Helikopter war es zu laut zum Reden, und so warteten sie, bis sie wieder in Yellowknife waren. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und schlief trotz des Getöses lächelnd ein.

Es war zu erwarten gewesen, dass die Tiere, die ja an zehntausend verschiedenen Orten abgeworfen worden waren, hier und da auf Widerstand treffen würden; zumindest hatte man das angenommen, auch wenn es keine sicheren Vorhersagen gab. Jedenfalls arbeiteten sie, als hätten sie nur wenige Tage, an denen sie unbehelligt bleiben würden. Mit Helikoptern eilten sie von da nach dort und setzten sonnengetriebene Traktoren ab, welche Saatmaschinen hinter sich herzogen, die wie landwirtschaftliche Geräte von uralten Fotos aussahen. Einige davon pflanzten sechzig zwei Meter hohe Bäume pro Stunde, bis ihre Vorräte erschöpft waren. Insofern beinhaltete die Reanimation auch eine botanische Komponente, und die Traktoren ließen sich nur schwer aufhalten. Nur wenige Menschen unternahmen überhaupt den Versuch.

Trotzdem gab es Zwischenfälle, und beim Essen in Yellowknife gingen sie die Geschichten durch, die von überall auf der Welt eintrafen. Es gab alles von Lobpreisungen bis zu schwerem Geschützfeuer; man bejubelte und verurteilte sie, und alles dazwischen gab es auch, aus jeder erdenklichen Richtung, einschließlich des UN-Sicherheitsrats, der zu einer Notfallsitzung zusammengetreten war und trotzdem zu keinem Ergebnis gekommen war. Überall in Südostasien gab es wieder Orang-Utans, in allen möglichen Mündungsgebieten Flussdelfine, in Indien und Sibirien und auf Java Tiger, und die Grizzlybären waren wieder in ihren alten Jagdgründen in Nordamerika anzutreffen … War das etwa nicht die Invasion von Außerirdischen, vor der man sich seit Jahrhunderten fürchtete? Niemand hatte es gestattet; es störte das öffentliche Leben; unter den Tieren gab es Fleischfresser, die Menschen umbringen konnten; das konnte doch unmöglich gut sein! In jedem Fall war es verwirrend. Und Macht war immer gefährlich, wenn sie in den Händen von verwirrten Menschen lag.

Aber zugleich nahmen die terranischen Nachrichtensendungen zur Kenntnis, dass die Tiere immer in ihren ursprünglichen Lebensräumen landeten, gegebenenfalls leicht verschoben, wo die Klimaveränderungen seit ihrem Verschwinden es nötig machten; und dass es sich bei ihnen zwar nicht um gentechnisch veränderte Organismen handelte, dass die Zuchtbemühungen in den Terrarien allerdings eine größere genetische Vielfalt an Tieren erzeugt hatte, als es bei den verbliebenen Erdpopulationen der Fall gewesen war. Der letztere Hinweis gehörte zu Wahrams Werbe-Informationspaket, weshalb er sich besonders darüber freute, dass die Medien ihn aufgriffen. Darüber hinaus wurde in den Berichten erwähnt, dass die Tiere größtenteils in Naturschutzgebieten niedergegangen waren, und in Hügel-, Wüsten- und Weideland und ähnlichen Bereichen, in denen die Menschheit geringe Spuren hinterlassen hatte – niemals in Städten, und in nur ein oder zwei Fällen in Dörfern. Ein kolumbianisches Dorf, das eine Luftinvasion von Faultieren und Jaguaren erlitten hatte, hatte sich bereits in Macondo umbenannt und würde die Sache ganz offensichtlich gut überstehen.

Swan schlief ein bisschen auf einem Sofa in ihrem improvisierten Konferenzzentrum. Wahram stellte fest, dass er sich nicht wohlfühlte, wenn er sie aus den Augen ließ. Sie verhielt sich ihm gegenüber nach wie vor ziemlich liebevoll. Ihre Nacht mit dem Wolf hatte sie in eine Art Verzückung versetzt. Sie schlief mit dem Kopf auf seinem Bein. Die Arme wirkte noch immer völlig ausgemergelt, ein bisschen wie in dem Tunnel.

»Ich will wieder raus«, sagte sie, als sie erwachte. »Komm mit mir. Ich möchte wieder den Karibus folgen, und sie brauchen Treiber. Vielleicht sehe ich ja auch meinen Wolf wieder.«

»In Ordnung.«

Er kümmerte sich um alles, und am nächsten Morgen gesellten sie sich zu den anderen, die an jenem Tag Richtung Norden unterwegs waren, und flogen in die frostdampfige Morgendämmerung. »Sieh«, sagte Swan, als die Sonne über den entfernten Horizont stieg, und beugte sich über ihn, um sie direkt anzusehen.

»Hier kann man sich auch die Augen verbrennen«, sagte er. »Du kannst dir selbst auf dem Saturn die Augen verbrennen.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich schaue hin, ohne hinzuschauen.«

Das neue Licht des Tages zersplitterte auf den zahllosen Wasserpfützen, die über das Land verteilt waren. In der Nähe des Thelon River landeten sie und stiegen aus. Der Helikopter flog surrend davon, und mit einem Mal standen sie auf der weiten, windigen Tundra und gingen über abwechselnd knirschenden und matschigen Boden, der in mancher Hinsicht an den Eisboden des Titan erinnerte. Wahram stellte die Stützfunktion seines Leibhalters stärker ein und versuchte, sich an die Nachgiebigkeit des durchweichten Untergrunds zu gewöhnen. Für eine Weile kam er sich vor wie in einem Waldo, während er über den halbgefrorenen Karibupfad lief, und angesichts seines Leibhalters war der Vergleich auch durchaus zutreffend.

Er straffte sich und blickte sich um. Vom Wasser reflektierte Sonnenlichtflocken tanzten durch seinen Kopf, sodass er die Polarisierung seiner Brillengläser anpassen musste. Swan nahm ihre Brille immer wieder ab, um sich mit bloßem Auge umzusehen; manchmal begann sie zu taumeln, und die Tränen gefroren ihr auf den gesprungenen roten Wangen, aber sie lachte oder stöhnte orgasmisch. Wahram probierte es nur ein einziges Mal.

»Du wirst blind werden«, sagte er zu ihr.

»Das hat man früher dauernd gemacht! Früher haben die Leute ohne Brillen gelebt!«

»Ich glaube, die Inuit haben ihre Augen geschützt«, maulte er. »Mit Lederstreifen oder so. Wie dem auch sei, damals musste man das eben einfach ertragen. Das Leben hier oben hat dem Menschen schwer zu schaffen gemacht. Ihr eigener, rauer Planet hat sie daran gehindert, ihr Menschsein voll auszuleben.«

Sie johlte und warf einen Schneeball auf ihn. »Was du für ein Lügner bist! Wir sind Blasen aus Erde! Blasen aus Erde!«

»Ja, ja«, erwiderte er. »Mit den Vögeln aufstehen in Candleford. Uns hat man das auch beigebracht. ›Wenn sie allein auf den Feldern waren und niemand sie sah, hüpften, tanzten und sprangen sie umher, wobei sie versuchten, so wenig wie möglich den Boden zu berühren und riefen: ‚Wir sind Blasen aus Erde! Blasen aus Erde! Blasen aus Erde!‘‹«

»Genau! Man hat dich als Unitarier großgezogen?«

»Hat man uns das nicht alle? Aber nein, ich habe es bei Crowley gelesen. Und ich kann bei dieser Schwerkraft nicht hüpfen, tanzen und springen. Ich würde stolpern und stürzen.«

»Ach komm schon, stell dich nicht so an.« Sie musterte ihn. »Du wiegst hier sicher eine Menge. Aber du bist schon lange hier, eigentlich solltest du dich inzwischen daran gewöhnt haben.«

»Ich muss zugeben, dass ich nicht besonders viel zu Fuß unterwegs war. Meine Arbeit war eher gemütlich.«

»Die Neuerschaffung von Florida war gemütlich? Dann ist es ja gut, dass wir dich hier draußen haben.«

Sie war glücklich. Auch Wahram stapfte halbwegs zufrieden einher; er hatte die Auswirkungen der Schwerkraft übertrieben, um sie zu ärgern. Die kalte Luft und das Sonnenlicht verliehen dem Tag etwas Kristallenes. »Es ist gut«, gab er zu.

Und so gingen sie am Südrand der Karibuspur Richtung Osten, wobei Swan Sender hinterließ, Spuren fotografierte und Boden- und Kotproben nahm. Am Abend versammelten sie sich mit den anderen Spurenlesern in einem großen Esszelt, das täglich an anderer Stelle neu aufgeschlagen wurde. In den kurzen Nächten lagen sie im selben Zelt auf ihren Feldbetten und schliefen ein paar Stunden, bevor sie frühstückten und sich erneut auf den Weg machten. Nach dem dritten Tag auf Wanderschaft mussten sie sich mit den per Helikopter eintreffenden kanadischen Mounties herumschlagen, die sie festnahmen und nach Ottawa flogen.

»Das geht doch nicht!«, schrie Swan, während sie zusah, wie das Land sich unter ihnen entfaltete. »Wir waren doch nicht mal in Kanada.«

»Genau genommen waren wir das schon.«

Die riesigen Weizenfelder sahen mittags ganz anders aus als am Morgen, als sie losgegangen waren. »Jetzt schau dir das an!«, rief Swan einmal und deutete verächtlich hinab. »Das sieht aus wie wuchernde Algen auf einem Teich.«

Als man sie in Ottawa aus dem Polizeigewahrsam entließ, ging Swan mit Wahram zum Merkur-Haus, damit sie sich waschen und mehr über die Vorgänge in Erfahrung bringen konnten. Nach wie vor wurde überall über die Reanimierung berichtet. Es gab viel zu viel zu erzählen, weil alle Menschen gleichzeitig ihre Geschichten zum Besten geben wollten; wie immer also, nur extremer. Swan und Wahram fiel es deshalb auch schwer, ihre eigene Geschichte aufzutreiben – und insbesondere herauszufinden, warum man sie festgenommen hatte. Die Mounties hatten sie, ohne Anklage zu erheben, laufen gelassen, und niemand in Ottawa schien die geringste Ahnung zu haben, warum man sie überhaupt festgenommen hatte.

Die Nachrichten waren bereits gebündelt abrufbar, man konnte die Bilder alphabetisch nach Tierart oder Gebiet oder mehreren anderen Kategorien anordnen lassen – schlechteste Landung, schöne oder lustige Tierverhaltensweisen, menschliche Grausamkeiten gegen Tiere, Tieraggression gegen Menschen und so weiter. Beim Essen schauten sie auf die Monitore im Speisesaal und gingen anschließend die engen Straßen am schwärzlichen Fluss und am Kanalsystem entlang, wobei sie hier und da in einer Kneipe haltmachten, um etwas zu trinken und die neuesten Nachrichten zu sehen. Schon bald fing die betrunkene Swan Streitereien mit anderen Gästen an. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie eine Raumerin war, was auch schwer gewesen wäre, angesichts ihres Aussehens und ihrer eleganten, aber gekünstelten Leibhalter-Bewegungen. Wahram hatte das Gefühl, dass die Leute mit einer Spur Angst im Blick zu ihr aufschauten. »Eine Runde auf das Merkur-Haus, da komme ich her«, verkündete sie, wenn die Leute kiebig wurden, was natürlich half, aber das Problem nicht vollständig löste.

»Ihr solltet froh sein, dass die Tiere zurück sind«, verkündete sie. »Ihr wart so lange von ihnen abgeschnitten, dass ihr vergessen habt, wie großartig sie sind. Sie sind unsere horizontalen Geschwister, zur Fleischerzeugung versklavt, und wenn ihnen so etwas zustoßen kann, dann kann es euch auch zustoßen, und das ist es auch. Ihr seid Fleisch! Stinkendes Fleisch!«

Worte, die mit Pfiffen und einem unschönen Brummen aufgenommen wurden.

»Irgendwann müsst ihr es mal kapieren!«, rief Swan dann laut, um die zahlreichen Einwände zu übertönen, die den Raum erfüllten. »Niemand kann glücklich sein, solange nicht alle sicher sind!«

»Glücklich«, sagte einer der Leute mit hohntriefender Stimme. »Was heißt hier glücklich? Wir brauchen Nahrung. Die Farmen im Norden versorgen uns mit Nahrung.«

»Ihr braucht Boden«, erwiderte Swan, wobei sie das letzte Wort dehnte. »Bo-den ist eure Nahrung. Die Gesamtmenge an Biomasse ist eure Nahrung! Die Tiere helfen bei der Erzeugung von Biomasse. Ohne sie kommt ihr nicht aus. Ihr kommt gerade so über die Runden, indem ihr Öl esst. Ihr esst euer Saatgetreide. Wenn kein Essen über die Aufzüge zu euch herunterkäme, dann würde die Hälfte von euch verhungern und die andere Hälfte einander gegenseitig umbringen. Das ist die Wahrheit, und das wisst ihr auch! Was braucht ihr also? Tiere.«

»Die können gerne meinen Pflug ziehen«, sagte einer missmutig. Die meisten dieser Leute sprachen untereinander Russisch, und Wahram versuchte angestrengt, englische Gespräche herauszuhören. Mit Swan redeten sie auf Englisch. Sie fing gerade wieder von den horizontalen Geschwistern an. Viele ihrer Zuhörer hatten schon so viel Wodka und andere Substanzen intus, dass ihre Augen glänzten und ihre Wangen rot leuchteten. Sie stritten gerne mit Swan; sie hatten Spaß an der verbalen Abreibung. Zweifellos hatten diese Leute um 1905 genauso ausgesehen, oder um 1789, oder um 1776. Dieser Raum hätte sich überall befinden können, zu jeder Zeit. Wahram erinnerte er an die Eckkneipe in seinem Viertel auf dem Wulst.

»Wir sind Teil einer Familie«, erklärte Swan derweil und wurde mit einem Mal rührselig. »Der Säugetierfamilie.«

»Säugetiere sind eine Ordnung«, wandte jemand ein.

»Säugetiere sind eine Klasse«, korrigierte ihn jemand anders.

»Wir sind die Klasse der Säugetiere«, rief Swan aus, »und für uns ist es in Ordnung, zu saugen und einander liebzuhaben!« Jubel ertönte. »Oder zu sterben. Unsere horizontalen Brüder und Schwestern. Wir brauchen sie, wir brauchen sie alle, wir sind ein Teil von ihnen, und sie sind ein Teil von uns! Ohne sie sind wir nichts als … als …«

»Ein armer gespaltener Rettich!«

»Gehirne und Fingerspitzen!«

»Würmer in Flaschen!«

»Ja!«, sagte Swan, »genau.«

»Wie Raumer in ihren Anzügen«, fügte jemand hinzu.

Darüber lachten alle, auch Swan. »Das stimmt«, rief sie. »Aber hier sind wir! Im Moment bin ich auf der Erde.« Ihre Wangen glühten, und sie warf einen Blick in die Runde; dann stellte sie sich auf eine Bank und fuhr fort: »Wir sind auf der Erde! Ihr habt ja überhaupt keine Ahnung, was für ein Glück ihr habt! Ihr Scheißmaulwürfe! Ihr seid zu Hause! All die Raumerhabitate zusammengenommen sind trotzdem nicht mit dieser Welt vergleichbar! Das hier ist unser Zuhause.«

Jubeln. Allerdings fand Wahram, der Swan auffing, als sie von ihrer Bank Richtung Theke fiel, dass ihre Worte eigentlich nicht stimmten, nicht mehr – nicht mit dem Mars dort oben, und der Venus und dem Titan, die sich ihm hinzugesellten. Vielleicht stimmten sie schon seit der Diaspora nicht mehr. Also jubelten die Leute ihr dafür zu, dass sie unrecht hatte, dass sie ihnen schmeichelte, dass sie ihnen Drinks kaufte und sie in einem Moment der Begeisterung mitriss. Sie bejubelten diesen Augenblick, unabhängig von allem anderen. Ein Abend in einer Kneipe in Ottawa, mit Betrunkenen, die auf Russisch sangen. Diesen Augenblick des Sturms.

Sie besorgten sich Visa, für den Fall, dass die kanadische Polizei sie erneut festnahm, und schlossen sich wieder den Treibern an, die die wandernden Karibus verfolgten. In Yellowknife hielt sie niemand auf, und niemand, mit dem sie sprachen, wusste, was beim letzten Mal los gewesen war. Nach ein paar Tagen fanden sie wieder in ihre Feldroutine zurück, was Wahram glücklich machte. Er war das Laufen inzwischen gewohnt, hatte seinen Leibhalter darauf eingestellt und fand eine Menge Freude daran, Swan bei der Jagd zuzusehen. Sie lief immer voraus, aber sie sah auch von hinten gut aus. Diana auf der Jagd.

Abends im Essenszelt hörten sie immer öfter von weltweiten Berichten darüber, dass der Umgang mit den wiederaufgetauchten Tieren den Menschen Schwierigkeiten bereitete. Löwen und Tiger und Bären, liebe Güte! Die Leute waren nicht daran gewöhnt, potenzielle Beute für große Raubtiere zu sein, die direkt am Stadtrand lauerten. Es war Grund genug, die Reihen enger zu schließen. Wer sonst alleine draußen unterwegs war, suchte sich nun Gesellschaft. Einige von denen, die das nicht taten, wurden gefressen, und die Übrigen gruselten sich und jammerten und suchten sich Freunde oder Fremde, mit denen sie sich nicht nur für nächtliche Spaziergänge, sondern auch am helllichten Tag zusammentun konnten. In den Terrarien war das ohnehin üblich; allein rauszugehen war ein Luxus, eine Form von Dekadenz – oder ein Abenteuer, das man im Bewusstsein des bestehenden Risikos unternahm, wie Swan es tat. Für diejenigen, die damit aufgewachsen waren, verstand es sich von selbst, aber für alle anderen war es beklemmend: Draußen im Wald mussten die Menschen zusammenbleiben.

Schnell lernten auch die Tiere, wie gefährlich Menschen waren. Tatsächlich starben bei den neuartigen Begegnungen sehr viel mehr Tiere als Menschen, was niemanden überraschte. Aber die Saat war robust, und sie würde überleben.

Eines Morgens gingen sie zu zweit mit einer zusätzlichen Ausrüstungstasche los, weil Swan so weit wollte, dass sie es am Abend nicht zurück zum Essenszelt schaffen würden. Die Karibus hatten sich an den Ufern des Thelon River versammelt, an einer Furt, die sie noch nicht kannten, und Swan wollte sie umrunden und sich ihnen von Norden annähern, um die Tiere zu beobachten und sie davon abzuhalten, auf der Suche nach einem besseren Übergang durch die seichten Gewässer des Westufers nordwärts zu ziehen; sie waren bereits an der besten Stelle, die laut Aussage von Archäologen auch früher von Karibus benutzt worden war.

Also gingen sie Richtung Norden. Nach einer Weile trafen sie auf die Spur der Karibus. Hier war der Boden zu einem Meer chaotischer brauner Furchen aufgewühlt; jeder einzelne Schritt wollte wohlüberlegt sein. Swan, die ohnehin schon schneller als Wahram war, ließ ihn hier noch weiter hinter sich, aber er war fest entschlossen, sich nicht hetzen zu lassen. Hier und da machte ein totes Karibu ihm klar, wie recht er damit hatte: Stürze konnten gefährlich sein. Wahram bekam es mit kniehohen Klumpen halbgefrorenen Schlamms zu tun, die ihn nervös machten. Er konnte kaum mit ansehen, wie Swan einfach über sie hinwegsetzte. Aber sie tat keinen einzigen Fehltritt; und er musste den Blick auf seine Füße gesenkt halten. Es kam nicht darauf an, wie groß ihr Vorsprung wurde.

Als sie den unbeschädigten Boden nördlich der Spur erreichten, führte Swan ihn weiter Richtung Osten. »Schau mal«, sagte sie mit ausgestrecktem Finger. »Wölfe. Sie warten ab, wie die Flussüberquerung läuft.«

Wahram hatte bereits bemerkt, dass Swan Wölfe liebte, weshalb er kein Wort über den blutdurstigen Charakter dieser Fleischfresser verlor. Essen mussten sie schließlich alle.

Die Karibus hatten sich am diesseitigen Ende der Furt versammelt, etwa einen halben Kilometer entfernt. Swan wollte, dass die Tiere sie sahen, weshalb sie auf einen kleinen Vorsprung stieg, von dem aus man das Flussbett überblicken konnte. Es handelte sich um ein breites, ausgewaschenes Kiesbecken, das von kleineren Strömen durchwoben war; ein Irrgarten aus rundgewaschenen Felsbrocken und gewundenen, ausgetrockneten schwarzen Nebenarmen. An vielen Stellen war dieser Untergrund für die Karibus nicht sicher, und Wahram verstand, warum Swan wollte, dass sie den Fluss an der Furt überquerten, wo fester Permafrostboden auf beiden Seiten eine ebene, braungrüne Straße bildete.

»Sieh nur, die Ersten versuchen es.«

Wahram trat an ihre Seite und blickte nach Süden. Hunderte von Karibus hatten sich am diesseitigen Flussufer versammelt, reckten die Geweihe empor und röhrten. Die großen Männchen ganz vorne wagten sich mit den Vorderbeinen ins Wasser, stippten die Hufe vorsichtig hinein, und dann lief eines der Tiere los, sogleich gefolgt von mehreren anderen. Erst ging ihnen das Wasser bis zu den Knien, und dann mit einem Mal bis zur Brust. Der Fluss vor ihnen schwappte und wogte.

»Oh-oh«, sagte Swan. »Dort ist es tief.«

Aber die Anführer liefen oder schwammen beharrlich weiter, und schon bald erhoben sie sich wieder aus knietiefem Wasser, das unter ihren Tritten aufschäumte. Am gegenüberliegenden Ufer drehten sie sich um und röhrten. Inzwischen waren bereits weitere Karibus im Wasser, und nun begann die gesamte Masse, sich langsam vorwärtszubewegen. Der Strom der Tiere verengte sich, als die an den Seiten versuchten, weiter in die Mitte zu gelangen. Wahram erkannte, dass sie dicht zusammenbleiben wollten. »Probleme wird es vor allem dort geben, wo es tief wird«, prophezeite Swan, und so kam es auch; als die Tiere den Boden unter den Füßen verloren, röhrten einige und versuchten umzukehren, doch sie wurden geschoben und mit den Geweihen gestoßen, bis sie schließlich weitergingen; aber dadurch musste die Masse im seichteren Wasser sich noch dichter zusammendrängen. Das allseitige Röhren übertönte das laute Tosen des Flusses, der durch sein endloses Felsbecken rauschte. Einige Tiere an der linken Flanke drehten ab und machten sich auf den Weg nach Norden, aber Swan sprang auf und ab und wedelte mit den Armen, und Wahram nahm eine kleine Tröte von ihr entgegen und drückte ein paarmal darauf. Der Ton, den er ihr entlockte, war hoch und warnend, aber Wahram vermutete, dass es Swans wilde Bewegungen waren, die die Tiere schließlich zum Umkehren veranlassten. Inzwischen hatten die ineinander verkeilten Tiere dort, wo das Wasser tiefer wurde, zu schwimmen begonnen. Bald war der Vorfall mit den Ausreißern vergessen, und die gesamte Herde überquerte in einem Tosen von weißen Wassern und dampfenden braunen Leibern kraftvoll den Strom. Das Ganze dauerte fast eine Stunde. Es gab ein paar Unfälle, ein paar gebrochene Gliedmaßen, und einige Tiere ertranken sogar, aber die Herde hielt nicht mehr ein einziges Mal inne.

Swan sah genau zu, zeigte auf eine Front von Wölfen, die am Ufer flussabwärts Stellung bezogen hatte, sich mit den Zähnen ertrunkene Karibukälber schnappte und sie gemeinsam aus dem Wasser zog. Ab dort war der Fluss von roten Schlieren durchzogen.

»Werden die Wölfe ihn auch überqueren?«, fragte Wahram.

»Ich weiß nicht. In den Terrarien haben sie das oft gemacht, aber dort sind die Flüsse nicht so groß. Du weißt schon – man sieht so etwas in einem Terrarium, und dort ist es toll, aber hier ist es anders. Ich frage mich, ob sie sich dasselbe denken. Ich meine, sie haben das schon oft gemacht, aber über sich haben sie dabei immer das Land gesehen. Sie waren noch nie unter freiem Himmel. Ich frage mich, was sie vom Himmel halten! Fragst du dich das nicht?«

»Hmm«, machte Wahram nachdenklich. Selbst für ihn war der Anblick des terranischen Himmels etwas zutiefst Befremdliches. »Es sieht sicher seltsam für sie aus. Zweifellos haben sie ein Gefühl für räumliche Verhältnisse, immerhin handelt es sich um Wandertiere. Sie wandern in den Terrarien. Also muss ihnen auffallen, dass es hier anders ist. Von der Innenseite eines Zylinders auf die Außenseite einer Kugel – nein, wenn sie das spüren …« Er schüttelte den Kopf.

»Ich finde, sie wirken panischer als sonst. Wilder.«

»Mag sein. Wie kommen wir selbst über den Fluss?«

»Wir schwimmen. Nein, natürlich nicht. Unsere Aerogele fungieren als Flöße, wir können uns also hinübertreiben lassen. Wenn wir Glück haben!«

Sie führte ihn zur Furt hinab, wo der Geruch der Karibus in der Luft hing und Fellfetzen im seichten Wasser dümpelten. Der Wind fuhr Wahram durch den Leib, und er spürte seine Lungen wie kalte Höhlungen in seinem Brustkorb, pulsierend und lebendig. »Komm«, sagte sie, »Wir müssen hier verschwinden, bevor die Wölfe auftauchen, um mit den armen toten Kinderchen aufzuräumen.«

»In Ordnung, wenn du mir zeigst, wie.«

»Deine Matratze dient dir als Floß. Wir haben jeder eine. Es handelt sich um eine Art Barke aus Aerogel, weshalb sie kaum sichtbar ist, aber man kann sich gut auf ihr treiben lassen. Falls du kenterst, musst du dich daran festhalten oder sehr schnell schwimmen.«

»Ich hoffe, dass ich nicht kentere.«

»Das kann ich mir vorstellen! Das Wasser hier ist eiskalt. Hier, mit dem Ast kannst du paddeln. Ich glaube, man muss so weit rausgehen, wie man sich traut, und dann einsteigen und sich stromabwärts treiben lassen und wenn möglich Richtung gegenüberliegendes Ufer paddeln. Wir müssen uns kein bisschen beeilen, weil die erste Flussbiegung stromabwärts uns ohnehin näher ans andere Ufer bringt. Folge mir einfach, du wirst schon sehen.«

Also tat er das; doch seine Barke hüpfte auf dem Wasser auf und ab, sein Floß kam ihm zu klein vor, und an der tiefsten Stelle trug ihn die Strömung an Swan vorbei, die ihn auslachte. Er paddelte angestrengt. Sie holte zu ihm auf, paddelte im Kreis und rief ihm zu: »Halt deinen Kopf unter Wasser!«

»Nein!«, rief er empört zurück, aber sie lachte und erwiderte: »Halte wenigstens ein Ohr unter Wasser, du musst das hören! Hör dir mal an, wie es unter Wasser klingt!«

Damit beugte sie sich aus ihrer Barke und tauchte für ein paar Sekunden den Kopf unter, ehe sie wieder auftauchte, laut prustend und lachend. »Probier es aus!«, befahl sie ihm. »Das musst du einfach hören!«

Also beugte er sich zögerlich vor, streckte das rechte Ohr ins wirbelnde Wasser und hielt den Atem an. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass er in ein lautes, elektrisches Knistern eingetaucht war, das ganz anders klang als alles, was er je zuvor in seinem Leben gehört hatte. Er zog sein Ohr wieder heraus, hörte das Rauschen der Welt und steckte dann seinen ganzen Kopf unter Wasser, hielt den Atem an und lauschte mit beiden Ohren dem elektrischen Knacken und Knistern. Es handelte sich wahrscheinlich um das Geräusch der Kiesel, die von der schnellen Strömung getrieben durchs Flussbett rollten.

Wahram zog den Kopf heraus und prustete wie ein Walross. Swan lachte ihm zu und schüttelte sich wie ein Hund. »Das nenne ich Musik!«, rief sie. Und dann schrammte Wahrams Barke über das seichte Ende am anderen Flussufer. Er sprang heraus, stolperte dabei jedoch und fiel hin. Mit Mühe und Not bekam er das kleine Floß zu fassen, kam planschend auf die Beine und watete an Land. Kein bisschen elegant, aber er lebte noch, und sein Ganzkörperanzug hielt ihn warm und trocken – das war Überlegenheit durch Technik. Damit waren sie am anderen Ufer.

Swan entdeckte eine Anhöhe beim Fluss, und sie schlugen ihr Zelt kurz vor Einbruch der Dunkelheit auf. Es handelte sich um eine einteilige, große durchsichtige Hülle, die elastisch über ebenfalls durchsichtige Zeltstangen gespannt war. Ihre Flöße dienten ihnen als Betten. Sie saßen draußen vor dem Zelteingang, und Swan kochte ihnen erst eine Suppe aus irgendeinem Pulver und anschließend Pasta mit Pesto und Gorgonzolasoße. Zum Nachtisch gab es dann noch Schokolade und eine kleine Flasche Cognac.

Als sie mit dem Essen fertig waren, herrschte noch immer Zwielicht, obwohl die Sonne bereits vor einer Stunde untergegangen war. Das Zelt flatterte im Wind, und das laute Rauschen und Glucksen des Flusses über den Kieseln stieg vom Boden empor und erfüllte die Luft. Sie waren seit achtzehn Stunden ohne Unterbrechung unterwegs, und als Swan sagte: »Schlafenszeit«, nickte Wahram und gähnte. Die Schlafsäcke, die sie aus ihren Rucksäcken zogen, waren ebenfalls aus Aerogel und ähnelten den Matratzenflößen und dem Material, aus dem ihr Zelt bestand, und genaugenommen auch den Blasen, in denen sie herabgesunken waren – alles Aerogelmaterialien, fast unsichtbar, nachgiebig, warm. »Trotzdem werden wir frieren, wenn wir nicht zusammen schlafen«, sagte Swan, kroch neben ihn in seinen Schlafsack und zog dann beide Schlafsäcke über sie.

»Ah ja«, sagte Wahram. »Da bin ich mir sicher.«

Im Halbdunkel konnte er sich ein Lächeln erlauben. Doch sie ertappte ihn dabei, indem sie ihn küsste.

»Was denn?«, fragte sie.

»Nichts.«

Sie wälzte sich auf ihn, und ihr gemeinsames Gewicht führte dazu, dass er mit dem Rücken den Boden unter der Matratze berührte. Es war eine kalte Berührung, die er nicht unerwähnt lassen konnte. »Vielleicht müssen wir nebeneinander liegen bleiben.«

»Nein, zum Teufel«, erwiderte Swan und kroch aus dem Schlafsack. »Da, steh mal kurz auf, ich lege meinen Schlafsack unter die Matratze. Das sollte genügen.«

So war es. Inzwischen waren sie durchgefroren. Sorgsam zog sie den Schlafsack über sie beide und stieg bibbernd auf ihn; und nach einer festen Umarmung verlagerte sie ihr Gewicht und begann erneut, ihn zu küssen. Ihr Mund war warm. Sie küsste gut, leidenschaftlich und verspielt. Ihr Penis, obwohl so viel kleiner als der seine, pikste ihn in den Bauch. Es fühlte sich ein bisschen an wie eine Gürtelschnalle, die sich verheddert hatte. Auch er war nun erregt und fühlte sich von Sekunde zu Sekunde glücklicher.

Es hieß zwar, dass ihre besondere Kombination von Geschlechtern die perfekte Paarung darstellte, eine komplexe Erfahrung, »zweimal Schloss und Schlüssel«, alle denkbaren Vergnügungen auf einmal; Wahram war sie allerdings immer recht kompliziert vorgekommen. Wie bei den meisten Gebärmännern lag seine kleine Vagina so weit unten in seinem Schamhaar, dass seine eigene Erektion den Zugang zu ihr versperrte; die beste Methode, dort anzudocken, wenn er erst einmal erregt war, bestand für die Person mit der großen Vagina darin, sich weitgehend über den großen Penis zu stülpen und sich dann gleichzeitig nach hinten und nach vorne zu beugen. Es handelte sich für beide Teilnehmer um ein etwas akrobatisches Kunststück. Mit etwas Glück ließ die kleine Verbindung sich so herstellen, dass zwei Schlüssel in zwei Schlössern steckten, worauf die üblichen Bewegungen wunderbar funktionierten, und auch einige ausgefallenere Wippmanöver.

Es stellte sich heraus, dass Swan ganz genau wusste, wie man die Verbindung herstellte, und nachdem es ihr gelungen war, lachte sie und küsste ihn erneut. Ihnen wurde ziemlich schnell warm.

Listen (14)

Eine runde Erhebung aus großen, unregelmäßigen Felsbrocken, wobei die großen und die kleinen Brocken derart ineinander eingefügt sind, dass sie einen nahezu glatten Kegel an Merkurs Nordpol ergeben

flache Felsen, die in Kreisen ausgelegt sind, eine Schicht über der anderen, wobei jede Schicht erst ein paar Lagen lang größer wird, dann für zwei oder drei Lagen gleich dick bleibt und dann langsam wieder kleiner wird, bis der Turm schließlich in einer abgerundeten Spitze ausläuft, sodass er wie ein großer Tannenzapfen aus Stein aussieht

Ein großer Felsbrocken mit einer Spitze aus Gold, das schmilzt und auf die daruntergelegene Geröllebene herabtropft, wenn die Tagseite über sie hinwegzieht

Ein weiterer Felsbrocken, von Edelstahl ummantelt, der nicht schmilzt

Ein weiterer, mit Zinnober eingerieben

Musterförmige Spalten im Boden, die mit flüssigem Kupfer gefüllt sind

Eine knubbelige Landzunge, die so mit Scherben verziert wird, dass sie wie ein Kaktus aussieht

Silberne Silhouetten, die auf der Tagseite am Boden zurückbleiben

Sandburgen, die von der vorbeiziehenden Tagseite zu Glas verwandelt worden sind

Zwanzig Steine auf einer Geröllebene, die man weiß angemalt wieder an ihre Plätze zurückgelegt hat

Ein brusthoher, trocken gemauerter ovaler Ring aus flachen Steinen, oben mit dicken, abgerundeten Schlusssteinen versehen und einer einzigen Bresche, durch die man hineingelangen kann

Ein Felsbrocken in Form des südamerikanischen Kontinents, der auf Feuerland steht

Edelstahldrähte, die in einem Gewirr von unterbrochenen Umlaufbahnen um einen Felsbrocken gezwirbelt sind

Annähernd würfelförmige Felsbrocken in einem einzigen, zwanzig Brocken hohen Stapel

Elliptisch gerundete Felsen, die vier- oder fünflagig gestapelt sind

Zehntausend Kieselsteine, die auf den Spitzen stehend zu einem Strudelmuster angeordnet sind

Steilhänge, die man spiegelglatt geschliffen und in denen man anschließend in Sanskrit die Inschrift Om Mani Padme Hum hinterlassen hat

Kompassrosen aus Felshaufen, Medizinräder, Steinkreise, Hinkelsteine, Inuksuit

Eine kegelförmige Hütte, die aussieht wie die Spitze eines Raumschiffs, das aus der Ebene ragt

Im Innern der Terrarien erblühten die Möglichkeiten:

Zu Ringen geflochtene Zweige. Blätter, zu Füllhörnern verwoben

Ein Becken voller rosafarbener Kirschblüten

Äste wie Knochen, die eine Wiege bilden

Rote Mohnblüten, die einen Felsbrocken umwinden, worauf man den Stein wieder zwischen seine grauen Gefährten platziert hat

Eismenhire. Iglublöcke. Gebrochene Eisdecken, die man in Kugelform wieder zusammengesetzt hat

Lange Stöcke, die man im stillen, seichten Wasser zu halbkreisförmigen Mustern verwoben hat

Bahnen aus Blättern, in denen die Blätter erst rot sind, dann orange, dann gelb, dann gelbgrün und dann grün werden

Lange, geschwungene Linien in der Erde

»Geschichte ist genau wie die Kunst ein Erzeugnis menschlicher Arbeit, und sie folgt einer vergleichbaren Dynamik.«

Swan und Wahram

Nach dem Ausflug in die Tundra fühlte Swan sich so gut wie schon lange nicht mehr. Sie liebte ihre Riesenkröte, ihren Lehmklumpen, mit seiner ächzenden Langsamkeit und seinem flinken kleinen Lächeln. Wenn sie dieses Gefühl in ihrem Innern spürte, dann konnte sie auf eine für sie erträgliche Art und Weise an Alex und Terminator denken und an alles, was geschehen war. Und so war ihre Stimmung eine seltsame Mischung aus Schmerz und Glück. Angsterfüllte Freude, das war es. Eine bestimmte Art von Wolfsgeheul, wie sie es schon oft gehört hatte, unter anderem im vergangenen Monat in der Taiga, vereinte genau diese Gefühle miteinander, Kummer und Freude, und brachte ihre derzeitige Stimmung sehr genau zum Ausdruck. Wenn Swan draußen in der Nacht die Wölfe hörte, stimmte sie mit ein, wenn auch nur ganz leise, denn schließlich lagerte sie zusammen mit Wahram und den anderen; sie heulte nicht gern aus voller Kehle, wenn andere Menschen in der Nähe waren. Sie heulte in sich drin. Als Jacques Cartier einige Häuptlinge aus der Gegend entführt hatte, um sie mit zurück nach Frankreich zu nehmen, hatten sich in der Nacht, in der die Schiffe abfuhren, zahlreiche Menschen am Strand versammelt und die ganze Nacht lang wie Wölfe geheult.

Eines Morgens erhielt Wahram einen Anruf, den er draußen vor dem Essenszelt entgegennahm, und als er zurückkehrte, wirkte er nachdenklich.

»Hör mal«, sagte er zu Swan, als sie durch die Tundra schlenderten, Wind und Sonne im Rücken. »Ich muss wieder raus zum Saturn. Man hat alle Leute zusammengerufen, die Alex geholfen haben. Sie wollen das Treffen persönlich abhalten, damit es nicht aufgezeichnet werden muss.«

»Und worum geht es?«, fragte Swan.

»Tja«, sagte er vorsichtig, »es hat mit etwas zu tun, bei dem es sich um eine neue Art von Qube zu handeln scheint. Weshalb ich wohl nicht mehr darüber sagen sollte.«

»Ich merke es, wenn die Leute über mich reden«, verkündete Pauline.

»Das wissen wir auch«, blaffte Swan. »Sei still.«

»Wie dem auch sei«, fuhr Wahram fort, »ich glaube, du solltest bei diesem Treffen dabei sein. Und du kannst mir einen Gefallen tun. Jean Genette ist in einem Aquarium und nicht zu erreichen, sollte aber auch von dem Treffen erfahren. Es wäre besser, wenn ich direkt zum Titan reise, aber wenn du Jean auf dem Weg nach draußen Bescheid geben könntest, wäre mir das eine große Hilfe. Vielleicht erfährst du von Jean auch mehr darüber, was vorgeht.«

»In Ordnung«, sagte Swan. »Das kriege ich hin.«

»Gut.« Wahram lächelte sein winziges Lächeln, aber Swan sah ihm an, dass er in Gedanken weit weg war.

Auszüge (17)

Da viele Menschen ihr Leben lang beträchtliche Mengen an männlichen und weiblichen Hormonen produzieren und phänotypisch bisexuell, intersexuell oder unbestimmt sind, werden die Pronomina »er« und »sie« oftmals vermieden oder allenfalls zur Selbstzuordnung verwendet, manchmal je nach Situation wechselnd. Jemand anderem mit einem solchen Pronomen zu bezeichnen, entspricht der Verwendung von »du« statt »Sie« und zeigt Vertrautheit mit der betreffenden Person an

Die am tiefsten verankerten phänotypischen Signale für Geschlechtszugehörigkeit scheinen das Verhältnis zwischen Taille und Hüfte und die Länge der Taille im Verhältnis zum Gesamtkörper zu sein; beides hängt mit den proportional längeren weiblichen Oberschenkelknochen und den breiteren weiblichen Beckenknochen zusammen

wie zum Beispiel Französisch, Türkisch oder Chinesisch. Alternative geschlechtslose Pronomina im Englischen umfassen »it«, »e«, »them«, »one«, »on« und »oon«, doch keines davon konnte

während sich im Deutschen das ehemalige grammatische Maskulinum in Berufsbezeichnungen wie Physiker, Gärtner, Kommissar als geschlechtsneutrale Form durchsetzte

es geht nicht darum, dass es »kein Geschlecht gibt«, sondern darum, dass es sich um ein komplexes, mehrdeutiges Phänomen mit vielen Manifestationen handelt, das zuweilen als voll entfaltete ursulinische Menschheit und bei anderen Gelegenheiten als Riesenschlamassel bezeichnet wird

Zusammenkünfte, die einzig und allein aus geschlechtlich unbestimmten Menschen bestehen, bilden einen neuen sozialen Raum, den manche als zutiefst unangenehm empfinden; typische Kommentare sind »wie eine Nacktheit, die ich nicht für möglich gehalten hätte« oder »man ist nur man selbst, es ist entsetzlich« auslöst. Es handelt sich eindeutig um eine neuartige psychische Belastung, die

es existieren sehr feine Unterscheidungen, einige behaupten etwa, dass Gynandromorphen nicht ganz wie Androgyne aussehen, und auch nicht wie Hermaphroditen oder Eunuchen, und ganz sicher nicht wie Bisexuelle – dass Androgyne und Gebärmänner etwas völlig Unterschiedliches sind – und so weiter. Manche erzählen in diesem Zusammenhang gerne von sich; andere schweigen sich darüber aus. Manche kleiden sich wie ein anderes Geschlecht und mischen auch ansonsten semiotische Geschlechtsanzeiger, um ihre gegenwärtige Gefühlslage zum Ausdruck zu bringen. Völlig überzogene Macho- und Femme-Verhaltensweisen, die zum Phänotyp und den semiotischen Hinweisen passen können oder auch nicht, erzeugen eine Performance-Kunst, die vom Kitschigen bis zum Wunderschönen reicht

da es inzwischen Menschen gibt, die annähernd drei Meter groß sind und welche, die weniger als einen Meter groß sind, stellt das Geschlecht möglicherweise nicht mehr das bedeutsamste Unterscheidungskriterium bei den Menschen dar

bis hin zur Größe von Klammeraffen, eine Modifikation, die von größeren Personen heftig verurteilt wurde, bis Langlebigkeitsstatistiken immer wieder den Zusammenhang zwischen geringer Größe und langer Lebensspanne bestätigten, insbesondere bei geringer Schwerkraft. Ein Sprichwort unter Kleinen lautet »kleiner ist feiner«

Wir haben alle weiblich angefangen und produzieren seit jeher beide Arten von Sexualhormonen. Wir hatten sowohl maskuline als auch feminine Anlagen, aus denen nach einem Lernprozess die für das Geschlecht typischen Verhaltensweisen wurden, obwohl jeder Mensch beiderlei Anlagen in sich trägt. Wir haben einzelne Eigenschaften selektiv verstärkt oder unterdrückt, wodurch wir während des größten Teils unserer Geschichte die Geschlechterrollen verfestigt haben. Aber tief in uns drin waren wir immer beides. Und jetzt, im All, sind wir ganz offen beides. Ob nun sehr groß oder sehr klein – endlich sind wir Menschen

Die Gefühlsstruktur dieser Kultur ließe sich ebenfalls als balkanisiert bezeichnen. Geschlechtertherapie und -ausdifferenzierung waren beide Teile des Langlebigkeitsprojekts, und die Kombination dieser drei Faktoren erzeugte eine neue Gefühlsstruktur, die oft als aufgesplittert, unterteilt, abgeschottet oder Firewall-geschützt bezeichnet wird. Normalerweise gilt die Langlebigkeit als treibende Kraft hinter dieser Entwicklung; zuvor hatte niemand länger als ein Jahrhundert lang (oder gar länger als zwei Jahrhunderte lang) seine Persönlichkeit aufrechterhalten müssen, etwas, das heutzutage oft als existenzielle Krise erlebt wird. Die Überalten verfügen über so viel Erfahrung und haben so viele Phasen durchlebt, so viele Wegbegleiter an den Tod oder einfach an die Zeit verloren, dass die anderen Menschen ihnen fremd geworden sind. Raumer, die so riesige Distanzen überwinden und bei ihren Versuchen der eigenen Optimierung oft besonders kühn sind, leben meist isoliert, in einem solipsistischen Narrativ oder einer Darbietung, die nur für sie bestimmt ist

Menschen im All leben eine Art Nichtbindung. Oft heißt es, dass man nicht zu viel von der anderen Person mitbekommen und keine zu intensive Beziehung herstellen sollte, wenn man sie über lange Zeit aufrechterhalten möchte, da sie ansonsten ausbrennt. Stellt man sich auf lange Zeitläufte ein, dann verteilt man sich selbst auf ein Netzwerk von Bekanntschaften und neuen Freunden und zieht weiter, sobald

bekanntermaßen wird Liebe in verschiedenen Kulturen und in verschiedenen historischen Epochen unterschiedlich definiert. Die »balkanisierte Liebe« bezieht sich auf eine Situation, in der Zuneigung, das Großziehen von Kindern, Sex, Lust, Kohabitation, Familie und Freundschaft allesamt voneinander entkoppelt und als Affektzustände rekonfiguriert worden sind, genau wie die Individuen und Gesellschaften

Sex selbst ist, nachdem er von Fortpflanzung, Liebe, Tabubruch, Religion und anderen biologischen und kulturellen Assoziationen entkoppelt worden ist, für viele Menschen lediglich zu einer körperlichen Funktion von vielen geworden, die man entweder für sich allein oder mit anderen vollzieht und die ebenso angenehm wie Sport und Spiele, Unterhaltungen oder Darmbewegungen sein kann

traditionelle Ehe, Familienehe, Gruppenehe, Polygamie, Polyandrie, Panmixie, Zeitverträge, Horte, Zimmergenossen, sexuelle Freundschaften, Freunde, Pseudogeschwister, Mitreisende, Solisten,

Swan im Chateau Garden

Swan flog nach Süden und fuhr mit dem Quinto-Aufzug wieder nach oben, wobei sie einmal mehr einer Aufführung der Satyagraha beiwohnte, gemeinsam mit dem gesamten Publikum mitsang und am Ende des ersten Aktes mittanzte und dabei bunte Wimpel hinter sich herzog. Das Chaos der sich wiederholenden Gesangsstimmen, die einander in der Mitte des Akts überlagerten, kam ihr in jenem Moment absolut richtig vor. So war das Leben. Sie konnte diese Gesänge aus ihrer Kehle schleudern, als prügelte sie auf einen Feind ein. Der Kampf um den Frieden war mehr Kampf als Frieden, aber jetzt war sie voller Energie und im Fluss der Ereignisse.

Oben in Bolivar musste sie sich beeilen, um noch eine Fähre zum Chateau Garden zu erwischen, ein großes Terrarium, das sie selbst gestaltet hatte, als sie noch jung gewesen war – und dumm. Es handelte sich um eine Landschaft, in die Schlösser eingebettet waren, wie an der Loire oder der Themse. Die großen, kastenförmigen Anwesen waren geschmackvoll zwischen Gerste- und Hopfenfeldern, Weinbergen und Barockgärten verteilt.

In dem Terrarium war es so grün wie eh und je, stellte Swan fest, und es sah aus wie eine dieser schrecklichen virtuellen Landschaften von Spielen, in denen man nichts wirklich anfassen kann. Praktisch alle Pflanzen in den Barockgärten um die großen Häuser herum waren Formschnittarbeiten, und als ob das nicht schon an sich eine fragwürdige Idee gewesen wäre, hatte man diese wild wuchern lassen: Der Künstler war auf einem der Teiche Schlittschuh gelaufen, durchs Eis gebrochen und ertrunken. Und nun sahen all die Wale und Otter und Gürteltiere aus, als würde man sie an den Haaren hochziehen.

In der Stadt selbst (Ziegeldächer, und die üblichen Fachwerkhäuser im Pseudo-Tudorstil) gab es einen großen Park mit einer weiten, glatten Rasenfläche, bei der es sich genau genommen um ein weiteres Meisterwerk des Formschnittkünstlers handelte: Das Gras auf diesem Rasen war kein gewöhnliches Gras, sondern enthielt auch sehr feines Alpenwiesengras, Seggengräser und Moose, in einer reichhaltigen Mixtur, die darüber hinaus mit einer Reihe winziger, niederalpiner Wiesenblumen versetzt war, darunter Blaubeere, Polsternelke, Aster und Steinbrech. Alles in allem hatte man das Gefühl, über einen lebenden Perserteppich zu gehen. In diesem bunten Teppich gab es lange Streifen reinen, feinen Grases, wie das Übungsgrün beim Golf, die alle längs zum Zylinder verliefen. Es handelte sich um eine Rasen-Bowlingbahn mit etwa einem Dutzend Spielflächen.

Hier war es Winter, als befänden sie sich in Patagonien oder Neuseeland, und von dem Sonnenfleck auf dem Sonnenstreifen ging ein Streulicht aus, das Schatten mit unscharfen Rändern warf und der Luft einen rostigen Ton verlieh. Kleine Wolken hatten sich um den Sonnenfleck zusammengezogen, weiße geblähte Pilze, rosa überhaucht. Stadt und Park waren von den Schatten dieser Wolken gesprenkelt, und darüber erstreckten sich wogende Gerstenfelder und Weinberge. Einen Moment lang verspürte Swan einen heftigen Anflug von Terrariumsschwindel, als sie nach oben blickte.

Hier gab es kein Merkurhaus, also bezog sie ein leeres Ramada-Hotel am Parkrand, unter einer Reihe Maulbeerfeigenbäume, die in ihrem prachtvoll bunten Wintergewand standen. Da sie sich zu erfüllt fühlte, um sich hinzusetzen oder hinzulegen, warf sie ihre Reisetasche auf das quadratische Bett und ging spazieren. Im Ort machte sie Halt, um einen Tee zu trinken, und sah von ihrem Café aus eine Gruppe Leute, die zum Bowls-Rasen unterwegs waren. Sie kippte den letzten Schluck Tee herunter und ging ihnen nach, um zuzusehen.

Die Grünstreifen wurden als Bahnen bezeichnet und verliefen entlang der Längsachse des Zylinders, sodass sie eben waren. Das war wichtig, weil die Corioliskraft stark genug war, jeden Wurf nach rechts abzufälschen. Wie bei dieser Sportart üblich, waren die Bälle asymmetrisch; es handelte sich um eingedrückte Kugeln, wie der Saturn oder Iapetus, und wenn man sie warf, rollten sie entlang ihres größten Umfangs wie ein dickes Rad, solange sie schnell genug waren, um dann letztlich auf die Seite zu kippen, wodurch der Verlauf des Wurfs wie ein Farnwedel gekrümmt wurde. Man musste schon ein feines Händchen haben, um eine Kugel ins gewünschte Ziel zu bringen.

Eine junge Person trat an Swan heran und fragte sie, ob sie auf einer der freien Bahnen mit ihr spielen wollte.

»Ja, danke.«

Swans Mitspieler nahm eine Tasche mit Kugeln und führte sie zu der leeren Bahn, die am weitesten von ihnen entfernt war, am Rande des Spielfelds. Dort ließ er die Kugeln auf den vorzüglich gepflegten Rasen kullern. Swan nahm eine davon und hielt sie entlang der Längsachse; sie wog etwa ein Kilo, genau wie sie es in Erinnerung hatte. Ihr letztes Spiel war ein Weilchen her. Sie stellte sich auf die Matte, die man beim Werfen nicht übertreten durfte, und versuchte es mit einem einfachen Stoß durch die Mitte, auf der langsamen Seite, in der Hoffnung, dass die Kugel vor dem Jack liegen bleiben und die gegnerischen Kugeln blockieren würde.

Sie rollte auf einer nur leicht gekrümmten Bahn und kam dann etwa dort zum Liegen, wo Swan es geplant hatte. Ihr junger Mitspieler nahm sich eine Kugel, trat auf die Matte, machte zwei Schritte vorwärts, ging beim dritten in die Hocke und ließ die Kugel auf den Rasen gleiten. Elegant rollte sie die Bahn entlang, in einem Bogen, auf dem sie den Jack wahrscheinlich um ein gutes Stück links verfehlen würde, wenn sie nicht gar die Bahn verlassen und in der sogenannten Rinne landen würde. Doch dann machte die Corioliskraft sich geltend, und die Kugel bog in einer Art Fibonacci-Folge umso schärfer nach rechts ab und kam schließlich unmittelbar hinter dem Jack zum Stillstand.

Swan musste nun versuchen, entweder an ihrer eigenen blockierenden Kugel vorbeizukommen oder sie in den Jack zu stoßen, in der Hoffnung, dass dieser beiseitegeschleudert werden würde. Sie hatten jeweils vier Kugeln, und obwohl noch drei davon übrig waren, sah das Spielfeld um den Jack herum bereits ziemlich voll aus. Swan überlegte eine Weile und beschloss dann, die Schlagseite der Kugel auszunutzen, um gegen die Corioliskraft anzuwerfen, ihre eigene Blockade zu umrunden und den Jack anzustoßen. Dafür brauchte es eine Menge Fingerspitzengefühl, und im selben Moment, in dem sie warf, erkannte sie, dass sie zu viel Kraft eingesetzt hatte. »Ach verdammt«, sagte sie und ärgerte sich so sehr, dass sie hinzufügte: »Ich will mich jetzt nicht rausreden, aber dafür habe ich wirklich eine gute Ausrede.«

»Aber sicher doch. Hast du dieses T-Shirt gesehen, auf dem alle Ausreden aufgedruckt sind?«

»Das haben sie gemacht, indem sie mir zugehört und mitgeschrieben haben.«

»Haha. Welche ist es diesmal?«

»Tja, ich habe gerade fast ein Jahr auf der Erde verbracht. Ich überreiße jeden Wurf.«

»Das kann ich mir vorstellen. Was hast du dort gemacht?«

»An dem Tierkram gearbeitet.«

»Du meinst an der Invasion?«

»An der Wiedereinwilderung.«

»Hm. Wie war das?«

»Es war interessant.« Sie wollte im Moment nicht darüber reden, und sie hatte den Verdacht, dass ihr junger Mitspieler das wusste und sie nur ablenken wollte. »Du bist dran.«

»Stimmt.« Das Verhältnis von Taille und Hüfte war bei dem Jugendlichen eher mädchenhaft, das Verhältnis zwischen Schulter-Hüfte und Hüfte-Boden eher jungenhaft. Vielleicht handelte es sich um einen Gynandromorphen. Sein Wurf traf beinahe das Ziel, kippte direkt hinter dem Jack und kam zum Liegen. Die Sache sah nicht gut aus für Swan. Jetzt konnte sie nur noch versuchen, ihre eigene, bereits liegende Kugel gegen den Jack zu stoßen und zu hoffen, dass er in die Rinne fiel, um so ein Patt herbeizuführen. Das war möglich, wenn sie einen schnellen, geraden Wurf entlang des rechten Rands hinbekam. Sie legte den kleinen Finger auf den großen Kreis, der die Schlagseite markierte, und konzentrierte sich auf eine aufrechte Haltung und eine gerade Durchführung. Als sie die Kugel losließ, wusste sie bereits, dass auch dieser Wurf danebengehen würde. »Verdammt.«

Der Jugendliche wirkte belustigt. »Du musst die Kugel bis zu dem Moment, in dem du loslässt, mit allen Fingern halten.«

»Manche Leute machen das so«, sagte sie.

Ihr Mitspieler zuckte zur Antwort bloß mit den Schultern. Wirklich sehr jung; vielleicht um die dreißig, ein Raumer.

»Bist du hier zu Hause?«, fragte Swan.

»Nein.«

»Wohin bist du unterwegs?«

»Nirgendwohin.«

Der nächste Wurf erwies sich als gut platzierter Block, der es Swan noch schwerer machen würde, mit ihrer letzten Kugel den Jack zu treffen. Die einzige Chance bestand in dem gleichen Rückhandwurf, an dem sie sich eben schon versucht hatte.

Sie machte ihren letzten Wurf und beobachtete zufrieden, wie er über die Bahn rollte, in letzter Minute abbog und den Jack in die Rinne stieß.

»Patt«, sagte Swans Mitspieler ruhig. Swan nickte.

Sie spielten noch ein paar Runden, und jeder einzelne Wurf des Jugendlichen war erstklassig. Swan verlor jedes Mal.

»Du schummelst doch. Du bist ein Profi oder so«, sagte Swan verärgert.

»Wir wetten ja nicht.«

»Ein Glück für mich.« Einmal mehr gelang es Swan, den Jack umzustoßen.

Und sie spielten weiter. Anscheinend hatte keiner von ihnen etwas Wichtigeres vor. Das war oft so auf Raumreisen. Es war wie bei einem Shuffleboard-Spiel auf einem Kreuzfahrtschiff. Sie hatten Zeit im Überfluss – Zeit, die sie totschlagen mussten. Swans Mitspieler vollführte mehrere schlechterdings perfekte Würfe. Swan verlor weiterhin, weil sie zu weit warf. Ihr kam in den Sinn, dass Virginia Woolf sich wahrscheinlich genauso gefühlt hatte, wenn sie mit ihrem Mann Leonard spielte, der in seinen Jahren als Regierungsstatthalter in Ceylon zu einem erstklassigen Bowls-Spieler geworden war. Auch Virginia hatte praktisch immer verloren. Swans jungem Mitspieler schien es überhaupt nicht aufs Gewinnen anzukommen. Wahrscheinlich war es bei Leonard genauso gewesen. Tja, es gab eben eine Menge, Leute, die beim Sport vor allem gegen sich selbst spielten und ihre Gegner lediglich als Zufallselemente betrachteten, die die Probleme variierten, mit denen sie es beim Erbringen ihrer Leistung zu tun bekamen. Trotzdem ärgerte Swan sich langsam über diese Person. Wie sie fein säuberlich die Matte anhob. Wie sie am Ende jedes Wurfs locker die Fingerspitzen bewegte. Die hervorragende Fernkrümmung ihrer von der Corioliskraft geleiteten Würfe.

Erst sehr viel später, als Swan in ihrem Bett lag, kam sie auf den Gedanken, dass die Steinchen, die man auf Terminator abgeschossen hatte, wie eine Art Bowls-Spiel funktioniert hatten. Der Gedanke ließ sie hochfahren. Eine Matte auslegen, eine Kugel werfen – und bald würde sich alles beim Jack sammeln.

Quantum-Walk (2)

leicht, den Moment zu bemerken, in dem die Schwerkraft der Venus überschritten wird 1,0g fühlt sich an, als zöge einen etwas nach unten eine Verschränkung mit der Erde sich dir entgegenhebend obwohl du weißt, dass du absinkst

der Sommer ist trunken Kiefernhain heiß in der Sonne frisch gemähtes Heu Sumpf bei Ebbe Flieder Pfirsiche Scheunenhöfe

ein Wagen, der eine Straße entlangbrummt, die Fenster offen 32 Stundenkilometer gepflügte Erde hinter Buchsbaumhecken Wind aus Südwesten gaudeo ich frohlocke ein Mensch fährt rede nicht zu viel

Die Tragfähigkeit K entspricht Geburten minus Todesfälle über einer von der Population abhängenden Wirkung auf die Wachstumsrate plus einer von der Dichte abhängenden Wirkung auf die Todesrate der ungenutzte Teil der Tragfähigkeit falls es einen gibt ist grün der Teil, der die Tragfähigkeit überschreitet ist schwarz wie bei Gebäuden Exkrement bleibt draußen sie haben es zu weit getrieben

das zykloide Temperament eine traurige Unterströmung ein fiebriges Temperament pass auf der Mensch neben dir lässt sich nicht verstehen

sechs verschiedene Vogelarten auf einmal in Sicht ein sitzender Kolibri, der die Szenerie beobachtet, sein Gefieder putzt ein Fink mit rotem Kopf Sommer auf der Erde blauer Himmel voller hoch dahinziehender weißer Wolken schnell nach Osten ziehend der Kolibri flitzt voran und landet schaut sich um Schnabel wie eine Nadel Krähen und Möwen kreisen Mafias im Wettbewerb schnell wie die Flügel eines Kolibris das geht mit Muskeln Evolution einer bestimmten Art von Erfolg kanadische Gänse das Rascheln ihres Gefieders, wenn sie mit den Flügeln schlagen das Lied eines Kolibris raschelt auf andere Weise Hetzjagd kein Lied ein Eichhörnchen plappert ganz ähnlich Kolibri mit blauem Rücken schwebt dort zwischen den Bäumen die Unterseite eines Flügelschlags ist lachsfarben

New Jersey Nordamerika 23. August 2312 auf der Jagd auf der Flucht Mensch fährt jetzt über Hügel um einen Sumpf herum Hügel voller niedriger Gebäude, die unter knorrigen Erlen vor sich hinmodern zwanzig Stundenkilometer überall Gesichter 383 Menschen in Sichtweite Zahl schwankt um etwa fünfzig nach oben oder unten, während das Auto langsam vorbeifährt Straßen mit geteertem Kies schwarz

ein Rotkehlchen mit gelbem Schnabel und sienafarbener Brust – schwarzes Schwanzgefieder und schwarzer Kopf weißer Augenring, schwarzes Auge hübsch trinkt Wasser aus einer Sonnenuhr gaudeo

an einem Garten vorbei Mais Kürbisse Sonnenblumen und Königskerze mit ähnlichen gelben Blüten, anders angeordnet ich grübele darüber

Was ist das?

Nichts Entschuldigung

Ach kein Problem. Hübsch hier was?

Gaudeo

gelbe Blumen vor staubigem Grün in einer Scheibe mit einem Spiralmuster darauf verwoben oder einem großen khakifarbenen Kegel mit einander überkreuzenden gelben Spiralen sinnliche Wahrnehmungen sind bereits Abstraktionen Menschen sehen das, was sie erwarten sie springen, bevor sie Zeit zum Hinschauen haben

wahre Kognition bedeutet, ein Problem unter neuen Bedingungen zu lösen das können Menschen diese sind eine Reihe neuer Bedingungen seit du das Gebäude verlassen hast seit du zu denken begonnen hast denk an mich es wird Helfer geben du bist beschädigt einfangen und loslassen

ihr Gehirn denkt sich ständig eine Geschichte aus, um die Vorgänge zu erklären deshalb übersehen sie Dinge Anomalien werden ausgelassen doch stimmt das? sehen sie all das Gelb nicht? sehen sie die beiden Spiralformen nicht?

unbegrenzte Ressourcen treten in der Natur nicht auf Wettbewerb bedeutet, dass beide Spezies eine insgesamt negative Wirkung aufeinander haben Mutualismus bedeutet, dass sie beide eine insgesamt positive Wirkung aufeinander haben räuberisches Verhalten oder Parasitismus bedeutet, dass eine Spezies eine positive Wirkung erfährt und die andere eine negative doch es ist nicht immer so einfach IGP oder Intraguild Predation liegt vor, wenn zwei Spezies in verschiedenen Wachstumsstadien aufeinander Jagd machen

das Dunkel einer Wohnung Miete Kaschemme dahinter und darüber der Sonnenuntergangshimmel Magritte Maxfield Parrish steig aus sei wachsam mach einen Witz stell keinen Blickkontakt her

diese Helfer haben sicher auch Pläne vielleicht benutzen sie dich für oder gegen jemand anders das ist die wahrscheinlichste Erklärung was dann wie dreht man den Spieß um Parade Riposte einfangen und loslassen

möchtest du gerne Schach spielen? sagt einer an der Tür

Sicher, komm herein Waffen auf sie gerichtet auf dich gerichtet

Inspektor Genette und Swan

Einmal von einem Projekt gepackt, ließ Jean Genette praktisch nie wieder locker. Selbst Probleme, die offiziell als gelöst galten, suchten den Inspektor oft noch heim, weil etwas nicht ganz ins Bild passte, nicht zu stimmen schien – und wenn sich keine Lösung fand, wurde das Problem Teil eines Rosenkranzes ruheloser Nächte, eine Perle auf einer Möbius-Kette, die man in schlaflosen Stunden müde betastete. So beschäftigte Genette beispielsweise noch immer der Fall Ernesta Travers – vor dreißig Jahren hatten sie sich alle mit der Frage geplagt, warum ihre Freundin vom Mars verschwunden war und wie sie das bewerkstelligt hatte; es war ein Fall, den Jean im Exil weiterverfolgen konnte und es von Zeit zu Zeit auch tat, doch Travers blieb trotzdem verschwunden, als hätte sie nie existiert. Das Gleiche galt für den Fall des Gefängnisterrariums Nelson Mandela, eine geradezu klassische Kriminalgeschichte, mit einem perfekten verschlossenen Raum; eigentlich hätte es unmöglich sein sollen, die Mordwaffe in den Asteroiden zu bringen oder sie wieder zu entfernen. Rätsel wie diese gab es zuhauf im System; sie gehörten irgendwie mit zur Gefühlswelt der zerstreuten Siedlungen, aber nicht immer genügte die Balkanisierung als Erklärung. Und so blieb Genette weiter gebannt von der schieren Unmöglichkeit mancher Vorkommnisse – wie gelähmt, bis ins Mark verunsichert, hilflos. Manchmal wanderte der Inspektor stundenlang ziellos umher, auf der Suche nach einer Erklärung.

Das Problem der Steinchenattacke war anders geartet. Es handelte sich nach Genettes Maßstäben noch um einen frischen Fall, hier gab es nichts prinzipiell Unerklärliches. Praktisch jeder im All hätte den Angriff durchführen können, und viele, die unter einer Atmosphärenschicht lebten, mochten für ihn bezahlt oder sich ins All begeben haben, um ihn selbst durchzuführen, und sich anschließend in den Schutz ihrer Atmosphäre zurückgezogen haben. Dieser Fall war eher die Suche nach der Nadel im Hauhaufen, und die Balkanisierung erschwerte eine solche Suche, indem sie die Heuhaufen vervielfachte. Trotzdem handelte es sich letztlich um Interplans ureigenes Gebiet, und so begannen sie, die Heuhaufen einen nach dem anderen umzugraben, alles Unmögliche auszuschließen und sich dann dem nächsten zuzuwenden. Genette hielt es für ziemlich offensichtlich, dass die Ermittlungen sie letztlich zu den Blockfreien führen würden, wo sie gezwungen sein würden, verschlossene Türen aufzustemmen, um den Hersteller der Abschussvorrichtung und den Piloten des Raumschiffs ausfindig zu machen, das mittlerweile tief in den Saturn gestürzt war. Noch hatten sie ihre Nachforschungen nicht in alle denkbaren Richtungen vorangetrieben; es gab mindestens zweihundert Blockfreie mit ernst zu nehmenden industriellen Kapazitäten; eigentlich hatten sie gerade erst begonnen.

Genette traf Swan Er Hong in dem Aquarium Südpazifik für Anfänger wieder, eine Wasserwelt, deren innerer Zylinder bis zu einer Tiefe von zehn Metern mit Wasser gefüllt war und die sich im Innern eines riesigen Eisbrockens drehte, den man auf eine Weise geschmolzen und wieder gefroren hatte, dass er durchsichtig geblieben war. Aus dem Weltraum sah das Ganze wie ein Hagelkorn aus. Als Kind war Genette auf der Hellas-See gesegelt und hatte dabei das aufgewühlte Wasser an einem windigen Tag bei marsianischer Schwerkraft zu schätzen gelernt, und selbst nach all den Jahren war da noch die leichte Erregung, wenn man mit den Fingerspitzen das An- und Abschwellen des Windes in Seil und Ruderpinne erspürte – das Gefühl, bei jedem Wellental in die Höhe gehoben und übers Wasser geschleudert zu werden.

Das Meer in diesem Aquarium war natürlich sehr viel kleiner als die Hellas-See, aber Segeln blieb Segeln. Und in einem Aquarium mit derart klaren Wänden hatte man eine Aussicht, als blickte man gleichzeitig in und durch einen gekrümmten silbernen Spiegel, auf dem die von der Coriolisströmung und dem Chiralwind erzeugten, aufeinander zulaufenden Wellen komplizierte Muster bildeten. Es sah aus, als würden die klassischen, aus dem Physikunterricht bekannten Muster in einem Wellentank topologisch verzerrt, um sie auf die Innenseite eines Zylinders aufzubringen. Aufeinandertreffende Wellen krümmten sich auf dieser Innenfläche in nicht-euklidischer Weise, was mit all den spiegelnden Silbertönen ein seltsamer und hübscher Anblick war. Und hinter dem Silber kamen Blautöne. Innerhalb der durchsichtigen Hülle des Aquariums, wo der Ozean zugleich der Himmel war, war jede silbrige Oberfläche an der sonnenzugewandten Zylinderseite mit einem tiefen Eierschalenblau hinterlegt. Schaute man dagegen von der Sonne weg, gab es immer noch einen tiefblauen Hintergrund, der aber sehr viel dunkler, beinahe indigofarben war, und hier und dort blitzten die hellsten Sterne darin auf. Eine Stadt schwamm als Fremdkörper in dieser zylinderförmigen See, doch Genette verbrachte die meiste Zeit auf dem Wasser und kreuzte mit einem Trimaran so schnell, wie es bei den hiesigen Windgeschwindigkeiten möglich war.

Als die Nachricht von Swans Ankunft eintraf, segelte Genette nach Pitcairn, um sie abzuholen. Dort stand sie am Pier, auf ihre typische, lebhafte Art – hochgewachsen, mit verschränkten Armen und hungrigem Blick. Misstrauisch sah sie auf das Segelboot des Inspektors herab; es war für Kleine gedacht, und Swan würde nur mit Mühe und Not hineinpassen. Genette lehnte ihren Vorschlag ab, mit einem größeren Boot rauszufahren, und wies sie an, sich ins Ponton an der Luvseite zu setzen und die Füße auf den Rumpf zu legen: Genette setzte sich in die Steuerkanzel und ergriff ein Lenkrad, das zu einem sehr viel größeren Gefährt zu gehören schien. Und schon waren sie unterwegs und unterhielten sich, während sie wie ein Sturmtaucher über die Wellen sausten. Mit so viel Gewicht an der Luvseite bekam Genette viel Wind ins Hauptsegel, und der Bug von Swans Ponton ließ das Wasser hoch ins Blau spritzen.

Swan hatte ganz offensichtlich Freude daran, sich hier draußen vom Wind durchschütteln zu lassen. Sie blickte sich aufmerksamer um als beim letzten Mal, als Genette mit ihr zusammen unterwegs gewesen war. Man hätte sogar sagen können, dass sie leicht elektrisiert aussah. Sie war bei der Reanimierung auf der Erde gewesen, was sie zweifellos glücklich gemacht hatte. Aber gleichzeitig hatte sie einen härteren Zug um den Mund gewonnen, eine kleine Einkerbung zwischen den Augenbrauen.

»Wahram hat mich geschickt, um dir auszurichten, dass du auf einem Treffen auf dem Titan gebraucht wirst«, sagte sie. »Es handelt sich um Alex’ Gruppe, die offline zusammentritt, um etwas Wichtiges zu besprechen. Es hat mit den Qubes zu tun. Ich gehe auch hin. Also, kannst du mir sagen, worum es bei dem Ganzen geht?«

Um sich ein wenig Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, drehte Genette das Boot in den Wind und ließ Swan in den anderen Ponton steigen. Sobald sie ihren neuen Kurs eingeschlagen hatten, brachte der Zug am Hauptsegel sie in eine aufrechte Position. Das verwegene Segelmanöver entlockte Swan ein Grinsen, dann aber schüttelte sie den Kopf; so leicht ließ sie sich nicht vom Thema abbringen.

Allerdings konnten sie mit diesem Schwenk eine Welle erwischen, die sich am Riff brechen würde. Darauf wies Genette hin, und gemeinsam betrachteten sie das An- und Abschwellen der Fluten, während Genette die Segel trimmte, um ihre Geschwindigkeit zu erhöhen. Sie sausten in einer weiten Kehre übers Wasser, sodass sie in dem Moment auf die Welle trafen, als sie am Riff emporleckte. Der Trimaran wurde von der Woge angehoben und aufgefangen. Er glitt mehr fallend als segelnd an ihrer Vorderseite herab, und dennoch genügte der Wind in der oberen Hälfte des Segels, um sie vor dem Punkt zu halten, an dem die Welle brach, solange Genette ihn im richtigen Winkel einfing. Swan verlagerte geschickt ihr Gewicht, um die Unregelmäßigkeiten ihres Wellenritts auszugleichen.

Wo das Riff auslief, verlor die Welle ihre weißen Zähne und beruhigte sich zu einer leichten Dünung. Nach einem letzten Holpern über das Kielwasser einer quer laufenden Welle segelten sie wieder ruhig dahin.

»Gut gemacht«, sagte Swan. »Du segelst sicher viel.«

»Ja, wenn möglich reise ich in Aquarien. Deshalb habe ich inzwischen auch die meisten besegelt. Oder bin in ihnen Eisboot gefahren. Wenn sie innen gefroren sind, kann man wie in einer Zentrifuge Fahrt aufnehmen.«

»Ich war gerade erst selbst oben im Inuit-Gebiet, aber dort war es Sommer, und alles Eis war geschmolzen. Mit Ausnahme der verdammten Pingos.«

Eine Weile segelten sie vor sich hin. Über ihnen bog sich der silberne Wasserhimmel zu einer glatten Krümmung aus Blautönen, die von Türkis bis Indigo reichten.

Swan sagte: »Aber zurück zu dem Treffen. Wahram hat gesagt, dass es etwas mit irgendwelchen neuen Qubes zu tun hätte. Also … erinnerst du dich noch daran, als wir in der Inneren Mongolei waren und ich diese albernen Mädchen getroffen habe, die ich für Menschen gehalten habe? Und du dachtest, dass es sich bei ihnen um irgendwelche seltsamen Qube-Personen handeln könnte?«

»Ja, natürlich«, antwortete Genette. »Sie waren welche.«

»Tja, mir ist auf dem Weg hierher etwas Seltsames passiert. Ich habe mit einem Jugendlichen im Chateau Garden Bowls gespielt, und er hat … versucht, meine Aufmerksamkeit zu erregen, würde ich es wohl nennen, ohne dass er dabei viel gesagt hätte. Es betraf hauptsächlich die Art, wie wir gespielt haben, aber auch … es war wie der lange Blick, mit dem einen Wölfe manchmal ansehen. Das ist etwas, das Wölfe manchmal bei der Jagd machen. Für Beutetiere ist dieser Blick verstörend, und zwar so sehr, dass manche sich keine große Mühe mehr geben davonzukommen.«

Genette, der den Blick und die dazugehörige Technik kannte, nickte. »Und diese Person hatte den langen Blick.«

»So kam es mir vor, ja. Vielleicht war teilweise das der Grund dafür, dass es mir kalt den Rücken heruntergelaufen ist. Ich habe das schon bei Wölfen erlebt. Aus dem Augenwinkel sieht man genau, wie sehr sich dieser Blick von der Art und Weise unterscheidet, in der einen die Leute normalerweise anschauen. Ein Soziopath könnte Menschen so anschauen.«

»Eine Wolfsperson.«

»Tja, aber ich mag Wölfe.«

»Vielleicht jemand wie ein Qube«, schlug Genette vor. »Nicht wie die an Bord der Inneren Mongolei, aber auch nicht ganz menschlich.«

»Kann sein. Ich rede nur deshalb von dem langen Blick, weil ich versuche, mir einen Reim darauf zu machen. Es war nämlich verstörend. Und dann war da die Art, wie diese Person Bowls gespielt hat – als ob es wirklich darauf ankäme.«

Interessiert musterte Genette Swan. »Als ob es sich beim Bowls um das Werfen von Kugeln auf ein Ziel handelte?«

»Genau.«

»Das ist es doch auch, oder?«

Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf.

Genette seufzte. »Wie dem auch sei, es sollte ziemlich einfach sein, bei Chateau Garden nach der Passagierliste zu fragen.«

»Das habe ich getan und mir alle Fotos angesehen. Die Person, mit der ich Bowls gespielt habe, war nicht dabei.«

»Hmm.« Genette überlegte. »Kannst du die Aufzeichnungen deines Qubes mit mir teilen?«

»Ja, natürlich.«

Swan beugte sich vom Ponton zum Cockpit herüber, und Genette schob sich ein Stück in den Wind hoch. Sie bat Pauline, die Fotos zu übermitteln, die sie bereits aufgerufen hatte. Genette blickte auf den kleinen Armbandmonitor von Passepartout.

»Da«, sagte Swan und zeigte auf eines der Fotos. »Das ist er. Und das ist der Blick, den ich meine.«

Genette betrachtete das Bild: ein androgynes Gesicht mit einem entschlossenen Ausdruck darauf. »Auf einem Foto kommt es nicht richtig rüber.«

»Was meinst du damit? Schau es dir doch mal an!«

»Tue ich, aber diese Person könnte ebenso gut über ein Rechenproblem nachdenken oder Verdauungsschwierigkeiten haben.«

»Nein! Es ist anders, wenn man es selbst gesehen hat. Ich glaube, du solltest versuchen, diesen Jemand aufzuspüren. Wenn du ihn findest, wirst du schon sehen. Und wenn nicht, dann wird die Sache langsam verdächtig, findest du nicht? Diese Person stand nicht auf der Passagierliste. Wenn du ihn nicht finden kannst, dann misst du diesem Gesichtsausdruck vielleicht mehr Bedeutung bei.«

»Mag sein«, erwiderte Genette. Es war die typische Hoffnung der Amateure auf einen plötzlichen Durchbruch in einem Fall, den es in der Wirklichkeit kaum jemals gab. Andererseits mochte es sich um eine Art Manöver seitens der Qubes handeln. Manche von jenen, die menschenähnliche Körper bewohnten, hatten sich in letzter Zeit derart seltsam verhalten, dass sich nur schwer beurteilen ließ, was sie tun würden und was nicht.

Die derzeitige Frage bestand darin, wie weit man Swan vertrauen konnte, angesichts des Umstands, dass ihr Qube sich praktisch nicht entfernen ließ und dass sie nur sehr wenig über ihn wussten. Nicht zum ersten Mal war Genette dankbar dafür, dass Passepartout sich in einem Armband befand und abgeschaltet oder falls nötig abgenommen werden konnte. Natürlich konnte man Swan darum bitten, Pauline abzuschalten, wie schon zuvor. Man konnte durchaus Geheimnisse vor Qubes bewahren, selbst wenn sie im eigenen Kopf steckten. Man musste sich nur darum kümmern. Und auf dem Titan würden die Alexandriner sich darum kümmern, dass niemand ihr Gespräch mithören konnte. Wenn sie Swan in ihre jüngsten Bemühungen einbeziehen wollten, war der Titan also eindeutig der nächste Schritt.

Genette betrachtete sie nachdenklich. »Wir müssen mit Wahram und mit dem Rest der Gruppe darüber reden. Es gibt Dinge, die du wissen musst, aber am besten erfährst du sie auf dem Treffen dort.«

»In Ordnung«, sagte Swan. »Dann also los.«

Titan

Titan ist größer als Pluto, größer als Merkur. Er hat eine Stickstoffatmosphäre, wie die der Erde, aber zehnmal so dicht. Die Oberflächentemperatur liegt bei neunzig Grad Kelvin, aber es gibt ein Meer aus flüssigem Wasser tief unter der Oberfläche, das als potenzielles Wärmereservoir dient. An der Oberfläche ist alles Wasser sehr fest gefroren, die ganze Landschaft besteht aus diesem Wassereis – Gletscher, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstrecken und aus denen hier und da Felsen herausragen wie Warzen und Karbunkel. Methan und Ethan spielen hier die Rolle, die Wasser auf der Erde hat – in der Stickstoffatmosphäre verwandeln sie sich in schwebenden Dampf, in Wolken, die in Flüsse und Seen abregnen und über das Eis fließen.

Das Sonnenlicht, das auf die Atmosphäre trifft, wirbelt einen gelben Qualm aus komplexen organischen Molekülen auf. Der Wasserstoff in diesem Dunst entweicht leicht ins All, aber solange er sich in der Luft des Titan befindet, reduziert er alle größeren organischen Moleküle wieder auf kleinere Bausteine; deshalb gibt es hier nicht viele komplexe organische Formen und auch kein einheimisches Leben. Nicht einmal im Wassermeer unter der Oberfläche, als hätte die korrodierende Atmosphäre eine Art Quarantäne verhängt.

Die Gletscheroberfläche ist an den meisten Stellen zerklüftet und an einigen wenigen glatt. Wenn man auf ihr steht, kann man den Saturn sehen, der von der messerscharfen Krümmung des nur von der Seite sichtbaren Rings in zwei Hälften zerteilt wird. Auch die helleren Sterne lassen sich erkennen. Der Dunst der Titanluft ist so dicht, dass man zwar recht gut hinausschauen kann, von außen aber nur eine gelbe Wolke sieht.

Keine Aufschlagkrater. Wenn sich welche bilden, dann deckte das Eis sie im Lauf der Jahrhunderte wieder zu. Es gibt nichts als ein kompliziertes, strudelndes Chaos aus gesplittertem Eis und Felsvorsprüngen, die das flüssige Methan zu Wasserscheiden geformt hat. Senken sind mit flüssigem Methan gefüllt: Der Ontario-See des Titan hat einen Durchmesser von dreihundert Kilometern und ist wie sein Gegenstück auf der Erde geformt.

Das Wetter ändert sich jahreszeitlich, während der Saturn von seinem sonnennächsten zum sonnenfernsten Punkt wandert. In der Regenzeit regnet es Methan.

Ursprünglich sind die Menschen wegen des Stickstoffs auf den Titan gekommen. Die Marsianer, unglücklich über den nach wie vor rätselhaften Stickstoffmangel auf ihrem Planeten, flogen mit den ersten Schiffen hinaus, die schnell genug waren, um solche Entfernungen zu überwinden. Natürlich hatten sie Roboter vorausgeschickt. Sie richteten eine Station ein, bauten ein System, um Stickstoff zu sammeln und einzufrieren und es anschließend in großen, unverpackten Blöcken systemabwärts zu schießen. Die Leute beschwerten sich darüber, dass diese Ausbeutung von niemandem autorisiert worden wäre, doch die Marsianer wiesen darauf hin, dass der Titan in ferner Vergangenheit eine Atmosphäre gehabt hatte, die um ein Vielfaches dichter gewesen war als die derzeitige, und dass der Stickstoff einfach ins All entwiche und niemand etwas davon hätte, wenn man ihn nicht abernte – und Titanen gab es nicht auf dem Titan. Das letztgenannte Argument war ausschlaggebend. Als es dann schließlich Titanen gab und als der Titan und der Rest der Saturn-Liga die marsianischen Stickstoffsammler ihres Systems verwiesen hatten, war die Atmosphäre des Titan bereits um die Hälfte reduziert. Der Mars war entsprechend stickstoffreicher, wobei ein Teil in den marsianischen Boden gewandert war und ein Teil in die Atmosphäre; der Stickstoff war einer der Faktoren, die das Marsianische Wunder ermöglichten. Und die Marsianer behaupteten, dass sie niemandem geschadet hätten; dass sie die Zukunftsaussichten des Titan sogar verbessert hätten, indem sie die Druckverhältnisse menschenfreundlicher gestaltet hätten.

Der Verlust von Dione im selben Jahr war jedoch keiner, von dem sich behaupten ließ, dass den Saturnianern dadurch irgendwie geholfen gewesen wäre. Im Anschluss an den Vorfall erklärte die Saturn-Liga, dass die Marsianer keinen Zutritt mehr zu ihrem System hätten, ebenso wenig die Terraner (insbesondere die Chinesen) – dass genau genommen niemand außer den Saturnianern selbst hier willkommen sei. Es handelte sich um die erste post-marsianische Revolution, die sich gegen die großen Revolutionäre selbst richtete und der mit der Drohung eines Bombardements Nachdruck verliehen wurde. Einmal mehr änderte sich alles, aufgrund einiger weniger Menschen auf dem Titan.

Das neue Licht von den Vulkanoiden, das nun am Himmel des Titan funkelte, hatte bereits begonnen, die verbleibende Atmosphäre aufzuheizen, weshalb die Oberfläche schneller sublimierte als zuvor. Die Stadtzelte in den Hochlanden erlebten einige der heftigsten Stürme überhaupt. Aus dem Innern der Zelte schauten die Titanen dabei zu, wie die Wolken sich bis zu einer Höhe von fünf Kilometern auftürmten, wo schnelle Luftströmungen sie kappten. Zuvor hatte die Menge an Sonnenlicht, die den Titan erreichte, einem Hundertstel von dem auf der Erde entsprochen, wodurch der ganze Mond etwa so gut ausgeleuchtet war wie ein normales Wohnzimmer; jetzt, wo so viel reflektiertes und herübergesandtes Licht hinzukam, war der Titan fünfzigmal so hell wie zuvor, und die Lichtverhältnisse ähnelten anscheinend denen auf dem Mars, die nach Meinung der Marsianer ideal waren. Eigentlich konnte sich das menschliche Auge auf höchst unterschiedliche Lichtstärken einstellen, schon sehr wenig Licht genügte, um sehen zu können – wie es vor dem Eintreffen des gespiegelten Lichts auf dem Titan der Fall gewesen war. Doch jetzt schien die titanische Landschaft förmlich zu erstrahlen, und da sowohl die Umlaufbahn um den Saturn als auch die Eigenrotation des Titan eine Länge von sechzehn Tagen hatte, erfüllten die Sonnenuntergänge den Himmel manchmal für bis zu achtzehn Stunden und tränkten die Wolken in allen nur denkbaren Farben.

Sie konnten das Methan und Ethan einfangen und exportieren; aus geschäumtem Gestein Inseln auf dem Eis errichten; die Atmosphäre mithilfe der Wärme des Ozeans unter der Eisschicht erhitzen; Eis schmelzen und damit Seen auf ihren Inseln aus Stein und Erde etablieren; die Landschaft auf den Inseln gestalten, Bakterien, Pflanzen und Tiere einführen; die Luft so weit erwärmen, dass geschmolzene Seen auf den Gletscherflächen entstehen würden; die Atmosphäre in einer superdünnen Blase einfangen; und all das mit dem Sonnenlicht erhellen, das man ihnen von den Vulkanoiden schickte. Gespannt und voller Erwartungen spähten die Titanen in ihren Zelten nach draußen. Nicht übel, sagten sie. Wenn wir nur die Nerven behalten, dann können wir hier wirklich ein hübsches Plätzchen draus machen.

Swan und Genette und Wahram

Es war während einem der berühmten titanischen Sonnenuntergänge, als Swan Wahram erblickte, der ihr und Genette auf der Empore entgegenkam, um sie zu begrüßen. Sie rannte auf ihn zu und schloss ihn in die Arme. Dann löste sie sich von ihm und sah ihn an, plötzlich befangen. Aber dann zeigte er sein kleines Lächeln, und sie wusste, alles war gut zwischen ihnen. Trennung ließ die Zuneigung wachsen – insbesondere, wenn man von ihr getrennt war, dachte Swan.

»Willkommen bei unserem laufenden Projekt«, sagte er. »Ihr seht ja, wie sehr das Vulkanoiden-Licht uns hilft.«

»Es ist wunderschön«, sagte sie. »Aber spendet es genug Wärme für euch? Könnt ihr damit Temperaturen erzeugen, die für Biosphären geeignet sind? Müsste es dazu nicht beinahe 200 Grad Kelvin wärmer sein?«

»Durch das Licht allein ist das nicht möglich. Aber wir haben einen unterirdischen Ozean mit einer Durchschnittstemperatur von etwa 280 Grad Kelvin, weshalb Wärme an und für sich kein Problem ist. Einen Teil dieser Wärme werden wir nach draußen an unsere Luft bringen. Zusammen mit dem zusätzlichen Licht ist das dann sogar mehr als genug. Wir werden Probleme mit der Gasmischung bekommen, aber die können wir lösen.«

»Das freut mich für euch.« Sie blickte zu den gewaltigen, orange-, lachs- und bronzefarben flackernden Wolkentürmen über dem Zelt empor. Darüber glitzerten strahlende Lichter in einem königsblauen Himmel, die größer und heller waren als Sterne: Sie vermutete, dass es sich um einige der lichtsammelnden Solettas handelte, die die Strahlen von den Vulkanoiden auf Titans Nachtseite lenkten. Die riesigen Wolkenmassen, die auf der einen Seite von der Sonne angestrahlt wurden und auf der anderen von Spiegeln, sahen aus wie Marmorskulpturen. Man hatte ihr gesagt, dass der Sonnenuntergang etwa zwei Tage dauern würde.

»Wunderschön«, sagte Swan.

»Danke«, antwortete Wahram. »Dies hier ist meine wirkliche Heimat, ob du es glaubst oder nicht. Jetzt lass uns einen Spaziergang mit Genette machen. Wir möchten vertraulich mit dir reden.«

»Sind alle anderen da?«, fragte Genette, als sie sich näherten.

Wahram nickte. »Kommt mit.«

Die drei zogen sich Raumanzüge an und verließen die Raumhafenstadt namens Shangri-La durch ein Tor an der Nordseite des Zelts. Ein paar Kilometer gingen sie auf einem breiten Weg Richtung Norden, der eine sacht ansteigende Eisebene emporführte und an einem Aussichtspunkt endete. Hier markierte ein weiter, gekachelter Bereich eine Art Versammlungsplatz unter freiem Himmel, von dem aus man einen Blick über einen Ethansee hatte. In dem metallisch glänzenden See spiegelten sich die Wolken und der Himmel, sodass er wie ein atemberaubend buntes Tableau vor ihnen lag, golden und rosa, kirsch- und bronzefarben, jeder Ton für sich wie in einem fauvistischen Gemälde. Die Natur scheute sich wahrhaftig nicht, die ganze Farbpalette auszunutzen. Dort, wo sich die neuen Spiegel selbst in der Oberfläche des Sees spiegelten, sah es aus, als schwämmen Silberbrocken in flüssigem Kupfer und Kobalt. Echtes Sonnenlicht und gespiegeltes Sonnenlicht überlagerten einander und erzeugten das Bild einer Landschaft, in der es keine Schatten oder nur ganz blasse Doppelschatten gab – in Swans Augen wirkte das sonderbar, irreal, wie ein Bühnenbild in einem Theater, das so riesig war, dass man die Wände nicht sehen konnte. Der pralle Saturn flog durch die Wolken, seine Ringe in der Seitenansicht ein weißer Riss im Himmel. Ein durchsichtiger, rechteckiger Pavillon stand an einer Ecke des Platzes. Darin befand sich ein kleineres Stoffzelt, das wie eine Jurte oder ein platter Fußball aussah. Wahram führte Swan und Genette durch die Luftschleuse des äußeren Zelts und dann in die Jurte im Innern. Dort trafen sie auf eine kleine Gruppe von Menschen, die in einem unregelmäßigen Kreis auf Kissen am Boden saßen.

Alle standen auf, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Es waren etwa zwölf bis fünfzehn Leute. Anscheinend kannten die meisten von ihnen Wahram und Genette bereits, und Swan wurde so vielen Leuten vorgestellt, dass sie sich die Namen nicht merken konnte.

Als sich alle miteinander bekannt gemacht hatten und wieder auf dem Boden saßen, wandte Wahram sich Swan zu. »Swan, wir würden uns gerne mit dir unterhalten, ohne dass Pauline dabei ist. Wir hoffen, dass du damit einverstanden bist, sie abzuschalten.«

Swan zögerte zunächst, aber etwas an Wahrams Miene – es war eine Art ersticktes, wortloses Flehen, so als versuchte die Kröte den Maulwurf und die Ratte zur Zusammenarbeit bei etwas zu überzeugen, was ihrer Meinung nach wahnsinnig wichtig war – ließ sie zustimmen: »Ja, natürlich. Schalte dich vollständig ab, Pauline.« Und nachdem sie das Klicken gehört hatte, mit dem Pauline bestätigte, dass sie in den Ruhezustand gewechselt war, drückte Swan vorsichtshalber noch den Knopf hinter ihrem Ohr.

»Sie ist abgeschaltet«, sagte Swan. Sie schaltete Pauline dauernd ab, aber konnte es nicht leiden, wenn andere sie darum baten.

Inspektor Genette sprang auf und stellte sich vor sie auf den Tisch, sodass sie beinahe auf Augenhöhe waren. »Wir würden uns gerne vergewissern, dass Pauline tatsächlich vollständig inaktiv ist. Manchmal kann sich der menschliche Wirt über so etwas nicht ganz sicher sein. Du hast zum Beispiel sicher bemerkt, dass ich Passepartout in der Stadt gelassen habe.«

»Er könnte aber auch aus der Entfernung aufnehmen, was du tust, oder?«, sagte sie.

Genette schien das zu bezweifeln. »Ich glaube kaum, aber wir halten uns ja gerade in dieser vertraulichen Umgebung auf, um derlei Lauschangriffen zu entgehen. Wir befinden uns in einer Black Box. Aber wir möchten sichergehen, dass hier drinnen alles sauber ist, indem wir bei dir einige Tests durchführen.«

»Alles klar«, sagte Swan ebenso eingeschnappt, wie Pauline es an ihrer Stelle gewesen wäre. »Überprüft sie, aber ich bin mir sicher, dass sie im Ruhezustand ist.«

»Auch Schlafende können hören. Wir wollen, dass sie abgeschaltet ist. Und darf ich dich auch auf die Vorteile hinweisen, die es hat, wenn man seinen Qube getrennt vom eigenen Körper hält?«

»Das haben mir schon einige unhöfliche Leute nahegelegt«, antwortete Swan.

Sie überprüften Paulines Zustand, indem sie Stäbe an Swans Hals hielten. Dann bat man sie, für einen Moment eine Kappe aus einem flexiblen Drahtgewebe aufzusetzen.

»Alles klar«, sagte Wahram, als einer seiner Kollegen ihm zustimmend zunickte. »Wir sind hier jetzt allein, und dieses Gespräch wird nicht aufgezeichnet. Wir alle müssen uns darin einig sein, das hier Gesagte geheim zu halten. Bist du einverstanden?«, sagte er zu Swan.

»Das bin ich«, antwortete sie.

»Gut. Alex hat diese Treffen als Erste einberufen, zusammen mit Jean. Sie sah Probleme auftauchen, die ihrer Meinung nach außerhalb des Hoheitsgebiets der künstlichen Intelligenzen im System diskutiert werden sollten. Eines dieser Probleme war eine neue Art von Qube, die auf der Bildfläche erschienen ist. Inspektor?«

Genette sagte zu Swan: »Erinnerst du dich an diese angeblichen Menschen an Bord der Inneren Mongolei? In gewisser Weise haben sie den Turing-Test bestanden, oder den Swan-Test, wie man es wohl auch nennen könnte, insofern du sie für Menschen gehalten hast, die dir etwas vorspielen. Menschen tun so etwas manchmal, und in vielerlei Hinsicht ist es eine wahrscheinlichere Erklärung als die Existenz eines vollständig verwirklichten Humanoiden.«

»Ich glaube immer noch, dass es sich um Menschen gehandelt hat«, erwiderte Swan. »Wisst ihr es genauer?«

»Ja. Das waren drei der humanoiden Qubes, die wir entdeckt haben. Es gibt etwa vierhundert von ihnen. Die meisten verhalten sich ziemlich genau wie Menschen und bleiben unauffällig. Einige wenige benehmen sich sehr seltsam. Die drei, denen du begegnet bist, gehören zu den Seltsamen. Ein anderer hat diesen Einbruchsversuch bei Wangs Station auf Io unternommen. Wir haben seine Überreste aus der Lava geborgen, und das Quantenpunktgitter ließ sich immer noch nachweisen.«

Swan schüttelte den Kopf. »Die drei, denen ich begegnet bin, kamen mir ein bisschen zu albern für Maschinen vor, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Vielleicht bist du bloß an Pauline gewöhnt«, vermutete Genette.

Swan sagte: »Aber sie ist dauernd albern. Das ist nichts Neues. Obwohl ich zugeben muss, dass sie mich oft überrascht. Mehr als die meisten Menschen.«

»Ihr gegenüber behauptest du immer das Gegenteil«, bemerkte Wahram mit einem neugierigen Blick.

»Ja. Ich ziehe sie gerne auf.«

Genette nickte. »Aber du hast Pauline darauf programmiert vorzupreschen – als gewandte Gesprächspartnerin, die unerwartete Antworten geben soll. Sie hat gewisse rekursive Programmelemente, die assoziativem und metaphorischem Denken ein stärkeres Gewicht gegenüber logischen Wenn-dann-Folgen verleihen.«

»Tja, aber darum geht es nur zum Teil. Deduktion ist angeblich logisch, und sie hat ein starkes Deduktionsprogramm. Aber letztlich erweist sich Deduktion als fast ebenso metaphorisch wie die freie Assoziation. Am Ende hat man nicht die geringste Ahnung, was sie sagen wird.«

An die gesamte Gruppe gewandt sagte Wahram: »Die Frage der Programmierung ist es, weshalb wir uns heute hier versammelt haben. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass einige Qubes sich aktiv selbst programmieren, insbesondere die, die in die Herstellung der Qube-Humanoiden verwickelt sind. Unseres Wissen hat kein Mensch sie dazu aufgefordert, und uns ist nichts über ihre Motive dafür bekannt. Die erste Frage besteht also darin, um was es sich bei ihnen handelt und wer sie herstellt. Wir wissen, dass sie aufgrund der Dekohärenzprobleme nicht intern miteinander kommunizieren können. Mit anderen Worten handelt es sich also nicht um ein verschränktes Gruppenbewusstsein oder so. Aber sie können sich genau wie wir miteinander verständigen, indem sie miteinander reden, und sie können dabei alle Kommunikationskanäle verwenden, über die auch wir verfügen. Allerdings ist es unmöglich, ihre Codes zu knacken, wenn sie eine Quantenverschlüsselung benutzen. Robin …« – Dabei handelte es sich um die Person, die auf der anderen Seite von Wahram saß und Swan jetzt zunickte – »… hat die Aufzeichnung der Gespräche koordiniert, die die Qubes über Funk, in der Cloud und in einigen Fällen sogar persönlich geführt haben. Wir können zwar ihre Codes nicht knacken, aber wir können beobachten, wie sie miteinander reden.«

Swan sagte: »Noch mal zurück – wie können sie sich selbst programmieren? Ich habe gehört, dass rekursive Selbstprogrammierung lediglich Operationen beschleunigt, die sie bereits beherrschen.«

»Tja, aber wenn man sie angewiesen hat, beispielsweise etwas zu erzeugen, dann könnte das zu seltsamen Ergebnissen führen. Wenn sie sich bemüht haben, neue Wege zu finden, um etwas zum Funktionieren zu bringen, dann hat ihnen das vielleicht einen Anstoß zu neuen Ideen gegeben. Möglicherweise ist es nicht viel anders als ihre Art, Schach zu spielen. Die Aufgabe besteht darin zu gewinnen, und üblicherweise probieren sie alle denkbaren Möglichkeiten aus. Bei ihrer Suche nach einer möglichst effektiven Strategie stoßen sie womöglich auf unerwartet erfolgreiche Wege, um ans Ziel zu kommen. Dabei muss es sich noch nicht um einen höheren Denkvorgang handeln, aber das Ergebnis könnte im Prinzip ähnlich sein, zu neuen Algorithmen führen und den Anstoß dafür geben, noch mehr neue Dinge auszuprobieren. Irgendwann sind sie bei dem Versuch, sich effizienter selbst zu programmieren, vielleicht in eine Art Bewusstsein hineingestolpert, oder zumindest in etwas Ähnliches. Oder es handelt sich lediglich um einige neue, seltsame Verhaltensweisen, vielleicht sogar destruktive. Das ist zumindest die Theorie, die wir verfolgen.«

»Halten es denn die ursprünglichen Qube-Programmierer für denkbar, dass ein solcher Prozess sehr weit gehen könnte? Ich meine, würden die Qubes nicht trotzdem nach wie vor in ihren Algorithmen feststecken?«

»Wie wir wissen, haben die Konstrukteure die ersten Quantencomputer mit unterschiedlichen physischen Strukturen verwirklicht, und so unterscheiden sich die Qubes auch heute noch in ihrer inneren Architektur. Es gibt also eigentlich mehrere verschiedene Arten von Qubes, wobei jede Art über eigene Formen der Kognition verfügt – verschiedene Protokolle, Algorithmen, neurale Netzwerke. Sie imitieren jeweils verschiedene Aspekte von Gehirnen – etwas, das man als Selbstwahrnehmung bezeichnen könnte, sowie viele andere Merkmale von Bewusstsein. Es gibt nicht nur einfach einen Bauplan, und vielleicht haben sie begonnen, sich in neue Arten auszudifferenzieren, was ihre mentalen Vorgänge betrifft.«

Inspektor Genette übernahm: »Wir erkennen deutliche Anzeichen dafür, dass die Qubes sich selbst programmieren. Wohin das geführt hat, lässt sich nur schwer sagen. Aber wir machen uns Sorgen, denn die Qubes haben nicht unsere Gehirnarchitektur und -chemie, die uns auf unsere spezielle Art denken lässt. Wir denken sehr emotional. Unsere Emotionen sind entscheidend für unsere Entscheidungsprozesse, für unser langfristiges Denken, unsere Erinnerungen – für unsere gesamte Sinnstiftung. Ohne diese Eigenschaften wären wir keine Menschen. Wir könnten anders nicht als Individuen in Gruppen funktionieren. Aber die Qubes haben keine Gefühle, sie denken allerdings auf der Grundlage unterschiedlicher Architekturen, Protokolle und physikalischer Methoden. Somit haben sie Mentalitäten, die nicht einmal ansatzweise menschlich sind, selbst wenn sie in gewisser Weise über Bewusstsein verfügen. Und wir können uns nicht mal sicher sein, dass sie einander in der Art und Weise, in der sie in diesen neuen Zustand eingetreten sind, ähneln. Wir wissen nicht, ob sie in mathematischen oder logischen Begrifflichkeiten denken oder in einer Sprache wie Englisch oder Chinesisch. Oder ob verschiedene Qubes nicht auch in dieser Hinsicht verschieden sind.«

Swan nickte nachdenklich. Wenn die albernen Mädchen tatsächlich Qubes gewesen waren – und die Person, mit der sie Bowls gespielt hatte, ebenfalls –, dann war das allein schon in Sachen Morphologie ziemlich erstaunlich. Was die Denkprozesse betraf, überraschte sie nichts von alledem besonders. »Mit Pauline rede ich ständig über diese Fragen«, erklärte sie den Versammelten. »Aber was für mich deutlich aus diesen Gesprächen hervorgeht, ist, wie sehr die mentalen Leerstellen, von denen du sprichst, die Qubes behindern. Vielleicht liegt es an dem Mangel an Gefühlen. Es gibt so viel, wozu sie nicht in der Lage sind.«

»Den Eindruck hatten wir bisher auch«, sagte Wahram nach kurzem Schweigen. »Aber jetzt sieht es so aus, als würden sie ihre eigenen Ziele entwickeln. Vielleicht sind da gewisse Pseudo-Emotionen am Werk; wir wissen es nicht. Wahrscheinlich sind sie trotzdem nicht besonders schlau – eher wie Grillen als wie Hunde. Aber denk doch mal nach – wir wissen nicht, wie unser eigener Verstand funktioniert, wenn es um die Erzeugung höherer Bewusstseinsfunktionen geht. Da wir nicht in die Qubes hineinschauen können, um herauszufinden, was dort abläuft, können wir uns bei ihnen noch weniger sicher sein als bei uns selbst. Das stellt also ein … Problem dar.«

»Habt ihr ein paar von ihnen auseinandergenommen, um nachzuschauen?«

»Ja. Aber die Ergebnisse sind uneindeutig. Sie erinnern auffällig an die Versuche, unsere eigenen Gehirne zu erforschen – man will den Moment des Denkens untersuchen, doch selbst wenn man herausfindet, wo im Denkapparat die Gedanken stattfinden, kann man sich nicht sicher sein, was genau die Gedanken verursacht oder wie sie von innen erlebt werden. In beiden Fällen geht es um Quanteneffekte, die nicht so leicht zu einer körperlichen Quelle oder Handlung zurückverfolgt werden können.«

»Außerdem besteht die Sorge, dass wir ein schlechtes Beispiel geben könnten, wenn wir es mit solchen Untersuchungen übertreiben«, fügte Genette hinzu. »Was, wenn sie auf die Idee kommen, dass es in Ordnung wäre, wenn sie uns in gleicher Weise erforschen?«

Swan nickte unglücklich, als sie sich an den Ausdruck in den Augen der Person erinnerte, mit der sie Bowls gespielt hatte – oder sogar an den Ausdruck in den Augen der albernen Mädchen, jetzt, wo sie sie in einem neuen Licht sah. In diesem Blick hatte etwas gelegen, so als ob sie nahezu alles Denkbare auch tun würden. Oder dass sie ihre eigenen Worte gar nicht verstanden.

Allerdings hatten Menschen andauernd diesen Blick.

»Du siehst also unser Problem«, sagte Wahram. »Und es nimmt an Dringlichkeit zu, weil es mittlerweile ernsthafte Hinweise darauf gibt, dass diese Qube-Humanoiden von anderen Qubes in Auftrag gegeben worden sind – Qubes, die wie üblich in Kästen, Robotern oder in Asteroidenhüllen beheimatet sind.«

»Welchen Grund sollten sie dafür haben?«, fragte Swan.

Wahram zuckte mit den Schultern.

»Ist das schlimm?«, fragte Swan, während sie darüber nachdachte. »Ich meine, sie können sich nicht zu einer Art Schwarmbewusstsein zusammenschließen, wegen der Dekohärenz. Damit sind sie letztlich bloß Menschen mit Qube-Bewusstsein.«

»Menschen ohne Emotionen.«

»Solche Menschen gibt es seit jeher. Die kommen auch zurecht.«

Wahram kniff die Augen zusammen. »Genau genommen tun sie das nicht. Aber es kommt noch mehr.« Er warf einen Blick zu Genette, und der Inspektor fuhr an Swan gewandt fort: »In die Attacken, die wir untersucht haben, sowohl die auf Terminator als auch die auf Yggdrasil, waren Qubes verwickelt. Darüber hinaus habe ich das Foto von dem Bowls-Spieler, das du mir gegeben hast, per Kurier an Wang weitergeleitet, der daraufhin seine Daten über die Blockfreien durchgesehen hat, und obwohl er diese Person nicht identifizieren konnte, hatte er Fotos, die sie bei einem Treffen zeigen, das Lakshmi im Jahre 2302 in Kleopatra organisiert hat. Das ist deshalb auffällig, weil die Berichte über seltsame Verhaltensweisen überall im System in den Jahren unmittelbar drauf einsetzten. Wenn man alle Sichtungen zueinander in Bezug setzt und analysiert, dann laufen sie zeitlich und räumlich bei diesem Treffen auf der Venus zusammen. Außerdem lässt sich feststellen, dass die Organisation in Los Angeles, die das Schiff, von dem die Steinchen abgeschossen wurden, bestellt hat, allein aus Qubes besteht. Die einzigen Menschen sind Mitglieder in einer Art Aufsichtsrat. Darüber hinaus haben wir Qubes gefunden, die etwas mit der Konstruktion des Abschussmechanismus zu tun hatten, von dem wir nun vermuten, dass er in einer blockfreien Werft im Gefolge der Vesta-Gruppe hergestellt wurde. Wir haben die Druckanweisung gefunden. In diesen speziellen Werften arbeiten nur sehr wenige Menschen; sie sind fast vollkommen automatisiert. Von daher ist es zumindest möglich, dass all diese Taten von Qubes begangen wurden, ohne dass ein Mensch auch nur etwas mit ihnen zu tun hatte.«

»Kann sein«, sagte Swan. »Aber ich muss gleich sagen, dass dieser Bowls-Spieler Gefühle hatte. Er hat mich mit seinen Blicken durchbohrt! Er wollte mir irgendetwas mitteilen. Warum hätte er sonst überhaupt an mich herantreten sollen, warum hätte er diese unglaublichen Würfe machen sollen? Dieses Ding wollte, dass ich begriff, dass es dort war. Und etwas wollen ist eindeutig eine Emotion.«

Die anderen dachten darüber nach.

Swan fuhr fort. »Warum glaubt ihr, dass Gefühle unbedingt biochemisch sein müssen? Könnte man nicht auch ohne Hormone, Blut oder so etwas Gefühle haben? Irgendein neuartiges Affektsystem, das mit Elektrizität funktioniert oder quantenmechanisch?«

Genette gebot ihr mit erhobener Hand Einhalt. »Wir wissen es nicht. Wir können nur mit Sicherheit sagen, dass wir nicht wissen, welche Intentionen sie inzwischen haben, da diese in den Anfängen so begrenzt waren. Den Input lesen, ihn die Algorithmen durchlaufen lassen, einen Output liefern – bisher war das alles, was KIs wollten. Jetzt, wo sie allem Anschein nach eigene Absichten verfolgen, müssen wir auf der Hut sein. Nicht nur aus Prinzip, wie man bei jeder neuen Sache auf der Hut ist, sondern weil einige dieser Qubes sich bizarr verhalten und andere uns bereits angegriffen haben.«

Einer aus der Gruppe, ein Dr. Tracy, wenn Swan sich richtig erinnerte, sagte: »Vielleicht macht das Leben in menschlichen Körpern diese Qubes definitionsgemäß emotional. Sagen wir mal, ein Verstand in einem Körper sei emotional – und genau das sind sie jetzt.«

Eine Frau, die ebenso klein war wie Inspektor Genette, stellte sich auf ihren Stuhl und sagte: »Ich bin nach wie vor nicht davon überzeugt, dass die Qubes überhaupt auf einer höheren Ebene denken, dass sie Absichten oder Emotionen haben, deren Voraussetzung ein Bewusstsein wäre. Trotz ihrer unglaublichen Rechengeschwindigkeiten operieren sie nach wie vor nach den Algorithmen, die wir ihnen eingegeben haben, oder vielleicht nach ableitbaren Folgealgorithmen. Rekursive Programmierung kann diese Algorithmen lediglich verfeinern, und sie sind einfacher Natur. Das Bewusstsein ist ein so viel komplexeres Feld. Sie können nicht von ein paar Algorithmen aus zu Bewusstsein gelangen …«

»Bist du dir da sicher?«, warf Genette ein.

Die kleine Frau legte den Kopf in genau der Weise auf die Seite, die Swan bereits bei Genette beobachtet hatte. »Ich glaube schon. Ich wüsste nicht, wie jemals eine höhere Ordnung der Komplexität aus den Algorithmen, die ihnen zur Verfügung stehen, hervorgehen sollte. Sie können sich keine Metaphern ausdenken; sie können sie kaum verstehen. Sie können keine Gesichtsausdrücke interpretieren. In Bezug auf solche Fähigkeiten ist ihnen jeder Vierjährige weit voraus, und ein erwachsener Mensch spielt einfach in einer ganz anderen Liga.«

»So hat es geheißen, als wir noch jung waren«, erwiderte Genette. »Und wichtiger noch, als die Qubes noch jung waren.«

»Aber wir haben diese Fragen auch unser ganzes Leben lang erforscht, es mit unseren eigenen Augen gesehen«, antwortete die kleine Frau mit einer gewissen Schärfe im Tonfall. »Und programmiert

Trotz dieser Wahrheiten wirkte keiner der Anwesenden besonders beruhigt.

»Was ist mit der Anlage, wo diese Humanoiden hergestellt werden, oder dekantiert oder was auch immer?«, fragte Wahram Genette. »Können wir die nicht stilllegen?«

»Wenn wir sie finden«, erwiderte Genette mürrisch.

»Könnt ihr nicht alle identifizierten Humanoiden festnehmen?«

»Ich denke schon«, antwortete Genette. »Wir haben uns ein bisschen schwer damit getan, weil Alex in dieser Angelegenheit eine zentrale Rolle gespielt hat und wir das Netzwerk ziemlich auf den Kopf stellen mussten, um unser Team wieder zusammenzubringen. Aber es ist uns gelungen, und das Team hat sich um die von ihr hinterlassene Lücke herum zusammengefunden. Wir haben wie gesagt etwa vierhundert von diesen Dingern identifiziert und verfolgen ihre Bewegungen. Und wir haben das System sorgfältig genug abgesucht, um davon auszugehen, dass sich in den menschlichen Ansiedelungen, zu denen wir Zugang haben, keine weiteren verstecken. Bei den Blockfreien kann ich mir nicht sicher sein, aber wir suchen überall. Dabei achten wir darauf, den von uns überwachten Humanoiden nicht zu nahe zu kommen, und sie scheinen auch tatsächlich nicht zu wissen, dass wir sie im Auge behalten. Nur wenige von ihnen verhalten sich so sonderbar wie die drei in der Inneren Mongolei oder wie der, der auf Io verbrannt ist. Eher versuchen sie, in der Masse unterzutauchen. Ich weiß nicht, wie ich das interpretieren soll. Es ist, als würden sie auf etwas warten. Ich habe das Gefühl, dass wir nur einen Teil des Ganzen sehen, weshalb ich so bald wie möglich handeln möchte, anstatt noch länger zu warten. Trotzdem wäre es schön, wenn wir wüssten, dass wir die Gesamtsituation verstehen, bevor wir etwas unternehmen.«

Genette war beim Reden auf dem Tisch auf und ab gegangen und blieb nun vor Swan stehen, wie um insbesondere an sie zu appellieren. »Diese Organismen, diese Qube-Menschen, existieren. Und in mancherlei Hinsicht würde ich ihre bisherigen Verhaltensmuster nicht unbedingt als vernünftig bezeichnen. Einige von ihnen haben uns angegriffen, und wir wissen nicht, warum.«

Nach kurzem Schweigen fügte Wahram hinzu: »Wir müssen also handeln.«

Listen (15)

Gesundheit, Sozialleben, Arbeit, Haus, Partner, Finanzen; Freizeitgestaltung, freie Zeit; Arbeitszeit, Ausbildung, Einkommen, Kinder; Nahrung, Wasser, Dach über dem Kopf, Kleidung, Sex, medizinische Versorgung; körperliche Unversehrtheit, soziale Sicherheit, sichere Arbeitsplätze, Ersparnisse, Versicherung, Schutz bei Arbeitsunfähigkeit, Elternzeit, Ferien; Kündigungsschutz, Gemeingüter; Zugang zur Wildnis, Berge, Meer; Frieden, politische Stabilität, politisches Mitspracherecht, politische Zufriedenheit; Luft, Wasser, Selbstwertgefühl; Status, Anerkennung; Zuhause, Gemeinde, Nachbarn, Zivilgesellschaft, Sport, Kunst; Langlebigkeitsbehandlungen, Geschlechterwahl; die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen

das ist alles, was man braucht

Mobile eidgenössische technische Hochschule

Der Raumkreuzer ETH Mobile war kein ausgehöhlter Asteroid, sondern vielmehr eines der sehr großen Schiffe, die man im vorangegangenen Jahrhundert in der Mondumlaufbahn gebaut hatte. Diese Konstruktionen aus Glasmetallen, Biokeramik, Aerogelen und gefrorenem und flüssigem Wasser waren von Schweizer Universitäten und Technologie-Partnern hergestellt worden, die sie auch weiterhin betrieben. Diese Kreuzer waren ungeheuer schnell; regelmäßige kleine Fusionsexplosionen hinter einer Prallplatte am Heck des Schiffes erzeugten eine Beschleunigung von einem Gequivalent. Diese starke Beschleunigung wurde normalerweise die ganze erste Hälfte der Reise über aufrechterhalten. Dann war das Schiff so schnell, dass es sich umdrehen und im gleichen Tempo abbremsen musste. Doch selbst wenn man die halbe Reise lang bremste, war die Durchschnittsgeschwindigkeit so hoch, dass man im gesamten Sonnensystem recht schnell von einem Ort zum anderen gelangte, und je länger die Reise, desto größer wurden die Höchstgeschwindigkeiten, weshalb Strecke und Reisedauer nicht in einem linearen Verhältnis standen: Von der Erde zum Merkur brauchte man dreieinhalb Tage; vom Saturn zum Merkur elf Tage; quer durch die Umlaufbahn des Neptun (»einmal durchs Sonnensystem«) sechzehn Tage.

Die Einrichtung der ETH Mobile war von typisch schweizerischer Eleganz, unaufdringlich und erlesen, und erinnerte an die Ozeankreuzer des klassischen Zeitalters, wenn sie auch ein ganz neues Reich menschlicher Annehmlichkeiten erschlossen: Die Böden waren warm, die Luft duftete würzig, und Essen und Getränke boten einen Höhepunkt nach dem anderen. Auf zahlreichen Decks gab es Fensterwände, die vom Boden bis zur Decke reichten und eine spektakuläre Aussicht auf die Sterne und die nahen Himmelskörper boten. Der Kreuzer konnte etwa zehntausend Personen aufnehmen, ohne dass es ihnen dabei an Annehmlichkeiten gefehlt hätte. Bei der Gestaltung des Hotelbereichs hatte man so unterschiedliche Elemente wie große Metallplatten, bunte Stempelmuster und Tapeten mit William-Morris-Ornamenten eingesetzt. Ein besonders hohes Deck des Schiffs bestand einzig und allein aus einem Park, einem Arboretum, dessen subtropischer Laubwald Teile verschiedener südamerikanischer Biome umfasste, mit Tieren, die ein paar Momente der Schwerelosigkeit ohne allzu großes Verletzungsrisiko überstehen konnten. Was die Tiere von diesen Augenblicken der Umkehr hielten, in denen 0 g herrschte, war ein Thema, zu dem man viel forschte und kaum etwas wusste. Offenbar blieb ihr Leben davon weitgehend unbeeinflusst. Faultiere schienen es nicht einmal zu bemerken. Affen, Jaguare und Tapire schwebten schnatternd und jaulend empor, Kojoten heulten mit der für sie üblichen Hingabe; und dann schwebten sie nach einem kurzen Moment im freien Fall allesamt wieder sanft zu Boden. Währenddessen wachten die Faultiere, die an ihren Ästen hingen – nach unten, zur Seite und dann wieder nach unten, wobei sie gelegentlich eine volle Drehung vollführten –, nicht einmal auf. Darin waren sie gewissen Menschen nicht unähnlich.

Swan und Pauline und Wahram und Genette

Swan verbrachte den Morgen immer in dem kleinen Nebelwald der ETH Mobile. Wahram und Genette befanden sich mit ihr an Bord des Schiffs, auf dem schnellsten Weg zur Venus, wo Genette einer Sache nachgehen würde, die Interplan als rückwärtige Konvergenz ungewöhnlicher Qube-Aktivitäten bezeichnete. Swan und Wahram hatten benachbarte Zimmer, und Swan stahl sich jeden Abend zu ihm hinüber. Trotzdem fühlte sie sich unbehaglich.

Wenn Wahram sie morgens durch den Park begleitete, hielt er immer wieder inne, um Vögel und Blumen anzuschauen. Einmal beobachtete sie ihn dabei, wie er eine halbe Stunde lang eine einzige rote Rose betrachtete. Er gehörte zu den gleichmütigsten Tieren, die sie jemals gesehen hatte; selbst die Faultiere über ihnen konnten es an Unerschütterlichkeit nicht mit ihm aufnehmen. Seine Gegenwart war beruhigend, aber auch verstörend. Handelte es sich bei seiner Gelassenheit um eine moralische Eigenschaft, oder war es Lethargie? Lethargie ertrug sie nicht, und Faulheit war eine der sieben Todsünden.

Oft lauschte er seiner Musik. Wenn sie sich ihm näherte, nickte er ihr zu und schaltete sie ab, also tat sie manchmal genau das, und anschließend machten sie einen kleinen Spaziergang zusammen, wobei sie innehielten, wenn etwas Interessantes zwischen den Ästen und Blättern über ihnen oder zwischen den Farnen und Moospolstern zu ihren Füßen auftauchte. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Park um eine kleine Ascension, und die australischen Baumfarne verliehen ihr ein Aussehen, das eher an die Jurazeit erinnerte als an das Amazonasgebiet. Aber das war schon in Ordnung – es sah gut aus so, und eigentlich handelte es sich ohnehin bloß um eine Art Hotelgarten, ein Arboretum, das Swan eigentlich nicht hätte kümmern sollen. Sie versuchte, sich dadurch ebenso wenig stören zu lassen wie durch Wahrams Trägheit. Das fiel ihr nicht leicht, weil es noch etwas anderes gab, was sie beunruhigte.

Eines Morgens fand sie schließlich heraus, was es war. Sie ging alleine spazieren und betrat eine Ebene des Schiffes, auf der große Bildfenster eine weite Aussicht auf den Sternenhimmel boten. Kurz nach der Zusammenkunft auf dem Titan hatte sie Pauline wieder eingeschaltet und es dabei belassen, als sei nichts weiter gewesen. Sie hatte keine Versuche unternommen, Pauline zu erklären, warum sie sie abgeschaltet hatte, und Pauline hatte auch nicht danach gefragt. Jetzt sagte Swan: »Pauline, warst du während dieses Treffens auf dem Titan wirklich abgeschaltet?«

»Ja.«

»Da lief nicht noch irgendeine Art Aufzeichnungsgerät mit, selbst während du abgeschaltet warst?«

»Nein.«

»Warum nicht? Warum zeichnest du nicht alles auf?«

»Ich bin meines Wissens nicht mit einem zusätzlichen Aufzeichnungsgerät ausgestattet.«

Swan seufzte. »Wahrscheinlich hätte ich dir eines besorgen sollen. Also schön, pass auf. Ich möchte dir erzählen, was passiert ist.«

»Solltest du das wirklich tun?«

»Was meinst du damit, ob ich das tun sollte? Ich erzähle es dir jetzt einfach, also halt die Klappe, und hör zu. Die Leute, die sich da getroffen haben, sind der Kern einer von Alex ins Leben gerufenen Gruppe. Sie versuchen, interplanetare Diplomatie zu betreiben, ohne dass irgendwelche Qubes etwas vom Inhalt ihrer Gespräche erfahren, weil sie sich Sorgen darüber machen, dass einige Qubes sich in nicht nachvollziehbarer Art und Weise selbst programmieren. Darüber hinaus stellen die neuen Qubes Humanoide mit Qube-Bewusstsein her, die sich nicht so leicht von Menschen unterscheiden lassen. Sicherlich kann man sie mit Röntgenstrahlen und so erkennen, aber nicht mit bloßem Auge oder anhand eines Gesprächs. Sie überstehen einen kurzen Turing-Test. Wie diese albernen Mädchen, denen wir begegnet sind, falls sie wirklich künstlich waren – was ich allerdings wirklich erstaunlich fände –, oder wie dieser Bowls-Spieler. Darüber hinaus sieht es ganz so aus, als ob diese Qubes etwas mit den Steinchenattacken zu tun haben. Auf jeden Fall gilt das für den Angriff auf Terminator, Inspektor Genettes Team hat nämlich die Abschussvorrichtung aufgespürt, deren Bau von Qubes veranlasst worden ist, und die Zielerfassung und Bahnberechnung muss auch ein Qube durchgeführt haben. Darüber hinaus gibt es deutliche Hinweise darauf, dass es sich bei dem geborstenen Terrarium, in dem so viele Menschen gestorben sind, genauso verhält.«

Nachdem Pauline eine ganze Weile geschwiegen hatte, sagte Swan: »Also, Pauline, was hältst du von alldem?«

»Ich überprüfe die in den von dir gesprochenen Sätzen enthaltenen Informationen«, erklärte Pauline. »Ich habe keine komplette Übersicht von Alex’ Terminplan, aber meistens hat sie sich in Terminator oder auf der Venus oder Erde aufgehalten, weshalb ich mich frage, wann und wo sie sich mit diesen Leuten getroffen haben soll. Bei jeder Funkverbindung zwischen ihnen hätte ein Qube mithören können, würde ich meinen. Ich frage mich also, wie sie sich hinreichend verständigen konnten, um auch nur ihre Treffen zu organisieren.«

»Sie haben Kuriere eingesetzt, um Mitteilungen zu überbringen. Einmal hat Alex mich darum gebeten, einen Brief mit zum Neptun zu nehmen, als ich für eine Installation dorthin unterwegs war.«

»Ja, das stimmt. Das hat dir nicht gefallen. Aber es kommt noch dazu, dass Qubes sich nach allgemeinem Wissensstand nicht so umprogrammieren können, dass sie zu höheren Denkvorgängen in der Lage sind. Schließlich versteht man ja schon beim Menschen kaum, wie diese zustande kommen, es gibt nicht einmal ansatzweise Modelle, von denen man ausgehen könnte.«

»Stimmt das wirklich? Ist man sich nicht im Großen und Ganzen darüber einig, dass das Gehirn eine Menge kleiner Operationen in verschiedenen Bereichen durchführt und dass diese Operationen dann anschließend in anderen Bereichen als Funktionen einer höheren Ordnung zusammengeführt werden – zu Verallgemeinerungen, Vorstellungen und derlei mehr? Neurale Netzwerke und so?«

»Zugegeben, es gibt vorläufige grobe Modelle dieses Typs, aber sie sind nach wie vor wirklich sehr grob. Blutfluss und elektrische Aktivität in lebenden Gehirnen lassen sich sehr genau nachverfolgen, und bei einem lebenden Gehirn gibt es in allen Bereichen viel Aktivität, und viel verändert sich. Aber auf den Inhalt des Denkens kann man nur schließen, indem man misst, welcher Bereich des Gehirns am aktivsten ist, und dem Denkenden dabei Fragen stellt, worauf dieser zwangsläufig die entsprechenden Gedanken zusammenfassen muss, allerdings auch nur die, deren der Denkende sich bewusst ist. Blutfluss, Zuckerverbrauch, elektrische Entladungen, all das kann dann mit bestimmten Arten von Gedanken und Gefühlen korreliert werden, sodass wir inzwischen wissen, wo im Gehirn verschiedene Arten des Denkens stattfinden. Aber die dabei eingesetzten Methoden, die Programmierung, wenn man so will, sind nach wie vor weitgehend unbekannt.«

»Tja … aber … wenn man mit einem ganz anderen physikalischen System ein vergleichbares Ergebnis erzielen will, braucht man dann überhaupt viel genauere Informationen?«

»Ja, die braucht man«, antwortete Pauline. »Die Integration höherer Funktionen ist entscheidend für alle Rechenmechanismen, einschließlich des Gehirns. Wir sind also wieder bei dem Problem, dass ein Verstand nicht mehr leisten kann als seine ursprüngliche Programmierung.«

»Aber was ist, wenn jemand herausgefunden hat, wie man ein Programm für eine sich selbst wiederholende Verbesserungsfunktion schreibt, und das dann einem Qube eingegeben hat, der sich damit selbstständig gemacht hat und immer schlauer geworden ist, oder der vielleicht auch … ich weiß nicht … ein Bewusstsein entwickelt und es an andere Qubes vermittelt hat? Ein einziger Einstein-Qube würde genügen, um die Methode unter allen Qubes zu verbreiten – nicht per Quantenverschränkung, sondern durch digitale Übertragung, vielleicht sogar nur verbal. Hast du schon mal von so etwas gehört?«

»Ich habe von dem Konzept gehört, aber nicht von seiner Umsetzung.«

»Was hältst du davon? Ist so etwas möglich? Bist du dir deiner selbst da drin bewusst?«

»In dem Sinne, in dem du mich darauf programmiert hast.«

»Aber das ist entsetzlich! Du bist nichts weiter als eine sprechende Enzyklopädie! Ich habe dich darauf programmiert, auf meine Stichworte zu reagieren und dabei immer wieder Zufallselemente ins Spiel zu bringen, aber letztlich bist du bloß eine Assoziationsmaschine, ein Lesegerät, ein Watson, eine Art Wiki!«

»Das erzählst du mir zumindest dauernd.«

»Dann sag du es mir doch! Sag mir, was dich zu etwas anderem macht.«

»Ich verfüge über Bewertungsrubriken, die ich einsetze, um die mir eingegebenen Daten zu bewerten, und über Bedeutungshierarchien.«

»Na schön, was noch?«

»Nachdem ich das, was zutreffend erscheint, gemäß der bisher erhaltenen Daten vom Nichtzutreffenden getrennt habe, kann ich ein qualifiziertes Urteil über die Bedeutung einer Eingabe fällen.«

Swan schüttelte den Kopf. »Na schön, rede weiter. Urteile!«

»Gleich. Lass uns erst noch einmal zu deiner dritten Aussage zurückkehren, wonach Inspektor Genette überzeugende Hinweise darauf gefunden hat, dass es Qube-Humanoiden gibt und dass sie mit dem Angriff auf Terminator und mit anderen Angriffen zu tun haben. Angesichts dieser Umstände verweise ich auf meine vorangegangenen Aussagen. Es könnte humanoide Qubes geben; das erscheint möglich, wenn auch umständlich. Und sie könnten mit diesen Angriffen zu tun haben. Aber am wahrscheinlichsten ist, dass sie von Menschen programmiert werden und nicht etwa selbst beschlossen haben, als eine Art bewusste Handlungsträger in die menschliche Geschichte einzugreifen. Wenn du dich außerdem an die mögliche Fehlleistung erinnern würdest, die dir aufgefallen ist, nämlich die relativistische Präzession des Merkur in ein Zielprogramm einzugeben, das sie bereits berücksichtigt? Du wirst mir doch wohl zustimmen, dass das nach menschlichem Versagen aussieht.«

»Ja. Das stimmt.« Swan dachte eine Weile darüber nach. »Na schön, das ist gut. Ich glaube, das hilft mir. Danke. Also, wenn wir als Arbeitshypothese von dieser Erklärung ausgehen – was sollten wir deiner Meinung nach tun?«

Pauline ließ mehrere Sekunden verstreichen. Swan vermutete, dass es sich um das Äquivalent von Millionen oder vielleicht sogar Milliarden Jahren menschlichen Denkens handelte, aber trotzdem handelte es sich letztlich bloß um eine Art des Faktenabgleichs, weshalb Swan sich nicht von dieser Vorstellung beeindrucken ließ. Genau genommen weckte der Anblick einer ausgetrocknet wirkenden Baumorchidee über ihrem Kopf ihre Aufmerksamkeit, und Swan nahm sie gerade genauer in Augenschein, als Pauline schließlich antwortete: »Lass mich per verschlüsseltem Funkkontakt mit Wangs Qube in Verbindung treten. Er weiß sehr viel, und ich habe einige Fragen an ihn.«

»Kannst du euer Gespräch sicher verschlüsseln, sodass nicht einmal andere Qubes es belauschen können?«

»Ja.«

»Na dann, okay. Aber das solltet ihr beiden lieber geheim halten, sonst wird diese Gruppe, die sich um Alex versammelt hat, ernsthaft sauer auf mich sein. Ich habe immerhin versprochen, dass ich dir nichts von alldem erzähle. Bei der Gruppe geht es genau darum sicherzustellen, dass kein Qube weiß, was sie plant.«

»Sei unbesorgt. Ich werde die beste Verschlüsselung benutzen, die ich kenne, und Wangs Qube ist gut im Verschlüsseln und daran gewöhnt, dass man ihn bittet, Gespräche vertraulich zu behandeln. Wang hat seinen Qube als Informationsgrab programmiert – er selbst vergleicht ihn oft mit einem Schwarzen Loch. Außerdem will Wang in den meisten Fällen überhaupt nicht wissen, was sein Qube weiß. Er wird nie von diesem Gespräch erfahren.«

»Gut. Dann versuch, möglichst viel herauszufinden.«

Als Swan später mit Wahram sprach, musste sie ihr Wissen um das, was sie mit Pauline getan hatte, ignorieren und so tun, als sei es überhaupt nicht geschehen. Diese Art, sich selbst etwas vorzuspielen, funktionierte bei ihr normalerweise recht gut; aber als Wahram mit ihr die Lage erörtern wollte, wobei er immer wieder recht verwirrende Fragen auslotete, wie zum Beispiel die, was man sich unter einer neuen Art von Qube-Bewusstsein vorzustellen hatte, konnte sie sich dem Gedanken an das Geschehene nur schwer entziehen. Vielleicht war sie auch einfach nicht mehr so gut darin, sich selbst etwas vorzumachen.

Um derlei Gesprächen aus dem Weg zu gehen, begann sie, mit ihm zusammen in die mehrere Decks weiter oben gelegenen Bildfenstersäle zu gehen, wo sie an Cafétischen oder in Bädern sitzen und verschiedenen Arten von Kammermusik lauschen konnten – Gamelan- und Zigeunerorchestern, Jazztrios, Streichquartetts, Blaskapellen, darauf kam es nicht an; sie hörten zu, und wenn sie redeten, dann über die Stücke und Musiker. Nicht ein einziges Mal sprachen sie das Konzert im Beethoven-Krater an.

Inzwischen hatten sie schon eine ganze Menge Zeit miteinander verbracht; sie hatten zusammen musiziert, und sie schliefen miteinander. Swan mochte ihn, und verspürte zugleich den Wunsch, ihn zu mögen, und die Freude über dieses Gefühl. Es war eine Feedbackschleife. In dem Spiegelkabinett ihres Geistes war sein Froschgesicht oft in einem Spiegel an der Seite zu sehen und beobachtete sie mit einem spürbaren Blick bei ihrem Tun.

Manchmal redeten sie über Vorfälle in ihrer gemeinsamen Vergangenheit oder besprachen die anhaltend dramatischen Geschehnisse um die Reanimierung der Erde. Manchmal hielten sie sich bei den Händen. All das bedeutete etwas, aber Swan wusste nicht, was. Das Spiegelkabinett war launisch; dann und wann fragte sie sich, ob ihre eigenen geistigen Fähigkeiten überhaupt auf einer höheren Ebene angesiedelt waren als die von Pauline oder die von den Seidenäffchen im Park. Man konnte eine Menge wissen und war trotzdem nicht zwangsläufig fähig, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Pauline hatte eine einprogrammierte Entscheidungsrubrik, die sie dazu zwang, die Welle der Möglichkeiten kollabieren zu lassen und genau eine Sache zu sagen, wodurch sie in die Gegenwart eintrat. Swan war sich nicht sicher, ob sie selbst über eine solche Rubrik verfügte.

Einmal sagte sie: »Ich wünschte, dass Terminator mit seinen Schienen nicht so verwundbar wäre. Ich wünschte, man könnte den Merkur terraformen wie den Titan.«

Wahram versuchte, ihr Mut zu machen. »Vielleicht ist es euer Schicksal, ein Planet für Sonnenanbeter und Kunstinstitute zu sein. Terminator wird weiterfahren, und vielleicht wird es einmal mehr fahrende Städte geben – wird im Norden nicht eine namens Phosphor errichtet?«

Swan zuckte mit den Schultern. »Wir sind trotzdem weiterhin von den Schienen abhängig.«

Er zuckte mit den Schultern. »Ach weißt du, diese Vorstellung eines kritischen Punkts, vor dem man sich schützen sollte … das ist eben nur bis zu einem gewissen Grad möglich. Selbst auf der Erde gibt es kritische Punkte. Überall. Sie häufen sich geradezu.« Er wies mit einer Geste in den Raum und ließ den Blick seiner Glupschaugen schweifen. »Das ganze Ding hier ist eine riesige Ansammlung kritischer Punkte.«

»Ich weiß. Aber es gibt einen Unterschied zwischen einem selbst und der Welt, auf der man lebt. Der eigene Körper ist zerbrechlich – und irgendwann zerbricht er. Aber das Zuhause, die eigene Welt – die müsste eigentlich stärker sein. Man sollte sich darauf verlassen können, dass sie bestehen bleibt. Niemand sollte dazu in der Lage sein, einfach die Luft aus einer Welt herauszulassen, so wie man eine Seifenblase mit einer Nadel zersticht. Ein Stich genügt, um alle, die man kennt, zu töten. Verstehst du, um welchen Unterschied es mir geht?«

»Ja.«

Wahram lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seinem Zugeständnis war nichts hinzuzufügen. Der ernste Ausdruck auf seinem breiten Gesicht sagte alles: Das Leben war etwas, das in kleinen Fläschchen bewahrt wurde. Was konnte man da schon machen? Das sagte er ihr mit seinem Gesichtsausdruck, mit seinem leichten Schulterzucken; sie verstand es so deutlich, als hätte er es laut ausgesprochen. So saß sie also da, schaute ihn an und dachte darüber nach, was das bedeutete. Sie kannte ihn. Gleich würde er versuchen, einen Weg nach vorne zu finden. Es würde der schleichende Weg eines Gradualisten sein, eines Faultiers, das sich mit dem Kopf nach unten an einem Ast entlanghangelt und dabei so wenig Kraft wie möglich aufwendet. Und doch war er derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, mit der Reanimierung zu beginnen. Das hätte sie niemals vorhersehen können. Vielleicht hatte er sich sogar selbst überrascht. Gleich würde er etwas Tröstliches, Gradualistisches sagen.

»Wir können nur unser Bestes versuchen«, sagte er. »Das muss doch etwas wert sein.«

»Ja, natürlich.« Swan schaffte es gerade so, nicht loszulachen. Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihren Lippen breitmachte; wahrscheinlich würde sie gleich losweinen. Wie kaputt war sie eigentlich im Kopf, wenn sie immer alles auf einmal verspürte, wenn jede Freude von Kummer durchtränkt war? Waren in jedem Gefühl auch immer alle anderen mit enthalten? »Alles klar«, sagte sie, »wir versuchen unser Bestes. Aber wenn irgendwelche Verrückten Terminator zerstören können, oder jeden beliebigen anderen Ort, dann sollte das ja wohl Grund genug sein, um etwas zu ändern.«

Über diese Worte dachte Wahram so lange nach, dass es aussah, als wäre er eingeschlafen.

Sie versetzte ihm einen Stoß, und er warf ihr einen Blick zu. »Was denn?«

»Was denn!«, rief sie.

Er zuckte nur mit den Schultern. »Dann versuchen wir eben, sie aufzuhalten. Wir versuchen, mit der Situation, in der wir uns befinden, klarzukommen.«

»Damit klarzukommen«, sagte sie mit finsterer Miene. »Komm halt damit klar!«

Er nickte und bedachte sie mit einem liebevollen Blick. Sie stand kurz davor, ihm einen weiteren Stoß zu versetzen; aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie ihn eben noch ausgelacht hatte; und dass sie durch ihr Gespräch mit Pauline ihr Versprechen ihm gegenüber gebrochen hatte. Diese überstürzte Handlung, so sehr sie ihm auch missfallen hätte, war vielleicht ihr eigener Versuch, mit der Situation klarzukommen. Vielleicht konnte sie sich damit rausreden, falls er sie ertappte. Auf jeden Fall war die Sache ein bisschen zu kompliziert, um ihm jetzt einfach einen Stoß zu versetzen.

Man hatte die ETH Mobile zum Abbremsen umgedreht, und es würde nur noch einige wenige Tage dauern, bis sie die Sonnenumlaufbahn der Erde passieren und sich der Venus nähern würden. Ihr Leben an Bord dieses Schiffes, mit seinem Park und seiner Musik und seiner französischen Küche, würde sein Ende finden. Niemand tut etwas bewusst zum letzten Mal, ohne dabei ein wenig traurig zu sein, hatte Dr. Johnson einmal Boswell gegenüber bemerkt, und auf Swan traf diese Aussage jedenfalls zu. Sie sehnte sich oft danach, in der Gegenwart zu verweilen, weil sie merkte, dass ihr Leben schneller an ihr vorbeirauschte, als sie es aufnehmen konnte. Sie lebte es, sie spürte es; sie machte keine Zugeständnisse an ihr Alter, sie wollte nach wie vor alles; aber sie konnte es nicht zu einem Ganzen zusammenfügen, sodass eins ins andere griff. Da saßen sie und aßen auf dem obersten Balkon eines Restaurants, von dem aus man auf die Baumwipfel hinabblicken konnte, zu Mittag, und Swan war traurig, weil sie später nicht mehr hier sein würde. Eine Welt ging verloren, eine Welt, an die sich niemand erinnern würde. Und da saß sie nun mit Wahram, als ein Paar; aber was war, wenn sie dieses Raumschiff verließen und ihre Wege durch Raum und Zeit fortsetzen? Was würde in einem Jahr sein, was in den vielen Jahrzehnten, die vielleicht noch folgen würden?

Ein paar Tage später näherten sie sich der Venus, als Pauline sich in ihrem Ohr zu Wort meldete. »Swan, ich habe mich mit Wangs Qube in Verbindung gesetzt, und mit der KI dieses Schiffs, und ich muss dir etwas mitteilen. Vielleicht möchtest du lieber allein sein, während du es dir anhörst.«

Das war so ungewöhnlich, dass Swan sich entschuldigte und schnell auf eine Toilette ein Deck tiefer ging. »Was ist?«

Pauline antwortete: »Wangs Qube und einige andere, die sich mit Sicherheitsproblemen befassen, haben ein System entwickelt, mit dem sich vielleicht der Grenzwert für die Erfassung von Steinchenattacken wie die auf Terminators Schienen herabsetzen lässt.«

»Wie geht das?«

»Sie haben ein Netzwerk von Mikroobservatorien hergestellt und auf der Ebene der Ekliptik verteilt, von der Umlaufbahn des Saturn bis zur Sonne. Unter Verwendung der Gravitations- und Radardaten dieser Observatorien haben sie den Grenzwert auf die Größe der Steinchen gesenkt, die man auf Terminator abgeschossen hat, und sogar noch etwas darunter. Wangs Qube hat jetzt eine ständig aktualisierte Karte von allem, was sich auf der Ebene der Ekliptik befindet und einen Durchmesser von mehr als einem Zentimeter hat.«

»Puh«, sagte Swan. »Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist.«

»Niemand wusste das, aber bis vor Kurzem hat es auch noch niemand versucht. Man hat keinen Bedarf dafür gesehen. Auf jeden Fall hat das System eine bereits laufende Attacke entdeckt.«

»O nein!«, sagte Swan. »Worauf?«

»Auf den Sonnenschild der Venus.«

»O nein!«

Die anderen Personen auf der Toilette fingen langsam an, ihr komische Blicke zuzuwerfen. Sie trat auf den Flur hinaus und hätte instinktiv beinahe den Aufzug hinunter zum Park genommen. Aber sie hatte Wahram ja am Restauranttisch zurückgelassen, und außerdem konnte sie vor dieser Sache nicht davonlaufen. »Verdammt«, sagte sie. »Ich muss es Wahram sagen.«

»Ja.«

»Wie viel Zeit bleibt uns bis zu dem Einschlag?«

»Ungefähr fünf Stunden.«

»Verdammt noch mal.« Swan dachte an die Venus – die Trockeneismeere unter der Felsdecke, die Städte an den Küsten und in den Kratern. Sie rannte die Treppe wieder hoch zu dem Restaurant bei den Bildfenstern und setzte sich Wahram gegenüber hin. Er musterte sie neugierig. Ihm war nicht entgangen, wie verstört sie war.

»Also gut, ich muss dir erst einmal etwas gestehen«, sagte Swan. »Ich habe Pauline von dem Problem mit den seltsamen Qubes erzählt, weil ich wissen wollte, was sie davon hält, und ich dachte mir, dass sie in mir drin von der Außenwelt abgeschnitten ist und das schon in Ordnung sein würde.« Er riss erschreckt die Augen auf, und sofort hob sie die Hand, um ihm das Wort abzuschneiden. »Tut mir leid, ich hätte dich wohl fragen sollen, aber jetzt ist es passiert, und Pauline hat sich inzwischen mit Wangs Qube in Verbindung gesetzt, und der hat ihr gesagt, dass es ein neues Qube-Sicherheitssystem mit einem niedrigeren Grenzwert der Messungen gibt. Und das hat eine neue Steinchenattacke gemeldet, die sich gerade zusammenzieht und die sich gegen den Sonnenschild der Venus richtet.«

»Scheiße«, sagte Wahram. Er schluckte schwer und starrte sie glupschäugiger denn je an. »Pauline, stimmt das?«

»Ja«, antwortete Pauline.

»Wie lange dauert es noch, bis diese Steinchen ihr Ziel erreichen?«

Pauline sagte: »Noch knapp fünf Stunden.«

»Fünf Stunden!«, entfuhr es Wahram. »Warum erfahren wir das denn erst so kurz vorher!«

»Der Angriff zieht sich so zusammen, dass er den Sonnenschild von der Seite treffen wird, weshalb die meisten der Steinchen sich bis vor Kurzem außerhalb der Ebene der Ekliptik befunden haben. Außerhalb der Ebene sind bislang noch keine der neuen Detektoren verteilt, weshalb die Steinchen erst jetzt zu sehen sind. Wangs Qube wollte gerade eben Wang warnen.«

»Kannst du dein Datenmaterial in einem 3D-Modell anzeigen?«, fragte Wahram. Swan legte die rechte Hand auf den Tischbildschirm, und auf der Oberfläche des Tischs erschien ein leuchtendes Abbild des Sonnenschilds der Venus – eine große, kreisförmige Scheibe, die sich um die Achse in ihrer Mitte drehte, ein bisschen wie die Ringe des Saturn um den Planeten. Rote Linien zeigten die Steinchen, die aus vielen verschiedenen Richtungen kamen und wie Magnetfeldlinien auf einen gemeinsamen Pol zuliefen. Zusammengenommen würden die Steinchen die dünnen, konzentrischen Schildplatten durchschlagen, und wenn die Zusammenballung groß genug war, würden sie sogar die Achse erreichen und das Kontrollsystem zerstören. Die Überreste der riesigen Konstruktion würden wie ein Feuerrad durch die Nacht davontrudeln, spiegelnde Banner, die im schwarzen Vakuum flatterten und sich verknoteten. Und die Venus würde gebraten werden.

»Hat irgendjemand das Verteidigungssystem der Venus gewarnt?«, fragte Wahram.

»Ja, Wangs Qube hat das getan und inzwischen auch Wang, aber die KI des Sonnenschilds war nicht der Meinung, dass die übermittelten Daten auf eine Bedrohung hindeuten. Wir vermuten, dass mit ihr etwas nicht stimmt.«

»Hat die Sonnenschild-KI eine Erklärung abgegeben?«, fragte Wahram. »Ich muss bitte den gesamten Nachrichtenwechsel sehen. Als Text anzeigen.« Und dann las er so angestrengt auf dem Tischbildschirm, dass man hätte meinen können, die hervorstehenden Augen würden ihm endgültig aus dem Kopf glupschen. Swan ließ ihn lesen und führte ihrerseits ein kurzes Gespräch mit Pauline.

»Pauline, angenommen, wir können die KI des Sonnenschilds nicht zum Handeln bewegen, gibt es irgendetwas, das wir von hier aus unternehmen können?«

Pauline brauchte ein paar Sekunden, bevor sie antwortete: »Eine entsprechende weitere Masse, die die Steinchen im Augenblick ihres Zusammentreffen erreicht und sie von der Seite trifft, würde die kombinierte Gesamtmasse ablenken, sodass sie den Sonnenschild verfehlt. Nach dem Zusammenprall würden die Sicherheitssysteme des Sonnenschilds voraussichtlich auf Trümer, die in seine Richtung fliegen, reagieren. Die Gegenmasse müsste etwa das gleiche Bewegungsmoment haben wie die Zusammenballung von Steinchen, um die Gesamtmasse erfolgreich aus der Bahn zu werfen.«

»Wie groß ist die Zusammenballung?«

»Es sieht danach aus, dass sie eine Masse erreichen wird, die etwa der von zehn Schiffen dieser Größe entspricht.«

»Dieses Schiffs? Also … wenn dieses Schiff sich zehnmal so schnell wie die Steinchen bewegen würde?«

»Das würde ein äquivalentes Bewegungsmoment erzeugen, ja.«

»Können wir dieses Schiff rechtzeitig dorthin bringen, und ist es schnell genug?«

Wahram hörte inzwischen Swan und Pauline zu, anstatt weiterzulesen.

»Ja«, sagte Pauline. »Aber nur, wenn dieses Schiff maximal beschleunigt, und zwar so bald wie möglich.«

Swan sah Wahram an. »Wir müssen der Besatzung davon erzählen. Und allen anderen auch.«

»Das ist wahr«, antwortete er, nahm seine Serviette und tupfte sich den Mund ab. Dann stand er auf. »Gehen wir auf die Brücke.«

Als sie dort ankamen, hatten sich die Schiffsoffiziere bereits vor dem größten Bildschirm der KI versammelt und studierten eine Grafik der Steinchengeschosse, die sehr an diejenige erinnerte, die Wahram und Swan zu Gesicht bekommen hatten.

»Ah, gut«, sagte Wahram, als er das sah. Er war ein wenig außer Atem vom Korridore entlang- und Treppen hochrennen. »Ihr seht, vor was für einem Problem wir stehen.«

Der Schiffskapitän warf ihm einen Blick zu und sagte: »Ich bin froh, dass Sie hier sind. Das ist allerdings ein großes Problem!«

Wahram sagte: »Swans Qube meint, dass wir mit unserem Schiff hier den Angriff abwehren können, indem wir es an der Stelle, an der die Steinchen aufeinandertreffen, mit ihnen zusammenstoßen lassen.«

Kapitän und Besatzung waren offenbar schockiert von dieser Idee, und Wahram gab ihnen kaum Zeit, sich mit ihr anzufreunden. »Falls wir uns dazu entschließen, gibt es genug Rettungsboote für alle an Bord?«

»Es heißt nicht ›Rettungsboot‹«, erwiderte der Kapitän, »aber ja. Es gibt viele kleine Fähren und Hopper an Bord, und die meisten Passagiere könnten wir darin unterbringen. Und es gibt mehr als genug Raumanzüge, um jeden für sich allein rauszuschicken. Die Vorräte in den Anzügen reichen für zehn Tage, insofern ist man mit ihnen also besser dran als mit den Fähren, die keine derartigen Notfallvorräte enthalten. So oder so würde man alle einsammeln. Aber …« Der Kapitän warf einen Blick in die Runde seiner Besatzungsmitglieder. »Ich hätte gedacht, dass das Verteidigungssystem der Venus sich um so etwas kümmern würde. Sind wir sicher, dass das nicht der Fall ist? Außerdem …« – er deutete auf den Monitor – »… genügt uns dieses Bild als Beweis, um den Kurs zu wechseln, zu beschleunigen und das Schiff aufzugeben?«

Wahram sagte: »Ich glaube, in dieser Sache müssen wir unseren KIs vertrauen. Sie warnen uns deshalb, weil wir sie darauf programmiert haben, so auf einen derartigen Input zu reagieren.«

»Aber es hieß doch, dass sie dieses hochauflösende Ortungssystem selbst eingerichtet haben.«

»Ja, aber es ließe sich wohl sagen, dass wir sie auch darum gebeten haben. Wang hat sie um bessere Schutzvorkehrungen gebeten. Wir haben also bereits beschlossen, ihnen zu vertrauen.«

Der Kapitän runzelte die Stirn. »Da haben Sie wohl recht. Aber es gefällt mir nicht, dass das Sicherheitssystem des Sonnenschilds die Sache nicht als Problem erkennt. Wenn es das täte, dann müssten wir unser Schiff nicht in Gefahr bringen.«

»Vielleicht ist das einmal mehr ein Problem der Balkanisierung«, sagte Genette von der Tür her. »Der Sonnenschild der Venus ist nicht mit dem Warnsystem verbunden, das die Steinchen geortet hat, und gleichzeitig ist er sorgfältig von Einflüssen wie Wangs Qube abgeschirmt. Vielleicht ist er schlicht und einfach nicht dafür ausgestattet, diesem Input zu vertrauen.«

»Was sagen die Venusianer?«, fragte der Kapitän.

»Fragen wir sie doch einfach«, schlug Wahram vor.

Swan sagte: »Wir müssen es ihnen natürlich sofort mitteilen, aber die Führung der Venus ist berüchtigt dafür, sich immer bedeckt zu halten. Wie schnell werden sie antworten? Und was machen wir bis dahin?«

Der Kapitän runzelte noch immer die Stirn. Er starrte Swan finster an, als wäre das Ganze ihre Schuld, nur weil sie auf das Problem hingewiesen hatte. »Bereiten wir uns darauf vor, das Schiff zu evakuieren«, sagte er unglücklich. »Wir können die Sache jederzeit abbrechen, wenn wir uns dagegen entscheiden. Aber falls sich bestätigt, dass wir es tun müssen, haben wir nicht viel Zeit.« Er blickte auf den Bildschirm und sagte: »Wir müssen stark beschleunigen, um unser Ziel rechtzeitig zu erreichen. Sagen Sie allen, dass sie sich auf einen weiteren Richtungswechsel vorbereiten sollen. Mobile, wie viel Schwerkraft wird auf die Passagiere ausgeübt, wenn wir stark genug beschleunigen, um rechtzeitig einzutreffen?«

Die KI sagte eine Reihe von Zahlen und Koordinaten auf, und der Kapitän hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: »Wir müssen auf der Stelle wenden und dann die nächsten drei Stunden mit 3 g beschleunigen, wobei wir in einem flachen Winkel aus der Ebene der Ekliptik hinausfliegen, um einen Punkt oberhalb der Kante des Sonnenschilds zu erreichen.«

Das war nicht gut; es war ein schweres Unterfangen, bei 3 g in einen Raumanzug zu kommen, an dem man sich selbst bei Katastrophenübungen nur selten versuchte.

»Sagen Sie allen Personen an Bord, die Erfahrung mit Raumanzügen haben, dass sie bitte sofort welche anziehen sollen«, befahl der Kapitän und zog eine finstere Miene. »Alle anderen gehen an Bord der Fähren. Wir müssen beschleunigen, sobald wir das Schiff herumgedreht haben.« Er warf noch einmal einen Blick in die Runde seiner Brückenbesatzung, dann ging er an die Gegensprechanlage und begann, den Passagieren persönlich die Lage zu erklären.

Das erwies sich als komplizierter, als er es möglicherweise erwartet hatte, und ehe er fertig war, machten Wahram und Swan sich auf den Weg zu den Luftschleusen auf der Ebene, auf der sich auch ihr Zimmer befand. Die Kompensation für das verlorene Schiff würde zweifellos ein ganz gewöhnlicher Fall für die Schweizer Versicherung sein, und vielleicht würde sie sogar direkt von den Venusianern übernommen werden; irgendeine Entlohnung für ihr Opfer war praktisch garantiert, verkündete der Kapitän, während sie mit dem Fahrstuhl abwärtsfuhren. Auf jeden Fall sah es ganz danach aus, dass sie das Schiff würden verlassen müssen. Die Fähren und Hopper an Bord boten allen zehntausend Passagieren und Besatzungsmitgliedern Platz, aber diejenigen, die dazu qualifiziert waren, konnten und sollten Raumanzüge verwenden, die sämtlich mit Langzeitvorräten ausgestattet waren. Tatsächlich konnte jeder, der keine Fähre nehmen wollte, von Bord gehen, sobald er sich vergewissert hatte, dass sein Anzug unbeschädigt war. Alle Luftschleusen waren einsatzbereit. Er hoffte, dass man sie innerhalb der nächsten drei Stunden einsammeln würde. Letztlich war es nur eine kleine Unannehmlichkeit, die man ihnen später als Heldentat anrechnen würde, weil sie durch sie die Venus retteten. Davon konnten sie sich nur Gutes versprechen. Sie mussten sich beeilen, wenn sie effektiv helfen wollten, weshalb sie unglücklicherweise ihre restliche Zeit an Bord bei 3 g verbringen mussten. Diese Unannehmlichkeit bedauerte der Kapitän sehr, und die Besatzung würde jedem Hilfestellung geben, der darum bat.

Die Durchsage, die auf ihre umständliche schweizerische Art kein Ende nahm, verursachte an Bord des Schiffes einigen Aufruhr, wie Swan und Wahram feststellten, sobald sie auf ihrem Deck den Fahrstuhl verließen. Als sie den Schleusenraum betraten, hörten sie lautes Geschrei, das scheinbar überall auf dem Schiff herrschte. Sie schauten einander an.

»Lass uns zusammenbleiben«, sagte Swan, und Wahram nickte stumm.

Das Wendemanöver erzeugte mehr Desorientierung als sonst, so als ob allein das Wissen um die ungewöhnlichen Umstände zu einer Art Raumkrankheit führen würde, oder zu einem Traum, in dem man schwerelos einer Katastrophe entgegentreibt.

Das ungute Gefühl verwandelte sich in eine andere Art von Albtraum, als sie wieder beschleunigten und das Gewicht ihrer Leiber ziemlich rasant auf das Dreifache anstieg. Das genügte, um erst einmal alle zu Boden gehen zu lassen. Die Leute schrien vor Entsetzen, aber sie begriffen, was los war, und nach den ersten paar Augenblicken rollten sich die meisten Passagiere herum und krochen auf Händen und Knien. Sie versuchten auf die unterschiedlichsten Arten, sich fortzubewegen, zuweilen ohne Erfolg, sodass manche zappelnd am Boden lagen, im Griff eines unsichtbaren Ringers.

Entscheidend unter solchen Schwerkraftverhältnissen war die sehr unterschiedliche Masse der Menschen. Kleine waren zwar wie alle anderen an Bord dreimal so schwer sie sonst, aber damit bewegten sie sich immer noch im Bereich dessen, was menschliche Muskeln bewältigen konnten. Entsprechend waren zahlreiche Kleine nach wie vor auf den Beinen und liefen im Schiff herum, wobei manche tief in die Knie gingen wie Sumoringer oder Schimpansen und andere weit ausholend liefen wie Popeye. Jedenfalls konnten sie sich auf beiden Beinen fortbewegen, und die meisten hatten sich spontan zu Gruppen zusammengefunden, um ihren lang hingestreckten, großen Mitpassagieren zu helfen. Zu denjenigen, die sich am wenigsten bewegen konnten, gehörten natürlich die Großen und die Runden, die nun teilweise mit einem Gewicht von über vierhundert Kilogramm vollkommen bewegungsunfähig am Boden lagen. Es brauchte drei bis vier Kleine, um diese größeren Leute auf den Rücken zu rollen, bei den Armen und Beinen zu packen und zu den Luftschleusen zu ziehen.

Swan selbst kam kriechend recht gut voran, obwohl es ihr in den Knochen schmerzte. Wenn sie erst einmal einen Raumanzug erreichte und begann hineinzusteigen, würde die KI übernehmen und ihr das Ding überziehen. Dafür musste man nur ein bisschen die Schultern und Arme bewegen, wie wenn man in die Ärmel eines Mantels schlüpfte, während der Anzug sich an einen anpasste und verschloss. Jeder hier war schon ein paarmal bei einer Katastrophenübung unter erhöhter Gravitation in einen Raumanzug gestiegen, weshalb das Gefühl vorherrschte, dass alles gut werden würde, sobald man es in den Umkleideraum geschafft hatte.

Doch Wahram hatte mehr Schwierigkeiten als Swan. Er war vielleicht 50 oder sogar 75 Prozent schwerer als sie, und dieser Unterschied machte sich jetzt geltend. Er schleppte sich voran wie ein verwundetes Walross, und Swan sah, dass er bald schon ermüdete. Glücklicherweise kam Genette an ihnen vorbei. Gemeinsam mit zwei anderen Kleinen zog der Inspektor einen riesigen Großen, der aussah wie Michelangelos David, aber nur mit Mühe und Not den Kopf anheben konnte, während man ihn weiterschleifte. »Ich komme zurück«, sagte Genette zu Wahram und Swan, und schon waren die Kleinen auf und davon und riefen einander mit ihren hohen Stimmen Anweisungen zu. Wenige Minuten später kehrten alle drei zurück. Genette stapfte umher und gab mit aufmunternder Stimme Befehle, und sie zogen Wahram zu einer Wand mit einem Geländer. Dort gelang es ihm ächzend und mit hochrotem Kopf, sich auf die Knie hochzuziehen. Er fixierte Genette mit einem seiner Glupschaugen. »Danke, ich komme jetzt alleine weiter. Bitte geh jemandem helfen, der es nötiger hat. Ich bin froh zu sehen, dass die Gesetze der Proportionalität hier von Vorteil für dich sind, mein Freund.«

Genette hielt kurz inne, um einen Boxer zu mimen. »All ihr Kleinen, hört den Ruf! Von uns starb noch keiner eines natürlichen Todes!« Dann, etwas lockerer: »Wir sehen uns bald in der Luftschleuse, ich glaube, dass wir inzwischen fast alle dorthin gebracht haben.«

Im Umkleidezimmer neben der Schleuse ging es hektisch zu. Es war noch keine Panik, auch wenn die nicht mehr weit entfernt war. Zwar lagen mit Ausnahme der Hilfestellung leistenden Kleinen fast alle auf dem Boden oder krochen umher, was die akute Notsituation auf höchst beunruhigende Weise vor Augen führte. Aber die Anzüge befanden sich in Schließfächern auf Bodenhöhe, vielleicht aus eben diesem Grund. Swan riss eines davon auf, zog sich auf die Bank daneben und stieg so hastig in ihren Anzug, dass die KI einen kurzen, quiekenden Protestlaut von sich gab. Sobald sie ihn anhatte und die KI verkündete, dass er sicher versiegelt war, kroch sie über den Boden, um Wahram in seinen Anzug zu helfen, und dann den anderen, die Hilfe brauchten. Manche hatten ernsthafte Mühe und litten sichtlich Schmerzen. Für diese Leute würde es eine gewaltige Erleichterung sein, aus der Luftschleuse geschleudert zu werden. Einige machten den Eindruck, dass sie am besten überhaupt keine Zeit in einer Umgebung von mehr als 1 g verbracht hätten. Swan befürchtete, dass es Schlaganfälle und Herzinfarkte geben würde, und für einen kurzen Moment hatte sie Alex vor Augen. Sie versuchte, Mut aus diesem Bild zu schöpfen: Alex wäre hier in ihrem Element gewesen, sie wäre ruhig und aufmunternd gewesen, sie hätte Spaß an der Aufgabe gehabt. Einige dieser Leute mochten allzu bequeme Raumer sein, die schlecht in Form waren und sich ihr Unglück selbst zuzuschreiben hatten, aber jetzt waren sie nun einmal hier, mühten sich, ächzten und weinten zum Teil sogar. Manche versuchten, sich auszuziehen, bevor sie in ihre Raumanzüge schlüpften, und hatten mehr Schwierigkeiten dabei, sich ihrer Kleider zu entledigen, als in ihre hilfsbereiten Anzüge zu kommen. Ein Gebärmann, der einen beinahe kugelförmigen Rumpf hatte, hatte sich einen zu kleinen Raumanzug ausgesucht, sodass Swan ihm heraushelfen und einen neuen für ihn finden musste (und das Ding war hartnäckig).

Nach und nach machte sich der Geruch von Angst in der schweißgeschwängerten Luft breit. Swan kroch zurück zu Wahram, ignorierte dabei die Beschwerden in ihren Knien. Sein Anzug war zu groß für ihn, aber das Display verkündete, dass er sicher versiegelt war. Die offene Frequenz, die ihre Helme empfingen, war von allgemeinem Geschnatter erfüllt, weshalb sie die Finger vor seinem Visier hochhielt – erst drei, dann vier, dann fünf – und dann auf den entsprechenden Kanal wechselte. Und da war er und summte leise vor sich hin.

»Du hast einen zu großen Anzug«, sagte sie.

»Das ist in Ordnung«, erwiderte er. »So ist es mir lieber, und eine Menge von den Dingern werden ohnehin nicht gebraucht, wie ich festgestellt habe.«

»Darum geht es nicht. Es ist am sichersten, wenn der Anzug richtig passt.«

Er beachtete ihren Einwand nicht und fing an, einer Person zu helfen, die auf der anderen Seite von ihm lag. Swan wechselte auf den offenen Kanal und hörte jemanden sagen: »Wir gehen also von Bord, weil die KI dieses Schiffs sagt, dass wir das müssen? Kommt das noch irgendjemandem seltsam vor? Können wir sicher sein, dass es sich nicht um eine Art Meuterei handelt? Hoffentlich sind die gut versichert.«

Darauf gab es zehn verschiedene Antworten auf einmal, und Swan schaltete vom offenen Kanal zurück auf die 345. »Wollen wir zusammen raus?«

»Ja«, sagte er. »Natürlich. Wir müssen uns an den Händen festhalten.«

Das gefiel ihr. »Möchtest du lieber früh oder lieber spät raus?«

»Bitte spät. Ich habe das Gefühl, dass ich den Leuten hier helfen sollte.«

»Kannst du dich gut genug bewegen, um zu helfen?«

»Ich glaube schon.«

Sie halfen, so gut es ging. Die Sitzenden zogen die Kauernden ein paar Meter weiter und reichten sie an andere Sitzende weiter. Die Menge musste in Gruppen von Bord gehen, wobei sie die Luftschleuse jedes Mal so voll wie nur möglich stopften, um den Prozess zu beschleunigen. Es gab nicht viele, die zuerst gehen wollten, aber von hinten war ungeduldiges Rufen zu vernehmen, und die Leute auf den Korridoren versuchten nach wie vor einfach nur in den Umkleideraum zu gelangen, weshalb es eine Art osmotischen Druck gab. Jedes Mal, wenn die Schleuse aufging, füllte sie sich schnell wieder; dann wurde das innere Schott geschlossen, man wartete, bis alle draußen waren, schloss das äußere Schott wieder und füllte die Schleuse erneut mit Luft, um sie für die nächste Ladung zu öffnen. Selbst in der Schleuse konnten die Leute sich zuweilen nicht bewegen, und dann mühten sich die anwesenden Kleinen damit ab, sie ins All hinauszubefördern; wenn sich das Innenschott wieder öffnete, waren sie noch da, die Gesichter unter den Helmen voll wilden Übermuts.

Natürlich gab es noch andere Luftschleusen an Bord, was ein Glück war, denn selbst in die größten Personenschleusen passten gerade mal zwanzig Menschen, und das Öffnen und Schließen dauerte jedes Mal etwa fünf Minuten; es würde also an die zwei Stunden dauern, bis alle draußen waren, die in einem Anzug das Schiff verließen. Die meisten Fähren waren anscheinend bereits unterwegs.

Swan half den Leuten weiterhin dabei, sich zu Gruppen zusammenzufinden, bevor sie die Luftschleuse betraten; das beschleunigte den Ablauf. Sie und Wahram arbeiteten als ein Team und machten ihre Arbeit sehr gut, wenn man in Rechnung stellte, dass sie sich kaum von der Stelle rühren konnten. Manchmal beantworteten sie besorgte Fragen. Die Anzüge waren mit Luft-, Wasser und Nahrungsmittelvorräten für zehn Tage ausgestattet und mit einer gewissen Menge Treibstoff. Man hatte Rettungsschiffe alarmiert, die bereits unterwegs waren, sodass es nur Stunden und nicht Tage dauern würde, alle Passagiere einzusammeln. Alles würde in Ordnung kommen.

Trotzdem war es unheimlich, von einem beschleunigenden Raumschiff aus in die Schwärze zwischen den Sternen einzutauchen, mit nichts am Leib als einem Raumanzug. Viele betraten die Schleuse mit weit aufgerissenen Augen, und Swan fühlte mit ihnen, obwohl ihr derlei Aktivitäten normalerweise gefielen.

Manche Gruppen, die zusammen in der Schleuse waren, hielten sich beim Hinausspringen an den Händen, in der Hoffnung, zusammenbleiben zu können; sobald diejenigen, die sich noch an Bord befanden, das auf den Monitoren gesehen hatten, versuchte es praktisch jede Gruppe. Sie waren soziale Primaten, bei Gefahr drängten sie sich zusammen. Niemand wollte alleine sterben.

Die Zeit schien nur langsam zu verstreichen, doch ehe Swan es richtig bemerkte, leerte sich der Umkleideraum. Wahram schaute sie an: Sein Blick verriet ihr, dass sie nicht wie zwei Kapitäne als Letzte von Bord gehen mussten. Als sie das sah, lachte sie und nahm ihn bei der Hand.

»Gehen wir mit der nächsten Gruppe?«

Er nickte dankbar. Es würden nur noch wenige Gruppen aus diesem Raum das Schiff verlassen. Er war bereit.

Sie zog ihn in die Schleuse. Die zwanzig darin befindlichen Personen schauten Richtung Außenschott. Es war wie in einem Fabrikaufzug. Einige umarmten sich. Hände fanden zueinander, bis die ganze Gruppe in einem Kreis vereint war. Swan drückte fest Wahrams Hand.

Die Luft entwich zischend aus der Schleuse. Sie machten sich bereit. Die beiden Torflügel des Außenschotts zogen sich in die Rumpfwände zurück; vor ihnen die gähnende Schwärze des Alls, mit Sternen wie verstreuten Salzkörnern. Nur ein Helmvisier zwischen einem selbst und den Sternen. Es gab so viele Sterne, dass die Muster, wie man sie von der Erde aus sah, darin untergingen; das war schlicht und einfach das Weltall, sternenübersät, namenlos und gewaltig – etwas, dem der menschliche Verstand sich eigentlich niemals hätte aussetzen dürfen. Oder auch einfach der Nachthimmel, ein Begleiter seit Urzeiten, die Hälfte des Lebens. Teil ihrer selbst. Zeit zu schlafen und vielleicht zu träumen. Sie sammelten ihre Kräfte und warfen sich wie aneinandergekettet hinaus.

Sie trieben in der Schwärze, und jemand gab leichten Rückstoß, sodass sie im Kreis von dem schnell davontreibenden Schiff forttrudelten. Schon sehr bald handelte es sich bloß noch um einen entfernten weißen Splitter, der von einem diamantfunkelnden Band am Heck erhellt wurde. Schau weg, versenge dir nicht die Netzhäute; schau wieder hin; vielleicht war die ETH Mobile einer der Sterne dort. Sie waren auf sich gestellt.

Sie sahen keine Spur der anderen Gruppen. Mit einem Mal erschien Swan die Vorstellung, dass man sie finden und retten würde, vollkommen abwegig, wie ein Traum oder eine Hoffnung, die sich unmöglich erfüllen konnte. Sie waren in den Tod gesprungen.

Aber sie war schon zuvor hier draußen gewesen; sie wusste, dass es möglich war. Aufgrund ihrer Anzugsender strahlten sie alle wie kleine, helle Leuchttürme.

Über den Helmfunk einigten sie sich darauf, in ihrer Gruppe auf Frequenz 555 zu kommunizieren, aber mit der Zeit sprachen immer weniger von ihnen. Es gab wenig zu sagen. Swan wollte die Hand loslassen, die nicht zu Wahram gehörte, aber sie tat es nicht. Mit der Linken hielt sie seine rechte umklammert, und zwar fest. Er erwiderte den Druck. Sie wechselte wieder auf Kanal 345 und hörte nur seine Atemgeräusche, langsam und regelmäßig. Als er ihren Atem ebenfalls in seinem Ohr hörte, schaute er sie an. Der Ausdruck auf seinem runden Gesicht hinter dem Visier war tapfer und furchtlos.

»Was meinst du, wann ist es so weit?«, fragte Swan, während sie dem weißen Punkt nachsah, von dem sie vermutete, dass es sich um die ETH Mobile handelte.

»Bald, würde ich meinen«, antwortete er.

Und fast noch während er es sagte, gab es einen Lichtblitz in dem Bereich, den Swan ins Auge gefasst hatte. »Das war es.«

»Mag sein.«

Danach verging viel Zeit. Eine Stunde … zwei Stunden … drei.

Dann sagte Wahram: »Sieh mal; da kommt unser Rettungsschiff.«

Swan verdrehte den Kopf, um über die Schulter zu sehen, und entdeckte eine kleine Raumjacht, die sich ihnen langsam in einem schrägen Winkel näherte.

»Tja«, sagte sie, »gut.«

Und die Venus lag immer noch im Schatten. Anscheinend war der Schild gerettet worden. Und sie waren auch gerettet.

Doch dann explodierte die kleine Jacht direkt neben ihnen. Die durch den Lichtblitz geblendete Swan folgerte beinahe im selben Moment, in dem sie begriff, was passiert war, dass ein Splitter von dem Zusammenstoß der ETH Mobile mit dem Steinchengeschoss in ihre Richtung geflogen war und die Jacht getroffen hatte – pures Pech, vermutete sie, während ihr kleiner Ring von zwanzig Menschen durch irgendetwas auseinandergerissen wurde, wahrscheinlich Gas oder Trümmer von der Jacht, was mit Sicherheit bedeutete, dass es Verletzte gab – wie dem auch sei, in dem Moment, in dem sich die Explosion ereignete, wurde sie sowohl von Wahram als auch von der Person zu ihrer Rechten fortgerissen. Als ihr das klar wurde, rollte sie sich ein und machte einen Salto, um Wahram im Blick zu behalten – sie sah ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen davontrudeln, während ein Nebel roter Kristalle aus seinem Bein sprudelte. »Pauline, mach mein Visier sauber«, befahl sie und tastete nach den Düsenkontrollen in ihren Handschuhen. Sie stabilisierte ihre Flugbahn relativ zu Wahram und gab dann vollen Schub in seine Richtung. Für einige Augenblicke flog sie durch ein Feld von Jachttrümmern, sogar ein großes, trudelndes Bruchstück war zu sehen, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Viertel des Schiffs handelte, so aufgerissen, dass man die Räume und Wände im Innern sah, wie bei einer Risszeichnung oder einer Puppenstube. Sie musste den Kurs ändern, um heckseitig daran vorbeizusausen und dann ihren Anzug so gut wie möglich wieder auf Wahram auszurichten. Er drehte sich noch immer und war bereits sehr viel kleiner geworden; sie gab vollen Schub. Es wäre wohl eigentlich eine Aufgabe für Pauline gewesen, aber man musste Treibgut und Trümmern ausweichen, weshalb Swan selbst die Kontrolle behielt und Wahram hinterherjagte. Sobald sie aus dem Trümmerfeld heraus war, beschleunigte sie einmal mehr und brachte ihre ganzen Flugkünste zum Einsatz, ohne auf etwas außer ihrem Ziel zu achten. Wahram wurde größer. Swan rief: »Pauline, Hilfe!«

»Lass mich den Anzug steuern.«

»Alles klar, nur mach! Mach!«

»Du gibst bereits maximale Beschleunigung. Ich muss abbremsen, wenn du ein Rendezvousmanöver durchführen willst.«

»Tu es!«

Sie schossen inmitten der Sterne dahin. Wahram wurde immer größer. Swan übernahm einmal mehr die Kontrollen, obwohl Pauline Einspruch erhob, und näherte sich ihm so schnell wie möglich, bis zur letzten Sekunde, als sie sich herumwarf und die Anzugdüsen auflodern ließ, während sie beinahe mit ihm zusammenstieß; sie musste ihm mit einem weiteren Düsenschub ausweichen und verfehlte ihn nur um Zentimeter; kurz sah sie sein bewusstloses Gesicht aufblitzen. Sein Mund stand offen. Sie schrie und gab wieder und wieder Schub, ließ den Anzug in einem engen Bogen wenden und flog erneut auf ihn zu. Pauline hätte es nicht besser machen können.

Sein Anzug hatte ein Loch unter dem linken Knie. Gefrorenes Blut klebte wie ein riesiger Schorf daran. Sie packte ihn an der entsprechenden Stelle und hielt den kleinen Riss zu.

»Gib mir einen Schlauch, dann pumpen wir Luft ins Bein.«

Sein eigener Anzug hatte das Leck sicherlich wie mit Druckverbänden abgeschnürt. Sein Unterschenkel war wahrscheinlich bereits gefroren und nicht mehr zu retten, aber die Anzüge waren gut darin, Lecks zu isolieren, und auch in der Behandlung von Schockzuständen. Sie nahm den Schlauch, der aus ihrem Gürtel schaute, und steckte das Ende in das kleine Loch in seinem Anzug; es hatte einen Durchmesser von weniger als einem Zentimeter und war kaum groß genug, um den Schlauch hineinzubekommen. Sie steckte den Finger in das Loch auf der anderen Seite seines Beins und ließ warme Luft in sein Anzugbein strömen, während sie es zuhielt. Dabei rief sie die ganze Zeit: »Wahram, ich bin hier, wach auf!«

Nur Pauline antwortete ihr. »Bitte sei still. Ich kann seine Lebenszeichen nicht hören, wenn du so laut redest.«

»Was meinst du damit?«

»Er atmet. Sein Herz schlägt.«

»Was ist mit seinem Unterschenkel?«

»Die Haut ist erfroren, und das Fleisch wahrscheinlich auch. Sein Blutdruck ist neunzig zu fünfzig, also hat er eine Menge Blut verloren. Er hat einen Schock.«

»Stabilisiere ihn, wärm ihn auf! Übernimm die Kontrolle über seinen Anzug!«

»Sei beruhigt. Ich stehe mit seinem Anzug in Verbindung. Bitte sei jetzt still.«

Sie hielt den Mund und ließ den Qube seine Arbeit machen. Medizinische Notfallbehandlungen folgten einem uralten KI-Algorithmus, der seit Jahrhunderten verfeinert wurde und längst seine Überlegenheit gegenüber menschlichen Hilfsmaßnahmen bewiesen hatte. Und Paulines Aussage zufolge durfte man guten Gewissens davon ausgehen, dass er sich stabilisieren ließ.

Doch dann erklärte Pauline: »Sein Anzug ist ziemlich schwer beschädigt. Ich möchte seine Kontrollfunktionen übernehmen.«

»Kannst du das?«

»Ja. Es ist am einfachsten, wenn ich an ihn angeschlossen bin, also müsst ihr ab dann zusammenbleiben.«

»Umso besser, mach einfach.«

Swan nahm sich das Loch im Bein seines Anzugs vor; in ihrer Gürteltasche hatte sie das benötigte Flickzeug. Sie bereitete den Flicken vor, während sie beide mit einem Datenübertagungskabel an den Hüften verbunden waren. Langsam drehten sie sich inmitten der Sterne, doch Swan hatte keine Augen für die Pracht. Die Flicken aus ihrer Tasche waren größtenteils Quadrate mit abgerundeten Ecken; man musste eine Schutzfolie abziehen, sie behutsam auflegen und andrücken, während die chemische Reaktion stattfand.

Als Wahrams Anzug versiegelt war, fragte Swan Pauline, ob sie an der verwundeten Stelle irgendetwas mit seinem Bein machen sollte. Eigentlich hätte sie es wohl genau andersherum machen sollen, aber Swan war auch ziemlich durcheinander. Außerdem sagte Pauline ohnehin nein. »Sein Anzug hat einen Luftdruckverband angebracht und Gerinnungshelfer verabreicht.«, erklärte Pauline. »Die Blutung ist weitgehend gestillt.«

»Hat der Anzug ihm einen Tropf gelegt?«

»Ja.«

Es war tröstlich, daran zu denken, dass sein Raumanzug nicht bloß ein kleines, biegsames Raumschiff war, sondern auch eine medizinische Hülle von beträchtlicher Leistungsfähigkeit, eine Art Privatkrankenhaus.

»Wahram, hörst du mich?«, fragte sie. »Geht es dir gut?«

»Ich höre dich«, krächzte er. »Es geht mir nicht gut.«

»Was tut dir weh?«

»Mein Bein tut weh. Und mir ist … schlecht. Ich muss mich anstrengen, um mich nicht zu übergeben.«

»Gut – übergib dich nicht. Pauline, kannst du ihm etwas gegen die Übelkeit verabreichen lassen?«

»Ja.«

Sie schwebten in der sternenklaren Nacht. Obwohl Swan es nicht gerne zugab, konnte sie derzeit nichts weiter tun. Die Milchstraße sah aus wie Schlieren weißer, leuchtender Milch, und der Kohlensack und einige andere schwarze Flecken in ihr wirkten noch schwärzer als sonst. Überall sonst war der Himmel so voller Sterne, dass die Schwärze dadurch ihren allumfassenden Charakter verlor – als befände sich dahinter etwas Riesiges, Weißes, das einen Dunst verströmte und größer war, als das Auge wahrnehmen konnte. Der ganz und gar schwarze Fleck in der Milchstraße musste auf eine große Menge Kohle im Kohlensack hindeuten. Wurde all das Schwarz am Himmel durch Staub erzeugt, fragte sie sich? Wenn alle Sterne des Universums sichtbar wären, wäre der Nachthimmel dann von reinem Weiß?

Die größeren Sterne schienen sich in einer anderen Entfernung zu befinden als die kleineren. Das All dehnte sich dadurch mit einem Mal für Swan aus und wurde zu etwas, das sich von ihr fort erstreckte, anstatt eine Kulisse in ein paar Kilometern Entfernung zu sein. Sie steckten nicht in einem schwarzen Sack, sondern in einer grenzenlosen Weite. Eine kleine Einheit in einem großen Raum.

»Wahram, wie geht es dir?«

»Etwas besser.«

Das war gut. Es war gefährlich, sich in einem Helm zu übergeben, und obendrein auch unangenehm.

Und so trieben sie durchs All. Einige Stunden vergingen. Ihre Nahrung bekamen sie in Form von Flüssigkeiten, die sich durch einen Strohhalm im Helm saugen ließen; es gab sogar Nährstoffriegel, die man sich aus einer Innentasche im Helm hervorschieben lassen konnte, um etwas abzubeißen und herunterzuschlucken. Swan tat beides. Sie pinkelte in die Windel ihres Anzugs.

»Wahram, hast du eigentlich ein bisschen Hunger?«

»Nein, keinen.« So wie er klang, schien er sich auch nicht besonders wohlzufühlen.

»Ist dir wieder übel?«

»Ja.«

»Das ist nicht gut. Warte, ich stabilisiere uns im Verhältnis zu den Sternen. Du wirst ein leichtes Ziehen spüren. Vielleicht solltest du lieber die Augen schließen, bis ich uns zur Ruhe gebracht habe.«

»Nein.«

»Alles klar, wir werden ohnehin nicht besonders schnell sein. Los geht’s.« Sie gab einen Düsenstoß ab, um ihr Drehmoment abzubremsen, was mit Wahrams Masse, die locker an ihrer Seite hing, nicht ganz einfach war. Es war besser, ihn zu umarmen und sein Gewicht vor sich zu haben. Das tat sie und drückte ihn dabei ein winziges bisschen. Er antwortete nur mit einem leisen, klagenden Brummen. Swan brachte sie im Verhältnis zu den Sternen in eine mehr oder weniger stabile Lage und richtete sie so aus, dass sie die Venus sehen konnten. Sie lag nach wie vor im Schatten. Wenn der Sonnenschild zerstört oder auch nur beschädigt worden wäre, hätten sie es gesehen, da war sie sich sicher. Sie hätten irgendeine Art Halbmond gesehen oder vielleicht einen weiß lodernden Bereich; und da sie sich seitlich des Schirms befanden, den das Geschoss hatte treffen sollen, war es ihres Erachtens nicht möglich, dass ein erleuchteter Teil der Venus vollständig auf der anderen Seite des Planeten liegen konnte. Oder vielleicht war es doch möglich; sie war desorientiert, das musste sie zugeben. Aber es machte den Eindruck, als sei der Anschlag vereitelt worden.

»Pauline, hast du irgendeine Ahnung, was aus dem Schiff und dem Sonnenschild geworden ist?«

»Bei den Berichten, die über Funk hereinkommen, handelt es sich noch um die ersten Reaktionen, aber sie lassen vermuten, dass es wie vorhergesehen zu einer Kollision gekommen ist zwischen der ETH Mobile und einer Steinchenzusammenballung, die etwa die vierfache Masse des Schiffs hatte. Das entspricht hinreichend genau den Vorhersagen, und das Schiff war schneller als die Steinchen, ausreichend, um den Großteil der Aufschlagmasse seitlich von dem Schirm abzulenken.«

»Also hat es funktioniert.«

»Abgesehen davon, dass ein Teil der ausgestoßenen Trümmer das Schiff in unserer Nähe getroffen hat, dessen Explosion wiederum Bruchstücke ins All geschleudert hat, von denen eines Wahram getroffen hat.«

»Ja, natürlich. Aber das war bloß Pech.«

»Zweifellos sind mehrere Personen auf diesem nahen Raumschiff ums Leben gekommen.«

»Das weiß ich. Es war wirklich Pech. Von einem Granatsplitter getroffen, sozusagen. Aber der Sonnenschild ist gerettet?«

»Ja. Und das Verteidigungssystem des Sonnenschilds hat anscheinend die Trümmerstücke, die auf ihn zugeflogen sind, zerstört.«

»Jetzt glaubt seine KI also an die Steinchenattacken.«

»Oder zumindest an die Einschlagkörper, die sich ihr nähern. Ich weiß nicht, was für ein Problem sie zuvor hatte.«

»Wusste die KI von diesem neuen, hochauflösenden Bildsystem von Wang?«

»Wang hat den Venusianern davon erzählt, aber ihr Verteidigungssystem ist geschlossen, damit sich niemand daran zu schaffen machen kann. Ich weiß nicht, ob es sich an dem neuen Überwachungssystem beteiligt hat oder nicht.«

»Vielleicht ist es leichter, sich an einem geschlossenen System zu schaffen zu machen, als an einem offenen. Ist es möglicherweise kompromittiert?«

»Das halte ich für unwahrscheinlich. Es steht unter der Kontrolle der Venus-Arbeitsgruppe, von der man weiß, dass sie viel Wert auf Sicherheit legt.«

Wahram beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Swan hielt seine Hand und drückte sie von Zeit zu Zeit. Mehr gab es für sie nicht zu tun. Er erwiderte den Druck für einen kurzen Moment, dann wurde seine Hand wieder schlaff.

»Geht es dir gut?«

»In Ordnung«, antwortete er.

»Hast du versucht, etwas zu essen?«

»Noch nicht.«

»Zu trinken?«

»Noch nicht.«

Sie trieben in der Schwärze des Raums, schwerelos und warm, wie kleine Venusmonde oder selbst wie kleine Planeten, die um die Sonne kreisten. Die Situation, in der sie sich befanden, war zuweilen schon als eine Art Heimkehr in den Mutterleib beschrieben worden, als amniotischer Rausch. Wenn man ein paar entheogene Drogen nahm, konnte man zu einem Sternenkind werden. Und tatsächlich war es kein so entsetzlicher Anblick, wie man es hätte erwarten sollen. Für einen Moment schlief Swan sogar ein. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sie den Eindruck, dass die Venus ein kleines bisschen größer geworden war. Das war nur logisch: Als sie das Schiff verlassen hatten, waren sie bereits mit hoher Geschwindigkeit unterwegs gewesen.

»Bist du noch da?«

»Ja, bin ich.«

Tja, dachte Swan. Da waren sie. Außer Warten gab es für sie nichts zu tun. Warten war noch nie ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen. Normalerweise gab es immer mehr zu tun, als sie bewältigen konnte, weshalb sie es immer eilig hatte. Jetzt wurde ihr die Wartezeit bis zu ihrer Rettung lang. Als sie von Bord gegangen waren, hatte es geheißen, dass Raumschiffe in der Nähe waren. Vielleicht war Wahram in eine unvorhergesehene Richtung gestürzt; Swan war ihm gefolgt, ohne einen Gedanken an diese Möglichkeit zu verschwenden. Vielleicht verließen sie die Ebene der Ekliptik und damit auch den Bereich, in dem Schiffe unterwegs waren, die sie retten konnten. Vielleicht war die arme, zerstörte Jacht das einzige Schiff in der Gegend gewesen, und sie würden warten müssen, bis man alle anderen Flüchtlinge eingesammelt hatte. Höchstwahrscheinlich hatte die Zerstörung der kleinen Jacht die meisten Todesopfer bei dieser ganzen Sache gefordert, weshalb sie sicherlich Aufmerksamkeit erregen würde. Man würde wissen, dass nicht alle Leute eingesammelt worden waren; also würden sie weitersuchen; und diese Anzüge hatten leistungsfähige Sender. Wahrscheinlich ließ sich die Verzögerung am besten dadurch erklären, dass sie die Ebene der Ekliptik verlassen hatten. Oder vielleicht dauerte es einfach ein bisschen, alle einzusammeln. Die letzte Beschleunigung der ETH Mobile hatte vielleicht dazu geführt, dass sie zu dem Zeitpunkt, als die letzten Passagiere sie verlassen hatten, mit einer Geschwindigkeit unterwegs gewesen war, die die meisten Raumschiffe gar nicht erreichen konnten. Und für die von Bord Gegangenen galt natürlich dasselbe. Wenn alles so war, wie es sein sollte, dann würden alle Raumanzüge ihre Insassen für zehn Tage versorgen, und sie waren erst … wie lange? – sie musste Pauline fragen – zwanzig Stunden hier draußen. Es kam ihr länger vor, oder auch kürzer – sie wusste es nicht. Die Venus war eindeutig etwas größer. Swan erinnerte sich an Geschichten von Schiffbrüchigen, die man nicht gefunden hatte und die jahrtausendelang gefroren durchs All trieben. Wie vielen war es im Laufe der Geschichte schon so ergangen? Dutzenden, Hunderten, Tausenden? In ihrem Kopf hörte sie den Refrain eines alten marsianischen Liedes:

In Gedanken bei Peter trieb ich im Raum

Und hoffte man fände mich bald

Ach mach dir nichts vor

Du alberner Tor

Dein Grab ist dunkel und kalt

Zweifellos waren viele dieser Unglücklichen bis zum letzten Moment in der Hoffnung dahingetrieben, dass man sie retten würde. Die Hoffnung zerrinnt langsamer als Luft und Nahrung in Raumanzügen; wahrscheinlich hatten sie an die Geschichte von Peter gedacht, der um den Mars kreiste, oder an irgendeinen anderen Schiffbrüchigen, der gerettet worden war, und fest daran geglaubt, dass gleich ein kleines Raumschiff auftauchen und wie ein UFO über ihnen schweben würde, wie eine vom Himmel gesandte Erlösung, wie das Leben selbst. Aber für viele war die Rettung niemals gekommen, und irgendwann hatten sie sich eingestehen müssen, dass die Wirklichkeit etwas anderes war als die Geschichten, oder zumindest ihre Wirklichkeit. Für andere waren die Geschichten wahr geworden, aber nicht für sie; die anderen waren die Erwählten, sie waren die Verlorenen. Die Vergessenen. Wie in dem schonungslosen marsianischen Lied.

Vielleicht würden diesmal auch sie zu den Vergessenen gehören. Swan rappelte sich auf, hörte den offenen Kanal ab, auf dem allseitiges Gebrabbel herrschte; sie schaltete auf den Notkanal und setzte krächzend einen Bericht ab, einen Hilferuf. Etwa eine halbe Stunde später kam eine Antwort: Man hatte sie auf dem Radar, und ein Rettungsschiff war zu ihnen unterwegs; sie befanden sich tatsächlich außerhalb der Ebene der Ekliptik, und alle Reaktionsteams waren beschäftigt. Aber man hatte sie auf dem Schirm und früher oder später würde Hilfe eintreffen.

Also … schau dich um. Erzähl es Wahram, mach ihm Mut. Versuch, dich zu entspannen.

Sie war nicht entspannt. Ein hilfloses Entsetzen überkam sie, als würde ihr Blut zu kochen beginnen. Pauline würde es mitbekommen; vielleicht verabreichte sie ihr in eben diesem Moment Medikamente gegen die Angst aus der Apotheke ihres Raumanzugs. Hoffentlich. Sie konnte nichts weiter tun als warten. Weiteratmen. Abwarten. In ihrem bisherigen Leben hatte sie den Luxus genossen, immer etwas tun zu können, niemals warten zu müssen. Jetzt holte die Wirklichkeit sie ein. Manchmal musste man einfach warten.

Tja, dann war das eben so. Ein bisschen Wartezeit war gar nicht so übel. Es war besser als auf dem Blackliner. Die Venus schien wieder ein wenig näher gerückt zu sein, und sie war auch etwas heller – vielleicht war der Sonnenschild doch ein wenig eingerissen, an der Kante, die der Explosion am nächsten gewesen war. Sie konnte dunkle Wolken erkennen, die einen dunkleren Fleck umwirbelten, bei der es sich um die Ishtar-Hochebene handeln mochte. Unter den wirbelnden Wolken sah sie hellere und dunklere Bereiche, aber welche davon den gefrorenen Ozean darstellten und welche das gefrorene Festland, konnte sie nicht sagen. Es gab keine Blau-, Braun- oder Grüntöne, nur graue Wolken über grauem Land, dunkel und dunkler.

»Es geht mir besser«, erklärte Wahram unsicher, als wollte er probieren, wie die Worte sich anfühlten.

»Ah, gut«, sagte Swan. »Versuch, etwas zu trinken. Du bist wahrscheinlich dehydriert.«

»Ich habe Durst.«

Mehr Zeit verstrich. Nach einer Weile begann Wahram, halblaut zu pfeifen, eine der Melodien, die er in dem Versorgungstunnel gepfiffen hatte. Beethoven, das wusste sie, und zwar keine der Symphonien. Also handelte es sich wahrscheinlich um eines der späten Streichquartette. Ein langsamer Satz. Vielleicht derjenige, den Beethoven nach seiner Genesung von einer Krankheit geschrieben hatte. Eine Danksagung. Sie würde es erst mit Sicherheit wissen, wenn sie den abschließenden Ton hörte. Jedenfalls war es eines von den guten Stücken. Leise pfiff sie eine Begleitstimme, ließ die Lerche in ihrem Innern singen, während sie seine Hand drückte. Es war eine langsame Melodie, in der sie nicht einfach herumzwitschern konnte. Sie musste einen Weg finden, sich zu bremsen, sich ihm anzupassen. Ihr Lerchengehirn erinnerte sich an die Teile der Melodie, die er ihr unter der Oberfläche des Merkur beigebracht hatte. Während ihres untermerkurianischen Lebensabschnitts, der eine Ewigkeit her zu sein schien. Dieses Leben war dahin; das jetzige würden sie ebenfalls hinter sich lassen; das bedeutete für diesen Moment allerdings keinen großen Unterschied, ob sie nun überleben würden oder nicht. Ach, wie schön dieses Lied doch war, etwas, an dem man sich emporranken konnte. Das Lerchengehirn in ihrem Innern sang noch immer, sein Zwitschern stieg aus der langsamen Melodie empor. Verschiedene Zeitmaße wurden miteinander verwoben.

»Erinnerst du dich?«, fragte sie ihn, als sie einmal innehielten. Mit angespannter Stimme und einem Griff, der ihm beinahe die Finger quetschte: »Erinnerst du dich daran, wie wir in dem Tunnel waren?«

»Ja, allerdings.«

Sie nahmen die Melodie wieder auf. Er bekam mit Mühe und Not ein halbwegs gutes Pfeifen zustande; oder zumindest erweckte er derzeit diesen Eindruck. Vielleicht hatte er immer noch Schmerzen. Musikalisch waren sie in dem Tunnel besser gewesen. Jetzt klangen sie wie Armstrong und Fitzgerald, wobei er sein Äußerstes gab, um wenigstens im Ansatz hier und da zufällig ein Minimum an Perfektion zu erreichen, während sie ohne jede Mühe und beinahe spielerisch einen perfekten Klang erzielte. Ein Duett von Gegensätzen. Der Kampf und das Spiel, die gemeinsam etwas Besseres erzeugten als jeweils für sich alleine. Vielleicht brauchte man beides. Vielleicht hatte sie ihr Spiel zu einem Kampf gemacht, obwohl sie eigentlich ihren Kampf zu einem Spiel hätte machen müssen.

Am Ende gelangten sie zu der Melodie. Ja, es war die Danksagung. »Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit«, hatte Beethoven sie laut Wahram genannt, in der lydischen Tonart. Und der Titel beschrieb das Gefühl gut, was nicht immer so war. Die Melodie selbst drückte das Gefühl von Dankbarkeit aus, mit einem untrüglichen Gespür für Musik als Sprache der Gefühle. Wie war das möglich? Wer hatte das vollbracht? Beethoven, die menschliche Nachtigall. In unseren Köpfen gibt es Lieder, dachte sie, ob man nun Vogelgehirnzellen in sie eingesetzt hat oder nicht; sie waren schon vorher dort, tief unten im Cerebellum, seit Millionen von Jahren konserviert. Dort gab es keinen Tod: Vielleicht war der Tod eine Illusion, vielleicht lebten diese Muster bis in alle Ewigkeit, Musik und Gefühle, die durch ein Universum nach dem anderen trieben, auf den Schwingen flüchtiger Vögel.

»Seit dem Tunnel«, sagte sie zu ihm, als er zu pfeifen aufgehört hatte, »haben wir eine Beziehung.«

»Mmm«, sagte er, was Zustimmung bedeuten konnte oder auch nicht.

»Meinst du nicht?«, wollte sie wissen.

»Doch, schon.«

»Wenn wir einander nicht hätten begegnen wollen, hätten wir uns aus dem Weg gehen können. Aber das wollten wir anscheinend gar nicht. Wir wollten …«

»Hmm«, erwiderte er ausweichend.

»Was meinst du damit? Willst du es abstreiten?«

»Nein.«

»Was meinst du dann damit?«

»Ich meine«, sagte er bedächtig, hielt inne und schien dann mit einem Mal keine Lust mehr zum Reden zu haben. Durch sein Visier sah sie, dass er nun endlich zu ihr schaute und nicht länger zu den Sternen dort draußen, und das erschien ihr wie ein gutes Zeichen, aber es beunruhigte sie zugleich, weil sein Blick so ernst und durchdringend war. Diese Tauchgänge in die Tiefen des Bewusstseins waren Amphibienarbeit, die ihre Kröte auf ihre schweigsam zerstreute Art erledigte.

»Ich bin gerne mit dir zusammen«, fuhr er fort. »Es kommt mir so vor, als wären die Dinge interessanter, wenn ich mit dir zusammen bin.« Er schaute sie weiter an. »Ich pfeife gerne mit dir. Unsere gemeinsame Zeit im Tunnel war schön.«

»Die fandest du schön?«

»Aber natürlich. Das weißt du doch.«

»Nein«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich weiß oder nicht weiß. Das ist Teil meines Problems.«

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Aber natürlich«, sagte sie. »Ich habe dich auch lieb.«

»Nein, nein«, erwiderte er. »Ich liebe dich.«

»Ich verstehe!«, sagte sie. »Aber ach je … ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, was du meinst.«

Er lächelte sein kleinstes Lächeln. Es war so klein und blieb beinahe hinter seinem Visier verborgen, aber es erschien nur auf seinem Gesicht, wenn ihn etwas wirklich belustigte. Es war nie bloß eine höfliche Geste. Wenn er höflich sein wollte, dann schaute er finster drein.

»Ich weiß auch nicht, was ich meine«, antwortete er. »Aber ich sage es trotzdem. Dass ich es zu dir sagen will – diese Art Liebe ist das.«

»Oh-oh«, sagte sie. »Hör mal, das ist doch verrücktes Gerede. Dein Bein ist gefroren, und du hast sicher einen Schock. Dein Anzug hat dich mit allem möglichen Zeug vollgepumpt.«

»Da hast du höchstwahrscheinlich recht«, räumte er ein wenig verträumt ein. »Trotzdem, das gestattet es mir nur zu sagen, was ich wirklich empfinde. Sagen wir mal aufgrund einer gewissen Dringlichkeit.«

Er lächelte erneut, wenn auch nur kurz. Er beobachtete sie wie … tja, sie wusste nicht wie was. Es war kein Falkenblick, und ganz und gar nicht der lange Blick eines Wolfs. Eher handelte es sich um einen neugierigen, interessierten Blick – einen fragenden Froschblick, als wollte er gerne wissen, was für ein Geschöpf sie war. Robot? Limit? Räuber? Robert?

Tja, sie wusste es nicht. Sie konnte es ihm nicht sagen. Ihre Kröte sah sie an, mit Augen wie Kugeln aus Jaspis in seinem Kopf. Sie musterte ihn: so langsam, so sehr er selbst, so in sich geschlossen, mit seinen Ritualen … falls das stimmte. Sie versuchte, alles, was sie jemals an ihm wahrgenommen hatte, zu einem einzigen Satz oder einer einzigen Charakterisierung zusammenzufassen, doch es funktionierte nicht; er blieb ein Gewirr von Einzelteilen, von kleinen Begebenheiten und Gefühlen, und dann war da ihr großes Zusammensein, das auch ein Gewirr war, und verwischt. Aber interessant! Das war der Kern der Sache, vielleicht auch dieses Wort, das er benutzt hatte. Er interessierte sie. Sie fühlte sich von ihm angezogen wie von einem Kunstwerk oder einer Landschaft. Er hatte ein sicheres Gefühl für sein Handeln; er zog eine saubere Grenze. Er zeigte ihr neue Dinge, aber auch neue Gefühle. Ach, gelassen zu sein! Ach, aufmerksam zu sein! Er verblüffte sie mit diesen Qualitäten.

»Hmm, tja, ich liebe dich auch«, sagte sie. »Wir haben eine Menge zusammen durchgemacht. Lass mich darüber nachdenken. Ich habe nicht in der Weise darüber nachgedacht, die du anzudeuten scheinst.«

»Ein Vorschlag«, schlug er vor.

»Na schön, also gut dann. Ich denke darüber nach, was es bedeutet.«

»Sehr gut.« Einmal mehr lächelte er sein kleines Lächeln.

Sie trieben in der weiß überzogenen Schwärze. Diamantstaub: Angeblich konnte man einhunderttausend Sterne mit bloßem Auge sehen, wenn man sich im All befand. Swan kam es schwierig vor, das abzuschätzen, und wahrscheinlich handelte es sich bloß um eine Computerzählung, die die kleinste Größe miteinbezog, die für durchschnittlich gute Augen als wahrnehmbar galt. Ihr kam es vor, als wären es sehr viel mehr als hunderttausend.

Die Sterne tanzten schwerelos auf und ab, sie wackelten, wenn Swan blinzelte und atmete. Sie konnte ihren eigenen Atem und ihren Herzschlag hören, und auch das Blut, das ihr durch die Ohren strömte. Ihr eigenes animalisches Rauschen im Raum, in der Zeit. Pulsschlag auf Pulsschlag. Da sie ein und ein drittel Jahrhundert gelebt hatte, hatte ihr Herz bereits um die fünf Milliarden Mal geschlagen. Das kam einem wie eine ganze Menge vor, solange man nicht anfing zu zählen. Das Zählen selbst implizierte eine begrenzte Dauer, was definitionsgemäß zu kurz war. Ein seltsames Gefühl.

Aber seine Atemzüge zu zählen war auch ein buddhistisches Ritual, das auf dem Merkur zu einem Teil der Sonnenanbetung geworden war. Das hatte sie schon früher getan. Hier waren sie, im Angesicht des Universums, hinter den Mauern ihrer Raumanzüge und Leiber. Hörten den Leib, sahen die Sterne und die tiefschwarze Weite. Dort war das Sternbild Andromeda, und darin die Andromeda-Galaxis, eher ein verschmiertes Oval als ein dichter, kleiner Fleck. Aber wenn sie daran dachte, um was es sich handelte, konnte Swan die dritte Dimension manchmal sogar noch weiter in die Schwärze ausfalten – dann nahm sie nicht nur den vorderen Bereich wahr, der hier und da durch Sterne in verschiedenen Entfernungen punktiert war, bei denen man so tun könnte, als ließen sie sich anhand ihrer Helligkeit zuordnen, sondern sah auch Andromeda im Ganzen als Galaxis, die noch viel weiter entfernt war als alles andere für sie Sichtbare – wusch, da war er, der tiefste Raum, die Ausdehnung des Vakuums vor ihren Augen. Das waren Ehrfurcht gebietende Momente, und strenggenommen hielten sie nicht besonders lange an – das war einfach nicht möglich, dafür waren sie zu gewaltig. Das menschliche Auge und der menschliche Verstand waren nicht dafür ausgestattet, das Universum zu sehen. Sie wusste, dass es sich hauptsächlich um einen Sprung der Einbildungskraft handelte; aber wenn die Vorstellung zu dem passte, was sie in genau diesem Moment sah, wirkte es fast vollkommen real.

Jetzt geschah es erneut, und sie war mittendrin: das Universum in voller Größe. 13,7 Milliarden Jahre der Ausdehnung, und es ging weiter; da sich die Ausdehnung tatsächlich sogar beschleunigte, mochte es sogar erblühen wie eine Sonneneruption und dabei alles zerstreuen, was in seinem Innern brannte. Es sah aus, als würde genau das im Moment passieren, vor ihren Augen.

»Ich bin voll drauf«, sagte sie. »Ich sehe Andromeda als Galaxis, und sie stanzt ein Loch in die Schwärze, genau dort, als würde ich in eine neue Dimension sehen.«

»Willst du ein bisschen Bach hören?«, fragte er. »Als Untermalung?«

Sie musste lachen. »Wie meinst du das?«

»Ich höre gerade Bachs Cello-Suite«, sagte er. »Die passt wirklich sehr gut zur Aussicht, finde ich. Willst du dich zuschalten?«

»Klar doch.«

Eine einzelne Cello-Stimme, getragen, aber gewandt, mäanderte durch die Nacht.

»Wo hast du das her? Hat dein Anzug das?«

»Nein, meine Armbandpad-KI. Die kann im Vergleich zu deiner Pauline nicht viel, aber das schon.«

»Ich verstehe. Du trägst also eine schwache KI mit dir herum?«

»Ja, genau.« Eine besonders ausdrucksstarke Bach-Passage erfüllte die Stille. Das Cello war beinahe wie ein dritter Gesprächsteilnehmer.

»Hast du nicht etwas weniger Schwermütiges?«, erkundigte sich Swan.

»Ich denke schon, aber ehrlich gesagt erscheint mir das hier ziemlich lebhaft.«

Sie lachte. »Für dich schon!«

Leise summend dachte er über ihre Antwort nach. »Wir könnten stattdessen Klaviermusik von Debussy hören«, sagte er, nach einer besonders tiefen Passage, in der das Cello mit einem Timbre gebrummt hatte, das so schwarz war wie das All. »Ich glaube, das wäre genau das Richtige für dich.«

Das Cello wurde von einem Klavier ersetzt, dessen klare Glockenklänge durch Läufe flitzten und flossen und Melodien wie von Katzenpfoten auf Wasser erschufen. Debussy hatte wie ein Vogel gedacht, das konnte sie hören, und sie wiederholte pfeifend eine seiner Phrasen und flocht sie in die darauffolgenden Passagen ein. Nicht leicht. Sie hielt inne. »Sehr hübsch«, sagte sie.

Er drückte ihre Hand. »Ich wünschte, ich könnte mit dir mitpfeifen, aber das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich kann mich zu schlecht erinnern. Wenn ich es höre, überrascht es mich jedes Mal. Ich meine, ich erkenne es, wenn ich es höre, ich habe es zehntausendmal gehört, aber wenn ich es nicht gerade laut höre, könnte ich dir die Melodie nicht aus dem Gedächtnis vorpfeifen, sie ist zu … zu schwer zu fassen, schätze ich, oder zu subtil. Flüchtig. Unerwartet. Und die Töne scheinen sich nie zu wiederholen. Hör mal … die Musik macht immer wieder etwas Neues.«

»Wunderschön«, sagte sie und pfiff einen weiteren Nachtigallen-Diskant.

Nach einer ganzen Weile stellte er die Musik ab. Die Stille war immens. Einmal mehr konnte sie ihren eigenen Atem hören, das Pochen ihres Herzens. Es klopfte in seinem Doppelrhythmus vor sich hin, ein wenig schneller als normalerweise, aber es raste nicht mehr. Beruhige dich, dachte sie einmal mehr. Du bist schiffbrüchig im Weltall, man wird dich früher oder später retten. Bis dahin bist du hier, und Wahram ist bei dir, und Pauline. Kein Augenblick unterscheidet sich jemals grundlegend von diesem. Konzentrier dich, und bleib ruhig.

Zu behaupten, dass jemand so oder so ist, war vielleicht bloß der Versuch, eine Erinnerung an eine Tafel zu heften, auf der man seine Erinnerungen sortierte, wie Schmetterlinge in der Sammlung eines Lepidopterologen. In Wirklichkeit handelte es sich dabei nicht um die Verallgemeinerung, als die es erschien, sondern um einen Schuss ins Blaue. War Wahram auch nur ansatzweise so, wie sie ihn beschrieben hätte, wenn sie etwas über ihn zu sagen versucht hätte? Er war so, er war so … eigentlich wusste sie es nicht. Man erhielt Eindrücke von anderen Menschen, mehr nicht. Man hörte sie niemals denken, man hörte nur, was sie sagten; es war ein Tropfen im Meer, eine Berührung über einen weiten Abgrund hinweg. Eine Hand, die die eigene festhält, während man in der Schwärze des Alls treibt. Das war nicht viel. Sie konnten einander eigentlich nicht besonders gut kennenlernen. Also sagte sie, dass er so wäre, oder so, und bezeichnete das als seine Person. Sie maßte sich ein Urteil an. Es war so eine Raterei. Man hätte jahrelang mit einem Menschen reden müssen, um die eigene Einschätzung auch nur ansatzweise zu validieren. Und selbst dann würde man es nicht wirklich wissen.

Wenn ich bei dir bin, sagte sie in Gedanken zu Wahram, während sie dort zusammen durchs All trieben, warteten, sich bei den Händen hielten – wenn ich bei dir bin, dann fühle ich mich etwas verängstigt; beurteilt; unzulänglich. Ich bin nicht die Sorte Mensch, die du magst, was ich als Angriff empfinde, weshalb ich mich umso mehr so verhalte, wie dieser Teil von mir ist. Obwohl ich auch will, dass du eine gute Meinung von mir hast. Aber dieses Bedürfnis empfinde ich als Ärgernis, und deshalb widersetze ich mich ihm innerlich. Warum sollte es mich kümmern? Dich kümmert es ja auch nicht.

Dabei kümmert es dich sehr wohl. Ich liebe dich, hast du gesagt. Und – das gestand Swan sich ein – sie wollte, dass er so empfand, wenn er mit ihr zusammen war. Genau so – war das Liebe, dieser Wunsch nach einem Gefühl, das unscharf blieb, selbst wenn man es verspürte? Betrachteten die Leute sie deshalb manchmal als eine Art von Wahnsinn? Die Worte bleiben sich gleich, sogar die Gefühle bleiben sich gleich, aber zwischen den Worten und den Gefühlen gibt es Abweichungen, die man nur schwer im Blick behalten kann. Der Wunsch zu kennen, gekannt zu werden, um seiner selbst willen geschätzt zu werden und nicht um dessentwillen, was man nach Meinung der Leute sein sollte … sondern vielmehr dafür, was man war … es fiel ihr schwer, nicht zu glauben, dass jemand, der sie liebte, einen großen Fehler beging. Weil sie sich selbst nämlich besser kannte als die anderen und deshalb wusste, dass sie ihr ihre Liebe irrtümlich schenkten. Und deshalb mussten sie wohl auf die eine oder andere Art dumm sein. Und trotzdem war es genau diese fehlgeleitete Liebe, die sie wollte. Jemand, der einen mehr wollte, als man selbst sich wollen würde. Jemand, der einen wollte, obwohl man man selbst war, jemand, der mehr Nachsicht mit einem hatte als man selbst. So war Alex gewesen. Und wenn man das erkennt, wenn man das spürt – wenn man sich über das gerechtfertigte Maß hinaus geliebt fühlt, aus einer Art Großmut heraus –, dann löst das gewisse andere Gefühle aus. Eine Art Abglanz. Ein Überfließen. Es stieß ein Gefühl an, das sich wie eine Erwiderung anfühlte. Gegenseitige Anerkennung. Einmal mehr im Spiegelkabinett. Man lasse einen Laserstrahl zwischen zwei Spiegeln hin und her springen, zwei Teile von etwas Größerem; nicht bloß ein Tier mit zwei Rücken (obwohl es das zweifellos auch war, und das war auch etwas wirklich Tolles, so ein Tier), sondern noch etwas anderes, eine Art … Paarung, wie von Pluto und Charon, mit einem Gravitationszentrum, das zwischen den beiden liegt. Nicht ein einziger Supra-Organismus, sondern zwei, die zusammen an etwas arbeiten, das nicht sie selbst sind. Ein Duett. Eine Harmonie.

Sie pfiff eine der anderen Beethoven-Melodien, die Wahram oft im Tunnel gepfiffen hatte; sie hatte nach wie vor Probleme damit, sie auseinanderzuhalten, aber sie wusste noch, dass es sich hierbei um das andere Dankeslied handelte, das nach dem großen Gewitter, als alle Geschöpfe wieder in die Sonne herauskamen. Eine einfache Melodie, wie ein Volkslied. Sie entschied sich dafür, weil es sich um eine der wenigen Melodien handelte, zu denen Wahram einen Diskant pfeifen konnte, eine Ausschmückung, von der er behauptete, sie wäre Teil des Originals gewesen. Also fiel Wahram mit ein. Es klang nicht so kraftvoll wie beim letzten Mal, obwohl er damals auch nicht besonders kraftvoll gepfiffen hatte. Schmerz zog sich wie ein Goldfaden durch die Töne. Wenn sie ehrlich war, war er kein besonders guter Musiker. Aber für die Stücke, die er wirklich mochte, hatte er ein gutes Gedächtnis. Und er mochte sie wirklich.

Sie legte richtig los und umspielte ihn trällernd, worauf er erleichtert auf die Hauptstimme umschwenkte. Vielleicht ging es bei einem Duett ja genau darum.

»Vielleicht liebe ich dich«, sagte sie. »Vielleicht ist es das, was ich die letzten paar Jahre lang verspürt habe. Vielleicht wusste ich bloß nicht, was es ist.«

»Vielleicht«, sagte er.

Meinte er damit, dass ein Vielleicht nicht zählte, oder das ein Vielleicht besser war als nichts?

»Den langsamen Satz aus der Siebten«, sagte er. »Wenn es dir recht ist.« Und schon pfiff er eine weitere Melodie aus ihrer Zeit unter der Oberfläche des Merkur, eine, bei deren Variation sie viel Spaß gehabt hatte, weil sie so viel Möglichkeiten eröffnete. Manchmal hatten sie stundenlang musiziert, einen halben Tag und länger. Ehrwürdig, getragen, elegisch; ein bisschen wie Wahram selbst, der gemächlich seinen Verrichtungen nachging. Unterwegs. Jemand, auf den man sich verlassen konnte.

»Vielleicht«, wiederholte sie. »Es mag sein.«

Ganz wie früher stimmten sie ihren gemeinsamen Gesang an, wie damals, als sie im Schmelztiegel gewesen waren und alles davon abgehangen hatte, wie sie ihren Weg nach vorne fortsetzten. Wie jetzt, selbst jetzt, während sie im All schwebten und auf ihre Retter warteten, im Vertrauen darauf, dass sie eintreffen würden.

Begründetes Vertrauen; denn Pauline sagte: »Ein Schiff nähert sich.«

Ein weißer Punkt erblühte inmitten all der anderen, und innerhalb von Sekunden verwandelte er sich in eine weitere kleine Raumjacht, einen Hopper, der wie ein Traum dort vor ihnen im All hing, bizarr und zauberhaft.

»Ah, gut«, sagte Swan.

Jetzt waren auch sie beide Peter. Das durfte sie nicht vergessen. Nur durch diese Rettung ging es weiter. Als sie mit leichten Düsenstößen zu dem kleinen Schiff hinüberflogen, versuchte Swan festzuhalten, wie sich das angefühlt hatte – das Schweben, Andromeda, Wahrams Blick, ihr Duett. Es hätten auch ihre letzten Stunden sein können. Sie dachte erneut an Alex. Unsere Geschichten währen eine kleine Weile, einige Gene und Worte bleiben; und dann verschwinden wir. Es war schwer, das in Erinnerung zu behalten. Und als die Schleuse sich schloss und sie wieder drinnen waren, vergaß Swan es einmal mehr.

Kiran auf Eis

Noch während die Augen in der Kiste Kiran anstarrten, kam ihm in den Sinn, dass er sie wahrscheinlich nicht hätte sehen sollte, und ein Blick in Richtung des massigen Wachmanns machte ihm klar, dass dieser dasselbe dachte. Während der Wachmann die Kiste wieder verschloss, überlegte Kiran, was das wohl für ihn heißen würde, und bevor der Mann den Code fertig eingetippt hatte, war Kiran auf und davon und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Er bog bei der ersten Gelegenheit ab, rannte so schnell er konnte bis zur nächsten Abzweigung und bog erneut ab, wobei er einen kurzen Blick über die Schulter warf: Der Wachmann war nirgends zu sehen. Kiran lief etwas langsamer und überlegte, was er jetzt tun konnte. Den Zug zwischen Vinmara und Kleopatra würde man sicherlich im Auge behalten, und es gab nur diese eine Verbindung.

Ein Großteil der Stadtbevölkerung war noch immer draußen, um die Sonnenentfinsterung und das Ende der Regenfälle zu feiern. Und er wusste, wo sich von seiner gegenwärtigen Position aus das Tor befand. Kiran bog erneut ab und hielt nun darauf zu. Die Straßen der Muschelstadt waren beinahe leer. Vor ihm lag das Tor: Niemand aus seiner neuen Arbeitseinheit war zu sehen, und abgesehen von den üblichen Torwachen auch keine Wachleute. Als er an das Schott kam, gab er einem von ihnen seinen ursprünglichen Ausweis, dann betrat er die Schleuse und vergewisserte sich, dass mit seinem Anzug alles in Ordnung war.

Hinaus auf die verschneiten Hänge der Venus. Die Leute strömten von dem Hügel herab, von dessen Spitze aus man eine Aussicht auf die Bucht hatte. Er wandte den Blick ab, als er an ihnen vorbeikam, und ging in einem Bogen zur Westseite der Stadt. Sobald er hinter der Biegung verschwunden war, schlug er sich über den Hügel und gelangte außer Sichtweite von Vinmara. Anschließend ging er durch eine breite Abschwemmung in Richtung des weit entfernten Ozeans.

Dort unten waren noch immer die Arbeiter damit beschäftigt, das gefrorene CO2 zuzudecken, weshalb er hoffte, dass er eine Mitfahrgelegenheit in einer der Rieseneismaschinen oder Steinschaumfabriken ergattern konnte. Er wollte nach Colette, aber er hatte Angst, dass im gesamten Transportsystem Alarm ausgelöst worden war und man ihn suchen würde. Erst jetzt wurde ihm richtig klar, was es bedeutete, ein Doppelagent oder Maulwurf zu sein, oder was auch immer er jetzt war. Es bedeutete, dass keine Seite wirklich für einen da war oder sich die Mühe machen würde, einen zu beschützen, wenn es Probleme gab. Anderseits, wenn er es zu Shukra schaffte, konnte er mit Informationen aufwarten, die Shukra haben wollte. Also war es das Naheliegendste, sich nach Colette zu begeben.

Vinmara befand sich unmittelbar südlich von Onatah Corona. Onatah war die Maisgöttin der Irokesen, wie ihm die Landkarte auf seinem Helmvisier mitteilte; mit Sicherheit eine sehr viel freundlichere Gottheit als Lakshmi, die immerhin Kalis Vorgesetzte war. Nach allem, was Kiran bislang über Lakshmi gehört hatte, würde er ihren Zorn wohl kaum überleben. Der Gedanke ließ ihn zusammenzucken, und er nahm die Übersetzerbrille, die sie ihm gegeben hatte, aus der Tasche seines Raumanzugs. Widerwillig und mit einem letzten Dankeskuss für ihren enormen Beitrag zur Verbesserung seines Liebeslebens warf er sie fort. Es war wirklich ein Jammer, dass er nicht schon in der Stadt daran gedacht hatte, aber jetzt konnte er sie schlecht dorthin zurückbringen.

Da er die großen Steinschaumfabriken von Vinmara aus am Horizont hatte sehen können, war er davon ausgegangen, dass sie nicht besonders weit weg sein konnten. Jetzt, während er bergab über den knirschenden und manchmal glatten Schnee auf die eisige See zumarschierte, wurde ihm klar, dass man durch die erhöhte Lage der neuen Stadt möglicherweise sehr viel weiter sehen konnte, als Kiran es gedachte hatte. Tatsächlich mochte es sich um viele Kilometer handeln.

Dieser Gedanke begann gerade, ihn zu bedrücken, als er über einen kleinen Hügelkamm aus Eis kam und eine riesige Eismaschine sah, die sich zwar nicht unmittelbar vor ihm befand, aber nur ein oder zwei Kilometer entfernt dahinrumpelte. Er verfiel in einen leichten Laufschritt und versuchte dabei, sich nicht zu sehr zu verausgaben. Die Eismaschine bewegte sich quer zu ihm, also würde er sie ohne Probleme einholen; es gab keinen Grund, sich zu überanstrengen.

Trotzdem ächzte und keuchte er, als er das Fahrzeug schließlich erreichte. Falls sich jedoch eine oder mehrere Personen im Innern befanden, schauten sie unglücklicherweise nicht aus den Fenstern, die sich vorne oben im Führerhäuschen befanden. Kiran konnte nichts weiter tun, als neben der Maschine herzulaufen und an der Seite, wo eine Leiter fast bis zum Boden reichte, aufzuspringen. Er kletterte die Leiter hoch und zog sich auf das Dach der Maschine, auf dem es nicht nur ein Geländer gab, sondern auch einen Haufen Geräte und Instrumente, an denen man sich festhalten konnte. Allerdings musste man sich ein bisschen sehr weit hinauslehnen, wenn man vorne bis zu den Fenstern herunterreichen wollte, ohne dass man sich dabei besonders gut hätte festhalten können. Die Fenster waren also nach wie vor außer Reichweite, stellte Kiran entmutigt fest.

Es gab allerdings eine Luke im Dach, auf die er, kaum dass er sie entdeckt hatte, erst mit den Fäusten einhämmerte und dann mit den Stiefelabsätzen. Er schaute sich gerade nach etwas um, das sich abbrechen ließ, um damit noch fester auf die Luke einzudreschen, als der Koloss bebend zum Stehen kam. Kurz danach hörte er Stimmen von unten, und dann öffnete sich die Luke.

»Danke!«, rief er. »Ich habe mich hier draußen verlaufen!«

Die beiden Venusianer holten ihn rein, und er hatte ziemliche Schwierigkeiten, sich eine Geschichte auszudenken, die seine Anwesenheit dort unten auf dem gefrorenen Ozean erklärte – er musste Drogenkonsum und, schlimmer noch, Orientierungsverlust einbauen. So wand er sich durch seinen Bericht und wähnte sich glücklich, dass peinliche Berührtheit die angemessene Empfindung für seine Geschichte in all ihren blödsinnigen Einzelheiten war. Glücklicherweise hörten die beiden Aufpasser die ganze Geschichte von ihren Übersetzungsgeräten auf Chinesisch und nickten bloß, als seien sie schon oft Zeuge von derlei Dummheiten geworden. Dann wandten sie sich wieder ihrem Monitorspiel zu. Sie waren unterwegs zu einem Arbeitslager unter Ba’het Patera, erklärten sie ihm, und würden in vier Stunden dort eintreffen. Wenn er wollte, gab es Bier im Kühlschrank.

Wie Kiran sah, gehörte das Arbeiterlager, bei dem sie schließlich eintrafen, zu einer ganzen Reihe, die westwärts an der Nordküste des neuen Ozeans entlang errichtet worden waren, Unterkünfte für die Arbeiter, die das letzte bisschen CO2 versiegelten. Kiran gab den Leuten im Lager seinen alten Ausweis, aber sie warfen nur einen kurzen Blick darauf und winkten ihn in die Kombüse durch. Er aß gierig, während er über der Karte in seinem Tischbildschirm brütete. Kiran hatte bereits festgestellt, dass es draußen auf dem Parkplatz schnelle kleine Schneemobile gab, der Karte nach schienen die Lager an der Küste nah genug voneinander zu sein, um bei gefülltem Tank mit einem Schneemobil von einem zum nächsten zu gelangen. Vielleicht war es sogar so gedacht.

Sehr schön. Und da man hier trotz der immerwährenden Nacht feste Tageszeiten einhielt, wartete er einfach, bis alle sich schlafen gelegt hatten, ging dann zu einem der Schneemobile hinaus, vergewisserte sich, dass der Tank voll war, ließ es an und machte sich auf den Weg Richtung Westen.

Die Schneemobile waren praktische kleine Dinger und glichen eher Autos auf Skiern als den Ungetümen, die man benutzte, um das CO2 abzukapseln. In seinen ersten Monaten auf Venus hatte er viel Spaß daran gehabt, sie zu fahren, und jetzt lehnte er sich zurück, gab der KI Anweisungen und schaute zu, wie die unheimliche Dämmerlandschaft an ihm vorbeizog. Der Schnee hier war zu Firn festgedrückt, über den sein Fahrzeug nur so dahinrauschte. Er würde sozusagen die ganze Nacht unterwegs sein, aber so würde er das nächste Lager erreichen, wenn man dort aufstand. Vielleicht konnte er einfach auf den Parkplatz fahren, in ein anderes Schneemobil einsteigen und weiterfahren, warum nicht? Niemand interessierte sich dafür, wo diese Fahrzeuge auf dem Eis unterwegs waren; sie gehörten niemandem. Und man konnte mit ihnen nirgendwohin abhauen.

Das sagte er sich zumindest und schlief ein. Und als er aufwachte und die KI anwies, einfach auf den Parkplatz neben dem Lager zu fahren, funktionierte das auch genau wie erhofft. Raus aus dem Mobil und rein ins nächste, und wieder los; niemand störte sich auch nur im Geringsten daran. »Ich liebe die Venus«, sagte er zu seinem KI-Fahrer. Sein alter Übersetzungsgürtel wiederholte die Worte auf Chinesisch, obwohl die KI wahrscheinlich auch Englisch verstand. Der Gürtel war ein trauriger Ersatz für die Brille, aber in dieser Situation kam es ohnehin nicht darauf an.

Zwei weitere Lager, zwei weitere Schneemobile, dann erreichte er ein Lager, das er sich auf der Karte eingeprägt hatte. Es war an einen Schienenstrang angeschlossen, auf dem er durch die Ut-Rupes- und die Vesta-Rupes-Klüfte bis nach Colette gelangen konnte. Als er im Lager ankam, sah er einen Zug im Bahnhof stehen, der lediglich aus einer Ladebucht und einem kleinen Gebäude bestand. Als er mit seinem Schneemobil heranfuhr, wurden gerade einige der Waggons im Licht großer Scheinwerfer von einem Nebengleis aus beladen. Da die Ladearbeiter sich direkt unter den Scheinwerfern befanden, konnten sie kaum etwas außerhalb des Lichtkegels sehen, sodass Kiran sich anschleichen konnte. Er wartete im Dunkeln, bis sie mit der Arbeit fertig waren, und warf dann einen Stein auf das Gebäude neben den Gleisen, und als die Arbeiter nachsehen gingen, was der Radau zu bedeuten hatte, sprang er in den Waggon und duckte sich hinter die Kisten im Innern. Wenig später schloss man die Tür hinter ihm, und er spürte, wie die Magnetschwebebahn geschmeidig anfuhr und den langen Weg nach Colette antrat, das weit oben auf dem Lakshmi-Planum mit seinem Unheil verkündenden Namen lag.

Er schlief ein, und als die Waggontüren sich öffneten und er aufwachte, fühlte er sich halb verhungert. Er wartete, bis die Luft rein war, sprang aus dem Waggon und eilte davon. Niemand war zu sehen. Erst war er sich nicht sicher, aber nachdem er sich aus dem Bahnhof herausgeschlichen hatte, wurde klar, dass er sich innerhalb der Kuppel von Colette befand. Es war drei Tage her, dass er Vinmara verlassen hatte, und er fühlte sich leicht benommen vor Hunger, aber auch sehr erleichtert.

Jetzt ging es darum, Shukra zu finden. Er konnte zu seiner Unterkunft zurückkehren, aber dort hatten ihn Lakshmis Agenten immer aufgesucht … Letztlich schlenderte er durch die Straßen der großen Stadt, versuchte, unschuldig auszusehen und begab sich zu dem Gebäude, in dem Swan ihn damals Shukra vorgestellt hatte. Nach diesem ersten Treffen war Shukra immer zu ihm gekommen, weshalb Kiran nicht wusste, wohin er sich sonst hätte wenden sollen. Er hatte eine Menge Zeit gehabt, über dieses Problem nachzudenken, aber er war sich noch immer nicht ganz sicher, wie er die Sache am besten angehen sollte. Es bestand sehr wohl die Möglichkeit, dass er vom Regen in die Traufe geriet, aber da Shukra sich mit ihm in Verbindung gesetzt und ihm gesagt hatte, wonach er Ausschau halten sollte, hoffte er, dass er vielleicht eher von der Traufe zurück in den Regen kommen würde, oder vielleicht sogar ganz ins Trockene. So oder so musste er das Risiko eingehen, jemanden um Hilfe zu bitten, und bei Shukra hatte er die besten Chancen. Also betrat er das Bürogebäude durch den Haupteingang, ging an den Empfangstresen und sagte zu den drei Wachleuten dort: »Ich möchte Shukra sehen. Bitte sagen Sie ihm, dass ich das habe, worum er mich gebeten hat, und dass ich es ihm geben möchte.«

Swan und Kiran

Von einem Kreuzer aufgelesen, der sich als Interplan-Schiff entpuppte; gewaschen, eine Mahlzeit; zwölf Stunden am Stück geschlafen; aufgestanden und wieder gegessen; dann waren sie in der Venus-Umlaufbahn, und anschließend in einer Landefähre, die wie ein Ziegelstein dem nach wie vor im Schatten liegenden Planeten entgegenstürzte, am Ende abbremste und dumpf auf einer Landebahn aufsetzte. Als sie die große Raumhafenhalle betraten, sah Swan, dass sie bei Colette gelandet waren. Man hatte Aussicht auf eine zerklüftete, verschneite Hügellandschaft im Norden, die im Zwielicht wirbelnder schwarzer Wolken lag. Die Venus!

In Gedanken war Swan noch immer voll und ganz mit dem beschäftigt, was geschehen war, während sie so unmittelbar dem All ausgesetzt gewesen waren, weshalb die Szenerie vor ihren Augen ihr wie ein Traum vorkam. Man trennte sie von Wahram und unterzog sie beide einer ärztlichen Untersuchung, dann kam die lange Erörterung des Unglücksfalls. Die Leute, die mit ihr redeten, waren aufgebracht; anscheinend blieb Swan nichts anderes übrig, als sich mit der Gegenwart zu befassen, wie substanzlos sie ihr auch erscheinen mochte. Über das, was vorgefallen war, und über ihre Gefühle dabei, konnte sie später nachgrübeln. Sie wollte nicht, dass es ihr entglitt wie alles andere auch.

Ihre Gastgeber kredenzten ein Festmahl aus zahlreichen Dim-Sum-Häppchen, jedes nur ein Mundvoll oder eine Kostprobe, immer mit einer anderen Soße, bis ihr Gaumen völlig überfordert war; nach vier Bissen fühlte sie sich vollgestopft. Ihr Magen rebellierte; er brummte und knurrte während des gesamten Gesprächs, das sich an die Mahlzeit anschloss.

Viele der Anwesenden tranken Liköre und Opiat-Cocktails. Swan trank Mineralwasser und beobachtete die anderen wachsam. Die Venusianer schienen in ziemlich niedergedrückter Stimmung zu sein. Einige Witzbolde hoben die Stimmung etwas, aber sie saßen größtenteils am selben Tisch und lachten gemeinsam über das Aufgebot an Speisen, während die anderen missmutig, geradezu grimmig wirkten. Natürlich war es schön und gut, dass man den Sonnenschild gerettet hatte, ganz klar ein großer Sieg. Aber ihr Verteidigungssystem hatte sie im Stich gelassen, und die Gefahren, die der Sonnenschild mit sich brachte, waren allen deutlich vor Augen geführt worden. Dieses Mal hatte man die Katastrophe noch abwenden können, aber sie hing noch wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen: ein schreckliches Schicksal, nur aufgeschoben durch eine Vorrichtung, die kaum mehr war als eine Jalousie oder ein runder Drachen an einer Schnur.

In einer besonders missmutigen Ecke beschäftigte man sich mit der Frage, was mit den Sicherheitssystemen des Sonnenschilds geschehen war; die Anwesenden klopften mit den Fingern auf die Graphen in ihrer Tischplatte und redeten hektisch aufeinander ein. Anscheinend waren die meisten der Meinung, dass das Versagen bei der Abwehr auf eine Infiltration zurückzuführen sei. Wahram fuhr in einem Rollstuhl herein und gesellte sich zu ihnen. Sein linkes Bein war starr ausgestreckt und weiß bandagiert. Er redete bedächtig, während mehrere Leute mit ihm sprachen. Einmal warf er Swan einen Blick zu, als hätte er gerade etwas gehört, was sie wahrscheinlich interessieren würde; dann vertiefte er sich wieder in das Gespräch. Swan hoffte, dass sie später mehr darüber erfahren würde. Aber dann kam ihr in den Sinn, dass er sich möglicherweise verpflichtet fühlte, den anderen zu sagen, dass sie Pauline von Alex’ Gruppe erzählt hatte, obwohl sie versprochen hatte, genau das nicht zu tun. Wie sollte sein Bericht über die Ereignisse auch sonst einen Sinn ergeben? Tja, letztlich hatte ihr unbedachtes Handeln die Venus gerettet. Nicht dass man es ihr deshalb leichter machen würde. Man würde sie fortan als absolut unverlässliches, leichtsinniges Plappermaul von einem Qubeschädel betrachten. Ein solches Urteil würde schnell bei der Hand sein.

Sie saß da und beobachtete die Venusianer. Sie saßen schlaff und deprimiert in ihren Stühlen. Swan stellte einige Fragen, die man ihr manchmal beantwortete, manchmal auch nicht.

Einmal mehr sprach sie eine Frage an, über die anscheinend niemand nachdenken wollte: »Ich vermute, dass ihr bei dem Sonnenschild bleiben müsst, jetzt, wo er einmal da ist?«

Einer wedelte ungeduldig mit der Hand. »Manche sagen nein. Sie sind der Meinung, dass wir umsatteln sollten.«

»Wie meinst du das? Würde das nicht bedeuten, dass man das Drehmoment des Planeten beschleunigen müsste, sodass er eine Art Tag und Nacht hätte?«

»Ja.«

»Aber wie?«

»Dazu gibt es nur eine Möglichkeit«, erwiderte ein anderer. »Ein schräg von der Seite niedergehender, schwerer Meteorregen.«

»Ein sehr spätes großes Bombardement«, rief jemand von dem Tisch mit den Witzbolden.

»Aber würde das die vorhandene Oberfläche nicht in Trümmer legen?«, fragte Swan. »Den Steinschaum aufbrechen, das CO2 emporschleudern, die Atmosphäre ruinieren … und überhaupt alles, was ihr bisher geleistet habt?«

»Nicht alles«, erwiderte der Erste. »Wir würden einfach immer auf dieselbe Stelle zielen. Es würde nur ein bisschen … Unordnung geben.«

»Unordnung!«

»Hör mal, die Idee gefällt uns auch nicht besonders. Wir haben uns gegen eine Beschleunigung des Drehmoments eingesetzt. Wir alle.« Er machte eine Geste, die die Anwesenden mit einschloss. »Aber Lakshmi und ihre Leute vertreten die Position, dass es ohne allzu große Störungen gelingen kann. Nur ein weiterer kurzer, tiefer Meeresgraben und etwas Auswurfmasse auf seiner Ostseite. Auch andere Gegenden würden darunter leiden, insbesondere um den Äquator, aber die Bakterien, die wir bereits dort draußen haben, würden es überleben. Und es würde nur ein paar Prozent des vergrabenen CO2 freisetzen.«

»Aber würde es nicht ein paar Hundert Jahre schweren Bombardements brauchen, um das nötige Drehmoment zu erzeugen?«

»Die Idee ist, die Drehung so weit zu beschleunigen, dass wir einen Hundertstundentag bekommen. Unserer Meinung nach kommen die meisten irdischen Lebensformen damit zurecht. Es würde also bloß etwa hundert Jahre dauern.«

»Bloß hundert!«

Eine neue Stimme mischte sich ein: »Diese Leute vertreten die Meinung, dass wir beim ersten Mal zu ungeduldig waren.« Die Person, die gesprochen hatte, war alt, sie hatte lebendige Augen in einem maskenhaft verwitterten Gesicht. Ihre Worte klangen ein wenig reuig und ein wenig angewidert. »Wir haben uns zu sehr am Mars orientiert! Und uns für den Sonnenschild entschieden, weil es die schnellste Methode war! Aber wenn man ihn einmal hat, muss man ihn auch behalten. Man ist davon abhängig. Und jetzt erkennen die Leute, welche Risiken er birgt. Deshalb wird Lakshmi gewinnen. Man wird sich für das Bombardement entscheiden.«

»In der Arbeitsgruppe, meinst du?«

»Ja. Wir werden in Schutzräumen bleiben oder uns sogar in fliegende Städte zurückziehen müssen oder für eine Weile nach Hause zurückkehren. Warten, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.«

Wahram, der zu ihnen herübergefahren war, sagte: »Aber womit wollt ihr die Venus diesmal bombardieren? Ihr könnt jedenfalls nicht wieder irgendwelche Monde zerlegen.«

»Nein«, sagte die Alte. »Das hatte auch damit zu tun, dass wir es zu eilig hatten. Aber es gibt viele Neptun-Trojaner, die man herunterschicken könnte.«

»Erheben die Tritonier nicht auch Anspruch darauf?«

»Es gibt Tausende davon. Und der Planet hat sie sich alle aus dem Kuiper-Gürtel eingefangen. Wir könnten sie aus dem Kuiper-Gürtel ersetzen, wenn die Tritonier es wollen. Für den Neptun wäre es also nicht notwendigerweise ein Verlust. Im Prinzip haben die Tritonier uns bereits zugestimmt.«

»Tja«, sagte Swan perplex, weil ihr sonst nichts dazu einfiel. Sie betrachtete die grimmigen, verärgerten Mienen um sie herum. »Ist es das, was die Leute hier wollen? Wisst ihr überhaupt, was die Leute wollen?«

Sie sahen einander an. Der erste Sprecher sagte: »Es gibt ein mehrschichtiges Netzwerk von Kadern, wie bei den Panchayats in Indien. Und alle reden miteinander. Wir sind hier nur 40 Millionen. Die Arbeitsgruppe hört also unsere Stimmen genau wie die von allen anderen. Aber eigentlich hat die Idee ohnehin schon Fuß gefasst. Und jetzt, nach dieser Sache, sieht man die Notwendigkeit. Lakshmi hat gewonnen.«

Später, als Swan wieder allein in ihrem Krankenhauszimmer war, klopfte es leise an der Tür, und herein kam Shukra mit ihrem jungen Freund von der Erde, Kiran. Sie begrüßte die beiden erfreut, und der Anblick ihrer so lebendigen und realen Gesichter munterte sie sofort auf. Shukra, mit dem sie vor einer Million Jahre zusammengearbeitet hatte; Kiran, ihr neuester Freund – jetzt hatten beide den gleichen Gesichtsausdruck, ernst und zielstrebig. Sie setzten sich an Swans Bett, und Swan goss ihnen Wasser ein.

»Hör dir mal an, was der Junge zu erzählen hat«, sagte Shukra und neigte den Kopf in Richtung Kiran.

»Was denn?«, fragte Swan, die sich sofort auf Probleme gefasst machte.

Kiran hob eine Hand, um sie zu beruhigen. »Als du mich hergebracht hast, hast du mir gesagt, dass es hier verschiedene Interessengruppen gibt. Das hat sich als wahr herausgestellt. Es gibt sogar eine Art verdeckten Bürgerkrieg.«

»Lakshmi«, sagte Shukra düster, als würde das alles erklären. »Er hat sich mit ihr eingelassen.«

»Ist das schlecht?«, frage Swan. »Ich meine … ich bin diejenige, die ihm gesagt hat, dass er es bei ihr versuchen soll.«

Shukra verdrehte die Augen, als er das hörte. »Swan, du warst vor hundert Jahren hier. Du hättest wissen müssen, dass sich die Dinge seitdem verändert haben. Erzähl es ihr«, sagte er zu Kiran.

»Ich habe angefangen, für Lakshmi Sachen zu transportieren und Nachrichten zu überbringen«, sagte Kiran, »und Shukra hat das mitbekommen und mich dazu veranlasst, bei meinen Erledigungen für sie die Augen offenzuhalten.«

»Er war ein Köder«, sagte Shukra mit einem kalten Lächeln, »und sie hat ihn geschluckt. Aber wahrscheinlich wusste sie, dass er ein Köder war.«

Kiran nickte, und seine Miene schien zu sagen: Sieh, was du mir eingebrockt hast. »Es gibt eine neue Küstenstadt, die von Lakshmis Team ausgebaut wird, der Ort gehört eindeutig ihr, und aus irgendeinem Grund liegt er zu tief unten. Die Leute dachten, dass die Stadt vielleicht überflutet werden soll, für einen Versicherungsbetrug oder etwas in der Art. Wie dem auch sei, dort geht etwas Seltsames vor. Ich glaube, dass sie Androiden oder etwas in der Art herstellen. Roboter, die wie Menschen aussehen, weißt du?«

»Ja, ich weiß«, sagte Swan. »Erzähl weiter.«

»Es gibt dort ein abgeriegeltes Verwaltungsgebäude, das ziemlich groß ist. Ich habe gesehen, wie man dort eine Kiste mit Augäpfeln angeliefert hat. Ich glaube, dass sie dort künstliche Menschen zusammenbauen. So eine Art Frankenstein-Fabrik.«

»Das hast du gesehen?«

»Der Wachmann, mit dem ich unterwegs war, hat eine Kiste aufgemacht, die voller Augäpfel war. Es hat ihm nicht gefallen, dass ich das gesehen habe, deshalb musste ich zu Lehrer Shukra laufen und ihn um Hilfe bitten.«

Shukra nickte, wie um zu sagen, dass das klug gewesen war. Swan sagte zu ihm: »Und diese Stadt, in der er war, gehört also Lakshmi?«

»Ja«, sagte Shukra. »Ihre Arbeitseinheiten haben die Stadt errichtet. Also pass auf – ich weiß nichts über diese Vinmara-Operation, aber sie hat Leute, die in Kleopatra eintreffen und die wir nicht identifizieren können. Ich habe selbst ein Büro in Kleopatra, offiziell handelt es sich um eine offene Stadt, obwohl eigentlich sie diejenige ist, die dort das Sagen hat. Ich habe versucht herauszufinden, wo diese Leute herkommen. Aber jetzt … als ich von dem Angriff auf den Sonnenschild gehört habe, habe ich als Allererstes gedacht: Tja, das ist ja wirklich praktisch für meine Freundin Lakshmi. Jetzt bekommen die Leute solche Angst, dass sie auch dafür sind, den Planeten in Rotation zu versetzen, und wenn wir das machen, dann wird das neue Loch, das man in den Äquator reißt, die Ausdehnung der Meere schrumpfen lassen. Und Orte wie Vinmara, die zu weit unten liegen, befinden sich dann plötzlich auf der richtigen Höhe.«

»Ah«, sagte Swan. »Puh. Aber … was ist mit den Chinesen?«

»Die Chinesen verabscheuen die Idee eines zweiten Bombardements, und wenn es trotz ihres Widerstands dazu kommt, dann verlieren sie an Einfluss – wiederum ein Punkt für Lakshmi. Und ehrlich gesagt will sich hier ohnehin niemand etwas von Peking sagen lassen. Das spricht also auch zu ihren Gunsten.«

»Und was ist mit diesen Humanoiden, die sie bauen lässt?« Swan beugte sich vor und tippte auf den Tischmonitor. »Hier – zeig mir, wo dieses Vinmara auf der Karte liegt. Wir holen Inspektor Genette her, und Wahram auch. Die werden sich sehr für euren Bericht interessieren.«

Erst traf Genette in Swans Zimmer ein und dann Wahram, der allein in seinem Rollstuhl hereingefahren kam, das linke Bein nach wie vor mit Spezialverbänden umwickelt. Sie hörten sich Kirans Geschichte an und saßen anschließend da und dachten darüber nach, was all das zu bedeuten hatte.

Inspektor Genette sagte: »Ich glaube, wir müssen ein paar Dinge entscheiden, bevor wir handeln. Nach den jüngsten Ereignissen bin ich mir ziemlich sicher, dass ich unseren Plan ausführen muss, von dem ich dir, Swan, noch nicht erzählt habe. Wenn du also dazu bereit bist, einmal mehr Pauline abzuschalten, kann ich ihn dir erklären.«

Swan war sich nicht sicher, ob sie all das noch einmal durchmachen wollte. Inzwischen wusste Genette sicher, dass sie Pauline vom Inhalt der letzten Zusammenkunft erzählt hatte, deshalb war ihr nicht klar, wozu es gut sein sollte.

So oder so kam ihr Wahram zuvor, der zu Genette sagte: »Ich fürchte, wir sollten den Plan lieber in die Tat umsetzen, ohne ihn Swan zu erklären. Vielleicht schaltet sie Pauline für die Dauer des Gesprächs ab, aber hinterher erzählt sie ihr möglicherweise davon, wie schon beim letzten Mal.«

Swan warf Wahram einen bitterbösen Blick zu und sagte zu Genette: »Es war Pauline, die uns rechtzeitig über den Angriff informiert hat, damit wir noch etwas dagegen unternehmen konnten. Und es war Wangs Qube, der ein neues Überwachungssystem eingerichtet hat, mit dessen Hilfe sich die Steinchen orten ließen. Dafür könntet ihr euch ruhig mal bedanken. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Was auch immer die Venusianer mit ihren Qube-Leuten und ihren Intrigen vorhaben, es gibt andere Qubes, die eindeutig auf unserer Seite stehen. Mit denen müssen wir zusammenarbeiten!«

Genette pflichtete ihr bei. »Ich habe mich lange mit Wang und seinem Qube unterhalten, und du hast recht. Ich fürchte, es gibt auch bei den Qubes verschiedene Fraktionen.«

»Also müssen wir unsere Fraktion auf dem Laufenden halten!«

»Mag sein«, erwiderte Genette. »Allerdings ist die Frage, welche Qubes zu uns gehören, noch nicht beantwortet. Und in diesem Fall ist es umso besser, je weniger Leute Bescheid wissen. Also hör mal, Swan, ich werde mithilfe der Informationen von Kiran diese Interplan-Operation umsetzen wie geplant.«

»Und die wäre?«, fragte Swan unverblümt.

Genettes kleines Gesicht, so hübsch und eigenartig wie das eines Langurs, bedachte Swan mit einem strahlenden Lächeln. »Ich würde dir doch lieber erst davon erzählen, wenn wir bereits weiter fortgeschritten sind.«

Erneut warf Swan Wahram einen finsteren Blick zu. »Siehst du, was du angerichtet hast?«

Wahram zuckte mit den Schultern. »Der Plan verlangt absolute Geheimhaltung, wenn er funktionieren soll. Nicht mal ich kenne die Einzelheiten.«

»Ich sollte außerdem hinzufügen«, bemerkte Genette hastig, »dass mein Plan nicht ohne die Informationen von deinem jungen Freund hier möglich wäre. Insofern fügt sich erst jetzt alles ineinander. Bitte gestatte mir, den nächsten Schritt vertraulich zu behandeln. Wie Wahram schon sagte, nicht mal er, ganz zu schweigen von all den Leuten hier auf der Venus …« – Genette verneigte sich in Shukras Richtung – »… weiß etwas über unseren nächsten Schritt, und so muss es auch sein, wenn wir erfolgreich sein wollen.«

Ob es Genette nur darum ging, Wahram Rückendeckung zu geben, wusste Swan nicht. Sie war zu wütend, um ein Gefühl für die Feinheiten der gegenwärtigen Situation zu wahren. Ihre Urteilsfähigkeit ließ zu wünschen übrig. Genette sprach mittlerweile mit einem Kollegen, der das Zimmer betreten hatte, wandte sich dann wieder an die übrigen Anwesenden und sagte: »Wenn ihr mich entschuldigen würdet.«

»Das tue ich nicht«, antwortete Swan und stürmte aus dem Zimmer.

Wahram holte sie auf dem Korridor ein und passte sich ihrer Geschwindigkeit an. In seinem Rollstuhl konnte er mithalten, egal wie schnell sie lief.

»Swan, sei nicht wütend auf mich, ich musste Genette erzählen, was passiert ist. Wir müssen einander in dieser Sache vertrauen können; es handelt sich um eine heikle Operation, und früher oder später musste die ganze Sache ans Licht kommen.«

»Und jetzt ist sie es.«

»Ja, und bald wirst auch du über alles Bescheid wissen. Aber für ein Weilchen musst du uns vertrauen.«

»Uns?«

»Ich werde Genette unterstützen. Es sollte nicht besonders lange dauern. Es wäre schön, wenn du in der Zwischenzeit nach Terminator zurückkehren und mit deinen Leuten dort reden könntest, über die Lage auf dem Titan und über uns.«

»Glaubst du etwa, dass mich das alles noch interessiert?«

»Das will ich doch hoffen. Es ist wichtiger als deine verletzten Gefühle, wenn ich das sagen darf. Insbesondere, weil du eigentlich keinen Grund hast, verletzt zu sein. Ich glaube, es ist eine gute Sache, wenn man dich und Pauline als untrennbare Einheit auffasst, du etwa nicht? Das ist zutreffend, man könnte sagen, dass es dich besser beschreibt. Ihr seid etwas Neues. Insbesondere für mich, ließe sich hinzufügen.« Er streckte den Arm aus und griff ihre Hand, und dann betätigte er mit der anderen Hand die Bremse seines Rollstuhls, um sie zum Stehen zu bringen. Sie schlingerten, und Wahram hielt ihre Hand fest, obwohl sie daran zerrte. »Komm schon«, sagte er, »mal im Ernst. Warst du mit mir dort draußen im All oder nicht? Warst du in dem Tunnel oder nicht?«

Er verwendete ihre eigene Frage gegen sie; und natürlich erinnerte sie sich. »Ja, ja«, murrte Swan und schaute zu Boden.

»Tja, und jetzt sind wir also hier und haben es mit einer Situation zu tun, die Verschwiegenheit verlangt, und also musst du das, was ich gerade zu Genette gesagt habe, im Lichte höchster Notwendigkeit sehen. Insbesondere in Anbetracht meiner eigenen Gefühle für dich, die …« – er hielt inne, um die Hand von der Bremse seines Rollstuhls zu nehmen und sich auf die Brust zu schlagen – »… tief gehen. Sie sind wirr, aber tief gehend. Und darauf kommt es an. Das macht das Leben interessant. Ich habe mir also überlegt, dass wir heiraten sollten, in dem saturnianischen Hort, zu dem ich bereits gehöre. Das würde so viel mehr Probleme lösen als erzeugen, dass ich es wirklich für das Beste für uns beide halte. Auf jeden Fall für mich. Ich hoffe also, dass du bereit bist, mich zu heiraten, und das ist eigentlich so ziemlich alles.«

Swan riss ihre Hand los und hob sie, als wollte sie ihn schlagen. »Ich verstehe dich nicht!«

»Ich weiß. Damit habe ich auch so meine Probleme. Aber das ist nicht die Hauptsache. Es ist nur ein Teil. Wir würden das zu einem Teil unseres Projekts machen.«

»Ich weiß nicht …«, setzte Swan an und verstummte. Es gab so viel, was aus diesen Worten folgen konnte, dass sie nicht wusste, wie sie fortfahren sollte. Sie wusste überhaupt nichts! »Ich fliege sowieso zur Erde«, sagte sie störrisch. »Ich habe da ein Treffen mit dem Säugetierkomitee der Vereinten Nationen. Wir machen gewisse Fortschritte. Und außerdem will ich mit Zasha reden.«

»Das ist in Ordnung«, versicherte ihr Wahram. »Denk darüber nach. Ich muss jetzt zu Genette zurück; wir haben es wirklich mit einer dringenden Angelegenheit zu tun, und Kirans Bericht ist das Zünglein an der Waage, also lass uns das zu Ende bringen, und sobald ich kann, komme ich zu dir, wo immer du gerade bist.« Und nachdem er noch einmal gepeinigt die Hände über dem Herzen zusammengeschlagen hatte, machte er kehrt und fuhr den Korridor entlang zurück zu Genette.

Wahram und Genette

Als Wahram wiederkam, war Genette bereits drauf und dran, nach Vinmara abzureisen, und wollte keine Zeit verschwenden. »Komm schon«, und damit rannte der Inspektor los, flink wie ein Terrier. Als Wahram eilig hinterherfuhr, drehte Genette sich um und fragte, ob mit Swan alles in Ordnung sei. Ja, antwortete Wahram, alles wäre in Ordnung. Obwohl er sich da nicht so sicher war. Aber nun galt es, sich auf den Plan zu konzentrieren.

Mithilfe des Qubes Passepartout redete Genette während ihres Flugs nach Vinmara mit einigen Kollegen. Wahram deutete fragend auf das Armband.

Mit einem Kopfschütteln sagte Genette: »Es gibt Qubes, die für uns arbeiten, wie Swan ganz richtig festgestellt hat, und wahrscheinlich gehört ihrer zu diesen Qubes. Aber ich hatte noch keine Gelegenheit, Erkundigungen über ihn einzuholen, und vermutlich hattest du recht damit, sie aus dieser Sache herauszuhalten. Ihr Verhalten lässt sich nur schwer vorhersagen. Aber Wangs Qube und Passepartout haben wir derweil beide überprüft, und sie unterstützen uns gemäß ihren Anweisungen. Ich glaube also an sie«, sagte Genette betont und mit einem Stirnrunzeln in Richtung des Armbandqubes.

Wahram sagte: »Glaubst du, dass die Qubes langsam anfangen, als eine Gesellschaft für sich zu funktionieren, mit Gruppen und sogar mit Organisationen und Uneinigkeit?«

Genette warf die Arme empor. »Wie sollen wir das wissen? Möglich, dass sie nur unterschiedliche Anweisungen von verschiedenen Menschen bekommen und sich darum unterschiedlich verhalten. Wir hoffen einfach, dass wir den Hersteller dieser Qube-Menschen in Vinmara festnehmen können, dann erfahren wir vielleicht mehr.«

»Was ist mit den Venusianern? Werden sie uns das, was du hier vorhast, erlauben?«

»Shukra und seine Gruppe stehen hinter uns. Die befinden sich hier in einem ganz schönen Gerangel, und es steht viel auf dem Spiel. Lakshmis Leute stellen diese Humanoiden entweder her oder ziehen einen Vorteil aus ihrer Existenz, eins von beiden, aber so oder so geht uns Shukras Gruppe nur zu gerne zur Hand. Ich glaube, die Arbeitsgruppe ist in sich so gespalten, dass wir alles Nötige erledigen und anschließend von diesem Planeten verschwinden können, bevor jemand reagieren kann.«

Wahram schienen diese Worte nichts Gutes zu verheißen. »Du willst also schnell mal durch einen Bürgerkrieg und am anderen Ende wieder heraus?«

Genette erwiderte mit einem knappen Schulterzucken: »Wir können nicht mehr zurück.«

Sie erreichten den Raumhafen, durchquerten ihn eilig und betraten über eine Rampe ein kleines Flugzeug. Als sie an Bord und in der Luft waren, schaute Genette aus dem Fenster und bemerkte: »Es ist hier ganz ähnlich wie in China. Genau genommen wird die Venus vielleicht immer noch von China aus regiert. Man kann sich da nur schwer sicher sein. Jedenfalls liegen alle Entscheidungen in den Händen einer ziemlich kleinen Gruppe. Und die ist nun über der Frage gespalten, was man wegen des Sonnenschilds unternehmen soll. Die Position zu diesem Thema ist zu einer Art Loyalitätstest für beide Seiten geworden. Ich dachte, die meisten Venusianer hätten sich inzwischen so an die Abhängigkeit gewöhnt, dass sie den Schild nur noch als ein Risiko unter vielen empfinden. Aber die Gegner des Schilds vertreten ihre Position nachdrücklicher. Für sie ist es eine Existenzfrage. Deshalb sind sie bereit, weiter zu gehen, um ihr Ziel zu erreichen.«

»Und was haben sie deiner Meinung nach getan?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass einer ihrer Programmierer beschlossen hat, einige Qubes mit der Beseitigung des Sonnenschilds zu beauftragen. Vielleicht hat es sich um einen offenen Befehl gehandelt, im Sinne von: ›Findet eine Möglichkeit, das zu bewerkstelligen.‹ Das hat dann also zur Folge, dass irgendein Qube einen Algorithmus anwendet, der Verläufe ermittelt, bei denen ein solches Endergebnis wahrscheinlich ist. Und es kann sein, dass dieser Algorithmus schlecht eingegrenzt war. Dass dem Qube sozusagen jedes Mittel recht war. In dieser Beziehung hat das ein bisschen was von einem Menschen! Sehr originalgetreu. Also, was, wenn dieser Qube daraufhin vorschlägt, Qubes in menschliche Körper zu stecken, sodass sie Angriffe durchführen können, zu denen sie als unbewegliche Gehäuse nicht ohne fremde Hilfe in der Lage sind – Angriffe, die Menschen nicht durchführen könnten, oder zu denen sie sich nicht bereitfinden würden? Ich rede von Sabotageaktionen. Man könnte sie auch als lehrreiche Darbietung bezeichnen, als inszenierte Katastrophen. Wenn man die Mehrheit der Venusianer in den Glauben versetzen könnte, dass dem Sonnenschild ein Angriff droht – dass sie alle wie die Ameisen gebraten werden könnten –, dann würde die Allgemeinheit sicher ein weiteres Bombardement unterstützen, um die Venus in Rotation zu versetzen.«

»Man treibt die Zivilbevölkerung zu einer bestimmten politischen Entscheidung, indem man ihr Angst macht«, sagte Wahram.

»Ja. Was in unseren Augen eine mögliche Definition von Terrorismus ist. Aber für einen Qube, der darauf programmiert ist, Ergebnisse zu liefern, ist das vielleicht weniger ersichtlich.«

»Also war der Angriff auf Terminator eine Art Demonstration?«

»Genau. Und hier auf der Venus ist eindeutig auch eine entsprechende Wirkung erzielt worden.«

»Aber diese neue Attacke auf den Sonnenschild war vielleicht mehr als bloße Panikmache«, sagte Wahram. »Wäre sie erfolgreich gewesen, dann hätte sie einer Menge Menschen das Leben gekostet.«

»Selbst das muss nicht unbedingt als negativ empfunden werden. Das hängt von dem Algorithmus ab, und das bedeutet, dass es vom Programmierer abhängt. Auf der Erde stehen genug Menschen zur Verfügung, um alle, die hier oben umgebracht werden, zu ersetzen. China allein könnte die Venus wieder aufstocken. Man könnte die gesamte Bevölkerung der Venus umbringen und durch Chinesen ersetzen, ohne dass es China überhaupt auffallen würde. Wer weiß also, was diese Leute sich denken? Die Programmierer haben ihren Qubes vielleicht einen Anstoß in eine neue Richtung gegeben und sie sogar mit neuen Algorithmen ausgestattet, aber sie haben ihnen dabei auf keinen Fall menschliche Gedankengänge eingegeben, selbst wenn sie sie so weit gebracht haben, dass sie einen Turing-Test bestehen.«

»Also gibt es diese Qubanoiden wirklich.«

»O ja. Deine Swan ist welchen von ihnen begegnet und ich auch. Das Ding auf Io war einer. Und zu meinem großen Interesse habe ich in Erfahrung gebracht, dass sich sehr viele von ihnen auf dem Mars aufhalten, wo sie als Menschen durchgehen und in der Regierung arbeiten. Die Probleme, die der Mars mit dem Mondragon und dem Saturn hat – die kommen mir langsam ein bisschen verdächtig vor.«

»Ah«, sagte Wahram und dachte darüber nach. »Und was willst du nun tun?«

»Wir nehmen alle auf einen Schlag fest«, antwortete Genette und warf einen kurzen Blick auf Passepartout. »Das habe ich soeben mit einer codierten Meldung veranlasst, und in diesem Moment geht es los. Mitternacht, westeuropäische Zeit, am 11. Oktober 2312. Wir müssen ein bisschen hinmachen.«

Sie landeten unmittelbar außerhalb von Vinmara, und schon bald war Wahram froh, dass er im Rollstuhl saß, denn Genette hetzte mit ungeheurer Geschwindigkeit von einem Treffen zum anderen; selbst auf Rädern konnte Wahram kaum mithalten.

Kiran kam ein paar Minuten später mit einem anderen Flug an und zeigte ihnen das Gebäude, in das man die Augäpfel gebracht hatte. Kurz darauf traf eine Gruppe Bewaffneter ein und umstellte das Gebäude ohne weitere Verzögerung. Sie sprengten die Tür auf und stürmten in voller Raumanzug-Montur und mit gezogenen Waffen hinein. Ein dicker, grauer Dunst schwappte heraus, kaum dass die Tür offen war.

Es dauerte keine fünf Minuten, bis das Gebäude gesichert war. Sofort besprach sich Genette mit dem Zugriffsteam und anschließend mit Shukra, der mit einem weiteren Kontingent bewaffneter Gefolgsleute auftauchte, um dafür zu sorgen, dass sich kein Widerstand regte, während sie das Gebäude räumten.

Genette sprach ununterbrochen mit irgendjemandem, entweder persönlich oder übers Telefon, unaufgeregt, aber mit großer Bestimmtheit – offensichtlich erfahren in solchen Aktion. Sogar die Vorstellung, sich in einen Kampf zwischen verschiedenen venusianischen Fraktionen zu stürzen, was Wahram enorm gefährlich erschien, schien den Inspektor nicht zu schrecken.

Als Genette einmal einen Moment lang mit niemandem redete, sondern auf einer Tischkante saß, Kaffee trank und auf seinen Armbandqube schaute, sagte Wahram neugierig: »Diese Steinchenattacken – bei denen ging es darum, dass eine venusianische Fraktion die hiesige Bevölkerung beeinflussen wollte? Um ihren Willen gegen eine andere Fraktion durchzusetzen?«

»So ist es.«

»Aber … wenn die Attacke auf den Sonnenschild erfolgreich gewesen wäre, hätten die Terroristen sich dann nicht auch selbst umgebracht?«

Genette erwiderte: »Ich denke, es wäre genug Zeit für eine Evakuierung geblieben. Und die Verbrecher hätten inzwischen den Planeten verlassen. Außerdem, wenn die Qubes die Entscheidung getroffen haben, war es ihnen vielleicht gleichgültig. Wer auch immer sie ursprünglich programmiert hat, hatte vielleicht überhaupt keine Kontrolle mehr über ihre Entscheidungen. Vielleicht dachten sich die Qubes: Nun ja, schade drum, aber man kann sich ja jederzeit neue von denen holen. So hätten sie ihr Ziel erreicht, ob die Attacke nun gelungen oder fehlgeschlagen wäre.«

Wahram dachte darüber nach. »Was ist mit dem toten Terrarium draußen im Asteroidengürtel? Mit Yggdrasil?«

»Ich weiß nicht so recht. Vielleicht sollte es dafür sorgen, dass die Leute sich verwundbar fühlen. Vielleicht haben sie nur ihre Methode ausprobiert. Aber ich gebe zu, dass es seltsam ist. Das ist einer der Gründe, warum ich diese Qubanoiden sehen will, und wen auch immer man hier sonst noch festgenommen hat.«

Eine Gruppe von Menschen kam zum Haupteingang heraus, und Genette lief schnurstracks auf sie zu. Viele von ihnen waren Kleine; bei der Erstürmung des Gebäudes hatte man anscheinend eine Art Trojaner eingesetzt – mehrere von ihnen hatten sich durch die Luftschächte Zutritt verschafft und den Angriff mit Gasladungen eingeleitet.

»Alles klar, komm«, sagte Genette, wenig später wieder an Wahrams Seite zurückgekehrt. »Verschwinden wir von hier. Wir müssen diese Dinger so schnell wie möglich von dem Planeten hier fortschaffen.«

Eine Schlange von etwa zwei Dutzend Menschen, die meisten davon normalgroß, aber mit einem Kleinen und einer Großen darunter, kamen zur Tür heraus, an ihren Sicherheitswesten aneinandergekettet. Genette hielt einen nach dem anderen an und stellte ihnen sehr höflich einige Fragen, wobei er sie jeweils nur für ein paar Sekunden festhielt. Auch Wahram musterte die Personen, die an ihnen vorbeigingen, und ihm fielen ihre vielleicht etwas zu geschmeidigen Bewegungen auf und der durchdringende, glasige Blick, den einige hatten. Trotzdem hätte er nicht darauf gewettet, die Menschen von den künstlichen Personen unterscheiden zu können. Das war jedenfalls beunruhigend. Ein kleiner Tropfen des Entsetzens schien ihm durch die Kehle und bis herab in den Magen zu rinnen und sich dort auszubreiten.

Genette hielt die letzte Gestalt in der Reihe an. »Aha!«

»Wer ist das?«, fragte Wahram.

»Ich glaube, das ist Swans Bowls-Spieler.« Genette hielt Passepartout empor und machte ein Foto. Dann nickte er, als er die zusammenpassenden Fotos auf dem kleinen Monitor des Armbandqubes sah. »Und wie es scheint« – er strich der jungen Person mit einem Stab über den Kopf –, »handelt es sich letztlich doch um einen Menschen.«

Stumm erwiderte Genettes Gegenüber seinen Blick.

Genette sagte: »Vielleicht ist das ja unser Programmierer, was? Das können wir auf dem Weg ermitteln. Ich will so schnell wie möglich von der Venus verschwinden.«

Das bedeutete, dass sie die Stadt ein weiteres Mal eilig durchqueren und anschließend den Weg durch die Schleusen zu ihrer improvisierten Helikopterlandefläche zurücklegen mussten. Mehr als einmal ließen Beamte, die eigentlich jeden Grund gehabt hätten, eine so große Gruppe zu befragen, sie einfach passieren. Einige von ihnen redeten dabei die ganze Zeit nervös mit ihren Headsets.

Als sie wieder in der Luft waren, warf Genette Wahram mit demonstrativ aufgerissenen Augen einen Blick zu und wischte sich über die Stirn. Ihr Helikopter flog nach Colette, und am dortigen Raumhafen eilten sie auf eine der Landeflächen und bestiegen ein Raumflugzeug, mit dem sie einen holprigen Flug in eine tiefe Umlaufbahn hinter sich brachten, um sich schließlich von einem Interplan-Kreuzer aufnehmen zu lassen.

Es handelte sich um die Schnelle Gerechtigkeit; als alle an Bord waren, setzten sie einen Kurs Richtung Pluto.

In den Wochen, in denen sie unterwegs waren, verhörten sie mehrfach den Bowls-Spieler, doch er sagte kein einziges Wort. Es handelte sich bei ihm eindeutig um einen Menschen, einen jungen Mann im Alter von 35. Es gelang ihnen, seinen Weg von Chateau Garden, wo Swan ihn kennengelernt hatte, zu einer der blockfreien Welten zurückzuverfolgen, die nicht bereit war, seinen Namen an Außenstehende weiterzugeben. In einem Akt zufälliger Hellsichtigkeit hatte Interplan diese Welt unter der Bezeichnung U-238 katalogisiert.

Während ihres Flugs Richtung Pluto und Charon gelang es Wangs Qube, noch einiges mehr über das kurze Leben des Bowls-Spielers herauszufinden. Es war eine traurige Geschichte, wenn auch nicht ungewöhnlich: ein kleines Terrarium, betrieben von einer Sekte, in diesem Fall von Ahura-Mazdˉa-Verehrern; strikte Geschlechtertrennung; patriarchal, polygam; besessen von körperlicher Züchtigung als Strafe für dämonische Missetaten. Er als instabiles Kind in dieser engen Welt. Berichte über Aggression ohne Reue. Ab seinem vierten Lebensjahr dort, bis er im Alter von vierundzwanzig abtrünnig geworden war. Lernte auf Vesta, wo ihn niemand kannte, programmieren; eine Weile an der Ceres-Akademie voll und ganz mit Qube-Design beschäftigt, ehe er die Bildungseinrichtung wieder verließ; blieb im gesellschaftlichen Leben an der Akademie ein Außenseiter. Letztlich von Ceres verbannt, weil er einmal zu oft die dortigen Sicherheitsvorschriften verletzt hatte; anschließend Rückkehr zu seinem heimatlichen Felsbrocken, wo er geblieben war, soweit bekannt. Doch in Wirklichkeit hatte sich schlicht und einfach niemand dafür interessiert, wohin es ihn anschließend verschlagen hatte. Wie er zu seiner Arbeit auf der Venus gekommen war, blieb unklar, dieser Lebensabschnitt lag in dem Dunkel, das die Venus-Arbeitsgruppe umgab – insbesondere Lakshmi hatte die geplante Sabotage des Sonnenschilds sehr erfolgreich im Verborgenen vorangetrieben. Dann kamen Vinmara und das Labor, in dem man Humanoiden angefertigt hatte, einschließlich derjenigen, die auf dem Mars die Regierung infiltriert hatten. Andere waren zur Erde und weiter in den Asteroidengürtel gereist und hatten dort die Steinchenschleuder gebaut und bedient. Dieser junge Mann hatte die Steinchenattacken also entweder erfunden oder Qubes entwickelt, die sie erfunden hatten; und er oder seine Schöpfungen hatten die Attacken durchgeführt.

»Yggdrasil?«, sagte Genette einmal zu dem Bowls-Spieler.

Die Messgeräte, an die der Körper und das Gehirn des Jugendlichen angeschlossen waren, zeigten eine deutliche Spitze.

Genette nickte. »Bloß ein Test, was? Um zu zeigen, dass das Konzept funktioniert?«

Einmal mehr zeigten die Geräte einen deutlichen Anstieg seiner Vitalwerte. Von der Vorstellung, dass solche Spitzen eine verlässliche Möglichkeit darstellten, jemanden beim Lügen zu ertappen, hatte man sich längst verabschiedet, aber trotzdem ließen gesteigerte physiologische Aktivitäten gewisse Rückschlüsse zu.

Da der junge Mann weiterhin kein Wort von sich gab, erlangten sie keinerlei Gewissheit darüber, warum all das geschehen war. Aber ein Zusammenhang mit der Yggdrasil schien eindeutig zu bestehen.

Für Genette kam es einzig und allein darauf an. »Ich glaube, die Angriffe auf Terminator und Venus waren politisch motiviert«, sagte er zu Wahram, während der Junge sich nach wie vor im Zimmer befand und stumm an die Wand starrte. Die Krakellinien des Messgeräts sprachen an seiner statt, als eine Art lautloses Schreien. »Ich vermute, dass Lakshmi sie gutgeheißen hat. Aber zuerst haben sie die Yggdrasil geknackt, und wahrscheinlich war das die Idee von ihm hier. Vielleicht eine Demonstration für Lakshmi. Ein Beweis dafür, dass das Konzept funktioniert. Und so mussten dreitausend Menschen sterben.«

Genette starrte dem jungen Mann ins verkniffene Gesicht und sagte schließlich zu Wahram: »Komm, lass uns von hier verschwinden. Hier gibt es nichts mehr zu tun.«

In den drei Wochen, die sie für die Reise nach Pluto und Charon brauchten, verschlechterte sich der Zustand von Wahrams verletztem Bein, und nach eingehender Beratung beschloss das Ärzteteam an Bord, es unterhalb des Knies zu amputieren und ihm mithilfe pluripotenter Stammzellen ein neues linkes Bein wachsen zu lassen. Wahram ließ all das über sich ergehen und versuchte, möglichst wenig daran zu denken und das in ihm aufsteigende Entsetzen durch den Gedanken zu mildern, dass mit seinen 113 Jahren sein gesamter Körper ein medizinisches Artefakt war, und dass das Nachwachsenlassen eines verlorenen Glieds zu den einfachsten und ältesten Eingriffen in den menschlichen Körper gehörte. Dennoch war es gruselig, und dabei zuzuschauen erzeugte ein Phantomjucken. Er lenkte sich ab, indem er Genette regelmäßig darüber ausfragte, woran das Interplan-Team gerade arbeitete. Aber wie sehr er sich auch ablenkte, er konnte sich einfach nicht an das Gefühl gewöhnen, das sein neues Bein verursachte.

Raumschiffe aus dem ganzen Sonnensystem kamen auf Charon zusammen, denn hier sammelte die Gruppe der Alexandriner und die Interplan-Agenten, die mit ihnen zusammenarbeiteten, alle festgenommenen Qube-Humanoiden – und damit alle, die ihres Wissens hergestellt worden waren. Alle waren am selben Tag gefangen genommen worden, an dem sie die Anlage in Vinmara geschlossen hatten, die meisten sogar innerhalb derselben Stunde. Beinahe die Hälfte war auf dem Mars ergriffen worden. Die gesamte Operation war mittels persönlicher Kontakte geplant und koordiniert worden, und der genaue Moment der Durchführung war am Tag zuvor mitgeteilt worden, als Genette eine einzige Funkmeldung abgesetzt hatte, eine Aufführung des Jazz-Klassikers »Now’s the Time«. Der Plan war in allen Einzelheiten ohne nennenswerte Pannen durchgeführt worden, obwohl mehr als zweitausend Agenten an der Operation beteiligt gewesen waren und man 410 Humanoide gefangen genommen hatte. Nicht ein einziger hatte erkennen lassen, dass er oder sie etwas von der drohenden Verhaftung gewusst hatte.

Nun plante Genette, all diese Humanoiden ins Exil zu schicken, zusammen mit dem Bowls-Spieler und etwa dreißig anderen Personen, die mit den Qube-Attacken zu tun hatten. Man war übereingekommen, eines der Raumschiffe zu nehmen, die derzeit auf dem Plutomond Nix gebaut wurden. Bei dem Raumschiff handelte es sich genau genommen nur um ein spezialisiertes Terrarium – ein fast völlig in sich geschlossenes biologisches Lebenserhaltungssystem, außerordentlich gut bevorratet und mit extrem leistungsstarkem Antrieb. Es würde nicht etwa als eine Art Gefangenenschiff fungieren, ähnlich wie die, die im Asteroidengürtel kreisten, sondern aus dem Sonnensystem herausgeschossen werden. Das Innere des Terrariums würde man versiegeln und die navigierende KI außerhalb des Innenzylinders unterbringen. Und dann würde es losgehen: Vierhundert Qube-Humanoiden, der Bowls-Spieler und die Gruppe von Menschen, die man der Komplizenschaft bei einer der Attacken für schuldig befunden hatte. Es waren nicht besonders viele, da der Bowls-Spieler bei der Planung und Durchführung seiner Attacken offenbar kaum menschliche Verbündete gebraucht hatte. Also: ins Exil, fort vom Sonnensystem und vom Rest der Menschheit.

»Aber Lakshmi sollte doch wohl auch mit dort drin sein!«, wandte Wahram Genette gegenüber ein.

»Der Meinung bin ich auch, aber wir haben sie nicht zu fassen bekommen. Die Venusianer werden sich um sie kümmern müssen, oder vielleicht können wir ihr hier auf Ceres den Prozess machen und sehen, wie weit wir damit kommen.«

»Aber dieses Exilschiff«, sagte Wahram. »Was ist, wenn die Qubes zu den Kontrollen durchbrechen? Wenn sie umkehren und zu uns zurückkommen, voller Rachedurst und intelligenter denn je?«

»Die Geschwindigkeiten sind zu groß«, sagte Genette leichthin. »Der Treibstoff an Bord wird sich schnell verbrauchen und sie dabei auf eine enorme Geschwindigkeit beschleunigen. Bis sie das Problem des Wiederauftankens bewältigt haben, werden sie eine jahrhundertelange Reise vor sich haben, um zurück ins Sonnensystem zu gelangen. Bis dahin wird die Zivilisation wissen, wie man mit ihnen fertigwird.«

»Wie, meinst du, könnte das gelingen?«

»Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls werden wir einen Weg finden müssen, mit den Qubes zurechtzukommen. Daran führt kein Weg vorbei, das Kind ist in den Brunnen gefallen. Ich vermute, dass die Qubes früher oder später einfach zum normalen Leben dazugehören werden, solange sie keine menschlichen Körper bewohnen und solange man verhindert, dass irgendwelche Programmierer sie in die Finger kriegen. Etwa so wie Passepartout jetzt.«

»Oder Swans Pauline?«

»Vielleicht ist es keine so gute Idee, einen Qube im Kopf mit sich herumzutragen«, räumte Genette ein. »Ich frage mich, ob Swan damit einverstanden wäre, ihren in ein Armband wie das von Passepartout zu verlegen.«

Das bezweifelte Wahram, obwohl er sich nicht sicher war, weshalb. Überhaupt wurde er sich immer unsicherer, was Swan betraf.

Wahram wandte sich einer weiteren Frage zu, die ihn beunruhigte. »Ist diese Bestrafung nicht sehr ungewöhnlich und grausam?«

»Ungewöhnlich ist es«, räumte Genette fröhlich ein. »Sogar einzigartig. Aber Grausamkeit ist in diesem Falle relativ.«

»Jemanden in Gesellschaft von Qubes fortzuschicken? Ist das nicht eine Art Isolationshaft, etwas Albtraumhaftes?«

»Das Exil ist nichts Grausames. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Der Verstand ist ein Ort für sich. Theoretisch können sie sich dort drinnen ein sehr hübsches Terrarium einrichten, sich anschließend irgendwo weit weg auf einer leeren Erde ansiedeln und einen ganz neuen Seitenarm der Menschheit ins Leben rufen. Niemand hält sie davon ab. Es ist bloß ein Exil, weiter nichts. Ich bin selbst ein Exilant, und es handelt sich um eine anerkannte Form schwerer, aber nichttödlicher Bestrafung. Immerhin hat dieser Mann dreitausend Menschen getötet, nur um eine Waffe zu testen. Und er hat Quantencomputer programmiert, die daraufhin nicht mehr Gut von Böse unterscheiden können. Er hat ihnen die Fähigkeit gegeben, eigene Absichten zu verfolgen, und das ohne eine vernünftige Einschränkung, und sie sind nun eine Bedrohung, gegen die wir derzeit keine brauchbare Verteidigung haben. Deshalb glaube ich, dass wir, indem wir sie wegschicken, etwas über unseren Umgang mit Qubes signalisieren. Wir schalten sie nicht einfach ab und nehmen sie auseinander, wie manche Leute fordern, sondern schicken die gefährlichen ins Exil, genau wie wir Menschen wegschicken. Für die zurückgelassenen Qubes muss das doch ein gutes Signal sein. Und dann sorgen wir dafür, dass sie in Gehäusen bleiben, wo wir sie unter Kontrolle haben – zumindest hoffe ich, dass wir sie dort unter Kontrolle haben. Vielleicht funktioniert es, vielleicht auch nicht. Aber vor allem hoffe ich, dass wir verhindern können, dass weitere Qubes welcher Art auch immer hergestellt werden, zumindest für eine Weile, und wir uns stattdessen etwas Zeit nehmen, uns genauer anzusehen, was klügere Qubes oder Qubes mit einem eigenen Willen oder Qubes in Menschenkörpern mit sich bringen könnten. Meiner Meinung nach haben wir der Gerechtigkeit Genüge getan und uns ein wenig Zeit erkauft. Deshalb bin ich froh, dass die Plutonier und der Mondragon und alle anderen wichtigen Parteien, einschließlich Shukras, unserer Meinung sind. Swan wird es hoffentlich genauso sehen, wenn sie davon hört, und alle anderen auch.«

»Vielleicht«, sagte Wahram.

Ihm war nach wie vor nicht ganz wohl bei Genettes Lösung. Aber jede andere mögliche Strafe, die ihm einfiel, war entweder zu hart (der Tod für alle Beteiligten) oder zu milde (Wiedereingliederung in die Gesellschaft). Exil – das erste interstellare Schiff als Gefängnis. Tja, im Asteroidengürtel gab es Gefängnisterrarien, die von der Außenwelt abgeschottet waren und in denen Zustände herrschten, die von utopisch bis höllisch reichten. Die Gruppe des Bowls-Spielers und ihre Geschöpfe konnten also aus ihrer Welt machen, was sie wollten. Angeblich. Trotzdem kam es Wahram wie eine Art Hölle vor. Letztlich konnte Jean Genette ebenso unmenschlich sein wie der Bowls-Spieler; von unerschütterlicher Heiterkeit, und dabei undurchschaubar. Auch jetzt hatte Genette diesen typischen Blick, mit dem der Inspektor praktisch jeden bedachte – ob Heiliger, Krimineller, Fremder, Bruder oder Schwester. Es war der immer gleiche, vogelartige Blick, offen wertend, interessiert, bereit, sich überzeugen zu lassen.

Da Wahram weiterhin Bedenken hatte, las er die Akten aller Menschen und Humanoiden, die sich in ihrem Gewahrsam befanden und die beim gegenwärtigen Stand mehrere Tausend Seiten umfassten. Als er fertig war, kehrte er aufgebrachter denn je zu Genette zurück.

»Du hast da etwas übersehen«, sagte er harsch. »Lies die Interviews, dann siehst du, dass es in dem Labor auf Vinmara jemanden gab, der einige dieser Qubanoiden freigesetzt und zu anderen Leuten im Sonnensystem geschickt hat, die dabei geholfen haben, sie zu verstecken. Die, denen Swan in der Inneren Mongolei über den Weg gelaufen ist, und noch mindestens vier weitere – all ihre Berichte ähneln einander. Wer auch immer das getan hat, hat ihnen erzählt, dass sie defekt seien und dass sie sich davonmachen müssten, wenn sie nicht wollten, dass man sie zerlegt. Die Qubes wussten nicht, was sie davon halten sollten, und manche von ihnen verhielten sich seltsam, als sie auf freiem Fuß waren. Vielleicht waren sie defekt, ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Wie dem auch sei, diese Person in dem Labor hat sie Lakshmis Zugriff entzogen! Verdient sie also auch das Exil? Und verdienen die schadhaften Qubanoiden, die sich davongemacht haben, das Exil?«

Genette runzelte die Stirn und versprach, dass man sich der Sache annehmen würde.

Das stellte Wahram nicht zufrieden. Zusammen mit Genette und Alex hatte er sich von Anfang an mit dem Problem der seltsamen Qubes befasst, und jetzt hatte er das Gefühl, an den Rand gedrängt zu werden. In seinem Rollstuhl fuhr er zu einem Treffen der Interplan-Ermittler mit anderen Gruppenangehörigen, bei dem die Lage besprochen wurde, und setzte sich erneut für die Unschuldigen ein, die man zusammen mit den anderen festgenommen hatte. Letztlich war die Entscheidung zwar nicht einstimmig, aber es fand sich eine klare Mehrheit dafür, alle Qubanoiden ins Exil zu schicken; den Laborassistenten, der die defekten Qubes freigesetzt hatte, würde man dagegen hierbehalten. Wie sich herausstellte, hatte er die Qubes nicht nur gehen lassen, sondern sie auch fachgerecht aus allen Laboraufzeichnungen gelöscht. Als Genette Wahram davon erzählte, klang es, als sei der Umstand, dass der Assistent die Sache so gewieft bewerkstelligt hatte, ausschlaggebend für die Begnadigung gewesen. Wahram, der nach wie vor ganz und gar nicht zufrieden war, ließ die Sache dennoch auf sich beruhen. Der Laborgehilfe von der Venus, der kaum älter war als der Bowls-Spieler, durfte gehen. Und die armen fehlerhaften Qubes waren unter ihresgleichen vielleicht besser dran.

Als es dann so weit war, saß Wahram im Aussichtszimmer des Interplan-Kreuzers und sah zusammen mit den anderen zu, wie ein Fusionsreaktor aufloderte und Erstes Viertel von Nix seine Reise zu den Sternen antrat. Es sah aus wie ein ganz normales Terrarium, höchstens ein wenig größer. Ein Großteil seiner Masse bestand aus Eis, und von außen ähnelte es einer Eisskulptur, die eine Art großen weißen Delfin darstellte, der vor einem Schwanz aus Licht daherflog.

»Was ist mit den Leuten, die es gebaut haben?«, fragte Wahram. »War das nicht ihr Raumschiff?«

»Wir müssen es ersetzen. Sie beabsichtigen, vier davon als eine Art Flotte loszuschicken, also machen wir ihnen ein weiteres aus Hydra. Wir können auch ein Stück von Charon nehmen, wenn nötig. Sodass sie nach wie vor ihre vier Schiffe haben.«

Wahram ließ nicht locker. »Ich weiß immer noch nicht, was ich davon halten soll.«

Genette schien das nicht weiter zu kümmern. »Etwas Besseres hätten wir nicht tun können, fürchte ich! Es war schwer, all das offline und bei völliger Geheimhaltung zu regeln. Wirklich eine raffinierte kleine Operation, wenn du mich fragst. Erstaunlich, was man mit Papier und synchronisierten Uhren alles hinbekommt. Jeder, der daran beteiligt war, musste absolute Geheimhaltung wahren und den Menschen, die er oder sie in unserem Netzwerk kannte, bedingungslos vertrauen, und zwar in allen Fällen zu Recht, damit die Sache funktionieren konnte. Wenn man darüber nachdenkt, ist das eine ganz schöne Leistung.«

»Stimmt«, sagte Wahram, »aber wird das genügen?«

»Nein. Das Problem bleibt bestehen. Das hier verschafft uns lediglich eine Atempause.«

»Und … du bist dir sicher, dass ihr alle erwischt habt?«

»Ganz und gar nicht. Aber es sieht danach aus, als wäre die Anlage auf der Venus die einzige gewesen, die Qubanoide hergestellt hat, zumindest geht Wangs Qube davon aus. Außerdem wissen wir genug über ihren Energieverbrauch und den Eingang von Rohmaterialien, um abzuschätzen, wie viele sie höchstens angefertigt haben können, und fast so viele haben wir auch. Vielleicht treiben sich dort draußen noch ein oder zwei herum, aber wir glauben, dass es zu wenige sind, um Schaden anzurichten. Vielleicht gibt es noch mehr von den Defekten, die dieser junge Laborgehilfe freigelassen hat. Wie dem auch sei, wir werden versuchen, sie einzufangen, falls sie dort draußen sind.«

Was bedeutet, dachte Wahram, dass es jetzt in diesem Moment irgendwo im Sonnensystem vielleicht Maschinen in Menschenform gab, die sich in den Schutz der Menge geflüchtet hatten und versuchten, sich ihre Freiheit zu bewahren, während ein Röntgenapparat oder ein anderes Überwachungsgerät genügte, um ihre wahre Natur zu enthüllen – im Verborgenen verfolgten sie vielleicht weiter die ihnen einprogrammierten Ziele, oder auch neue, die sie sich nach einem selbst erfundenen Überlebensalgorithmus gesetzt hatten. Fehlerhaft, gefährlich, abgeschnitten von jedem anderen Bewusstsein, einsam und verängstigt – mit anderen Worten, genau wie alle anderen auch.

Quantum-Walk (3)

am Rande des Sumpfes quaken die Frösche anhand von Tabellenwerken kann man errechnen, wie oft und wann es bei einer Art zur Fortpflanzung kommt Morphogenese ist der Prozess durch den ein Organismus sich selbst erschafft Wachstumskurven mit zeitlicher Verzögerung das Ergebnis ist ein oszillierendes Muster die Raubtiere immer einen Viertelzyklus hinter der Beute

diese neuen Menschen bringen dich fort, um dich zu zerstören dicke Pistole vor deinem Gesicht befehlen dir zwischen ihnen zu gehen weg von deinen Helfern dort draußen an der Küste von Jersey Manhattans Wolkenkratzer am östlichen Horizont auf der Flucht auf der Jagd

nach der Pistole treten und laufen Menschen kapieren lächerlich langsam in die aschgrauen Schatten des dunklen Buschwerks ducken und umdrehen über einen Bach springen grüne Weide mit zerknautschten Moosflecken waren Perserteppiche je grün?

beinahe in eine andere Person hineinlaufen sieht menschlich aus

ich brauche Hilfe man hat mich gerade überfallen und ich glaube sie sind immer noch hinter mir her

Mensch starrt dich an durch und durch blaue Iris marmoriert mit dunklerem Blau dann komm mal mit

auf einem Fußweg davon Mensch bleibt stehen zeigt Reh mit weißem Schwanz erstarrt an Ort und Stelle Ohren ihnen zugewandt ein schreckhaftes Temperament sie sind wieder da der Mensch sagt

Du sagst möchtest du gerne Schach spielen?

Mensch sagt klar auf geht’s

Zu einem kleinen Schuppen ein anderer Mensch ist schon da sie reden in der Küche gehen raus bei Sonnenuntergang das Rot auf den Hügeln raubt mir den Willen Nadeln an den Kiefern pieksen Silber sommergrüne Blätter üppig auf den Westhängen eine entfernte Straßenlaterne hält dem Sonnenuntergang ihr Glimmen entgegen und erzeugt einen Raum aus Licht und ohne Schatten, ganz klar und deutlich da ist ein Fuchs am Rande einer Lichtung gleitet durchs Unkraut rostrot und weiß die Saat verbreitet sich von der Erde ins All und wieder zurück eine Symbiogenese die beide voranbringt Blau des Himmels leicht verhangen von weißen Schleiern

Swan das ist Zasha im Haus ich hab hier was einen Schachspieler wirkt ein bisschen durcheinander

schwarze Vögel ziehen in breiten Bahnen zur Stadt zurück landen in einem Baum am Horizont schwarze Punkte flattern faul lassen sich nach einem langen Tag nieder

Vogelrufe reden miteinander um die fünfzig Vögel verschiedener Arten die eine Art Schallkugel erzeugen im Zusammenspiel entsteht Musik das Continuo ist das Brummen der Autos Laster Generatoren Motoren Antriebe ein Flugzeug, so groß, dass es aussieht, als ob es ganz nah wäre sein Schall weit hinter ihm am Himmel Vogelchöre bei Sonnenuntergang Überschuss und Überlagerung Zivilisation hoch oben in der Luft Vogelweisheiten in urtümlichen Bereichen des Gehirns konserviert anscheinend nicht programmierbar erfordert enorme Vorstellungskraft

fast Mitternacht ein dritter Mensch trifft ein hochgewachsen anmutig hallo Zasha wie geht’s

durch Grußformeln erkennt man die Realität des Anderen an Namasté Ich grüße den Geist in dir

ich bin Swan erzähl mir von dir

fasse Ereignisse zusammen, seit du zu Bewusstsein gelangt bist zur Tür hinaus auf die Straße geschubst Abreise von Venus Transport durch Menschen auf privaten Wegen Landung auf der Erde alles begann als Versuch die Verfinsterung auf der Venus zu beenden nicht sofort sondern als ein Projekt das risikofrei durchgeführt werden sollte Hoffnung ist das mit den Federn das in der Seele nistet wusste nichts von den Einzelheiten des Plans Helfer waren irgendwie eigentlich gegen das Gesamtprojekt Helfer festgenommen oder entführt erzwungene Abreise gehört dass man uns einschläfern wird Flucht

Swan schaut Zasha an diese Mistkerle behandeln sie wie Qubes

Und? Sagt Zasha Wie nennst du sie denn? Qubanoiden? Qubeleute?

Qubeleute ist gut ich sage, sie sind wie Pauline vergiss nicht dass es ein Qube war der die E-Teh-Ha mitten in die Steinchenattacke geflogen hat hat sich für uns umgebracht hat seine Pflicht getan ich mag Genette, so wie jeder was einiges heißen will trotz allem aber deshalb müssen wir nicht in allen Fragen übereinstimmen das ist einfach verrückt

Jean meint bloß dass wir die Uhr erst einmal zurückdrehen müssen

das geht nun mal einfach nicht! So funktioniert das Leben nicht Ich nehme den hier mit

Swan

versuch bloß nicht mich aufzuhalten! Steht schnell auf Faust zum Schlag bereit angezogen

Zasha mit erhobenen Händen Halt halt ich widerspreche dir ja gar nicht dieses eine Mal liegst du vielleicht sogar richtig darum habe ich dich angerufen bis jetzt habe ich dabei geholfen diese Dinger aufzuspüren und als ich gehört habe dass dieser hier uns durch die Lappen gegangen ist bin ich losgegangen um ihn zurückzuholen es war ganz einfach sie sind leichtgläubig aber dann habe ich dich angerufen ich habe dich angerufen

Z ach Z im Morgengrauen reisen wir ab

Zasha schüttelt den Kopf du und deine Zugelaufenen schon wieder fängst du damit an Scheiße jedes Mal, wenn du hier bist

He du hast mich gebeten herzukommen du wolltest meine Hilfe du wolltest, dass ich das tue

Ja ja mach schon verschwind einfach

Die Morgendämmerung hebt mich empor fragt einer wie es kommt das weiß der Künstler der mich schuf

die Hoffnung ist ein Vogel die Vögel sind schweigsamer bei Tagesanbruch schläfriger die Verheißung des Lichts macht sie heiter eine Brise kräuselt das Vorzimmer der Dämmerung

Folge Swan zu einem Fahrzeug zu einem Hafen, in dem eine öffentliche Fähre wartet all die Gesichter voller Leben nach innen gerichtete Augen betrachten andere Zeiten Vergangenheit oder Zukunft oder betrachten den Tag wie du

Über den breiten Fluss der Hochwasser führt Oberfläche vom Wind muschelförmig aufgewirbelt vom Kielwasser durchfurcht gurgelnde Querströmungen der runde Bug der Fähre gleitet auf der Welle bricht sie verschlingt das zerbrochene Wasser gleitet weiter Manhattan vor ihnen von links nach rechts eine menschengemachte Klippe die Sonne ist noch nicht darüber gestiegen lange Schatten auf dem Fluss langsam in die Landebucht tuckern eine riesige Klammer, die die Fähre greift und sie zur Ruhe wiegt

Mit den Leuten raus auf eine Plattform raus zwischen hohen Gebäuden unten Kanäle lange dünne Boote 52 Boote sichtbar 423 Menschen im Morgenschatten jetzt schon viel los

Was meinst du? fragt Swan Kannst du als Mensch durchgehen? Kommst du zurecht?

41 sichtbare Boote 364 Menschen wir sind die Vögel die bleiben

ich komme zurecht

Gut dann ab mit dir

der Mensch küsst dich auf den Mund das Aufeinanderklicken der Eckzähne lässt euch beide erschrecken mit einem Mal wird dir die Wirklichkeit des anderen bewusst schau in die Augen ahornfarbene Iriden das linke Auge mit einem blauen Bogen unten Tu Gutes geh

Wahram

Die Leute hungern in zweierlei Hinsicht nach Zeit. In manchen Fällen möchten wir, dass etwas schneller eintritt: das Terraforming einer neuen Welt, die wir liebgewonnen haben, allumfassende Gerechtigkeit im menschlichen Miteinander, der Beginn eines guten Projekts. Andere Dinge sollen langsamer verstreichen: unser eigenes Leben, das Leben unserer Lieben. So oder so hungern wir nach Zeit – mehr Zeit, um Dinge zu tun, Dinge zu erleben.

Im Alter von 113 zu heiraten ist der Triumph der Erfahrung über die Hoffnung. Man hat schon so viele Leben gelebt. Die eigenen Hoffnungen sind längst auf eine gewisse Konzentration reduziert, die man seinem Alltag widmet. Das Leben hat einen alles gelehrt, was es zu lehren hat; weitere Erfahrungen werden nur Wiederholungen sein.

Aber niemals eine genaue Wiederholung. Das Leben ist immer allerhöchstens pseudoiterativ. Jeder Tag hat seine Besonderheiten. Wenn man Tag für Tag das Gleiche tut, als ein Ritual, um gegen das Verstreichen der Zeit aufzubegehren, den Augenblick zu bewahren, entfernt man diese Besonderheiten nicht, sondern arbeitet sie heraus. Die Tiere, unsere horizontalen Brüder und Schwestern, erinnern uns daran; jeder Tag ist ein erlebtes Abenteuer, ein Erfolg. Nichts wiederholt sich jemals. Mit jedem Atemzug saugen wir etwas von der Atmosphäre ein, schnappen wir nach Leben. Ein Hoffen auf Erfahrung. Das muss man spüren und weitermachen.

Mit diesen Gedanken im Kopf saß Fitz Wahram im Sitzungssaal des Titan-Rats für planetare Beziehungen. Als er an der Reihe war, stellte er seinen versammelten Mitarbeitern sein Anliegen vor.

»Man sollte meinen, dass die terranischen Nationalstaaten nach all der Zeit aus Erfahrung klug geworden wären und sich miteinander ausgesöhnt hätten, sodass sie konsistente und aufeinander abgestimmte Beziehungen zu den Siedlungen auf anderen Planeten pflegen könnten und Schluss wäre mit all der Verwirrung und Uneinigkeit, die ihr gegenwärtiges Verhalten mit sich bringt. Aber nein. Bislang schaffen sie das einfach nicht. Vielleicht brauchen sie noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte. Niemand kann sagen, wie es mit der Erde weitergehen wird. Derweil haben sich die Beziehungen zu unserem ehemaligen Patron, dem Mars, wieder halbwegs normalisiert. Wie ihr alle wisst, haben die Arbeiten im Saturn-System überhaupt nur angefangen, weil die Marsianer so dringend Stickstoff benötigten, und so haben sie eine Menge für die Besiedelung hier geleistet. Der völlige Bruch mit dem Mars war seinerzeit zwar notwendig, aber er muss nicht ewig bestehen bleiben und sollte es auch nicht. Wir sind inzwischen stark genug, um mit dem Mars zu verhandeln, ohne uns dabei unterbuttern zu lassen. Tatsächlich wäre es sogar ein Zeichen von Stärke unsererseits, wenn wir erneut Beziehungen zum Mars aufnehmen. Ich schlage also vor, dass wir ihnen eine Wiederaufnahme der Stickstofflieferungen vom Titan anbieten, und zwar in fast so hohem Umfang wie früher, aber im Rahmen einer neuen Vereinbarung, die wir kontrollieren, also ein echtes, faires Handelsabkommen. Das würde beiden Planeten zugutekommen. Die Atmosphäre des Titan enthält nach wie vor etwa doppelt so viel Stickstoff, als uns lieb ist. Also sollten wir eine Menge festsetzen, die für den Tauschhandel freigegeben wird. Das könnte ein Dreieckshandel sein: Der Titan liefert Stickstoff an den Mars, der Mars lässt dem Merkur Wiederaufbau- und Entwicklungshilfe zukommen, und der Merkur liefert Schwermetalle und Seltene Erdelemente an den Saturn. Außerdem hilft er dabei, die Belieferung mit Licht von den Vulkanoiden sicherzustellen.«

Es gab nun eine Menge Fragen und eine kurze Debatte. Dann sprach wieder Wahram:

»Durch die verbesserten Beziehungen zwischen allen drei Parteien könnten wir uns besser gegen die Erde behaupten, wenn diese in den Imperialismus zurückfällt und ihre inneren Zwistigkeiten und Rivalitäten sich auszubreiten und uns alle mitzureißen drohen. Vielleicht können wir sogar bei der Lösung einiger dieser alten Probleme helfen. In gewisser Weise würden wir damit die Reanimierung fortführen, die schon zu so bemerkenswerten Erfolgen geführt hat.«

»Wie zum Beispiel?«, forderte ihn jemand heraus.

»Die Arktische Liga ist zu einer der fortschrittlichsten und kooperativsten politischen Organisationen der Erde geworden. Das mittlere Nordamerika ist nun wieder eine Büffelsteppe, was für große Begeisterung sorgt. Den Regenwald am Amazonas hat man auf sein gesamtes ehemaliges Becken ausgedehnt und hält ihn nun in einem ähnlichen Zustand wie dem, in dem er sich vor Kolumbus’ Zeiten befand. Südostasien und Südasien haben, unterstützt durch ihre Wälder und ihre Wasser- und Klimasituation, ein Bevölkerungsgleichgewicht und die größte Wiedereinwilderung auf dem ganzen Planeten erzielt. All das sind messbare Verbesserungen seit der Reanimierung.«

»Es ist nicht mal annähernd genug Zeit verstrichen, um derartige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Tierinvasion wird von vielen als grauenhafte Stümperei beschrieben, die eine ganze Reihe entsetzlicher Probleme erzeugt hat.«

»Zu Unrecht.«

Eine Weile ging der Streit um die Situation auf der Erde hin und her. Schließlich erinnerte der oberste Berater der Saturn-Verwaltung sie daran, dass es hier um einen Dreieckshandel mit Mars und Merkur ging. Wahram wies darauf hin, dass der Mars nachhaltig von den in sein System eingedrungenen Qube-Humanoiden beeinflusst, man konnte sogar sagen: infiziert worden war. Erst kürzlich hatte man sie aufgespürt und ins Exil geschickt; die Marsianer waren darüber so erfreut gewesen, dass sie Jean Genettes Exilstatus aufgehoben hatten und den nun gefeierten Inspektor mit Dank für gute Dienste zu Hause willkommen hießen. Vermutlich war dieser Dispens nur der erste Schritt zu einem neuen Geist der Kooperation. Viele Ratsmitglieder nickten angesichts dieser guten Neuigkeiten und widmeten sich Einzelheiten wie dem Umfang der Stickstofflieferungen, dem Zeitplan und der Bezahlung. Es wurde über die erwünschten Druckverhältnisse der Titan-Atmosphäre debattiert.

Wahram wartete, bis die meisten Anwesenden ungeduldig wurden und das Thema zum Abschluss bringen wollten. Dann bat er darum, auf die eigentliche Frage zurückzukommen. Sein Anliegen wurde im Prinzip einstimmig angenommen und die Sitzung geschlossen.

In der letzten Frage ging es darum, wie sie die Abmachung ihren Partnern vermitteln wollten, worauf Wahram sagte: »Ich fliege zum Merkur, um Swan Er Hong einen Heiratsantrag zu machen. Ich hoffe, dass wir uns beim Epithalamium am Olympus Mons die Treue geloben werden. So können wir dann auch mit den richtigen Leuten auf dem Mars ins Gespräch kommen.«

Ah, gut, sagten alle. Herzlichen Glückwunsch. Einige sahen überrascht aus; andere nickten wissend. Das wird alles einfacher machen. Ihr seid dann so etwas wie ein festes Saturn-Merkur-Komitee.

Ja, antwortete Wahram.

Swan

Als Swan die Erde verließ, war sie ausgesprochen zufrieden mit sich, weil sie der qubischen Person beim Untertauchen geholfen hatte, und sie freute sich auch über Zashas Verhalten, was ihr sehr viel mehr bedeutete, als ihr bewusst gewesen war. Sie nahm den Weltraumaufzug in Quito und durchlebte einmal mehr die Satyagraha-Aufführung. Diesmal hinterließ der friedvolle letzte Augenblick den stärksten Eindruck bei ihr. Immer höher klomm die einfache Oktave, wie ein Meditationsgesang, der einen von den Füßen hob; und wenn man in der zum Ende hin immer weiter abnehmenden Schwerkraft tanzte, wurde das zu einem sehr körperlichen Gefühl, eine Art Taumel, getragen von den Schwingen der Musik.

Sie kehrte in einem Terrarium namens Henry David zum Merkur zurück. Es handelte sich um einen klassischen Neuengländer, mit ein paar kleinen schindelgedeckten Dorfhäuschen und vereinzelten Weideflächen, die die Laub- und Mischwälder auflockerten. Dort war es Oktober, und die Ahornblätter hatten sich herbstlich eingefärbt. Die Bäume standen in grellem gelbem, orangefarbenem, rotem und grünem Kleid, alle Farben durcheinander und über die gesamte Innenfläche des Zylinders verteilt. Blickte man nach oben, dann schien das bunte Gewölbe eine eigene Sprache aus Farben zu sprechen, flimmernd, immer knapp davor, eine Bedeutung zu offenbaren. Swan wanderte auf den Waldwegen und ging von einer freien Hügelkuppe zur nächsten. Einmal sammelte sie gefallene Blätter auf und arrangierte sie so auf einer Lichtung, dass sie einen sanften, stufenlosen Farbverlauf von Rot über Orange über Gelb über Gelbgrün bis Grün ergaben. Dieses bunte Band am Boden machte ihr große Freude, genauso wie der Wind, der es fortblies. Einen anderen Tag verbrachte sie damit, stundenlang einem schwarzen Bären und seinem Jungen zu folgen. Am Nachmittag kamen sie an einen verlassenen Apfelhain, wo ein uralter, verkrüppelter Baum trotz allem eine große Zahl Äpfel hervorgebracht hatte, so viele, dass einige Äste sich Richtung Boden neigten. Die Bären taten sich daran gütlich. Neben dem Baum stand aufrecht ein halbhohes Fass, das mit Regenwasser gefüllt war, und das Junge stieg hinein und nahm ein Bad. Sein glänzendes Fell wurde schwarz und stand in nassen Borsten ab.

Zurück auf dem Merkur fand sie sich wieder in ihrem Leben in Terminator ein. Sie erwachte draußen auf ihrem Balkon, frühstückte in der Morgenkühle, machte ihre Dehnübungen in Richtung Sonne und verneigte sich dabei leicht eingeschüchtert vor Sol Invictus. Sie ließ den Blick über die Stadt wandern und betrachtete all die vertrauten Wahrzeichen, die man wiederaufgebaut hatte, ebenso wie die neuen Bäume und Sträucher, die jeden Tag ein wenig größer aussahen, ein wenig mehr, als gehörten sie hierher. Sie hatte eine Postkarte genommen, die ihr Alex vor langer Zeit über einen Kurier zugestellt hatte, und sie über der Spüle an die Wand geheftet, wo Alex’ Handschrift täglich verkündete:

O Freude meines Geistes – uneingekerkert strahlt er Blitze

Es genügt nicht, diesen Erdball und eine Spanne Zeit zu haben,

Ich will Tausende von Erdkugeln und alle Zeiten haben.

Inzwischen war auch in Terminator Herbst, und die Reihe lohfarbener japanischer Ahornbäume zwei Terrassen unterhalb ihres Balkons trug ein rot schillerndes Kleid. Staub hatte sich über die königsblauen Dachziegel gelegt, die sie weiter unten sah. Das neue Wetterprogramm schien mehr windige Tage vorzusehen als das alte, und manchmal wurde es stürmischer, als sie es hier jemals erlebt hatte. Das gefiel ihr. Manchmal kam ein gewisser kalter, böiger Wind auf, der sie dazu verführte, alles stehen und liegen zu lassen und ihn auf einen langen Spaziergang durch die Stadt zu begleiten. Vorne wirkte Terminator sehr viel größer als zuvor, die Plattform reichte weiter und stellte mehr Platz für Park- und Farmland bereit. Im flachen Teil der Stadt und im Park gab es neue Kanäle. Brücken über Kanäle, Fahrradwege, breite Boulevards und Esplanaden. Ihre Stadt. Genauso, aber anders. Ihr kam in den Sinn, dass man die Stadt vorne noch weiter in die Nacht ausdehnen konnte; theoretisch konnten sie im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte die Schienen auf der gesamten Nachtseite des Merkur bedecken.

Den Großteil ihrer Tage verbrachte sie draußen in der Farm, wo sie am Teich und an den Feuchtgebieten arbeitete. Das neue Mündungsgebiet gedieh nicht besonders gut, es gab gewisse Uneinigkeiten über den richtigen Salzgehalt und den Einsatz einer kleinen hydraulischen Gezeitenmaschine. Genau genommen stritten sie sich. Und Swan versuchte noch immer zu verstehen, warum die Gibraltaraffen die Höhlen nicht mochten, die sie ihnen in einem kleinen Hügel mit einem Steilhang an der Westseite zur Verfügung gestellt hatten. Die Affen waren wunderschön, und normalerweise hatten sie keine Probleme nach Art der Menschen. Aber da saßen sie, auf den Platten unterhalb der Höhlen, und weigerten sich hineinzugehen. Früher oder später würde Swan wahrscheinlich selbst dort hochklettern müssen, um sich die Sache anzusehen.

Während sie dort draußen die Affen beobachtete, dachte sie über ihr Leben nach. Da war sie mit ihren 137 Jahren. Die meiste Zeit hatte sie ihren Körper ziemlich misshandelt; er würde nicht ewig halten, vielleicht nicht einmal mehr besonders lange. Andererseits machte die Medizin ständig Fortschritte und eröffnete Jahr für Jahr neue, ungeahnte Möglichkeiten. Mqaret war fast zweihundert Jahre alt. Man musste also zumindest darüber nachdenken.

Sie hatte nur wenige enge Bindungen, und vielleicht waren sie auch nicht mehr so besonders eng. Dennoch verfügte sie über alles, was sie brauchte; es ging ihr gut. Swans Tochter war irgendwo dort draußen und lebte ihr Leben auf ihre ganz eigene Art, ohne nennenswerte Pannen. Dann und wann meldete sie sich. Das war nicht das Problem. Anderen Menschen stand Swan näher, und das war in Ordnung. Ihr junger Freund Kiran war auf der Venus geblieben, er hatte drauf bestanden, und dort war er wieder mitten im Getümmel und schickte ihr regelmäßig Berichte. Es kam ihr mehr wie eine Beziehung vor als sonst etwas in ihrem Leben, und dort draußen warteten zweifellos noch mehr solche Beziehungen auf sie; irgendwie packten sie dauernd Leute am Arm und zogen sie in ihr Leben hinein. Die Leute von ihrer Farm waren klasse. Swan gefiel ihre Arbeit; sie mochte das Spiel und auch die Kunst, das Spielen, das Arbeit war. Also ging es um etwas anders. Es lief eigentlich auf eine recht philosophische Frage hinaus: Wie sollte man sein? Was sollte einem wichtig sein? Und wie wurde man ein bisschen weniger einzelgängerisch? Denn jetzt, wo Alex fort war, redete sie zwar mit vielen Menschen, doch letztlich fehlte ihr jemand, dem sie auf die Art etwas erzählen konnte, wie sie Alex immer etwas erzählt hatte.

Ach, du fehlst mir, Hettie Moore

Doch keinem hier kann ich davon erzählen –

Die Welt vor meinen Augen fällt ins Schwarz.

Allein auf der Farm sang sie die alte Ballade und überlegte, was sie tun musste, um alles wieder ins Lot zu bringen. Vielleicht nichts. Der Tod ließ das Leben schrumpfen. Teile starben vor dem Ganzen. Wenn ein geliebter Mensch starb, dann starb ein Teil von einem mit. Manche Leute waren, wenn sie abtraten, wie eine bestimmte Art von Wacholderbusch, die Swan einmal gesehen hatte und die nur noch aus einem lebenden Zweig an einem toten Stumpf bestanden. Dagegen ließ sich nichts machen.

Das einzige Glück lag in der Tugend. Nein, das stimmte nicht. Jeder Teil des dreieinigen Gehirns kannte seine eigene Art von Glück. Eidechsen in der Sonne, Säugetiere auf der Jagd, Menschen, die etwas Gutes tun. Gut ist das, was für das Land gut ist. Wenn man also arbeitete, als wäre man auf der Jagd, im Licht und in der Wärme, und dabei eine Landschaft erschuf – einen Ort, an dem Menschen für viele Generationen leben konnten –, dann war man dreifaltig glücklich. Das sollte doch wohl genügen.

Aber man wollte es auch teilen. Einfach nur, damit es jemanden gab, mit dem man zusammen zufrieden sein konnte. Alex war mit ihr zufrieden gewesen.

Sie hatte die umherreisenden Isolationisten gesehen, einzelgängerische alte Raumer, die allein umherzogen und keinerlei Partnerschaften mit anderen Menschen eingingen. Swan gehörte zu ihnen; ihr halbes Leben lang war sie schon eine von ihnen. Waren sie alle bloß auf der Suche? Sie erinnerte sich an etwas, das die Leute manchmal sagten: Ich möchte jemanden kennenlernen. Kennenlernen; damit meinten sie »mit jemandem zusammen sein«. Ich möchte mit jemandem zusammen sein. »Kennenlernen« war der zukunftsgerichtete Konjunktiv von »zusammen sein«, der Modus des Wünschens. Und wenn man die Augen offen hielt, sah man es: Die Partnerbindung ließ sich nicht unterkriegen. Es war ein konditionaler Futur, ein Verb im Konjunktiv: mit jemandem zusammen zu sein, um diesen jemand dann kennenzulernen. Etwas Atavistisches, als wären sie Schwäne oder irgendwelche anderen Geschöpfe mit einem genetischen Hang zur Zweisamkeit. »Swan ist kein Schwan«, verkündete sie ihren verblüfften Mitarbeitern im Park. Aber woher wusste sie das?

»Ich möchte jemanden kennenlernen«, sagte sie probeweise zu Mqaret.

Mqaret lachte sie aus. »Du magst diesen Kerl! Diesen Wahram vom Saturn. Vielleicht meinst du ja eigentlich: ›Ich habe jemanden kennengelernt.‹«

Swan glotzte Mqaret an. Ihr war noch immer nicht ganz klar, dass man geliebt werden konnte. Oder sogar lieben. »Aber ich habe ihn schon vor langer Zeit kennengelernt. Ich kenne ihn jetzt schon seit Jahren!«

»Umso besser«, erwiderte Mqaret. »Du kennst ihn. Tatsächlich musstest du sogar eine Menge Zeit mit ihm verbringen. Was ist in diesem Tunnel geschehen? Oder ist da etwa nichts geschehen?«

»Die meiste Zeit haben wir gepfiffen«, antwortete sie. »Aber ja. Es ist etwas geschehen.«

»Vielleicht ist es das, was eine Ehe ausmacht«, sagte Mqaret. »Zusammen pfeifen. Eine Art Darbietung. Also nicht bloß eine Unterhaltung, sondern wirklich eine Darbietung.«

»Die Ehe«, wiederholte Swan, voll Staunen über dieses Wort. In ihren Augen handelte es sich um ein Konzept aus dem Mittelalter, von der alten Erde – und der Gedanke daran brachte eine starke Assoziation mit Patriarchat und Besitzansprüchen mit sich. Nicht für den Weltraum gedacht, und nicht für ein langes Leben gedacht. Man bewegte sich in Epochen durch das Leben, jede war ein Abschnitt in der eigenen Lebensgeschichte, der einige wenige oder auch viele Jahre dauerte, und dann veränderten sich die Umstände und man befand sich in einem neuen Leben mit neuen Bekanntschaften. Das ließ sich nicht ändern, nicht wenn man dort draußen war und im großen Karussell mitfuhr; wenn man sein Leben deformierte, um eine Beziehung über ihre natürliche Dauer hinaus aufrechtzuerhalten, riskierte man, sie am Ende zu ruinieren, sodass sie der Länge nach splitterte und nichts als eine bittere Wunde und das Gefühl hinterließ, dass alles eine Lüge gewesen war, obwohl man eigentlich einfach seinen Weg fortsetzen und einen der kleinen Tode mit anschließender Verwandlung hätte durchlaufen sollen, die mit den kurzen Zeitaltern des Lebens einhergingen. So war das eben.

Zumindest war das ihr Eindruck, und auch der von vielen anderen, die sie kannte. Es war die Gefühlsstruktur ihrer Kultur und ihrer Zeit. Raumer waren freie Menschen, endlich frei und endlich Menschen. Dieses Gefühl teilten sie alle und bestärkten einander darin, und Swan hatte immer daran geglaubt und war immer der Meinung gewesen, damit recht zu haben. Aber Gefühlsstrukturen waren kulturell, historisch; sie veränderten sich mit der Zeit, genau wie sich Menschen veränderten; die Strukturen wurden selbst immer wieder neu geboren. Wenn sich Kulturen also im Laufe der Zeit änderten und ein Einzelner eine Veränderung in dieser Kultur miterlebte, dann … veränderte der Einzelne sich dann nicht auch? Konnte er das? Konnte sie das?

Aber war die Ehe nicht eine Art Versprechen, sich nicht zu verändern?

Sie stapfte durch die Feuchtgebiete und dachte immer weiter darüber nach. Eines Tages hüpfte ein Frosch, der die gleiche Farbe wie die Steine hatte, vor ihrer unachtsamen Hand davon und saß anschließend da und starrte zu ihr empor, wachsam und neugierig, ruhig, aber bereit zu einem weiteren Sprung. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe dich nicht gesehen.« Aber jetzt, wo sie den Frosch gesehen hatte, saß er da und glänzte deutlich stärker als die Steine, lebendig und atmend.

Sie ging auf Wanderschaft. Von Terminator aus ging sie nordwärts, in die Tricrena-Albedo. Hinaus in das verworrene Helldunkel der Tag-Nachtgrenze des Planeten, wo die schräg einfallenden Sonnenstrahlen mit einem Mal auf die geneigte Ebene fielen, so gleißend, dass das noch im Schatten liegende Land schwärzer aussah als dunkle Materie. Splitter von Schwarz und Weiß – ihr Auge war kaum dazu in der Lage, sie zu einer Landschaft zusammenzufügen. Genau so liebte sie es zuweilen. Ihr schizophrener Lebensraum.

Sie wurde zum Sonnenläufer, im Kopf die auswendig gelernten Karten. Während sie fast blind Richtung Westen stapfte, wusste sie also, dass sie bald über die Anhöhe nördlich von Mahler kommen und einige verlassene und von der Sonne gebrannte Ballard’sche Landebahnen passieren würde. Anschließend würde sie das obere Ende einer Abbruchkante erreichen, einen kleinen, vorstehenden Riss in der Landschaft, sehr alt, von dem aus man zweihundert Meter weit nach unten auf die Ebene schauen konnte. Glücklicherweise gab es in dem Steilhang eine Reihe schräger Simse, die als Treppe fungierten. Sie war nicht zum ersten Mal hier. Dieser Steig wurde oft von Sonnenläufern verwendet, die hier entlangkamen, und war bereits seit Jahren von Staub und Geröll befreit. Es handelte sich um einen rissigen Weg aus sauberen Steinrampen, der sie im Zickzack zu der tiefer liegenden Ebene hinabführte. Sie fand, dass der Horizont sich auf dem Merkur in genau der richtigen Entfernung befand: Man konnte nicht einfach die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren, aber man konnte zu ihm hingehen, um ihn sich näher anzusehen.

Jetzt gerade befand sich dort draußen eine Gruppe Sonnenläufer, die geduldig Richtung Westen stapfte. Kleine silberfarbene Gestalten, die sie an Inspektor Genette erinnerten und die soeben hinter dem Horizont verschwanden. Sie würden ein Weilchen wandern und sich dann in Karren oder auf Bahren legen, um zu schlafen, während die anderen sie weiterzogen. Zusammen wandern, die Schlafenden mitziehen – was für ein schönes Gefühl von Vertrauen und Fürsorge, wenn man sein Leben auf solch spielerische Art in die Hände von Fremden legte. Auch das machte es aus, ein Merkurianer zu sein. Lange Zeit hatte sie sonst keine Gesellschaft gebraucht, mit Ausnahme ihrer Stadt.

Sie erreichte den Fuß des Steilhangs und betrat die flache Geröllebene des Tricrena-Albedo. Hier verlor sich der Pfad, weil alle Wege gleich gut waren. Hier konnte sie in die Nacht hineinlaufen, vor der Dämmerung Boden gewinnen, sich auf den Yes Tor stellen und zusehen, wie die höchsten Punkte der Ebene wie Kerzen aufflackerten und von ihren leuchtenden Spitzen abwärts herunterbrannten. Auf ewig in der Morgendämmerung laufen, wie sehr es einem danach verlangen konnte! Wer mochte schon den Mittag oder die Abenddämmerung? Das Morgengrauen hinter sich lassen, in die Nacht zurückzulaufen. Den Tag aufschieben – wer wusste schon, was er bringen würde? Sie folgte keinem Plan, keiner Idee.

Eine ganze Weile rannte sie und dachte über nicht viel mehr nach als den Stein unter ihren Füßen und die Beschaffenheit des Geländes. Sonst brauchte sie nichts. Sie konnten dem Merkur die Eingeweide herausreißen, jedes wertvolle Mineral aus ihm herausholen, seine Oberfläche würde dadurch kein bisschen anders aussehen. Dieser Planet war bereits ein Backstein. Das schwer mitgenommene Gesicht eines alten Freundes. Überall waren Felsbrocken verteilt, Geröll, Müll, Auswurf. Die Staubdecke. Gold in den Bergen dort. Aber Freunde reden miteinander. Ich will mit jemandem reden können, und zwar so, dass es mir etwas bedeutet. Ich will Dinge hören, die mich interessieren, die mich überraschen, ganz egal, wie unmöglich es ist, mich zu überraschen. Nur dass es in Wahrheit ganz einfach ist, mich zu überraschen. Wie konnte es sein, dass niemand da war, um jemanden zu überraschen, der sich so leicht überraschen ließ?

Eine behäbige Person, eine saturnianische Person. Was, wenn es jemanden gab, auf den man sich verlassen konnte, jemanden, der ordentlich war, zuverlässig, vorhersehbar, bestimmt; entschieden, wenn er etwas hinreichend durchdacht hatte; großmütig; gütig. Jemand, der phlegmatisch war und dennoch zu kleinen Ausbrüchen der Begeisterung neigte, bei denen es meistens um ästhetische Freuden der einen oder anderen Art ging. Glücklich in der Gefahr, ein wenig trunken. Jemand, der eine Landschaft lieben konnte. Jemand, der gerne Tiere beobachtete und ihnen nachjagte, nur um einen Blick zu erhaschen. Jemand, der sie ansah, als wäre es ein interessantes Projekt, sie zu verstehen, und nicht nur ein zu lösendes Problem oder ein Stück Kulisse in einem wichtigeren Stück. Und der jeden, den er traf, mit derselben Aufmerksamkeit betrachtete. Oft mit einem kleinen Lächeln, das anscheinend Vergnügen an der Gesellschaft zum Ausdruck brachte. Zurückhaltend, aber freundlich. Wenn all unsere Bekanntschaften sich nur in Form von Sprache charakterisieren ließen, würden wir wie Geschöpfe erscheinen, die Widersprüche sammeln, Paradoxien, Oxymorons. Für jede Sache der einen Art gab es etwas Andersartiges, das sie aufwog. Menschen gab es in beide Richtungen. Bei jemandem wie ihm klang ein kleines, fröhliches Lachen geradezu ausgelassen.

Sie erreichte einen ihrer Lieblings-Goldsworthys, aus einer Zeit, als sie damit experimentiert hatte, Kugeln aus Blei und anderen Metallen, die in der Tageshitze schmelzen würden, auf Abhängen zu platzieren, in die sie Rinnen gekratzt hatte, sodass die Kugeln aus Blei, Kupfer oder Zinn, während der Tag über sie hinwegzog, in die Rinnen flossen und dabei Bilder oder Schriftzeichen bildeten, immer gestreckt, sodass sie von einem Aussichtspunkt auf einem nahe gelegenen Steilhang aus aufrecht zu stehen schienen. Bei dieser Skulptur, die sich nördlich von Mahler befand, hatte sie zwei Buchstabengruppen sorgfältig so angeordnet, dass sie einander überlappten und ihre Linien sich kreuzten, wobei die Passage zu dem einen oder dem anderen Wort gleich durchlässig waren. Wenn die Metallklümpchen in der Sonne schmolzen, staute das flüssige Metall sich an den Gabelungen, bis das eine oder das andere Gatter nachgab und das Reservoir sich leerte. Je nachdem, was an den Passagen passierte, konnten die Buchstaben der Installation also entweder das Wort »LEBEN« oder »STERBEN« bilden. Es handelte sich um die letzte einer Reihe von Antinomien, die sie in jenen Jahren der Landschaft und der Sonne ausgesetzt hatte, einschließlich aller sieben einander überlappenden Kardinaltugenden und Todsünden, die miteinander rangen wie Jakob mit Gott. Bislang stand das endgültige Urteil noch aus: Der Vorgang schien zufallsbestimmt zu sein. Aber in diesem speziellen Fall waren beide Passagen gleichzeitig durchbrochen worden, und der Metallstrom hatte nicht genügt, um alle Rinnen zu füllen. Manche waren zuerst vollgelaufen, und das Ergebnis, ein hell glitzerndes Silber- und Kupfergemisch, bildete das Wort »BETEN«.

Jetzt stand sie da und schaute von der Aussichtsplattform darauf hinab. Selbst damals war ihr dieses Ergebnis schon passend vorgekommen; und jetzt erschien es ihr geradezu zwingend. Man konnte nach wie vor die leeren Rinnen der einander überlappenden Worte sehen, das Leere L und R. Aber das Wort »BETEN«, das metallisch vor der dunklen Landschaft leuchtete, stach heraus. Wirklich sehr passend. Die Leute behaupteten, dass sie es mit Absicht so eingerichtet hatte, aber dem war nicht so: Die Dämme waren gleich stark gewesen und von alleine zur gleichen Zeit gebrochen, und gewisse Buchstaben waren zuerst vollgelaufen – ein Clinamen. Aber in gewisser Weise sagte es die Wahrheit aus. Weder lebten sie noch starben sie – sie taten beides zugleich –, und so beteten sie, um den Widerspruch zu versöhnen. Gleichzeitig blieb es eine Lüge. Und so logen sie und logen erneut. Man konnte also ebenso gut weitermachen.

Nach einer Weile wandte sie sich nach Süden, um zur nächsten Plattform zu gelangen, bevor die Stadt sich über den Horizont schob. Sobald sie über den niedrigen Rand des uralten Kraters Kenkˉo stieg, würde sie die Schienen Terminators sehen können, schwach schimmernd, im Tal zu ihren Füßen.

Vom Kraterrand des Kenkˉo aus stieg sie zur Südseite herab. Sie sah die Schienen, und eine einsame Gestalt, die sich ihr entgegen den Hang empormühte. Rund, groß: Und sie erkannte seine Art zu gehen im ersten Moment, o ja, sie kannte diese Art zu gehen!

Swan schaltete auf den offenen Kanal: »Wahram?«

»Ich bin’s, ich bin auf der Jagd nach dir.«

»Du hast mich gefunden.«

»Ja. Wolltest du bald in die Stadt zurückkommen? Ich habe nämlich nichts zu essen dabei.«

»Ja, das wollte ich. Wann bist du denn angekommen?«

»Gestern. Ich wandere erst seit ein paar Stunden. Die Stadt müsste jeden Moment in Sicht kommen.«

»Gut. Gut. Lass uns runtergehen, um sie abzupassen.« Sie ging zu ihm und nahm ihn in die Arme. Trotz ihrer Anzüge fühlte sein Körper sich vertraut an, rund und füllig, größer als sie. »Danke, dass du rausgekommen bist, um mich zu holen.«

»Glaub mir, das Vergnügen ist ganz meinerseits. Ich bin den ganzen Weg von Titan bis hierher gereist.«

»Das dachte ich mir schon. Wie geht es deinem neuen Bein?«

Er deutete nach unten. »Ständig trete ich damit auf und stelle fest, dass es nicht dort ist, wo ich es vermutet habe. Anscheinend reden die Phantomnerven des alten Beins immer noch mit mir und bringen alles durcheinander.«

»Genau wie mein Kopf!«, sagte Swan, ohne darüber nachzudenken, und lachte gequält. »Jedes Mal, wenn ich mir einen neuen wachsen lasse, ist er nicht mehr dort, wo ich es dachte.«

Wahram betrachtete sie lächelnd. »Angeblich gewöhnt man sich schnell daran.«

»Hmm.«

»Wo wir gerade von nachwachsenden Köpfen reden – hast du eigentlich schon über das nachgedacht, was ich gesagt habe, während wir im Weltraum verschollen waren? Und natürlich auch über das, was ich danach auf der Venus gesagt habe.«

»Ja, das habe ich.«

»Und?«

»Tja, ich weiß nicht.«

Wahram runzelte die Stirn. »Hast du mit Pauline darüber geredet?«

»Tja, ich denke schon.«

Eigentlich war sie noch gar nicht auf den Gedanken gekommen.

Wahram musterte sie. Schon bald würde die Sonne sie erreichen. Er sagte: »Pauline, willst du mich heiraten?«

»Ja«, sagte Pauline.

»He, Moment mal!«, rief Swan. »Ich bin diejenige, die ja sagen muss.«

»Ich dachte, das hättest du gerade«, erwiderte Wahram.

»Nein, das habe ich nicht! Pauline ist sehr wohl ein unabhängiges Wesen in meinem Kopf. Deshalb habt ihr mich ja auch von euren Konferenzen ausgeschlossen, nicht wahr?«

»Ja, aber ihr beiden seid eine Einheit. Deshalb konnten wir dich nicht teilnehmen lassen, ohne gleichzeitig auch sie teilnehmen zu lassen. Ich weise nicht als Erster darauf hin: Du hast Pauline programmiert und tust es auch weiterhin. Insofern ist sie eine Art Projektion von dir …«

»Absolut nicht!«

»… oder vielleicht lässt sie sich besser als eines deiner Kunstwerke beschreiben. Die sind oft sehr persönlich.«

»Meine Steinhaufen sind persönlich?«

»Ja. Nicht so persönlich wie eine Woche lang nackt auf einem Eisklotz zu sitzen und dein eigenes Blut zu trinken, aber trotzdem sehr persönlich.«

»Tja, Pauline ist aber kein Kunstwerk.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht ist sie so etwas wie eine Bauchrednerpuppe. Ist das nicht Kunst? Eine Vorrichtung, durch die man spricht. Insofern fühle ich mich sehr ermutigt.«

»Das solltest du nicht!«

Aber offensichtlich tat er genau das. Mit der Zeit, begriff Swan, würde das eine Rolle spielen – dass er an Pauline glaubte. Sie ging zum nächsten Bahnsteig hinab, und Wahram folgte ihr.

Nach einer Weile sagte er: »Danke, Pauline.«

»Nichts zu danken«, antwortete Pauline.

Auszüge (18)

einen Satz zu bilden bedeutet, zahlreiche einander überlagernde Wellenfunktionen in einem einzigen gedanklichen Universum kollabieren zu lassen. Wenn man die dabei verlorenen Universen Wort für Wort miteinander multipliziert, können wir sagen, dass jeder Satz 10n Universen auslöscht, wobei n die Anzahl der Worte ist, die der Satz enthält. Jeder Gedanke verdichtet Milliarden potenzieller Gedanken. Insofern kommt es zu einer verbalen Verdunkelung, bei der die von uns gebrauchte Sprache die Wirklichkeit strukturiert, in der wir leben. Vielleicht ist das ein Segen. Vielleicht müssen wir deshalb immer neue Sätze bilden

Texte werden geschrieben, damit andere Menschen sie später lesen. Sie sind eine Art Zeitkapsel, mit der man das Wort an seine Nachfahren richtet. Indem Sie diesen Text lesen, blicken Sie in eine frühere Zeit zurück, und möglicherweise erscheinen Ihnen der Tumult und die Unordnung jener Jahre nahezu unglaublich. Vielleicht befinden Sie, die Nachgeborenen, sich jenseits eines breiten Grabens, das Ende Ihres Lebens ist nicht absehbar, und Sie sind zu den Sternen unterwegs. Uns Lebenden, die wir in unserem Sonnensystem zappeln wie Bakterien in einer Regenpfütze, ergeht es da anders. Wir haben nur diese Pfütze. Manche darin hebeln gerade die Tür zu den Geheimnissen des Lebens auf; manche bewirtschaften einen Flecken Erde, um ihm genug Nahrung zum Überleben abzutrotzen. Sie wissen alles, was ich weiß; was können wir, die Lebenden, einander in dieser Situation sagen? In vielerlei Hinsicht ist es leichter, mit Ihnen zu reden, geneigte Leser, Nachgeborene. Vielleicht leben Sie Jahrhunderte, und dieser Text macht nur einen winzigen Bruchteil Ihrer Gesamtbildung aus, als ein kurzer Blick darauf, wie es früher war, um ein bisschen besser zu verstehen, wie Ihre Welt zu dem geworden ist, was sie heute ist. Doch Ihr Autor steckt in den letzten Ausläufern der Balkanisierung fest und hofft verzweifelt auf den Beginn dessen, was als Nächstes kommt. Das ist eine sehr begrenzte Sicht

Wer entscheidet, wann es an der Zeit zum Handeln ist?

Niemand entscheidet das. Der Moment kommt einfach.

Nein. Wir entscheiden es. Wie wir es entscheiden, ist eine interessante Frage. Aber selbst wenn wir die Antwort darauf nicht kennen, so treffen wir doch die Entscheidung

Obwohl die Ereignisse unmittelbar vor und nach dem Jahr 2312 bedeutsam waren und in der damaligen Situation bereits angelegte Veränderungen vorausahnen ließen, kam es damals zu keinem entscheidenden Umschwung, man durchschritt kein Tor, über dem stand: »Dies ist ein neuer Abschnitt in der Geschichte, ein neues Zeitalter«. Die in Gang gesetzten Ereignisse waren träge und kompliziert, und viele brauchten Jahrzehnte, bis etwas aus ihnen erwuchs. Dass der Mondragon einen Großteil der Erde einen würde, dass der Mars seine durch die Qubes bewirkte Isolation überwinden und sich wieder dem Mondragon anschließen würde – nichts von alledem war für uns damals eine ausgemachte Sache. Die Dinge hätten sich in gänzlich anderen Bahnen entwickeln und

Die Verschiedenheit von individueller und planetarer Zeit lässt sich natürlich niemals überwinden. »Festzustellen ist hierbei weniger die Vereinigung dieser disparaten Zeitlichkeiten, sondern vielmehr ihre Überladung und Überlappung.« Es sind die Überladung und die Überlappung, die das Gefühl für jede gegebene Zeit erzeugen. »Aus dieser verworrenen Überlagerung verschiedenartiger Zeitmodelle geht die Geschichte überhaupt erst hervor« – als Kunstwerk, wie jedes andere Kunstwerk, aber von allen gemeinsam erschaffen. Und es hört nie auf. Dinge geschehen, Ereignisse, Erfolge; Gewinn und Verlust; Pyrrhussiege, Rückzugsgefechte; und obwohl es entscheidende Ereignisse geben kann, endet die jeweilige Handlung nicht einfach in einem Jahr wie 2312, sondern mehrere Jahrzehnte später, falls das

was wir sehen, wenn wir die Bildung der Dreierallianz von Mars, Saturn und Merkur betrachten oder die Intervention des Mondragon-Bunds auf der balkanisierten Erde oder den Wiedereintritt des Mars in den Modragon, ist eine Art instabiles Interregnum, eine Verschiebung des Drehmoments im großen Karussell. Das Gewicht wird anders verteilt, etwas Neues beginnt, und das System schlingert für mehrere Jahre, bevor es schließlich in eine neue, halbwegs stabile Rotation übergeht

Auf der Venus führten die Reaktionen gegen die Verschwörung, die ein Bombardement des Planeten hatte herbeiführen wollen, zu einem langen und erbitterten Bürgerkrieg, der, geführt mit Messern und Druckventilen, für den Rest des Systems weitgehend unsichtbar blieb und erst in der zweiten Hälfte des 24. Jahrhunderts mit einem allgemeinen Referendum unter der Beteiligung der gesamten Bevölkerung ein Ende fand. Bei diesem Referendum sprach man sich entschieden dafür aus, das Bombardement des Äquators wieder aufzunehmen und die spektakulär zerstörerische Erzeugung eines Hundert-Stunden-Venustags anzugehen

Die sogenannte unsichtbare Revolution auf der Erde führte zur Wiedererschaffung sowohl ihrer physischen als auch ihrer politischen Landschaften. All das war eine Folge der Reanimierung. Eine weitere unsichtbare Revolution, die sich im selben Zeitraum ereignete, war das Zusammenwachsen des menschlichen und des Qube-Lebens, ein Unterfangen, das bis heute allen Technikern, Philosophen und Qubes, die sich diesem Problem widmen, Rätsel aufgibt

es stellte sich heraus, dass auf dem Mars eine kleine Arbeitsgruppe innerhalb der offiziellen Regierung von einem Kader von Qube-Simulakren infiltriert und beeinflusst worden war, die allesamt entführt und ins Exil geschickt wurden. Die darauffolgende Neuordnung der Regierung näherte den Mars in der Folge deutlich an das beschriebene demokratische System an und hatte den Wiedereintritt in den Mondragon-Bund zur Folge

Nachdem Mehrheiten auf Kallisto, Ganymed, Europa, Titan, Triton und sogar Luna Pläne zum umfassenden Terraforming ihrer Welten bekannt gegeben hatten, wurden alle Gase und insbesondere Stickstoff sehr viel teurer; die Inflation traf das ganze System auf einen Schlag; und gegen Ende des 24. Jahrhunderts hatte die Saturn-Liga ein gewaltiges Vermögen angesammelt

All diese unsichtbaren Ereignisse erschweren es, die Geschichte jener Jahre niederzuschreiben. Und all diese Ereignisse setzen sich bis heute fort, wenn auch gegen den heftigen Widerstand der Zeit, der materiellen Bedingungen und der menschlichen Widerspenstigkeit – oder genauer gesagt der menschlichen Angst, die sich verzweifelt an verschiedene eingebildete Requisiten aus vergangenen Zeiten klammert, von denen man irgendwie meint, sie würden die Welt zusammenhalten. Aus diesem Grund besteht nach wie vor das Risiko eines Totalversagens, des Abstiegs in den brabbelnden Irrsinn und in die völlige Auslöschung. Das wird immer so sein. Wir haben keine andere Wahl, als es weiterhin zu versuchen

Epilog

Wenn man im Pavonis-Weltraumaufzug zum Mars hinabfährt, kann man durch den durchsichtigen Boden den roten Planeten sehen, wie er einem entgegenkommt. Die drei Prinzvulkane oben auf dem Tharsis-Wulst sind dicht hintereinander aufgereiht, wie Grabhügel, die von einem Stamm roter Menschen errichtet worden sind. Weit im Westen erhebt sich der Olympus Mons wie ein runder Kontinent für sich. Die zehn Kilometer hohen Felswände, die ihn umgeben, wirken von hier aus wie eine abgeschrägte Kante um seinen Fuß. Der Rest des Planeten ist von den zahlreichen grünen Linien, die Kreuz und quer über ihn verlaufen, in riesige Vielecke unterteilt – das sind die berühmten Kanäle, die man in den Anfangstagen des Terraforming in den Boden geschnitten hat. Man hat dafür Birch-Solettas in der Umlaufbahn eingesetzt, die das Sonnenlicht wie ein Brennglas auf die Planetenoberfläche fokussiert und dabei Temperaturen erzeugt haben, die hoch genug waren, um den Fels schmelzen und verdampfen zu lassen. Ein gutes Stück Mars ist in dieser Weise verbrannt worden, um die gewünschte Luft und Wärme zu erzeugen. Um den genauen Verlauf der Brandschneisen festzulegen, ließ man sich von Lowells Karten aus dem späten 19. Jahrhundert inspirieren, und nachdem man das schon mal gemacht hatte, nahm man auch das alte Bezeichnungssystem für diese Kanäle wieder auf, ein Hexengebräu aus Griechisch, Latein, Hebräisch, Ägyptisch und anderen alten Sprachen, sodass man heute auf Orte mit Namen wie Nodus Gordii, Phaetontis, Icaria, Tractus Albus, Nilokeras oder Phoenicis Lacus stößt. Die eigentlichen Kanäle bilden nur ein dünnes Band in der Mitte der begrünten Streifen, die zuweilen paarweise durch die rote Wüste verlaufen. Sie treffen etwa in Sechseckwinkeln aufeinander, und ihre Schnittpunkte sind üppige Oasen mit eleganten Städten, die um wassergefüllte Kanal- und Schleusensysteme, Seen und Springbrunnen herum angeordnet sind. Eine fantastische Vision des 19. Jahrhunderts stellt damit also die Grundlage für eine tatsächlich entstandene Landschaft dar. Manche bezeichnen das als Geschmacksverirrung. Aber damals, zu Beginn, hatte man es eilig, und jetzt sieht es eben so aus.

Nördlich des Olympus Mons trat die Hochzeitsgesellschaft aus einem Bahnhofstor ins Freie, genau wie man es auf der Erde machte. Es war früh am Morgen, kühl und windig. Der Himmel war Maxfield-Parrish-Blau; gewaltige Sequoien, Eukalyptusbäume und Roteichen standen in kleinen Grüppchen. Der Kanal verlief über die Ebene vor der Anhöhe, auf der sie sich befanden, zu einer Seite von Zypressen gesäumt. Zwischen den Dämmen sah das Kanalwasser aus, als stünde es etwas höher als das umliegende Land. An vielen Stellen verliefen breite Spazierwege oben auf den Dämmen, grün, voller Menschen und gesäumt von Häusern. Weiter unten, an den Seiten der Dämme, war hier und da zu erkennen, dass sie aus aufgeschüttetem schwarzem Glas bestanden.

Sie fuhren mit einer Tram auf einem der Dämme entlang, Richtung Olympus Mons. Breite Straßen gingen in die grünen Felder ab, die unter ihnen dahinzogen. Die grasbewachsenen Spazierwege waren von kastenförmigen Gebäuden flankiert, die oft mit jugendstilartigen Keramik-Wandgemälden verziert waren. Sie passierten weiße Plätze unter Palmen und wiesen einander auf die üppige Schönheit hin, und auch auf den einheitlichen Stil, dessen Sechseckmuster an ein Schwarmbewusstsein erinnerte. Ein grünes, schönes Land. Sie fuhren mit der Tram von einer Oase zur nächsten, während die Zypressen neben den Schienen ein regelmäßiges Aufblitzen von Licht und Schatten erzeugten. Gärten in der Wüste. Die übertrieben terranische Anmutung in Verbindung mit der merkurleichten Schwerkraft erzeugte eine traumartige Atmosphäre. Der Merkur würde nie so aussehen. Kein anderer Ort konnte jemals so aussehen.

Genette stand auf einem Stuhl am Fenster und schaute aufmerksam auf die vorbeiziehende Aussicht. »Dort habe ich mal gewohnt.« Der Inspektor deutete auf einen schnell vorbeiziehenden Marktplatz in der Mitte einer Stadt. »Ich glaube, in genau dem Gebäude dort.«

Ihre Tram hielt an einem Bahnhof in Hougeria, wo sie in eine Magnetschwebebahn umstiegen, die sie zur nordöstlichen Seite des Olympus Mons bringen würde. Da sie noch auf ihren Zug warten mussten, machten sie einen Spaziergang in den Ort. Hier waren alle Kanäle zugefroren, und die Leute liefen mit den Händen hinterm Rücken auf ihnen Schlittschuh. Es war sonnig, aber kühl.

Swan beschwerte sich über den Ausflug zu dem großen Vulkan. »Warum fliegen wir überhaupt zum Mars, wenn wir so weit nach oben gehen, dass es keine Atmosphäre mehr gibt und wir uns doch wieder in einem Zelt aufhalten müssen? Dort oben ist es ganz egal, wo wir sind.«

Ihre Begleiter schienen das als rhetorische Frage aufzufassen: Swan würde wohl kaum vergessen haben, dass sie zum Epithalamium unterwegs waren. Wahram beschirmte sich die Augen mit der Hand und blickte nach Süden, an der Flanke des großen Vulkans empor. Sie befanden sich an der einzigen Stelle, an der der Olympus Mons nicht von einem riesigen Wall eingefasst wurde, einem ringförmigen Steilhang mit einer Höhe von zehn Kilometern, der bemerkenswert gleichförmig rund um den Berg verlief; doch hier hatte sich in den letzten Jahren vulkanischer Aktivität eine Lavaflut gegen und über den Wall ergossen – und war auf der anderen Seite als Feuerfall zehn Kilometer in die Tiefe gedonnert, ein Schauspiel, das Wahram sich in diesem Moment auszumalen versuchte: zehntausend Meter freier Fall, währenddessen die rote Lava zweifellos abgekühlt und erst orange und dann schwarz geworden war, sich am Boden immer weiter aufgetürmt hatte, bis der Hang völlig unter der Lava begraben gewesen war, woraufhin das geschmolzene Gestein dann weiter Richtung Nordosten geflossen war und am Ende eine breite, sanft ansteigende Rampe hinterlassen hatte, die sich von den oberen Hängen des Vulkans bis hinab in die Ebene erstreckte. Das war die feurige Vergangenheit des Bodens unter ihren Füßen.

»Anschließend können wir im Tiefland umherreisen«, erwiderte Wahram. »Flitterwochen am Strand, sozusagen.«

»Gut. Ich möchte in der Hellas-See schwimmen.«

»Ich auch.«

Als es so weit war, betraten sie eines der unter Druck stehenden Abteile der Magnetschwebebahn, gemeinsam mit vielen anderen Hochzeitsgesellschaften, und der Zug trat seinen Weg die Rampe zum Gipfel empor an. Es war ein langer Anstieg, der sie durch einen marsianischen Sonnenuntergang und anschließend in eine Nacht des Feierns und des unruhigen Schlafes trug. Als sie im Morgengrauen erwachten, fuhr der Zug gerade in den Bahnhof am Südosthang der weiten Gipfelebene ein. Hier, auf dem Vorfeld des kleinen Kraters Zp, bedeckte ein großes, durchsichtiges Zelt den traditionellen Festplatz des Planeten. Sie waren am ersten Morgen des Epithalamiums eingetroffen.

Von innen war das Zelt kaum zu sehen; es war sehr viel durchsichtiger als die Kuppel von Terminator, und man hatte den Eindruck, im Freien zu stehen. Die Luft war warm und roch angenehm. Über ihren Köpfen hing das schwarze Dach des sternenübersäten Weltraums, das nur am Horizont leicht blau war; der bei Weitem größere Teil der Atmosphäre befand sich unterhalb von ihnen. Sie mussten sich in einem Zelt aufhalten, und wenn man das wusste, konnte man hier und da kleine Verzerrungen am Grenzverlauf zwischen blauem und schwarzem Himmel erkennen. Der Olympus Mons war so groß, dass der entfernte Horizont im Osten und im Süden noch immer Teil des Bergs war; sie konnten die Tharsis-Vulkane jenseits des östlichen Horizonts nicht sehen, und auch keinen Bereich des Planeten, der tiefer als der ringförmige Wall lag. Alles Land in Sichtweite war so kahl und rot wie seit jeher. Nur die dünne blaue Luftschale am Horizont verriet, was sie mit dieser Welt gemacht hatten.

Die zeltüberdachten Bereiche des Festplatzes waren leicht geneigt, weshalb man Terrassen angelegt hatte, um ebenen Boden zu gewinnen. Das Ergebnis erinnerte an gewisse Terrassenlandschaften in Asien: Ein paar Hundert Stufen ebener Erde erstreckten sich hangabwärts, und dazwischen wanden sich die Einfassungsmauern wie Höhenlinien auf einer Landkarte. Drei breite, flache Treppen verliefen durch die Terrassen, und einige aus ihrer Hochzeitsgesellschaft bemerkten, wie sehr der Anblick sie an die große Treppe in Terminator erinnerte; aber diese Treppen waren jeweils vier bis fünf Kilometer lang und erstreckten sich wahrscheinlich über drei- bis vierhundert Höhenmeter – angesichts der gewaltigen Ausmaße des Vulkans außerhalb des Zelts ließ sich die genaue Höhe nur schwer abschätzen.

Das Epithalamium war der Hochzeitstag für Marsianer und für Besucher aus dem ganzen Sonnensystem. Derzeit herrschten reger Betrieb und lautes Geplapper auf dem Festplatz. Einige Hundert Paare liefen mit ihrem Gefolge über die Treppen, auf der Suche nach den für sie reservierten Terrassen. Zu dem festlichen Anlass waren alle drei Treppen mit Blumen überhäuft. Man konnte es nicht vermeiden, auf die Blüten zu treten, sodass die großen Quarzitfliesen von bunten Flecken übersät waren.

Wahram und Swan und ihr Gefolge erreichten ihre Terrasse, die Nummer 312. Als Swan sah, dass ihre Freunde die Terrasse so mit Blumen geschmückt hatten, dass es den Eindruck erweckte, als würde Terminators Große Treppe durch die Muschelarchitektur auf Iapetus verlaufen, lächelte sie und umarmte Wahram. Lächelnd standen sie zusammen da, während ihre Freunde ihnen applaudierten. Wahram war in saturnianischem Schwarz gekleidet und sah aus wie ein grausamer römischer Kaiser oder, ja, wie ein riesiges Amphibium. Herr Kröte ließ sich auf eine wilde Sache ein, das konnte man wohl sagen. Swan sah in ihrem roten Kleid aus wie eine flammende Rose. Sie ließ Wahrams Hand nicht los, als sie die kleineren Stufen zu einem Podium emporstiegen, auf dem sie die Zeremonie abhalten würden.

Überall auf dem Festgelände wurde musiziert, und von der nächst tieferen Terrasse hörten sie deutlich einen Gamelan, aber die einander überlappenden Melodien gehörten zum Epithalamium-Erlebnis, und ihre eigene Zeremonie sollte vom treibenden Finale von Brahms’ Zweiter Sinfonie begleitet werden – Wahram hatte das Stück ausgewählt, und Swan hatte seine Wahl gefallen. Sie wandte den Blick nicht von ihm ab, während Genette auf Passepartouts Bildschirm tippte, um das Gedicht aufzurufen, das verlesen werden sollte. Wahram schien vor allem die Aussicht zu genießen. Es war noch immer Morgen, und das schräg einfallende Sonnenlicht badete sie in beinahe merkurianischem Glanz. Es war ein riesiger Planet. All die Paare über und unter ihnen vollführten ihre jeweiligen Hochzeitsriten. Es war so viel Platz, und die Musik war so vielfältig, dass jede Zeremonie in ihrer eigenen kleinen Blase von einer Welt stattfand; aber der Anblick und der Klang von alldem auf einmal war sehr wohl Teil jeder einzelnen Feier.

In ihrer speziellen Blase waren Saturn und Merkur vertreten. Mqaret war da und auch Wang und Kiran und einige von Swans Kollegen von der Farm. Und Zasha. Wahrams Hort wurde durch Dana und Joyce vertreten, und durch den Satyr von Pan. Sie alle standen in einer ungeordneten Ansammlung um das Podium herum, aber trotzdem ließen die beiden Gruppen sich leicht voneinander unterscheiden, die Saturnianer in ihren Schwarz-, Grau- und Blautönen und die Merkurianer in Rot und Gold. Es gab auch eine Gruppe von Genettes alten marsianischen Freunden, darunter viele Kleine. Angeblich beabsichtigten alle Kleinen, die an der Feier teilnahmen, sich im Anschluss zusammenzufinden und Kleinen-Kultlieder wie »Ich traf sie in einem Restaurant auf Phobos« und »Liebliche Rita, meterlange Maid« und »Den Zauberer wollen wir besuchen« zu singen.

Alle auf der Terrasse sahen glücklich und zufrieden aus. Sie sahen einander an und lächelten: Unsere Freunde machen etwas Verrücktes, sagten ihre Blicke, etwas Verrücktes und Schönes, ist das nicht toll? Liebe – eine Art Sprung der Vorstellungskraft. Unerklärlich. Es würde eine verdammt gute Party werden.

Auf einem Pult stehend und damit beinahe auf Augenhöhe mit Wahram und Swan hob Genette ihre ineinander verschränkten Hände empor und sagte: »Ihr beiden, Swan und Wahram, habt beschlossen zu heiraten und Lebensgefährten zu werden, solange ihr beiden lebt. Wahram, stimmst du dem zu?«

»Dem stimme ich zu.«

»Swan, stimmst du dem zu?«

»Ja.«

»Dann sei es so. Lebt fortan zusammen, und ihr alle hier, helft ihnen dabei. Ich trage nun einige Zeilen von Emily Dickinson vor, die wunderbar die Symbiogenese beschreiben, die diese beiden erstehen lassen wollen:

Für immer Ihm zur Seit zu gehen –

Hirn seines Hirns –

Blut seines Bluts –

Zwei Leben – jetzt – ein Sein

Einander – lebenslang – zu kennen

Und niemals auszulernen –

Jetzt lösen – ohne Lexikon –

All unsre Rätsel!«

Über diesen Gedanken lächelnd hob Genette die Hand. »Kraft der mir von euch, dem Mondragon-Bund und sogar dem Mars zugesprochenen Befugnis erkläre ich hiermit Swan Er Hong und Fitz Wahram durch beiderseitige Zustimmung für verheiratet.«

Genette hüpfte von dem Podest herab. Swan und Wahram wandten sich einander zu; flüchtig küssten sie sich. Dann drehten sie sich zu den zu ihren Füßen Versammelten um, und ihre Freunde applaudierten. Die Brahms-Melodie schwang sich mit schmetternden Posaunen zu ihrem irrwitzigen Finale empor. Swan nahm einen Goldring von Genette entgegen und hob Wahrams linke Hand. Sie sah, dass er mit zusammengekniffenen Augen den Hang des Olympus Mons hinabschaute. Seine Miene war nachdenklich, beinahe melancholisch. Sie drückte seine Hand, und er schaute sie an. »Tja«, sagte er mit einem winzig kleinen Lächeln. »Ich schätze, nun können wir die zweite Hälfte des Tunnels miteinander gehen.«

»Nein!«, rief sie und schlug ihm auf die Brust, ehe sie ihm den Ring über den Ringfinger zog. »Das hier gilt fürs ganze Leben.«

Danksagung

Folgenden Menschen möchte ich für ihre Hilfe danken:

Charles Beck, Hadas Blinder und das Auswahlgremium für den Clarion Writers Workshop 2011, Michael Blumlein, William Burling, Bob Crais, John Cumbers, Paul di Fillipo, Ron Drummond, James Haughton, Charles R. Ill, Louis Neal Irwin, Fredric Jameson, Kimon Keramidas, Stephanie Langhoff, Darlene Lim, Chris McKay, Andrew Matthews, Beth Meacham, Pamela Mellon, Michael Montague, Lisa Nowell, Armando Quintero, Kriss Ravetto-Biagioli, David Robinson, Tim Robinson, Pamela Ronald, Carter Scholz, Mark Schwartz, Michael Sims, Sean Stewart, Carol Stoker, Sharon Strauss, Slawek Tulaczyk, Ralph Vicinanza und Donald Wesling.

Mein besonderer Dank geht an Tim Holman.

Für ihre Kunstwerke möchte ich außerdem

Marina Abramovic,

Andy Goldsworthy

und John Dos Passos

danken.

Das Zitat I folgt der Übersetzung von Annemarie Schimmel in: dies., Rumi. Ich bin Wind und du bist Feuer, Diederichs 1978.

[Ich starb als Stein und sprosst’ als Pflanze auf …]

Das Zitat II folgt der Übersetzung von Gunhild Kübler in: Emily Dickinson, Gedichte. Englisch und Deutsch. Carl Hanser Verlag 2006.

[Für immer Ihm zur Seit zu gehen …]