Pater Brown Geschichten

Gilbert Keith Chesterton

1976

1

Inhaltsverzeichnis

I  Die Ungläubigkeit des Pater Brown

Pater Browns Auferstehung

Der Pfeil vom Himmel

Das Hundeorakel

Das Wunder von Moon Crescent

Der Fluch des goldenen Kreuzes

Der geflügelte Dolch

Das Verhängnis der Darnaways

Gideon Wises Geist

II  Das Geheimnis des Pater Brown

Das Geheimnis des Pater Brown

Der Spiegel des Richters

Der Mann mit den zwei Bärten

Das Lied an die fliegenden Fische

Das Alibi der Schauspielerin

Vaudreys Verschwinden

Das schlimmste aller Verbrechen

Der Rote Mond von Meru

Der Marquis von Marne

Flambeaus Geheimnis

Caesars Kopf

Teil I

Die Ungläubigkeit des Pater Brown

Pater Browns Auferstehung

Für kurze Zeit genoß Pater Brown so etwas wie Berühmtheit, oder besser, er genoß es nicht. In den Zeitungen machte er neun Tage lang als Wunder Schlagzeilen; er wurde zum allgemeinen Diskussionsthema der Wochenblätter; vor allem in Amerika wurde in unzähligen Clubs und in unzähligen Wohnzimmern aufs eifrigste und recht ungenau von seinen Heldentaten gesprochen. Jedem, der ihn kannte, mochte dies unpassend, ja unglaublich scheinen, aber seine Abenteuer als Detektiv mußten als Stoff für Kurzgeschichten herhalten, die in Illustrierten erschienen.

Seltsamerweise traf dies wandernde Scheinwerferlicht ihn an einem Ort, der der finsterste oder doch der entlegenste von allen war, die jemals sein Domizil gewesen waren. Er hatte einen Posten in Südamerika, halb Missionar, halb Stadtpfarrer, an einem jener Küstenstriche des Nordens, wo kleine Länder sich noch immer ängstlich an die europäischen Mächte klammern, oder im gigantischen Schatten Präsident Monroes ständig drehten, ihre Unabhängigkeit zu erklären.

Die Bevölkerung war rot und braun, mit rosa Flecken dazwischen. Also spanisch-amerikanischen und größtenteils spanisch-amerikanisch-indianischen Ursprungs. Daneben gab es eine beträchtliche und zunehmende Unterwanderung durch Amerikaner nördlichen Schlages — also durch Engländer, Deutsche und andere. Die ganze leidige Geschichte, so will es scheinen, fing damit an, daß einer eben dieser Besucher, frisch eingetroffen und ziemlich verärgert über den Verlust eines Koffers, auf das erste Gebäude, das ihm ins Auge stach, zusteuerte: Das war gerade das von der Kapelle flankierte Missionshaus. Die ganze Vorderfront des Hauses entlang lief eine Veranda und eine Reihe niedriger Holzpfähle, um die sich schwarze Weinreben mit eckigen, herbstlich geröteten Blättern rankten.

Dahinter aufgereiht saß, beinahe ebenso steif wie die Holzpfähle, eine Gruppe menschlicher Wesen. Ihre Farben entsprachen etwa denen der Weinstöcke. Die breitkrempigen Hüte waren schwarz wie ihre Augen, die nicht blinzelten. Viele hatten eine tiefrote Gesichtshaut, die aus dem Holz transatlantischer Regenwälder gefertigt zu sein schien. Fast alle rauchten lange dünne und schwarze Zigarren, und der Rauch schien in ihrer Runde das einzige zu sein, das sich bewegte. Der Besucher hätte sie wahrscheinlich als Eingeborene eingestuft, obgleich einige recht stolz auf ihre spanische Abstammung waren. Der Besucher aber war keiner von denen, die feine Unterschiede zwischen Spaniern und Rothäuten machen. Er neigte eher dazu, die Leute aus seinen Gedanken zu verbannen, sobald er sie erst einmal als Eingeborene hatte überführen können. Er war ein Journalist aus Kansas City; ein hagerer und hellhaariger Bursche mit einer, wie Meredith sagen würde, unternehmungslustigen Nase; fast konnte man sich einbilden, daß diese Nase ihren Weg durch Tasten zu finden vermochte und sich ringeln konnte wie der Rüssel eines Ameisenbären. Er hieß Snaith und seine Eltern hatten ihn aufgrund obskurer Überlegungen Saul getauft, was er wiederum mit gutem Grund so weit wie möglich geheimhielt. Er war schließlich sogar einen Kompromiß eingegangen und nannte sich Paul, wobei dies in keiner Weise aus Gründen geschehen war, die den Apostel der Christen einst dazu bestimmt hatten. Ganz im Gegenteil. Soweit man bei ihm überhaupt von einer Meinung zu diesem Thema sprechen konnte, hätte der Name des Christenverfolgers besser gepaßt, da er die organisierten Religionen mit jener konventionellen Verachtung betrachtete, die man eher bei Ingersoll als bei Voltaire erlernen kann. Und so kam es, daß er sich mit dieser mehr nebensächlichen Seite seines Charakters dem Missionshaus und den Menschen, die auf der Veranda saßen, zuwandte. Etwas in ihrer schamlosen Gelassenheit und Indifferenz beleidigte seinen heftigen Drang nach Tüchtigkeit, und da er auf seine ersten Fragen keine erschöpfende Antwort erhielt, übernahm er das Reden selbst.

Dort stand er im grellen Sonnenlicht, eine Waschmittelreklame, mit Panamahut und reinlicher Kleidung, die mit eiserner Faust den Reisesack umklammerte. Er begann, auf die Leute im Schatten einzubrüllen. Lautstark machte er ihnen klar, wieso sie faul seien und schmutzig, von bestialischer Unwissenheit, niedriger als das Vieh, das verreckt, wobei unklar wäre, ob sie jemals selbst sich den Kopf über derlei Probleme zerbrechen würden. Der ungesunde Einfluß der Pfaffen war es seiner Auffassung nach, der sie so elendiglich arm gemacht und in so hoffnungsloser Unterdrückung existieren ließ, daß sie es fertig brächten, im Schatten zu sitzen, zu rauchen und nichts zu tun.

»Das muß ‘n feiner Haufen von Schlappschwänzen sein«, sagte er, »der sich von diesen hochgestochenen Götzen schikanieren läßt, nur weil sie in ihren Mitten und Tiaras herumrennen und in ihren goldenen Chorröcken und all dem anderen Firlefanz und protzigen Fetzen auf jedermann runterschauen als wäre er Dreck — ein feiner Haufen, der sich von Kronen, Baldachinen und heiligen Regenschirmen ins Bockshorn jagen läßt, nur weil ein eingebildeter alter Oberpopanz in diesem Hokuspokus so aussieht, als sei er der Herr der Welt. Und ihr? Wie seht ihr denn aus, ihr armen Würmer? Ich sag’s euch, das ist der Grund, warum ihr noch so tief in der Barbarei steckt, weder lesen noch schreiben könnt und …«

Just in diesem Moment kam der Oberpopanz des ganzen Hokuspokus in würdeloser Eile aus der Tür des Missionsgebäudes geschossen und glich weit weniger dem Herrn der Welt als vielmehr einem Bündel schwarzer Klamotten aus dem Trödelladen, die man um einen Strohsack gewickelt hatte, um ihnen das Aussehen eines Menschen zu geben. Die Tiara, wenn er überhaupt eine solche besaß, hatte er nicht auf, er trug vielmehr einen breiten schäbigen Hut, der dem der spanischen Indianer nicht unähnlich war. Er hatte ihn, da er ihm lästig war, in den Nacken geschoben. Es schien, als wollte er gerade mit den bewegungslosen Eingeborenen zu sprechen anfangen, als er des Fremden gewahr wurde und eilig sagte:

»Oh, kann ich irgendwie behilflich sein? Wollen Sie nicht hereinkommen?«

Mr. Paul Snaith kam herein, und das war für den Zeitungsmann der Anfang eines bedeutenden Zuwachses an Information auf mancherlei Gebieten. Sein journalistischer Instinkt war offenbar stärker als seine Vorurteile; das findet man bei klugen Journalisten häufig. Er stellte eine Menge Fragen, deren Beantwortung ihn verblüfften und interessierten. Er entdeckte zum Beispiel, daß die Indianer lesen und schreiben konnten, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Pater es sie gelehrt hatte; sie lasen und schrieben jedoch nie mehr als unbedingt erforderlich, denn sie hatten eine natürliche Vorliebe für direktere Kommunikationsmethoden. Er erfuhr auch, daß diese seltsamen Menschen, die dort in einem Haufen auf der Veranda hockten ohne auch nur einen Finger krumm zu machen, sehr wohl in der Lage waren, hart zu arbeiten, wenn es um ihre eigenen Äcker ging; besonders jene, in denen mehr als die Hälfte spanischen Blutes kreiste. Zu seiner noch größeren Verwunderung hörte er, daß sie alle wirklich Land besaßen. Diese Tatsache war Teil einer hartnäckigen Tradition, die den Eingeborenen recht eingeboren zu sein schlien, in der aber wiederum der Pater eine gewisse Rolle gespielt, und damit wahrscheinlich zum ersten und letzten Male in den Lauf der Politik, und sei es auch nur in den Lauf der Lokalpolitik, eingegriffen hatte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte eines dieser atheistischen, ja fast anarchistischen, radikalen Fieber diese Gegend heimgesucht, wie das hin und wieder in lateinamerikanischen Landen vorkommt. Diese Fieber fangen meist mit einer Geheimgesellschaft an und gipfeln gewöhnlich in einem Bürgerkrieg und ziemlich selten in irgend etwas anderem. Der Führer der ikonoklastischen Partei am Ort war ein gewisser Alvarez, ein recht pittoresker Abenteurer portugiesischer Nationalität, aber, wie seine Feinde behaupteten, mit einem Schuß schwarzen Blutes. Er war zudem Meister von allen möglichen Logen und Weihetempeln jener Sekten, die in solchen Gegenden sogar den Atheismus mythisch zu verpacken pflegen. Der Führer der eher Konservativen war ein weit alltäglicherer Mensch, ein sehr wohlhabender Mann mit dem Namen Mendoza, Besitzer vieler Fabriken, eine Respektsperson, aber nicht sehr aufregend. Man war allgemein der Ansicht, daß die Sache von Recht und Ordnung unterliegen würde, hätte jene Partei nicht einen eigenen und volkstümlicheren Kurs gesteuert. Sie sicherte den Bauern das Land; und das war hauptsächlich von der kleinen Mission Pater Browns ausgegangen.

Während dieser mit dem Journalisten sprach, kam Mendoza, der Führer der Konservativen, herein. Er war ein untersetzter, dunkler Mann mit kahlem birnenförmigem Schädel auf einem runden, birnenförmigen Leib. Er rauchte eine stark duftende Zigarre, warf sie aber vielleicht ein wenig zu theatralisch weg, als er in die Nähe des Priesters kam, so, als hätte er eine Kirche betreten. Er verbeugte sich und krümmte sich auf eine für einen so beleibten Herrn unwahrscheinliche Weise. Er legte ganz besonderen Wert auf seine Umgangsformen, vor allem gegenüber kirchlichen Institutionen. Er war einer jener Laien, die soviel päpstlicher sind als der Papst. Pater Brown war dieses Verhalten eher peinlich, ganz besonders, wenn es in dieser Form auch privat beibehalten wurde.

»Ich glaube, ich bin antiklerikal«, pflegte Pater Brown mit schwachem Lächeln zu äußern. »Aber es würde nicht halb so viel Klerikalismus geben, wenn die Leute diese Angelegenheit den Klerikern überlassen wollten!«

»Also, Mr. Mendoza!« rief der Journalist aufs neue erregt. »Ich meine, wir sind uns schon einmal begegnet. Sie waren doch auf der Handelstagung letztes Jahr in Mexiko!«

Ein Anflug von Wiedererkennen ließ die schweren Augenlider Méndozas erheben, und er lächelte auf seine eigene langsame Art.

»Ich erinnere mich!«

»Ganz schön, was da in ein oder zwei Stunden ausgehandelt wurde, was?« sagte Snaith mit Genuß. »Nehme an, das war auch keineswegs zu Ihrem Schaden, oder?«

»Ich hatte viel Glück«, sagte Mendoza bescheiden.

»Glauben Sie doch das nicht!« rief der aufgeregte Snaith. »Das Glück kommt zu denen, die wissen, wann sie zupacken müssen. Und Sie haben ganz schön kräftig zugegriffen. — Aber ich hoffe doch, ich halte Sie nicht von Ihren Geschäften ab?«

»Nicht doch«, erwiderte der. »Ich verschaffe mir oft die Ehre, den Herrn Pfarrer, zu einem kleinen Plausch zu besuchen. Nur zu einem kleinen Plausch, nichts weiter!«

Es schien, als habe die Vertrautheit zwischen Pater Brown und diesem erfolgreichen, ja beinahe berühmten Geschäftsmann, den letzten Ausschlag zu einer völligen Aussöhnung zwischen dem Priester und dem tüchtigen Mr. Snaith gegeben. Ihm schien, daß die Missionsstation in einem neuen Lichte betrachtet werden müsse, und er war dazu bereit, jene hin und wieder auftretenden Anzeichen von Religion zu übersehen, die sich in einer Kapelle und in einem Pfarrhaus schlecht vermeiden lassen. Er begeisterte sich für das neue Programm des Priesters — zumindest, was die weltliche und soziale Seite desselben betraf — und bot sich an, jederzeit sozusagen als lebender Draht die Verbindung zur Außenwelt herzustellen.

An diesem Punkt nun entdeckte Pater Brown, daß einem ein Journalist mit seiner Sympathie womöglich noch lästiger fallen kann als mit seiner Feindschaft.

Mr. Paul Snaith machte sich nun mit Eifer daran, Pater Brown groß herauszubringen. Er schickte laute und lange Lobgesänge auf ihn quer über den Kontinent an sein Blatt im Mittelwesten. Er hielt den unglücklichen Priester in Schnappschüssen fest, die ihn bei den alltäglichsten Verrichtungen zeigten, und stellte ihn damit auf gigantischen Photos in den gigantischen Wochenblättern der gigantischen Vereinigten Staaten zur Schau. Aus seinen Aussprüchen machte er Schlagworte und bedachte die übrige Welt fortwährend mit einer »Botschaft« des geistlichen Herrn aus Südamerika. Jede andere, weniger derbe und nicht so sehr alles zu schlucken bereitwillige Rasse als die amerikanische wäre von Pater Brown zu Tode gelangweilt werden. Wie die Sache aber stand, erhielt er ansehnliche und begierige Angebote, eine Vorlesungstour durch die Staaten zu unternehmen, und als er dies ablehnte, erhöhte man mit respektvollem Staunen das Honorar. Eine Reihe von Kurzgeschichten, die von ihm handelten, ähnlich denen von Sherlock Holmes, wurden am Schreibtisch von Mr. Snaith ausgedacht und ihrem Helden mit der Bitte um Beistand und Unterstützung vorgelegt. Als der Priester davon erfuhr, konnte er keinen anderen Vorschlag machen als den, damit aufzuhören. Dies wiederum wurde von Mr. Snaith als Grundlage einer schriftlichen Diskussion aufgegriffen, die darum ging, ob es angebracht sei, Pater Brown für einige Zeit über eine Klippe verschwinden zu lassen, wie das der Held des Doktor Watson getan hatte. Auf all diese Anfragen mußte der geduldige Priester schriftlich antworten. Ja, es wäre ihm recht, schrieb er, wenn diese Geschichten unter solchen Umständen für einige Zeit beendet würden, und er bite inständig darum, eine beträchtliche Pause einzuschieben. Die Briefe, die er schrieb, wurden immer kürzer, und als er den letzten schrieb, seufzte er dabei.

Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß diese seltsame Hochkonjunktur im Norden ihre Auswirkungen auf jenen kleinen Winkel im Süden zeitigte, in dem er in einsamem Exil zu leben gehofft hatte. Die am Ort ansässige, nicht unbeträchtliche englische und amerikanische Bevölkerung platzte vor Stolz aus den Nähten, eine so weit und breit bekannte Persönlichkeit unter sich zu haben. Amerikanische Touristen von der Sorte, die bereits am Hafen laut nach Westminster Abbey verlangen, landeten an dieser endegenen Küste mit dem lautstarken Ruf nach Pater Brown. Es war abzusehen, wann man Ausflugsbusse nach ihm benennen und Menschenmassen ankarren würde, um ihn wie ein öffentliches Denkmal anzustarren. Besonders plagten ihn die rührigen neuen Händler und Ladenbesitzer am Ort, die ihm unentwegt mit Wünschen zusetzten, er solle ihre Waren prüfen und Empfehlungsschreiben verfassen. Selbst wenn es ihnen nicht gelungen war, ihm ein solches abzuringen, zogen sie dennoch die Korrespondenz in die Länge, um seine Autogramme zu sammeln, und da er ein gutmütiger Mensch war, konnten sie einiges von dem, was sie wollten, aus ihm herausholen. Auf spezielles Bitten hin schrieb er sogar für einen Frankfurter Weinhändler namens Eckstein hastig einige Worte auf eine Karte, die, wie sich später herausstellte, seinem Leben eine schlimme Wendung geben sollten.

Eckstein, ein zappeliger kleiner Mann mit krausem Haar und einem Zwicker, war fast krankhaft darauf erpicht, daß der Priester seinen berühmten Magenbitter nicht nur versuchen, sondern ihn als Empfangsbestätigung genau wissen lassen solle, wo und wann er ihn trinken würde. Der Priester war über dieses Ansinnen nicht weiter verwundert, da er schon jenseits jeder Möglichkeit des Erstaunens über die Idiotie der Werbung angekommen war. Deshalb kritzelte er etwas hin und wandte sich anderen Obliegenheiten, die ihm etwas sinnvoller erschienen, zu. Wieder wurde er unterbrochen, diesmal von einer Botschaft, die ihm kein Geringerer als sein politischer Gegner Alvarez zukommen ließ. Er bat ihn darin, an einer Konferenz teilzunehmen, in deren Verlauf man hoffen durfte, in einer schwerwiegenden Frage zur Einigung zu gelangen. Als Treffpunkt schlug er noch für denselben Abend ein Café direkt vor den Mauern der kleinen Stadt vor. Auch hierzu übergab Pater Brown dem aufgetakelten und militärisch aussehenden Boten eine Zusage. Danach, er hatte noch ein bis zwei Stunden Zeit, setzte er sich und versuchte, einige seiner eigenen Angelegenheiten in Angriff zu nehmen. Als die Zeit um war, schenkte er sich von Mr. Ecksteins beachtlichem Bitterwein ein und, nachdem er verschmitzt auf die Uhr gesehen hatte, leerte er sein Glas und ging hinaus in die Nacht.

Helles Mondlicht lag auf der kleinen spanischen Stadt, als er das malerische Stadttor mit seinen Rokokobögen und den phantastischen Rüschen der Palmwedel erreichte. Es glich einer Szene aus einer spanischen Oper. Ein langer Palmwedel mit abgebrochenen Spitzen hing, schwarz gegen das Mondlicht, auf der anderen Seite des Bogens herunter. Man konnte ihn durch die Öffnung hindurch sehen, und er wirkte wie die Kiefer eines schwarzen Krokodiles. Dieses Bild hätte sich nicht in seiner Vorstellung festsetzen können, wäre da nicht noch ein anderer Umstand hinzugekommen, den seine von Natur aus aufmerksamen Augen wahrnahmen. Die Luft war völlig still, und kein Windhauch regte sich. Trotzdem sah er deutlich eine Bewegung in dem herabhängenden Palmblatt.

Er blickte um sich und stellte fest, daß er allein war. Die letzten Häuser, fast alle verschlossen und mit herabgelassenen Rolladen, hatte er hinter sich gelassen und schritt nun zwischen zwei langen und glatten Mauern aus ungeformten, abgeschliffenen Steinquadern hindurch, aus denen nur hier und da die in jener Gegend häufigen absonderlichen stacheligen Grasbüschel sprossen. — Die beiden Mauern liefen parallel zueinander und geradewegs auf das Stadttor zu. Er konnte die Lichter des Cafés vor dem Tor nicht ausmachen, wahrscheinlich waren sie zu weit entfernt. Hinter dem Tor gab es nichts zu sehen außer einem weiteren Streifen großgefleckten Pflasters, das im Mondschein bleich wirkte, und hier und da eine wuchernde Feigendistel. Der starke Geruch nach Bösem stieg ihm in die Nase. Er empfand eine eigenartige körperliche Beklemmung, aber er dachte nicht daran, stehenzubleiben. Womöglich war seine Neugierde eine noch stärkere Triebfeder seines Handelns als sein Mut, der immerhin beachtlich war. Sein ganzes Leben hatte ihn ein verstandesmäßiger Hunger nach Wahrheit geleitet, selbst bei Kleinigkeiten. Oft sah er sich genötigt, ihn aus Gründen der Proportion einzudämmen; aber er war stets präsent. Er durchschritt das Tor ohne zu zögern, und auf der anderen Seite sprang ein Mann wie ein Affe von einer Baumkrone herab und stach mit einem Messer nach ihm. Im gleichen Moment kroch ein anderer Mann blitzschnell die Mauer entlang und schwang einen Knüppel über seinem Kopf und ließ ihn niedersausen. Pater Brown wandte sich um, taumelte und sank in sich zusammen, aber während er zusammenbrach, zeigte sein rundes Gesicht den Ausdruck milder und unendlicher Überraschung.

In derselben kleinen Stadt lebte zu dieser Zeit ein anderer junger Amerikaner, der sich von Snaith grundlegend unterschied. Sein Name war John Adams Race, von Beruf war er Elektroingenieur. Mendoza hatte ihn angestellt, um die alte Stadt mit allen möglichen neuen Errungenschaften zu versehen. Er war ein Mensch, der weit weniger mit Satire und internationalem Klatsch vertraut war als der amerikanische Journalist; dennoch ist es eine Tatsache, daß in Amerika auf etwa eine Million Menschen von seinem Schlage nur einer von der geistigen Verfassung Snaiths kommt. Außergewöhnlich war er da, wo er außergewöhnlich in seiner Arbeit war, auf allen anderen Gebieten war er ziemlich unbedarft. Er hatte sein Leben als Lehrling in einer Drogerie eines Dorfes im Westen begonnen und war allein durch die Arbeit seiner Hände und aus eigenem Verdienst hochgekommen. Seine Heimatstadt aber stellte für ihn immer noch den natürlichen Nabel der Welt dar. Man hatte ihn bereits auf Mutters Schoß aus der Familienbibel in einer streng puritanischen, oder sagen wir, evangelischen Christlichkeit unterwiesen, und soweit er überhaupt Zeit für Religion finden konnte, war dies immer noch seine Religion. Mitten in all dem blendenden Licht der letzten und unglaublichsten Entdeckungen, wenn er in seinen Versuchen zum Äußersten ging und ihm wahre Wunder von Licht und Ton gelangen, als wäre er ein Gott, der neue Sterne und Sonnensysteme zu erschaffen vermöchte, zweifelte er doch keinen Augenblick daran, daß die Dinge »daheim« die besten der Welt seien. Seine Mutter, die Familienbibel und die stille und altmodische Moralität seines Dorfes. Für seine Mutter hatte er ein ernsthaftes und edles Gefühl, sie schien ihm heilig, so, als wäre er selbst ein frivoler Franzose. Er war fest davon überzeugt, daß die Religion der Bibel das einzig Wahre sei; nur vermißte er sie vage, wohin er sich in der modernen Welt auch wenden mochte. Es war ihm schwerlich zuzutrauen, daß er mit den religiösen Auswüchsen katholischer Länder sympathisiere; und in seiner Abneigung gegen Mitten und Rosenkränze war er der gleichen Ansicht wie Mr. Snaith, wenn auch nicht mit derselben Arroganz wie jener. Für die Verbeugungen und Kratzfüße, die Mendoza öffentlich zur Schau trug, hatte er nichts übrig, und ebensowenig lockte ihn der freimaurerische Mystizismus des Atheisten Alvarez. Mag sein, daß ihm all dies halbtropische Leben, von Indianerrot und Spaniergold durchwebt, zu farbenfroh erschien.

Jedenfalls war es keine Überheblichkeit, wenn er sagte, nichts käme seiner Heimatstadt gleich. Für ihn hieß das, daß es dort irgendwo etwas Einfaches, Bescheidenes und Rührendes gab, das er mehr respektierte als alles auf der Welt. Soweit die geistige Einstellung John Adams Races auf seinem südamerikanischen Posten. Nun aber war in ihm seit längerer Zeit ein eigenartiges Gefühl erwacht, das all seinen Vorurteilen widersprach und für das er keine Erklärung zur Hand hatte.

In Wahrheit nämlich sah die Sache so aus: Das einzige, dem er auf seinen Reisen je begegnet war, das ihn wenigstens etwas an die alte Holzhütte, den provinziellen Anstand und die Bibel auf Mutters Knien erinnert hatte, war das runde Gesicht und der schwarze plumpe Regenschirm von Pater Brown.

Er ertappte sich dabei, daß er unbewußt diese alltägliche, fast komische Gestalt, wie sie geschäftig herumsauste, mit den Augen verfolgte, daß er sie mit beinahe krankhafter Faszination beobachtete, so als handle es sich um ein wanderndes Rätsel oder einen lebenden Widerspruch. Inmitten seines Feindbildes hatte er etwas entdeckt, das zu mögen er nicht umhin konnte. Es war, als hätte er sich von einem unbedeutenden Dämonen bis aufs Blut foltern lassen, um dann zu entdecken, daß der Teufel selbst nur eine gewöhnliche Person sei.

So kam es, daß er, als er in der mondhellen Nacht aus dem Fenster blickte, den Teufel vorbeigehen sah, wie er in seinem großen schwarzen Hut und langen schwarzen Rock die Straße in Richtung Stadttor hinabschlurfte; und er sah das alles mit einem Interesse, das er selbst nicht begreifen konnte. Er fragte sich, wohin des Weges der Priester wäre und was er wohl vorhätte, und so verharrte er, den Blick auf die mondbeschienene Straße geheftet, noch lange, nachdem die kleine Gestalt schon vorüber war. Und dann sah er noch etwas, was seine Neugier noch mehr reizte; zwei weitere Männer, die er beide erkannte, gingen vor seinem Fenster vorbei, wie auf einer erleuchteten Bühne. Der Mondschein umfloß wie blaues Rampenlicht in einem geisterhaften Heiligenschein den gewaltigen Haarbusch, der aufrecht vom Kopf des kleinen Eckstein, dem Weinhändler, abstand, und zeichnete wie einen Scherenschnitt den Umriß einer hochgewachsenen und dunkleren Gestalt mit Adlerprofil und einem seltsamen altmodischen Hut, der schwarz und stark kopflastig den Gesamtumriß noch bizarrer erscheinen ließ. Race wies sich selbst zurecht, weil er dem Mondlicht erlaubte, seiner Phantasie solchen Schabernack zu spielen; denn auf den zweiten Blick erkannte er die schwarzen, spanischen Koteletten und die langen Gesichtszüge von Doktor Calderon, einem rechtschaffenen Arzt der Stadt, den er schon einmal getroffen hatte, als er jenem Mendoza eine ärztliche Visite gemacht hatte. Und doch lag in der Art, in der die Männer miteinander flüsterten und die Straße hinabspähten, etwas Merkwürdiges, das ihm auffiel. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang er über die niedrige Fensterbrüstung und machte sich barhäuptig selbst auf den Weg die Straße entlang, um ihnen zu folgen. Er sah sie im Schatten des Torbogens verschwinden, und Sekunden später gellte ein grauenhafter Schrei zu ihm herüber. Ein seltsam lauter und durchdringender Schrei, der Races Blut gerinnen ließ, um so mehr, als er deutlich in einer Sprache ausgestoßen wurde, die er nicht kannte.

Im nächsten Moment hörte man Fußgetrappel und weitere Schreie, danach verwirrtes Gebrüll der Wut oder des Schmerzes, das die Türmchen und schlanken Palmen des Stadttores erheben ließ. In der Menge, die zusammengelaufen war, entstand eine Bewegung, so als brande sie durch den Torbogen zurück, dann hallte der dunkle Torbogen von einer neuen Stimme wider, diesmal verständlich und in unheilverheißendem Ton. Jemand rief durch das Tor:

»Pater Brown ist tot!«

Er fand nie heraus, welche Stütze in seinem Geist plötzlich zusammenbrach, oder warum das, auf das er immer hatte zählen können, ihn plötzlich im Stich ließ. Jedenfalls rannte er zum Tor und kam dort gerade rechtzeitig an, um mit seinem Landsmann Snaith, dem Journalisten, zusammenzuprallen, der totenbleich und mit nervös schnalzenden Fingern aus dem Portal trat.

»Stimmt leider«, sagte Snaith mit etwas in der Stimme, das bei ihm der Ehrfurcht gleichkam. »Er ist hin. Der Doktor hat ihn sich angesehen und da gibt’s keine Hoffnung. Einer von diesen verdammten Narren hat ihm eins übergebraten, als er durchs Tor kam. — Gott weiß, warum. Das wird ein großer Verlust für die Gegend hier.«

Race antwortete nicht, oder konnte nicht antworten, er rannte unter den Torbogen, zum Schauplatz des Geschehens. Die kleine schwarze Gestalt lag dort, wo sie niedergefallen war, auf den öden großen Steinplatten, zwischen denen ab und zu die grünen Dornenbüsche hervorstachen. Die Menschenmenge wurde lediglich durch die Gesten einer riesigen Gestalt im Vordergrund zurückgehalten, und es gab viele, die auf einen Wink ihrer Hand hierhin und dorthin schwankten, als wäre diese Gestalt ein Zauberer.

Alvarez, der Diktator und Demagoge, war eine hochgewachsene und prahlerische Gestalt. Er war stets aufs prächtigste gekleidet und zu diesem Anlaß trug er eine grüne Uniform, die so bestickt war, als kröchen silberne Schlangen über sie hin. Um seinen Hals hing an einem auffälligen kastanienbraunen Band ein Orden. Sein dichtes lockiges Haar war schon grau und stand im Kontrast zu seiner Gesichtsfarbe, die seine Freunde als olivfarben und seine Feinde als mulattenbraun bezeichneten, sie sah fast wie Gold aus, so als wäre sein Gesicht buchstäblich eine aus Gold geformte Maske. Seine großflächigen Züge aber, die sonst krafvoll und heiter waren, erschienen nun dem Anlaß entsprechend feierlich und finster. Er habe, so erklärte er, im Café auf Pater Brown gewartet, als er Geraschel und einen Sturz gehört und ins Freie eilend die Leiche auf den Pflastersteinen liegend gefunden habe.

»Ich weiß, was einige von euch denken!« sagte er und blickte stolz um sich. »Und wenn ihr Angst habt es auszusprechen — und das ist der Fall —, dann will ich es sagen, ich bin ein Atheist. Ich habe keinen Gott, bei dem ich für die, die meinen Worten nicht glauben, schwören könnte. Aber ich sage euch bei meiner Ehre als Soldat und als Mann: ich habe hiermit nichts zu schaffen. Hätte ich die Burschen zur Hand, die das getan haben, ich würde mich glücklich schätzen, sie an diesem Baum aufzuknüpfen.«

»Selbstverständlich tut es uns wohl, Sie das sagen zu hören«, erwiderte der alte Mendoza steif und feierlich. Er stand neben dem Körper seines gefallenen Adjunkten. »Dieser Schlag ist viel zu entsetzlich, als daß wir im Moment äußern könnten, was uns bewegt. Ich glaube, es wäre anständiger und richtiger, den Leichnam meines Freundes zu entfernen und dieses unvorhergesehene Treffen abzublasen. Ich verstand doch richtig«, wandte er sich feierlich an den Arzt, »daß unglücklicherweise kein Zweifel besteht.«

»Nicht der geringste«, sagte Doktor Calderon.

John Race ging traurig nach Hause, in sich einzig ein Gefühl der Leere. Es schien unmöglich, daß er einen Mann vermissen würde, den er kaum gekannt hatte. Er erfuhr, daß die Beerdigung am nächsten Tag stattfinden sollte. Alle waren sich einig, daß die Krise so schnell wie möglich überwunden werden müsse, aus Angst vor Unruhen, deren Ausbrechen von Stunde zu Stunde wahrscheinlicher zu werden drohte. Als Snaith damals die Indianer auf der Veranda hatte sitzen sehen, hatte er sie für eine Ansammlung alter, aus rotem Holz geschnitzter Aztekenplastiken gehalten. Aber er hatte noch nicht gesehen, wie sie aussahen, als sie vernahmen, daß der Priester tot sei.

Tatsächlich hätten sie mit Bestimmtheit revoltiert und den Führer der Republikaner gelyncht, wären sie nicht sofort von der Notwendigkeit blockiert worden, respektvolles Verhalten angesichts des Sarges ihres eigenen religiösen Führers an den Tag zu legen. Die eigentlichen Mörder jedoch, die es selbstverständlich verdient hatten, gelyncht zu werden, schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Niemand kannte ihre Namen und niemand würde je erfahren, ob der Sterbende ihre Gesichter hatte erkennen können. ]ener eigenartige Ausdruck des Erstaunens, welcher offenbar sein letzter Blick auf diese Welt gewesen war, hätte der Ausdruck des Erkennens ihrer Gesichter sein können. Alvarez erklärte erneut nachdrücklich, daß er keine Hand im Spiel gehabt habe und nahm an der Beerdigung teil, indem er in seiner phantastischen grün-silbernen Uniform dem Sarg mit herausfordernder Hochachtung folgte.

Hinter der Veranda stieg eine Reihe von Steinstufen zu einem hohen grünen Podest empor, das von einer Kaktushecke umgeben war. Dort hinauf hatte man den Sarg in mühevoller Arbeit gehoben und ihn für kurze Zeit zu Füßen des großen und hageren Kruzifixes, welches die Straße beherrschte und über den heiligen Ort Wache hielt, abgestellt. Drunten auf der Straße war ein Heer von Menschen damit beschäftigt, wehzuklagen und den Rosenkranz zu beten. — Ein verwaistes Volk, das seinen Vater verloren hatte. All dieser Symbolik zum Trotz, die für ihn provozierend genug war, trug Alvarez eine maßvolle Hochachtung zur Schau. Und alles wäre gut gegangen — meinte Race —, hätten ihn die anderen nur in Ruhe gelassen.

Race sagte sich voller Bitterkeit, daß der alte Mendoza immer wie ein Trottel ausgesehen habe und sich nun auch offensichtlich ganz wie ein alter Trottel benahm. Wie es bei einfachen Leuten allgemein Brauch ist, hatte man den Sarg offen und das Gesicht unbedeckt gelassen und damit für diese einfachen Menschen den Pathos fast bis zur Agonie gesteigert. Da dies im Einklang mit der Tradition geschah, hätte es niemandem geschadet; doch einige offizielle Personen hatten die Sitte der französischen Freidenker eingeführt, Reden am Grabe zu halten. Mendoza machte sich daran, zu sprechen. — Eine lange Rede, und je länger sie wurde, um so tiefer sank John Races Stimmung und seine Sympathie für das hier praktizierte Ritual. Eine Liste heiliger Eigenschaften, offenbar von der antiquiertesten Sorte, wurden mit dem ausschweifenden Stumpfsinn eines Festredners, der nicht weiß, wie er wieder zu Stuhl kommen soll, aufgerollt. Das war schlimm genug, aber Mendoza besaß dazu noch die unaussprechliche Dummheit, seine politischen Gegner nicht nur zu tadeln, sondern sie geradezu zu verhöhnen. In drei Minuten war es ihm gelungen, eine Schau abzuziehen und eine völlig ungewöhnliche Schau noch dazu.

»Mit Recht fragen wir uns«, sagte er und blickte anmaßend in die Runde, »mit Recht fragen wir uns, wo derlei Tugenden in den Reihen jener gefunden werden können, die irrsinnigerweise dem Glauben ihrer Väter abgeschworen haben. Wenn wir Atheisten unter uns haben, atheistische Führer, nein vielmehr atheistische Herrscher, entdecken wir, daß ihre infame Philosophie Früchte wie dieses Verbrechen hervorbringt. Wenn wir uns fragen, wer diesen heiligen Mann gemordet hat, werden wir denjenigen sicher dort finden, wo…«

Race glaubte plötzlich sehen zu können, daß Alvarez, der hochmütige Abenteurer, trotz allem ein Barbar war, und daß der afrikanische Dschungel ihm aus den Augen leuchtete; er würde seine Fassung nicht bis zum Ende behalten können. Man konnte erraten, daß all sein »erleuchteter« Illuminismus einen leichten Voodoo-Beigeschmack hatte. Jedenfalls gelang es Mendoza nicht weiterzureden, denn Alvarez war aufgesprungen und brüllte zurück, ja brüllte ihn kraft seiner weitaus größeren Lungenkapazität nieder.

»Wer hat ihn umgebracht?« donnerte er. »Euer Gott hat ihn umgebracht! Wenn man euch glaubt, bringt er all seine treuen und törichten Diener um — so wie er diesen getötet hat!« Und er gestikulierte wild nicht zum Sarg hin, sondern zum Kruzifixus hinauf. Dann schien er sich wieder etwas zu beruhigen und fuhr in einem immer noch grollenden, nun aber eher überlegenen Ton fort. »Ich glaube nicht daran, aber Sie glauben daran. Ist es nicht besser, keinen Gott zu haben, als einen, der einen in dieser Weise berauben kann? Ich wenigstens wage zu behaupten, daß es keinen Gott gibt. In diesem blinden und hirnlosen Universum gibt es keine Macht, die eure Gebete erhört oder euch einen Freund zurückgeben kann. Obwohl ihr den Himmel um seine Auferstehung anfleht, wird er sich nicht erheben. Obwohl ich den Himmel herausfordere, ihn auferstehen zu lassen, wird er sich nicht erheben. Hier und jetzt werde ich die Probe machen. — Ich spotte jenem Gott, der nicht zur Stelle ist, um diesen Mann aus seinem ewigen Schlaf zu reißen.«

Ein Schweigen des Entsetzens breitete sich aus. Der Demagoge hatte Aufsehen erregt.

»Das hätten wir uns denken können«, rief Mendoza mit fetter kollernder Stimme, »als wir Männern wie Ihnen erlaubten —«’

Eine neue Stimme mischte sich in den Disput; eine hohe und schrille Stimme mit dem Akzent der Südstaatler.

»Halt! Halt!«, schrie Snaith, der Journalist, »ich schwör’s, da ist was los, ich hab’ gesehen, wie er sich gerührt hat!«

Er rannte die Treppen hinauf und auf den Sarg zu, während unten die Menge in zuckender Ekstase verblieb. Im nächsten Augenblick wandte er sein erstauntes Gesicht zurück und winkte Doktor Calderon, der herbeihastete, um sich mit ihm zu beraten. Als beide Männer vom Sarg zurücktraten, konnte jedermann sehen, daß die Lage des Kopfes sich verändert hatte. Ein Brüllen der Erregung stieg aus der Menge und endete abrupt auf halbem Wege, als der Priester im Sarg seufzte, sich auf dem Ellenbogen aufrichtete und einfältig und mit den Augen blinzelnd auf die Menge blickte.

John Adams Race, der bis dato nur die Wunder der Wissenschaft kennengelernt hatte, war selbst jahre später nicht in der Lage, das Chaos der nächsten paar Tage zu beschreiben. Es schien ihm, als sei er aus der Welt von Zeit und Raum hinauskatapultiert werden und lebe nun in der Welt des Unmöglichen. In einer halben Stunde war die ganze Stadt samt Umgebung zu etwas geworden, was es tausend Jahre nicht gegeben hatte. Ein mittelalterliches Volk hatte sich auf dieses erschütternde Wunder hin in eine Herde von Mönchen verwandelt, in eine griechische Stadt, in der die Götter zu den Menschen herabgestiegen waren. Tausende warfen sich auf die Straße nieder, Hunderte legten Augenblicksgelübde ab, ja selbst Unbeteiligte, wie die beiden Amerikaner, konnten an nichts anderes denken und von nichts anderem sprechen als von dem Wunder. Sogar Alvarez war erschüttert und das mit Recht; er saß da mit dem Kopf zwischen den Händen.

Mitten in diesem Wirbelsturm der Seligkeit kämpfte ein kleiner Mann darum, gehört zu werden. Seine Stimme war kläglich und leise und der Lärm ohrenbetäubend. Er gestikulierte schwach, aber es schienen mehr Bewegungen der Irritation als irgend etwas anderes. Er erreichte das Geländer über der Menge und bat winkend um Ruhe, wobei seine Bewegungen denen eines Pinguins glichen, der mit seinen kurzen Flügeln schlägt. Es entstand eine kleine Windstille im Gebrüll, nicht mehr, und nun wurde Pater Brown zum ersten Male an die äußerste Grenze seiner Empörung getrieben, deren er seinen Kindern gegenüber fähig war.

»Oh, ihr einfältigen Menschen!«, rief er mit hoher, bebender Stimme, »Oh, ihr einfältigen, ihr einfältigen Menschen!«

Dann riß er sich, wie es schien, zusammen und machte einen Satz hin zur Treppe und begann nun wiederum in seiner gewohnten Haltung die Stufen hinunterzuhasten.

»Wohin gehen Sie, Vater?«, sagte Mendoza mit noch größerer Unterwürfigkeit als gewöhnlich.

»Zum Telegraphenamt!« rief Pater Brown hastig. »Was? Nein, das ist kein Wunder, wieso soll das ein Wunder sein? So billig sind Wunder nicht!«

Und er taumelte die Stufen hinab, während die Leute sich ihm in den Weg warfen und ihn um seinen Segen baten.

»Gott segne dich, Gott segne dich«, sagte Pater Brown hastig. »Gott segne auch und gebe euch Vernunft!«

Er stürzte mit außergewöhnlicher Schnelligkeit zum Telegraphenamt, von wo aus er dem Sekretär seines Bischofs ein Kabel sandte: »Blöde Geschichte hier, angebliches Wunder. Hoffe Hochwürden autorisiert nichts. Es ist nichts Wahres dran!«

Als er diese Anstrengung hinter sich hatte, reagierte er mit einem leichten Taumel und John Race bekam ihn am Arm zu fassen.

»Darf ich Sie heimbringen?«, sagte er. »Sie verdienen mehr, als diese Leute Ihnen geben können!«

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John Race und der Priester saßen im Pfarrhaus zusammen. Auf dem Tisch türmten sich immer noch die Papiere, mit denen sich der letztere am Vortag herumgeschlagen hatte. Die Weinflasche und das leere Glas standen noch immer dort, wo er sie verlassen hatte.

»Und jetzt«, sagte Pater Brown beinahe finster, »kann ich anfangen zu denken.«

»Ich würde jetzt noch nicht so viel nachdenken«, sagte der Amerikaner. »Sie müssen sich doch ausruhen und außerdem, worüber wollen Sie denn nachdenken?«

»Wie das Leben so spielt, hatte ich schon oft die Aufgabe, einen Mord zu untersuchen«, sagte Pater Brown, »und nun muß ich meine eigene Ermordung untersuchen!«

»Wenn ich Sie wäre«, sagte Race, »würde ich erst einmal einen Schluck Wein zu mir nehmen!«

Pater Brown stand auf und schenkte sich etwas in ein neues Glas ein, erhob es, blickte gedankenvoll ins Leere und setzte es wieder ab. Dann nahm er wieder Platz und sagte:

»Wissen Sie, was ich empfand, als ich starb? Sie werden es nicht glauben, aber ich hatte ein Gefühl von überwältigendem Erstaunen.«

»Nun«, antwortete Race, »ich nehme an, es verblüffte Sie, daß man Ihnen auf den Kopf schlug.«

Pater Brown beugte sich zu ihm hinüber und sagte leise:

»Ich war verblüfft, daß man mir nicht auf den Kopf schlug.«

Race betrachtete ihn einen Augenblick als dächte er, dieser Schlag auf den Kopf sei nur zu erfolgreich gewesen, aber er sagte nichts weiter als:

»Wie meinen Sie das?«

»Ich will sagen, daß dieser Mann seine Keule mit einem riesigen Schwung niedersausen ließ, aber kurz vor meinem Kopf haltmachte und diesen nicht einmal berührte. Ebenso tat der andere Kerl so, als stäche er mich mit dem Messer, verursachte mir aber nicht einmal einen Kratzer. Sie haben nur Theater gespielt, glaube ich, dann aber kam das Seltsamste von allem.«

Einen Augenblick betrachtete er gedankenverloren die Papiere auf dem Tisch, dann fuhr er fort:

»Obwohl weder der Prügel noch das Messer mich berührt hatten, fühlte ich, wie die Beine unter mir nachgaben und wie ich mein Leben aushauchte. Da wußte ich, daß mich zwar etwas niedergeschlagen hatte, diese Waffen aber waren es nicht gewesen. Wissen Sie, was ich glaube, was es war?«

Er wies auf das Weinglas auf dem Tisch.

Race hob das Glas auf, besah es sich und roch daran.

»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er, »ich war früher Drogist und habe Chemie studiert. Ohne Analyse kann ich nichts Genaues sagen, aber ich glaube, in dem Zeug ist etwas Ungewöhnliches enthalten. Es gibt bei den Asiatenl Drogen, mit denen man einen zeitlich begrenzten Schlaf hervorrufen kann, der totenähnlich ist.«

»Ganz recht«, sagte der Priester ruhig. »Das ganze Wunder ist aus irgendeinem Grunde arrangiert werden. Die Beerdigungsszene ist inszeniert und zeitlich geplant werden. Ich glaube, das alles gehört zu diesem journalistischen Irrsinn, der von Snaith Besitz ergriffen hat. Obwohl ich kaum glaube, daß er deswegen so weit gehen würde. Immerhin sind es zwei Paar Schuhe, ob einer einen Popanz aus mir macht, um mich als eine Imitation von Sherlock Holmes hinzustellen, oder …«

Noch während der Priester sprach, veränderte sich sein Gesicht. Seine blinzelnden Augen schlossen sich plötzlich, und er erhob sich, als würge ihm etwas. Er streckte eine suchende Hand aus, als müsse er seinen Weg zur Tür ertasten.

»Wo gehn Sie hin?« fragte sein Gesprächspartner, einigermaßen überrascht.

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Pater Brown, der ziemlich blaß geworden war, »ich wollte gehen und beten, oder besser, lobpreisen.«

»Ich weiß nicht, ob ich Sie recht verstehe. Was ist denn los mit Ihnen?«

»Ich wollte Gott dafür lobpreisen, daß er mich so seltsam und unerwartet gerettet hat — um Haaresbreite gerettet!«

»Aber natürlich«, sagte Race, »ich habe zwar eine andere Religion, aber glauben Sie mir, ich bin religiös genug, um das zu verstehen. Natürlich muß man Gott dafür danken, wenn er einen vor dem Tod bewahrt hat.«

»Nein, nicht vor dem Tod, vor der Schande!«

Der andere saß da und machte große Augen. Die nächsten Worte brachen aus dem Priester hervor wie ein Aufschrei.

»Wenn es dabei nur um meine Schande gegangen wäre! Aber es ging um die Beschimpfung von all dem, für das ich stehe. Die Verunglimpfung des Glaubens, die sie versucht haben, in die Wege zu leiten. Was hätte daraus werden können! Der gigantischste und entsetzlichste Skandal, der jemals gegen uns lanciert werden ist, seit die letzte Lüge in der Kehle von Titus Dates abgewürgt wurde!«

»Von was in aller Welt sprechen Sie eigentlich?«, fragte ihn sein Gesprächspartner.

»Nun, am besten erkläre ich es Ihnen sofort!«, sagte der Priester und setzte sich. Nachdem er nun wieder etwas ruhiger war, fuhr er fort: »Es traf mich wie ein erleuchtender Blitz, als ich zufällig Snaith und Sherlock Holmes erwähnte. Nun entsinne ich mich auch, was ich zu diesem absurden Plan geschrieben habe. Es war ganz natürlich, das zu schreiben, und dennoch glaube ich jetzt, daß sie mich trickreich dazu gebracht haben, jene Worte zu schreiben. Sie lauteten etwa so: ›Ich bin bereit, zu sterben und wieder aufzuerstehen wie Sherlock Holmes, wenn’s so am besten ist.‹ Und jetzt, wo mir das einfällt, sehe ich auch, daß sie mich dazu gebracht haben, alle möglichen, ähnlichen Dinge dieser Art aufzuschreiben, die alle in dieselbe Richtung weisen sollen. Ich schrieb, wie man einem Komplizen schreibt, und erklärte, ich werde den narkotisierenden Wein zu einer bestimmten Zeit trinken. Verstehen Sie nun?«

Race sprang auf die Füße, die Augen immer noch starr.

»Ja«, sagte er, »ich glaube, ich fange an zu begreifen.«

»Diese Leute hätten das Wunder erst richtig aufgeblasen und dann hätten dieselben Leute die ganze Sache zum Platzen gebracht. Und, was schlimmer ist, hinterher hätten sie bewiesen, daß ich an der Verschwörung beteiligt war. Es wäre unser falsches Wunder gewesen. Das ist alles, aber das reicht, um der Hölle näher zu kommen, als Sie und ich es hoffentlich jemals sein werden.« Dann, nach einer Pause, fuhr er mit milderer Stimme fort. »Natürlich hätten sie eine ganz schöne Auflage mit mir erzielt!«

Race blickte auf den Tisch und sagte düster:

»Wie viele dieser Unmenschen waren darin verwickelt?«

Pater Brown schüttelte den Kopf. »Mehr als ich eigentlich wissen möchte«, sagte er, »aber ich hoffe, daß einige nur als Handlanger gedient haben. Alvarez hat vielleicht geglaubt, im Krieg sei alles erlaubt; er hat einen krausen Sinn. Leider fürchte ich, daß Mendoza ein alter Heuchler ist. Hab’ ihm nie getraut, und er haßte, was ich im industriellen Bereich unternahm. Aber all das hat Zeit. Ich habe nun nichts weiter zu tun, als Gott zu danken, daß ich davongekommen bin. Und vor allem, daß ich sogleich dem Bischof telegraphierte.«

John Race schien sehr nachdenklich.

»Sie haben mir vieles gesagt, was ich nicht wußte«, sagte er endlich, »und es drängt mich, Ihnen das einzige mitzuteilen, was Sie nicht wissen. Ich kann mir schon denken, womit diese Kerle gerechnet hatten. Sie nahmen an, daß jeder Mensch auf dieser Welt, der in einem Sarg aufwacht und feststellt, daß er wie ein Heiliger kanonisiert worden ist, und daß man aus ihm ein wandelndes Wunder gemacht hat, das jeder bestaunen muß, von der Wege seiner Anbeter mitgerissen, die Strahlenkrone akzeptieren würde, die für ihn aus den Wolken gefallen ist. Ich glaube nun, daß ihre Berechnungen, von der praktischen Psychologie her gesehen, gar nicht so schlecht waren. So ist der Mensch nun einmal. Ich habe alle Arten von Menschen an allen möglichen Orten kennengelernt und ich sage es Ihnen frei heraus: Ich glaube, es gibt keinen unter tausend, der so wie Sie hätte erwachen können, mit all seinem Grips beisammen und, während er praktisch noch im Traum sprach, die Vernunft, die Schlichtheit, die Demut gehabt hätte …«

Er war ziemlich verblüfft über die Rührung, die er empfand; seine feste Stimme bebte.

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Pater Brown starrte zerstreut und etwas angeschlagen auf die Flasche vor sich. »Wissen Sie was?«, sagte er, »wie wär’s mit einer Flasche richtigem Wein?«

Der Pfeil vom Himmel

Es steht zu befürchten, daß Hunderte von amerikanischen Detektivgeschichten damit anfangen, daß ein amerikanischer Millionär ermordet wird; aus dunklen Gründen betrachtet man ein solches Ereignis als Unglück. Auch die vorliegende Geschichte beginnt erfreulicherweise mit einem ermordeten Millionär. Ja, in gewissem Sinn sogar mit dreien, was manche ohne Zweifel als einen embarras de richesse empfinden werden. Aber gerade durch diese Häufung von verbrecherischen Anschlägen zeichnete sich dieser Fall vor anderen Kriminalfällen aus, wurde er zu einem so absonderlichen Rätsel.

Allgemein hieß es, sie seien einer Vendetta oder einem Fluche zum Opfer gefallen, der sich an den Besitz einer geschichtlich wie geldlich gleich wertvollen Reliquie heftete — eine Art Kelch, der mit kostbaren Steinen eingelegt und in Kennerkreisen als »Koptenpokal« bekannt war. Sein Ursprung war zweifelhaft, der Zweck vermutlich kirchlich. Manche führten das Schicksal, das seine Besitzer zu ereilen pflegte, auf den Fanatismus irgendeines orientalischen Christen zurück, der sich darüber entsetzte, daß der heilige Gegenstand durch materialistische Hände ging. Der geheimnisvolle Mörder hatte bereits, ob Fanatiker oder nicht, in der Welt der Presse und des Klatsches eine brennende und sensationelle Neugier erweckt. Der Namenlose war mit einem Namen — besser gesagt, einem Spitznamen — versehen. Wir aber beschäftigen uns nur mit der Geschichte des dritten Opfers. Denn nur in diesem Falle hatte ein gewisser Pater Brown, der Held dieser Skizzen, Gelegenheit, seine Anwesenheit zur Geltung zu bringen.

Sobald Pater Brown den Ozeandampfer verließ und den Fuß auf amerikanischen Boden setzte, mußte er die Entdeckung machen — wie schon andere Engländer vor ihm —, daß er eine über Erwarten wichtige Persönlichkeit sei. Seine untersetzte Gestalt, sein Gesicht mit den kurzsichtigen und unscheinbaren Zügen, seine etwas abgenutzte schwarze geistliche Kleidung wären bei ihm zu Hause niemals aufgefallen — höchstens als besonders unauffällig. Amerika aber hat eine geniale Art, den Ruhm zu züchten. Sein Mitwirken bei ein oder zwei merkwürdigen kriminellen Fällen und seine lange Bekanntschaft mit dem früheren Verbrecher und jetzigen Detektiv Flambeau hatten in Amerika aus einem bloßen Gerücht, wie es in England verbreitet war, ihm einen beträchtlichen Ruf geschaffen. Sein rundes Gesicht war starr vor Staunen, als ihm eine Gruppe Journalisten am Kai auflauerte wie eine Räuberbande und ihm eine Reihe von Fragen stellte, für die er sich am allerwenigsten maßgebend vorkommen konnte — wie zum Beispiel die Frauenmode oder die Verbrecherstatistik des Landes, das er in diesem Augenblick zum ersten Mal erblickte. Vielleicht fiel ihm gerade im Gegensatz zu der Einmütigkeit dieser schwarzen Gruppe eine andere Gestalt ins Auge, die sich ebenfalls gegen das zu dieser Zeit und an diesem Ort blendend weiße Tageslicht schwarz abhob, aber ganz einsam dastand: ein langer, gelbgesichtiger Mann mit großer Brille, der ihn, als die Journalisten fertig waren, mit einer Bewegung aufhielt und fragte: »Verzeihen Sie, aber vielleicht suchen Sie Hauptmann Wain?«

Zu Pater Browns Entschuldigung — denn er selbst hätte sich gewiß aufrichtig entschuldigt — muß man anführen, daß er Amerika zum ersten Mal sah — besonders aber diese besondere Sorte modischer Schildpatt-Brillen, die sich damals noch nicht bis England verbreitet hatten. Er hatte im ersten Augenblick die Empfindung, ein Meerungeheuer mit riesigen, hervorstehenden Augen zu erblicken, das eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Taucher hatte. Der Herr war im übrigen höchst geschmackvoll gekleidet, und dem naiven Pater schien die Hornbrille den eleganten Menschen förmlich zu entstellen, als hätte sich ein Geck als letzten Schick ein Holzbein zugelegt. Auch die Frage setzte ihn in Verlegenheit. Ein amerikanischer Flieger namens Wain, ein Freund einiger seiner französischen Freunde, stand allerdings auf der langen Liste von Personen, die er während seines Besuches in Amerika besuchen wollte, aber er hatte nie erwartet, ihn so bald zu treffen.

»Verzeihen Sie«, fragte er zögernd, »sind Sie Hauptmann Wain? Oder — oder kennen Sie ihn?«

»Daß ich nicht Hauptmann Wain bin, steht für mich so ziemlich fest«, antwortete der Bebrillte mit unbeweglichem Gesicht. »Das war mir klar, als ich ihn da drüben im Auto auf Sie warten sah. Aber die zweite Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Ich glaube Wain und seinen Onkel und den alten Merton zu kennen — ich kenne den alten Merton, aber der alte Merton kennt mich nicht. Und er glaubt, im Vorteil zu sein, und genau das glaube ich auch. Verstehen Sie?«

Pater Brown verstand nicht ganz. Er blinzelte die glänzende Seelandschaft und die Türme der Stadt an, und dann auch den Bebrillten. Nicht nur die Maske auf den Augen ließ sein Gesicht undurchdringlich erscheinen. Etwas in seinem gelben Gesicht sah asiatisch, ja sogar chinesisch aus — seine Sprache schien aus verschiedenen Lagen Ironie zu bestehen. Er gehörte zum Typ des rätselhaften Amerikaners, der sich mitten in der offenherzigen und geselligen Bevölkerung manchmal findet.

»Ich heiße Drage«, sagte er, »Norman Drage, und bin amerikanischer Bürger, was alles erklärt. Jedenfalls vermute ich, daß Ihr Freund Wein Ihnen so manches mitteilen möchte — also gedulden wir uns noch etwas.«

Pater Brown wurde in einigermaßen benommenem Zustand zu einem Auto geschleppt, das in einiger Entfernung wartete. Ein junger Mensch mit Büschel von zerzaustem blondem Haar und etwas gequältem und abgespanntem Gesichtsausdruck rief ihn von weitem an und stellte sich als Peter Wein vor. Bevor Pater Brown zur Besinnung kam, saß er schon fest im Wagen und fuhr mit beträchtlicher Geschwindigkeit durch die Stadt und darüber hinaus. Er war das heftige Zugreifen des amerikanischen Pragmatismus nicht gewohnt und fühlte sich so verwirrt, als hätte ihn ein mit Drachen bespannter Wagen ins Märchenland entführt. Unter so beunruhigenden Umständen hörte er zum ersten Male in langen Monologen von Wain und in kurzen Sätzen von Drage die Geschichte des Koptenpokals und der beiden Verbrechen, die damit zusammenhingen.

Wein hatte, wie es schien, einen Onkel namens Crake, und dieser einen Kompagnon namens Merton. Dieser Merton war der dritte Besitzer des Pokals, wie die ersten beiden ein reicher Geschäftsmann. Der erste, der bekannte Kupferkönig Titus P. Trant, hatte von einem Unbekannten, der sich Daniel Doom nannte, Drohbriefe erhalten. Der Name war vermutlich ein Pseudonym, vertrat aber nun bereits eine sehr bekannte, wenn nicht volkstümliche Figur, eine Mischung aus Robin Hood und Jack the Ripper. Denn soviel stand bald fest: Der Schreiber der Drohbriefe beschränkte sich keineswegs auf Drohungen. Jedenfalls wurde der alte Trant eines Morgens tot aufgefunden. Sein Kopf lag in seinem eigenen Zierteich, und vom Täter fehlte jede Spur. Glücklicherweise wurde der Pokal auf der Bank aufbewahrt. Er ging mit dem übrigen Vermögen an Trants Vetter Brian Horder über, der ebenfalls schwer reich war und von dem namenlosen Feinde bedroht wurde. Man fand ihn tot am Fuße eines Felsens in der Nähe seiner Strandvilla, in der ein Einbruch — diesmal großen Stils — stattgefunden hatte. Denn obwohl der Pokal wieder heil davonkam, wurden so viele Aktien und Pfandbriefe gestohlen, daß Horders Angelegenheiten in die größte Verwirrung gerieten.

»Brian Horders Witwe mußte fast alle Wertgegenstände verkaufen, glaube ich«, erklärte Wain, »und wahrscheinlich hat Brander Merton damals den Pokal erworben, denn als ich ihn kennenlernte, war er bereits glücklicher Besitzer. Aber Sie werden sich selbst sagen, daß es nicht gerade ein behagliches Gefühl ist, ihn zu haben.«

»Hat Mr. Merton auch Drohbriefe bekommen?« fragte Pater Brown nach einer Pause.

»Ich glaube schon«, sagte Mr. Drage, und ein Etwas in seiner Stimme ließ den Priester neugierig aufblicken, bis er bemerkte, daß der Bebrillte still lachte, und zwar auf eine so sonderbare Weise, daß es dem Neuangekommenen kalt über den Rücken lief.

»Ich bin ziemlich davon überzeugt«, sagte Wain mit Stirnrunzeln. »Ich habe die Briefe nicht gesehen. Er zeigt seine Briefe überhaupt nur seinem Sekretär, denn er ist in solchen Dingen sehr verschlossen, ganz begreiflich bei einem so großen Geschäftsmann. Aber ich war dabei, wie er sich über Briefe wirklich aufregte und bedrückt fühlte; und gerade diese Briefe zerriß er, bevor sein Sekretär sie zu Gesicht bekam. Jetzt ist sogar der Sekretär schon nervös geworden, er behauptet, daß irgend jemand dem Alten auflauert. Kurz und gut, wir wären Ihnen für Ihren Rat sehr dankbar. Man kennt Ihren Ruf, Pater Brown, und deshalb hat mich der Sekretär gebeten, Sie gleich in Mertons Haus hinüberzubitten.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte Pater Brown, dem endlich der Zweck der Entführung aufging. »Aber ich sehe wirklich nicht ein, was ich noch zusätzlich tun kann. Sie sind doch an Ort und Stelle und müssen über hundertmal mehr Einzelheiten verfügen, aus denen Sie zuverlässigere Schlüsse ziehen können, als ein zufälliger Besuch.«

»Jawohl«, sagte Drage trocken, »aber unsere Schlüsse sind viel zu zuverlässig und logisch, um wahr zu sein. Wenn Sie mich fragen: Was Titus P. Trant getroffen hat, kam geradewegs von oben, ohne auf eine logische Erklärung zu warten. Es war das, was man einen Blitz aus heiterem Himmel nennt.«

»Sie wollen doch nicht behaupten«, rief Wain, »daß es übernatürlich war?«

Aber es war zu keiner Zeit so einfach zu verstehen, was Mr. Drage eigentlich meinte, außer daß er, wenn er von jemand sagte, er sei sehr klug, damit vermutlich meinte, er sei ein Esel. Mr. Drage bewahrte eine geradezu orientalische Ruhe, bis nach einer Weile der Wagen hielt. Sie waren jedenfalls am Ziel. Der Ort war merkwürdig genug. Die letzte Strecke hatte sie durch dünnbewaldetes Gebiet geführt, das in eine weite Ebene überging; gerade vor ihnen befand sich ein Gebäude, das aus einer einzigen Mauer bestand, so rund war wie ein Römerlager und ein wenig einer Flughalle glich. Die Umfriedung sah weder wie Holz noch wie Stein aus; bei näherer Betrachtung ergab sich, daß sie aus Eisen bestand.

Sie stiegen alle aus. In der Wand öffnete sich mit großer Vorsicht eine kleine Schiebetür, nachdem man daran umständlich manipuliert hatte wie an einem Geldschrank. Sehr zu Browns Erstaunen machte der Herr, der sich Norman Drage nannte, nicht Miene einzutreten, sondern verabschiedete sich mit unheilvoller Lustigkeit. »Ich komme lieber nicht mit«, sagte er. »So viel freudige Aufregung, schätze ich, darf man dem Alten nicht zumuten. Er liebt meinen Anblick so sehr, daß er vor Freude sterben könnte, wenn er mich sieht.«

Er schlenderte davon, und Pater Brown, dessen Verwunderung wuchs, wurde durch die Stahltür eingelassen, die hinter ihm sofort einschnappte. Drin sah man einen großen, kompliziert angelegten Garten in vielen und heiteren Farben, aber ganz ohne Baum, Gebüsch oder Strauch. Mitten drin erhob sich ein schöner, ja imposanter Bau, der jedoch so hoch und schmal war, daß er aussah wie ein Turm. Auf dem Dache funkelte das Sonnenlicht hie und da auf Glasfenstern, aber im unteren Teile schienen sich überhaupt keine Fenster zu befinden. Überall herrschte die fleckenlose, blitzende Sauberkeit, die so gut zu der klaren amerikanischen Luft paßte. Innerhalb des Portals fanden sie sich von prächtigem Marmor, Metallen und Emaille in strahlenden Farben umgeben — aber die Treppe fehlte. In der Mitte zwischen den kompakten Mauern stieg nur der Schacht für den Aufzug in die Höhe, und der Zugang wurde durch stark gebaute, große Leute bewacht, die aussahen wie Polizisten in Zivil.

»Die Schutzmaßnahmen sind ein wenig sehr ausgetüftelt, ich weiß«, sagte Wain. »Vielleicht finden Sie es komisch, Pater, daß Merten hier wie in einer Festung leben muß und nicht einmal einen Baum im Garten hat, hinter dem sich jemand verstecken könnte. Aber Sie wissen nicht, womit man es hierzulande zu tun hat. Und vielleicht wissen Sie auch nicht, was Brander Mertens Name bedeutet. Er sieht ganz bescheiden aus, und auf der Straße würde sich kein Mensch nach ihm umsehen. Ganz abgesehen davon, daß er nur dann und wann im geschlossenen Auto ausfährt. Aber wenn ihm etwas zustieße, würde die Erde von Alaska bis zu den Südseeinseln erzittern. Ich glaube, daß vor ihm weder König noch Kaiser eine solche Macht über die Welt besessen haben. Schließlich hätten Sie wohl aus Neugierde eine Einladung zum Zaren oder zum König von England angenommen. Vielleicht machen Sie sich nichts aus Zaren oder Millionären — aber Macht in irgendeiner Form ist immer interessant. Hoffentlich widerstreitet es nicht Ihren Prinzipien, einen modernen Kaiser wie Merten zu besuchen.«

»Gewiß nicht«, sagte Pater Brown ruhig. »Es ist meine Pflicht, Häftlinge und alle Unglücklichen in der Gefangenschaft aufzusuchen.«

Ein Schweigen entstand, und der junge Mensch runzelte mit einem sonderbaren, etwas schiefen Blick die Stirn. Dann sagte er unvermittelt:

»Na, schließlich dürfen Sie nicht vergessen, daß er es nicht mit gewöhnlichen Verbrechern oder der Schwarzen Hand zu tun hat. Dieser Daniel Doom ist ein Teufel. Tram hat er in seinem eigenen Garten und Herder vor seinem Hause umgebracht, und es ist ihm nichts passiert.«

Das oberste Stockwerk des Gebäudes bestand zwischen den ungeheuer dicken Mauern aus zwei Zimmern: einem äußeren, in das sie eintraten, und dem inneren, dem Allerheiligsten des Millionärs. Im äußeren Zimmer trafen sie zwei Gäste, die gerade das innere verließen. Den einen rief Peter Wain an — es war sein Onkel; ein kleiner, aber gedrungener und dynamischer Mann mit rasiertem Schädel, der kahl wirkte, und einem Gesicht, das so braun aussah, als sei es niemals weiß gewesen. Es war der alte Crake, gemeinhin Hickory Crake genannt, im Gedenken an den berühmten Old Hickory, weil er in den letzten Indianerkriegen zweifelhaften Ruhm erworben hatte. Sein Begleiter stand im größten Gegensatz zu ihm — es war ein eleganter Herr mit dunklem Haar wie schwarzer Lack und einem breiten schwarzen Band am Monokel — Barnard Blake, der Anwalt des alten Merten, der mit den beiden Kompagnons geschäftliche Angelegenheiten der Firma besprochen hatte. Die vier Personen trafen in der Mitte des äußeren Zimmers zusammen und hielten sich im Gehen und Kommen einen Augenblick auf, um ein paar Höflichkeiten zu tauschen. Und während dieses Hin und Her saß im Hintergrund des Zimmers, neben der Türe zum zweiten, eine Gestalt, schwer und unbeweglich im Halblicht des Fensters — ein Mann mit einem Negergesicht und ungeheuren Schultern. Er war das, was man in Amerika mit schmerzhafter Selbstkritik den Bösewicht nennt — ein Wächter, wie ihn die Freunde, ein Halsabschneider, wie ihn die Feinde nannten!

Der Mensch bewegte und rührte sich nicht, um irgend jemanden zu begrüßen. Sein Anblick bewog Peter Wain, seine erste, unruhige Frage zu stellen.

»Ist jemand drin?«, fragte er.

»Nur keine Aufregung, Peter«, kicherte sein Onkel. »Sein Sekretär Wilton ist drin bei ihm — das dürfte genügen. Ich glaube, Wilton gönnt sich überhaupt keinen Schlaf mehr, so sehr bewacht er Merton. Er taugt mehr als zwanzig Wächter. Und er ist so schnell und lautlos wie ein Indianer.«

»Na, du mußt es am besten wissen«, lachte der Neffe. »Ich erinnere mich noch an deine Erzählungen aus den Grenzkriegen gegen die Indianer, und die Indianerschliche, die du mich gelehrt hast, als ich noch ein Junge war. Aber in meinen Indianerbüchern haben die Indianer merkwürdigerweise immer schlecht abgeschnitten.«

»Aber nicht in Wirklichkeit«, erwiderte der alte Soldat ernst. »Wirklich nicht?«, fragte der höfliche Blake.

»Ich habe immer gemeint, daß sie gegen unsere Feuerwaffen wenig ausrichten konnten.«

»Ich habe einmal einen Indianer gesehen, der unter dem Feuer von hundert Gewehren stand und nichts hatte als ein kleines Skalpmesser. Trotzdem tötete er einen Weißen, der an meiner Seite auf der Spitze eines Ports stand.«

»Ja wie denn«, fragte der andere.

»Er warf es«, erwiderte Crake — »warf es wie der Blitz, bevor man einen Schuß abgeben konnte. Ich weiß nicht, woher er den Trick hatte.«

»Nun, hoffentlich hast du ihn nicht von ihm gelernt«, sagte der Neffe lachend.

»Mir scheint, die Geschichte ist nicht ohne Moral«, sagte Pater Brown nachdenklich. Während sie sprachen, kam der Sekretär Wilton aus dem inneren Zimmer und wartete; es war ein blasser, blondhaariger Mensch mit viereckigem Kinn und ruhigen Augen, die an einen Hund erinnerten; man konnte sich einbilden, dem scharfen Blick eines Hofhundes zu begegnen.

Er sagte nur: »Mr. Merten wird Sie in etwa zehn Minuten empfangen«, aber das genügte, um die plaudernde Gruppe an den Aufbruch zu mahnen. Der alte Crake hatte Eile und sein Neffe begleitete ihn und den Anwalt, so daß Pater Brown einen Augenblick mit dem Sekretär allein blieb. Denn der Negerriese am anderen Ende des Zimmers konnte kaum für einen lebenden Menschen gelten, er saß unbeweglich da und kehrte ihnen den Rücken zu.

»Die ganzen Vorkehrungen machen wohl einen gar zu ausgeklügelten Eindruck«, bemerkte der Sekretär. »Sie haben vermutlich die Geschichte des Daniel Doom gehört und wissen, warum wir den Chef nie lange allein lassen dürfen.«

»Aber jetzt ist er doch allein?« fragte Pater Brown.

Der Sekretär sah ihn mit seinen ernsten grauen Augen an.

»Fünfzehn Minuten lang«, sagte er. »Eine Viertelstunde von den vierundzwanzig. Das ist die einzige Zeit, die ihm wirklich allein bleibt; und darauf besteht er, aus einem merkwürdigen Grunde.«

»Und was für ein Grund ist das?« fragte der Gast.

»Der Koptenpokal«, sagte der Sekretär. Er hörte nicht auf, dem Pater in die Augen zu sehen, aber sein Mund, der eben noch ernst gewesen war, wurde bitter. »Vielleicht haben Sie den Koptenpokal vergessen — aber er vergißt ihn nie, weder ihn noch sonst etwas. Er vertraut ihn keinem von uns an. Irgendwo und irgendwie ist er in dem Zimmer dort eingeschlossen, so daß nur er ihn finden kann. Er nimmt ihn nur heraus, wenn wir alle draußen sind. Wir müssen also diese Viertelstunde riskieren, während er dasitzt und ihn anbetet; vermutlich die einzige Anbetung, zu der er sich aufschwingt. Natürlich besteht eigentlich keine wirkliche Gefahr. Ich habe dieses Haus zu einer Falle gemacht, und selbst dem Teufel würde es schwerfallen, hinein- oder jedenfalls herauszukommen. Wenn dieser verdammte Daniel uns einen Besuch abstattet, wird er ziemlich lange hierbleiben, das schwöre ich Ihnen! Ich sitze hier während der fünfzehn Minuten wie auf Nadeln, und sowie ich einen Schuß oder ein anderes verdächtiges Geräusch hörte, würde ich auf diesen Knopf drücken, und ein elektrischer Strom lädt die Gartenmauer, so daß jeder, der hinausgehen oder sie überklettern will, sofort den Tod findet. Übrigens kann es keinen Schuß geben, denn dies ist der einzige Eingang, und das Fenster, an dem er sitzt, ist oben auf einem Turm, der so glatt ist, als wäre er geölt. Und außerdem sind wir hier natürlich alle bewaffnet. Wenn Daniel wirklich in das Zimmer käme, würde er es lebendig nicht verlassen.«

Pater Brown blinzelte nachdenklich; er blickte auf den Teppich. Dann sagte er plötzlich mit einem Ruck:

»Sie nehmen es mir doch nicht übel? Mir ist eben etwas eingefallen. Es betrifft Sie.«

»In der Tat«, erwiderte Wilton. »Was meinen Sie?«

»Sie haben nur eine einzige Idee im Kopf«, sagte Pater Brown, »und Sie müssen mir verzeihen, wenn ich sage, daß es mehr die Idee ist, Daniel Doom zu fangen, als Brander Merton zu schützen.«

Wilton fuhr zusammen und starrte seinen Gast an; langsam formte sich auf seinen Lippen ein sonderbares Lächeln.

»Wieso haben Sie — wie kommen Sie darauf?« fragte er.

»Sie sagten eben, wenn Sie einen Schuß hörten, könnten Sie den Feind auf der Flucht durch den elektrischen Strom töten. Sie haben sich doch vermutlich klargemacht, daß der Schuß für Ihren Chef tödlich werden könnte, bevor der Strom für seinen Feind tödlich würde? Ich meine damit nicht, daß Sie Mr. Merten nicht schützen werden, wenn es in Ihrer Macht steht, sondern daß es Ihnen erst in zweiter Linie wichtig ist. Die Vorkehrungen sind besonders ausgeklügelt, wie Sie selbst sagen, und gehen wohl auf Sie zurück. Aber Sie scheinen auch eher dazu angetan zu sein, einen Mörder zu fangen, als einen Menschen zu retten.«

»Hochwürden«, sagte der Sekretär, dessen Stimme sich beruhigt hatte, »Sie sind verdammt klug — aber sonderbarerweise sind Sie noch etwas mehr. Irgendwie gehören Sie zu den Leuten, denen man die Wahrheit sagen möchte — und außerdem wird man es Ihnen ohnedies erzählen, denn man neckt mich ja bereits damit. Man sagt allgemein, daß ich eine fixe Idee habe — nämlich diesen Verbrecher zur Strecke zu bringen —, und vielleicht stimmt das auch. Aber ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, was sonst niemand weiß: Ich heiße in Wirklichkeit John Wilton Horder.« Pater Brown nickte, als sei ihm nun alles klar, doch der andere fuhr fort:

»Dieser Mensch, der sich Daniel Doom nennt, hat meinen Vater und meinen Onkel getötet und meine Mutter zugrunde gerichtet. Als Merton einen Sekretär suchte, nahm ich den Posten an. Ich dachte, wo der Koptenpokal ist, müßte sich auch der Verbrecher früher oder später einfinden. Aber ich wußte nicht, wer er war, und konnte also nur auf ihn warten. Ich hatte die feste Absicht, Merten treu zu dienen.«

»Ich verstehe«, sagte Pater Brown sanft, »aber ist es nicht eigentlich an der Zeit, daß wir hineingehen?«

»Ja gewiß«, erwiderte Wilton; er war wieder zusammengefahren, und der Priester schloß daraus, daß er sich einen Augenblick wieder seinen Rachegelüsten überlassen hatte. »Gewiß — gehen Sie nur hinein.«

Pater Brown ging geradenwegs in das innere Zimmer. Was folgte, waren keine Begrüßungen, sondern nur ein totes Schweigen. Einen Augenblick später erschien der Priester wieder in der Türe.

Im selben Augenblick bewegte sich plötzlich der stumme Wächter, der an der Tür saß — es sah aus, als sei ein Riesenmöbel lebendig geworden. Etwas in der Haltung des Priesters hatte wie ein Signal gewirkt. Sein Kopf hob sich vom Licht des Fensters ab, aber sein Gesicht blieb im Schatten.

»Jetzt werden Sie wohl auf den Knopf drücken müssen«, sagte er mit einem Seufzer.

Wilton schien mit einem Ruck aus seinen wilden Grübeleien zu erwachen und sprang auf. Seine Stimme überschlug sich.

»Es war kein Schuß!« rief er aus.

»Ja«, sagte Pater Brown, »es kommt darauf an, was Sie unter einem Schuß verstehen.«

Wilton sprang vor, und zusammen stürzten sie in das innere Zimmer. Es war verhältnismäßig klein und einfach, aber höchst luxuriös ausgestattet. Ihnen gegerßber stand ein großes Fenster weit offen — die Aussicht ging auf den Garten und die bewaldete Ebene. Nahe beim Fenster standen ein Sessel und ein Tischchen, als hätte der Gefangene während des kurzen Glücks seiner Einsamkeit gar nicht genug Licht und Luft bekommen können.

Auf dem Tischchen am Fenster stand der Koptenpokal. Der Besitzer hatte ihn jedenfalls beim günstigsten Licht betrachtet. Und es war auch der Mühe wert. Das weiße, blendende Tageslicht verwandelte die kostbaren Steine in vielfarbige Flammen, so daß er wie ein Urbild des Heiligen Grals aussah. Es war der Mühe wert, ihn zu betrachten. Aber Brander Merten betrachtete ihn nicht. Sein Kopf hing über die Lehne des Sessels, seine weiße Mähne berührte fast den Boden und sein grauer Spitzbart wies zur Decke — in seinem Hals aber steckte ein langer, braunangestrichener Pfeil mit roten Federn.

»Ein lautloser Schuß«, sagte Pater Brown leise. »Ich hatte gerade an die neuen Erfindungen gedacht, die geräuschlosen Feuerwaffen. Dies ist freilich eine alte Erfindung — aber genauso geräuschlos.« Einen Augenblick später fragte er: »Er ist tot, fürchte ich. Was werden Sie tun?«

Der blasse Sekretär riß sich mit einem plötzlichen Entschluß zusammen. »Ich werde natürlich auf den Knopf drücken«, sagte er, »und wenn das noch nicht genügt, um Daniel Doom kaltzumachen, werde ich ihn rund um die Welt jagen, bis ich ihn finde.«

»Geben Sie bloß acht, daß Sie keinen unsrer Freunde kaltmachen. Sie müssen in der Nähe sein, eigentlich sollte man sie rufen.«

»Die wissen ja alle Bescheid mit der Mauer«, erwiderte Wilton. »Keiner von ihnen wird versuchen rüberzuklettern — außer, einer von ihnen hat es sehr eilig!«

Pater Brown ging zum Fenster, durch das der Pfeil offensichtlich hereingeflogen war, und sah hinaus. Tief unten lag der Garten mit seinen ebenen Blumenbeeten wie eine zart getönte Landkarte der Erde. Die ganze Aussicht sah so weit und leer aus, der Turm schien so hoch in den Himmel zu ragen, daß ihm ein seltsamer Ausdruck in den Sinn kam.

»Ein Blitz aus heiterem Himmel«, sagte er. »Hat nicht jemand vor kurzem von einem Blitz aus heiterem Himmel gesprochen, vom Tod, der aus dem Lüften kommt? Sehen Sie bloß, alles sieht so weit entfernt aus — wie unwahrscheinlich, daß ein Pfeil so weit herkommen sollte! Außer freilich ein Pfeil vom Himmel.«

Wilton war zurückgekehrt, antwortete aber nicht. Der Priester fuhr wie in einem Selbstgespräch fort.

»Man denkt dabei unwillkürlich an Flugzeuge. Ich muß einmal den jungen Wain fragen … nach Flugzeugen und Fliegen.« — »Es tummeln sich immer ziemlich viele hier herum«, sagte der Sekretär.

»Das ist ein Fall mit entweder sehr alten oder mit sehr neuen Waffen«, bemerkte Pater Brown. »Einige dieser Waffen könnten dem alten Onkel ziemlich vertraut sein, möchte ich meinen; wir müssen ihn über Pfeile aushorchen. Ich weiß nicht, von wo aus der Indianer geschossen haben könnte. Aber erinnern Sie sich an die Geschichte, die der Alte erzählte. Ich bemerkte noch, daß sie eine Moral hatte.«

»Wenn sie eine Moral hatte«, erwiderte der junge Mann mit Wärme, »so doch höchstens, daß ein Indianer weiter schießen kann als man annimmt. Es ist doch Unsinn, da eine Parallele zu vermuten.«

»Ich glaube nicht, daß Sie die Moral ganz richtig aufgefaßt haben«, sagte Pater Brown.

Auch wenn es den Anschein hatte, als sei der kleine Priester in den Millionen Einwohnern der Stadt New York aufgegangen ohne ersichtliches Bestreben, etwas anderes darzustellen als eine beliebige Nummer in einer nach Nummern eingeteilten Straße, war er in Wahrheit doch auf unauffällige Weise die nächsten vierzehn Tage emsig beschäftigt mit einer Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte. Eine tiefe Befürchtung, die Justiz könnte möglicherweise ganz in die Irre geführt werden, trieb ihn zu seinem Bemühen. Gerade weil er sich dem Anschein nach keine besondere Mühe gab, sie vor seinen anderen neuen Bekanntschaften auszuzeichnen, gelang es ihm leicht, mit den zwei oder drei Männern ins Gespräch zu kommen, die in den geheimnisvollen Mordfall verwickelt waren; besonders mit dem alten Hickory Crake hatte er ein sonderbares und aufschlußreiches Gespräch. Es fand auf einer Bank im Central Park statt. Der Veteran saß da und hatte seine knochigen Hände und sein scharfgeschnittenes Adlergesicht auf den bizarr geschnitzten Griff eines Spazierstocks aus dunkelrotem Holz gestützt, der vielleicht einem Tomahawk nachgebildet war.

»Nun, vielleicht war das ein sehr weit gezielter Schuß«, sagte er und schüttelte sein Haupt, »aber ich würde Ihnen immer den Rat geben, seien Sie nicht zu sicher, wie weit ein Indianerpfeil tragen kann. Ich erinnere mich an ein paar Pfeile, die gerader flogen als irgendeine Kugel und die ihr Ziel mit beklemmender Sicherheit trafen, wenn man bedenkt, wie weit sie geflogen waren. Natürlich läuft einem heute praktisch nie ein Indianer mit Pfeil und Bogen über den Weg, geschweige denn in diesen Gegenden. Aber immer gesetzt den Fall, es hätte sich doch durch Zufall einer der alten indianischen Scharfschützen, mit einem der alten indianischen Bogen, da draußen in den Bä’umen versteckt, ein paar hundert Yards außerhalb von Mertons Verteidigungsmauer — nun ja, dann halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß der edle Wilde einen Pfeil über die Mauer und in das Dachfenster von Mertons Haus hätte schießen können. Und in Mertons Hals selbstverständlich auch. Ich habe genauso erstaunliche Dinge schon erlebt, damals in den alten Zeiten.«

»Uhd ohne Zweifel«, sagte der Priester, »haben Sie genauso erstaunliche Dinge auch selber getan.« Old Crake lachte in sich hinein und sagte dann schroff: »Das gehört alles lange der Vergangenheit an.«

»Manche Leute haben ihre eigene Art, die Vergangenheit für sich, zu erwecken«, sagte der Pater. »Ich hoffe doch, es gibt nichts in Ihren Akten und in Ihrem früheren Leumund, das jetzt die Umwelt ungut über die ganze Geschichte tuscheln läßt.«

»Was soll das heißen?« fragte Crake, und seine Augen bewegten sich zum ersten Mal scharf und rasch in seinem roten, hölzernen Gesicht, das selbst fast wie die Spitze eines Tamahawks aussah.

»Nun, da Sie ja so gründlich mit allen Listen und Künsten der Rothäute vertraut sind —« begann Pater Brown langsam.

Crake hatte die ganze Zeit gekrümmt und fast zusammengesunken dagesessen, das Kinn immer fest auf dem seltsam geformten Griff. Im selben Augenblick aber stand er aufgereckt wie ein zustoßender Bravo mitten auf dem Spazierweg und hielt seinen Stock wie einen Fechtknüppel umklammert.

»Was?« schrie er — in einer Art heiserem Kreischen —, »was, zum Teufel! Wollen Sie sich im Ernst hinstellen und mir ins Gesicht sagen, ich hätte — einfach so — meinen eigenen Schwager ermordet?«

Von einem Dutzend Bänken her, die wie Punkte über den Spazierweg verstreut waren, sahen die Leute zu den beiden Disputanten, wie sie da mitten auf dem Weg standen und einander ins Gesicht starrten, auf der einen Seite der kahlköpfige, energische, kleine Mann, der seinen fremdländischen Spazierstock wie eine Keule geschwungen hielt, und die schwarze, plumpe Figur des kleinen Klerikers, der ihn aufmerksam ansah und keinen Muskel bewegte. Nur seine Augenlider zwinkerten ein wenig. Einen Augenblick lang sah es so aus, als sollte die schwarze, plumpe Figur nach alter Indianerweise rasch und entschlossen auf den Kopf geschlagen werden, und in der Ferne sah man bereits den mächtigen Umriß eines irischen Polizisten sich auftürmen und rasch auf die Gruppe zueilen. Da sagte der Priester, so ruhig als antworte er auf eine ganz gewöhnliche Frage:

»Ich habe für mich einige Schlußfolgerungen gezogen, es erscheint mir aber im Augenblick nicht angebracht, sie vor dem Abschluß meines Berichts bekanntzumachen.«

Sei es unter dem Einfluß der sich nähernden Schritte des Polizisten, sei es durch die beruhigende Wirkung, die der Blick des Priesters auf ihn hatte, jedenfalls steckte Old Hickory seinen Stock unter den Arm und setzte brummend den Hut wieder auf. Dann wünschte ihm Pater Brown einen vergnügten guten Morgen, entfernte sich ohne unziemliche Hast aus dem Park und begab sich nach dem Hotel, in dessen Halle er zu dieser Stunde den jungen Wain wußte. Der junge Mann sprang auf und begrüßte ihn; er sah jetzt beinahe noch hagerer und gequälter aus, als ob ihn ein geheimer Kummer buchstäblich aufzehrte. Ein erstes Wort über sein Steckenpferd oder seine Lieblingswissenschaft genügte jedoch, daß er wieder wach und konzentriert aussah. Pater Brown hatte ihn gefragt, ganz zufällig und gesprächsweise, ob in der Gegend viel geflogen werde, und hatte ihm erzählt, daß er zuerst Mr. Mertens kreisförmige Schutzmauer für ein Aerodrom gehalten habe.

»Es ist fast ein Wunder, daß Sie nicht das eine oder andere Flugzeug gesehen haben, solange Sie dort waren«, antwortete Captain Wain. »Manchmal tummeln sich da kaum weniger als Fliegen. Die weite Ebene ist ein ideales Gelände für Flieger, und mich sollte es nicht wundern, wenn das Gelände später nicht zu einer bevorzugten Brutstätte für meine Art von Vögeln werden sollte. Ich bin natürlich auch selbst oft dort geflogen, und ich kenne die meisten der älteren Kameraden, die auch im Krieg geflogen sind. Aber jetzt gibt es dort noch eine ganze Menge mehr Leute, die Lust am Fliegen haben und von denen ich nie etwas gehört oder gesehen habe. Ich habe den Verdacht, Fliegen wird bald so verbreitet sein wie Autofahren, und jeder Mann in den Vereinigten Staaten wird sein Flugzeug vor der Tür geparkt haben.«

»Da ja nach der Verfassung jeder Amerikaner von seinem Schöpfer«, sagte Pater Brown mit einem leichten Lächeln, »mit den Grundrechten auf Leben, Freiheit und Autofahren begabt ist, die Fliegerei gar nicht zu erwähnen. Wir dürfen also annehmen, daß ein sonst doch so auffälliges Flugzeug zu bestimmten Zeiten, wenn es an Mertons Haus vorbeiflog, nicht allzusehr beachtet wurde.«

»Nein«, antwortete der junge Mann, »ich glaube nicht, daß es irgend jemand bemerken würde.«

»Oder nehmen wir selbst an, der Flieger selbst wäre bekannt«, fuhr der andere fort, »so müßte es ihm doch möglich sein, sich eine Maschine zu verschaffen, die man nicht als die seine erkennen würde. Nehmen wir einmal an, Sie selbst würden auf gewohnte Weise in Ihrem Flugzeug fliegen, so könnten vielleicht Mr. Merton und seine Freunde Sie an der Ausrüstung erkennen. Andererseits aber könnten Sie auf einem anderen Flugzeugtyp, oder wie immer man das nennt, unerkannt ziemlich nahe am Fenster vorbeifliegen. Jedenfalls nahe genug für handfeste Absichten.«

»Nun, vermutlich ja«, begann der junge Mann fast automatisch. Dann hielt er inne und starrte den Kleriker mit offenem Mund und hervorstehenden Augen an. »Mein Gott«, sagte er mit erstickter Stimme, »mein Gott!« Dann sprang er, bleich und von Kopf bis Fuß zitternd, aus seinem Sessel auf und rief, wobei er unverwandt dem Priester entgegenstarrte: »Sind Sie wahnsinnig? Sind Sie denn vollständig wahnsinnig?«

Es gab einen Augenblick des Schweigens, dann fing er von neuem in einem zischenden Flüstern zu sprechen an: »Sie kommen allen Ernstes hierher und deuten an —«

»Nein, ich deute nichts an, ich sammle nur Andeutungen«, sagte Pater Brown und erhob sich. »Vielleicht habe ich einige vorläufige Schlußfolgerungen gezogen, aber die werde ich für den Augenblick besser für mich behalten.«

Daraufhin grüßte er sein Gegenüber mit der gleichen etwas steifen Höflichkeit und verließ das Hotel, um seine sonderbaren Wandergänge wieder aufzunehmen.

Bei Einbruch der Abenddämmerung am gleichen Tag hatten seine Wanderungen ihn in die schmutzigen Straßen und Treppenwege geführt, die hinunter zum Fluß taumelten und stolperten in diesem ältesten und unregelmäßigsten Teil der City. Direkt unter der buntfarbigen Laterne, die den Eingang zu einem ziemlich verkommenen chinesischen Restaurant bezeichnete, traf er auf eine Figur, die er schon einmal gesehen hatte, auch wenn sie sich seinen Augen jetzt ganz verändert darbot.

Mr. Norman Drage hatte sich noch immer gegen die Welt hinter seinen großen Brillengläsern verschanzt, die irgendwie sein Gesicht wie eine schon dunkle Maske aus Glas zu bedecken schien. Von seinen Brillengläsern abgesehen aber hatte sich sein Aussehen in dem Monat, der seit dem Mord vergangen war, auf das seltsamste verändert. Damals war er, wie Pater Brown bemerkt hatte, auf das ausgesuchteste bekleidet gewesen — bis zu dem Punkt, wo die Unterscheidung zwischen dem Dandy und einer Schneiderpuppe im Schaufenster für das freie Auge nicht mehr zu ziehen war. Jetzt aber waren alle diese Externalia auf rätselhafte Weise zum Schlechteren gewendet, so als habe sich die Schneiderpuppe unversehens in eine Vogelscheuche verwandelt. Sein Zylinder war noch vorhanden, sah aber ramponiert und schäbig aus, seine Kleider befanden sich in einem Zustand der Auflösung, seine Uhrkette und alle geringeren Verzierungen waren spurlos verschwunden. Pater Brown jedoch sprach ihn so an, als hätten sie sich gestern erst zuletzt gesehen, und zögerte keinen Augenblick, sich mit ihm an einen Tisch des billigen Speisehauses zu setzen, wohin der andere seine Schritte gelenkt hatte. Nicht er war es jedoch, sondern sein Gegenüber, der die Unterhaltung begann.

»Nun?« murrte Drage. »Waren Sie erfolgreich mit Ihrem Rachefeldzug für den heiligen und heiliggesprochenen Millionär? Denn wir wissen doch, alle Millionäre sind heilig und werden heiliggesprochen. Sie können es in allen Zeitungen am anderen Tag lesen, wie sie ihr Leben im Lichte der Familienbibel zubrachten, die sie an ihrer Mutter Knie zuerst gelesen haben. Pfui Teufel! wenn sie nur die eine oder andere von den tausend Geschichten in der Familienbibel gelesen hätten, wäre zumindest die Mutter rechtzeitig erschreckt werden. Und der Millionär vielleicht auch. Das alte Buch, es steckt voll von einem Haufen großartiger, gräßlicher, alter Vorstellungen, wie sie heutzutage nicht mehr wachsen. So eine Art Handbüchlein der Steinzeitweisheiten, vergraben unter den Pyramiden. Nehmen wir an, irgend jemand hätte den alten Merten vom Dach seines Tunnes herabgeworfen und hätte seine Leiche von Hunden auffressen lassen, so wäre ihm nichts Schlimmeres widerfahren als Jezabel. Wurde Agag nicht in kleine Stücke zerhackt, und ging doch seine Wege in Vorsicht? Auch Merten ging seiner Wiege in Vorsicht sein ganzes Leben lang, hol ihn der Teufel — bis er schließlich zu vorsichtig wurde, um überhaupt noch seiner Wege zu gehen. Aber das Werkzeug des Herrn fand ihn, wie es in dem alten Buch hätte geschehen können, und es schlug ihn tot nieder auf dem Dach seines Turmes, auf daß er ein Gleichnis gebe allem Volke.«

»Das Werkzeug war wenigstens handfest genug«, sagte sein Begleiter.

»Die Pyramiden sind sogar besonders handfest und halten die Könige in ihnen ausreichend nieder«, grinste der Mann mit den Brillengläsern »Ich denke, es ist das letzte Wort über diese alten handfesten, materialistischen Religionen noch nicht gesagt. Da gibt es alte Reliefdarstellungen — unversehrt seit Jahrtausenden —, auf denen die alten Götter und Herrscher mit gesenktem Bogen gezeigt werden, und ihre mächtigen Hände sehen so aus, als könnten sie damit wirklich Steinbogen spannen. Handfest, vielleicht — aber was für eine Handfestigkeit! Geht es Ihnen nicht auch manchmal so, daß Sie gebannt auf die uralten Mythen und Erzählungen des Ostens starren, bis Ihnen der Verdacht aufgeht, der alte Schöpfer Gott fahre noch immer wie ein dunkler Apoll durch die Wolken und versende schwarze Todesstrahlen?«

»Wäre dem so«, antwortete Pater Brown, »müßte ich ihn wohl mit einem anderen Namen nennen. Ich habe aber meine Zweifel, ob Merten wirklich durch einen schwarzen Todesstrahl oder selbst durch einen Steinpfeil gestorben ist.«

»Vermutlich glauben Sie, er ist eine Art heiliger Sebastian«, höhnte Drage, »weil er mit einem hölzernen Pfeil umgebracht wurde. Ein Millionär muß doch wenigstens ein Märtyrer sein. Woher wissen Sie denn, daß er seinen Tod nicht verdient hat? Sie haben sicher nicht allzuviel über Ihren Millionär herausgebracht. Nun, lassen Sie sich von mir gesagt sein: er hat seinen Tod hundertfach verdient.«

»So, so«, meinte Pater Brown nachsichtig, »warum haben Sie ihn dann nicht ermordet?«

»Sie wollen wissen, warum ich ihn nicht ermordet habe?« sagte sein Gegenüber und starrte ihn fassungslos an. »Also, ich muß schon sagen, Sie sind mir eine ganz eigene Sorte von Kirchenmann.«

»Aber nicht doch«, sagte der andere, als müsse er ein Kompliment beiseite wischen.

»Vermutlich ist das Ihre Art, mir zu sagen, daß ich ihn doch ermordet habe«, knurrte Drage. »Schön, dann beweisen Sie es mir, wenn Sie können. Um ihn jedenfalls war es sicher nicht schade. Er war für niemanden ein Verlust.«

»Doch, das war er«, sagte Pater Brown scharf. »Er war für Sie ein Verlust. Das ist der Grund, warum Sie ihn nicht getötet haben.« Und damit verließ er den Raum und den Mann mit den Brillengläsern, der ihm fassungslos nachstarrte.

Es dauerte einen Monat, bevor Pater Brown das Haus, in dern der dritte Millionär die Vendetta Daniels erlitten hatte, zum zweiten Male besuchte. Die am meisten Beteiligten hielten eine Art Kriegsrat ab. Am obern Ende des Tisches saß der alte Crake, seinen Neffen zur Rechten und den Anwalt zur Linken; der Riese mit dem Negergesicht, der Harris hieß, war in voller Größe zugegen, wenn auch nur als stummer Zeuge; ein rothaariges, spitznäsiges Individuum namens Dixon schien als Vertreter einer Detektei anwesend, und Pater Brown setzte sich bescheiden auf einen freien Stuhl neben ihm.

Alle Zeitungen der Welt waren voll von der Katastrophe, die diesen Finanzkoloß, diesen großen Organisator der weltbeherrschenden Großindustrie betroffen hatte. Aber von den wenigen, die ihm im Augenblick des Todes am nächsten gewesen waren, konnte man nicht viel erfahren. Onkel, Neffe und Anwalt erklärten, daß sie längst außerhalb der Mauer standen, als Alarm geschlagen wurde. Die Wächter an den beiden Schranken gaben etwas verwirrte, aber doch im ganzen zufriedenstellende Antworten. Nur eine einzige weitere Komplikation mußte besonders überlegt werden. Ungefähr zur Zeit des Todes hatte sich ein Fremder auf geheimnisvolle Weise am Eingang zu schaffen gemacht und Mr. Merton sprechen wollen. Die Dienstboten konnten ihn nur mit Mühe verstehen, denn er sprach sehr unklar. Aber gerade das fiel später als belastend auf, denn er hatte irgend etwas gemurmelt, daß ein Bösewicht durch ein einziges Wort aus dem Himmel vernichtet werden könne.

Peter Wain beugte sich vor. Die Augen in dem magern Gesicht glänzten. Er sagte:

»Ich möchte darauf wetten — das war Norman Drage.«

»Und wer in aller Welt ist Norman Drage?« fragte sein Onkel.

»Ja, das möchte ich gerne wissen«, erwiderte der junge Mann. »Ich habe ihn fast direkt gefragt, aber er versteht es wunderbar, jede gerade Frage zu verdrehen. Es ist, als hiebe man nach einem Fechter. Er versuchte, mich mit einem Hinweis auf das Luftschiff der Zukunft zu verwirren. Im Grunde habe ich ihm nie getraut.«

»Aber was für ein Mensch ist er denn?« fragte Crake.

»Ein Mystagog«, sagte Pater Brown mit der Schlagfertigkeit eines Kindes. »Davon gibt es eine ganze Menge; zum Beispiel all die Leute, die in den Pariser Cafés und Kabaretts herumsitzen und Ihnen einreden wollen, daß sie den Schleier der Isis gelüftet haben oder das Geheimnis von Stonehenge kennen. Auch in unserem Falle würden sie sicher eine mystische Erklärung zur Hand haben.«

Der glatte dunkle Kopf des Anwalts neigte sich höflich gegen den Sprecher, aber sein Lächeln war vage feindlich.

»Ich bin überrascht«, sagte er, »daß gerade Sie ein Vorurteil gegen mystische Erklärungen haben.«

»Ganz im Gegenteil«, sagte Pater Brown und blinzelte ihn freundlich an. »Und gerade deshalb kann ich manchmal über sie urteilen. Mich könnte jeder falsche Jurist herumkriegen; Sie aber nicht, weil Sie selbst ein Jurist sind. Wenn sich irgendein Narr als Indianer verkleidet, kann er mir einreden, daß er der originale Hiawatha selber ist; aber Mr. Graka hier würde ihn sofort durchschauen. Ein Schwindler könnte mir vormachen, daß er mit Aeroplanen ausgezeichnet Bescheid weiß, aber Wain würde ihm nicht darauf hereinfallen. Und genauso steht es mit dem andern, nicht wahr? Gerade weil ich etwas von Mystik verstehe, will ich mit Mystagogen nichts zu tun haben. Wahre Mystiker verbergen keine Geheimnisse, sondern enthüllen sie. Wahre Mystiker weisen bei hellem Tageslicht auf eine Sache hin, und wenn man sie gesehen hat, bleibt sie doch weiterhin ein Geheimnis. Die Mystagogen dagegen verstecken etwas hinter Dunkelheit und Geheimnissen, und wenn man es findet, ist es ein Gemeinplatz. Was aber Drage betrifft, so will ich zugeben, daß er noch einen anderen Grund hatte, und zwar einen viel praktischeren Grund, uns Märchen über Feuer aus den Wolken und Blitze aus heiterem Himmel zu erzählen.«

»Nämlich?« fragte Wain. »Der Grund scheint mir sehr wichtig, wie er auch lauten mag.«

»Ja«, erwiderte der Priester langsam, »er wollte, daß wir die Mordtaten für Wunder halten, weil er — ja, weil er selbst wußte, daß es keine Wunder sind.«

»Aha«, sagte Wain mit einem Zischen, »darauf war ich gefaßt. Geradeheraus gesagt, er ist der Verbrecher.«

»Geradeheraus gesagt, er ist der Verbrecher, der das Verbrechen nicht beging«, sagte Pater Brown ruhig.

»Nennen Sie das geradeheraus?« fragte Blake höflich.

»Jetzt werden Sie gleich behaupten, daß ich selber ein Mystagoge bin«, erwiderte Pater Brown etwas eingeschüchtert, aber mit strahlendem Lächeln. »Doch das war nur ein Zufall. Drage hat das Verbrechen — ich meine dieses Verbrechen — nicht begangen. Er hat nur eins auf dem Gewissen — Erpressung; deswegen trieb er sich hier herum. Aber er wollte keinesfalls, daß die ganze Welt sein Geheimnis erfahre, oder daß der Tod der ganzen Sache ein Ziel setze. Später können wir uns über ihn unterhalten. Jetzt im Augenblick möchte ich nur, daß er uns nicht im Wege ist.«

»Im Wege?« fragte der andere.

»Im Wege zur Wahrheit«, erwiderte der Priester und sah ihn ruhigen Blickes an.

»Wollen Sie damit sagen«, brachte der andere mühsam hervor, »daß Sie die Wahrheit wissen?«

»Ich glaube ja«, erwiderte Pater Brown bescheiden.

Eine plötzliche Stille herrschte. Dann rief Crake plötzlich und unvermittelt mit rauher Stimme:

»Herrgott, wo ist der Sekretär? Wilton? Er sollte hier sein!«

»Ich stehe mit Mr. Wilton in Verbindung«, sagte Pater Brown ernst, »ja, ich habe ihn sogar gebeten, mich in ein paar Minuten hier anzurufen. Wir haben sozusagen die Sache zusammen aufgeklärt.«

»Wenn Sie zusammen arbeiten, ist ja alles in Ordnung«, brummte Crake. »Er war immer wie ein Bluthund hinter den Spuren dieses unsichtbaren Schurken her, also hat es sicher nichts geschadet, wenn Sie zu zweit gejagt haben. Aber wenn Sie wirklich die Wahrheit wissen, wo zum Teufel haben Sie sie her?«

»Von Ihnen«, erwiderte der Priester ruhig und sah dem wütenden Veteranen gleichmütig ins Auge. »Ich glaube, daß eine Bemerkung in Ihrer Erzählung von dem Indianer, der ein Messer warf und einen Mann auf einem Fort tötete, mich zuerst auf die richtige Spur gebracht hat.«

»Das haben Sie schon ein paarmal gesagt«, bemerkte Wain mit verwunderter Miene, »aber ich weiß nicht, was Sie für Schlüsse daraus ziehen, außer dem, daß vielleicht ein Mörder einen Pfeil schleuderte und einen Mann oben auf einem Haus traf, das Ähnlichkeit mit einem Fort hat. Aber der Pfeil wurde doch nicht geschleudert, sondern abgeschossen, und hätte doch auch noch weitergetragen. Obwohl er jedenfalls von weit genug herkam. Jedenfalls sehe ich nicht ein, wieso uns das weiterbringt.«

»Ich fürchte, Sie haben die Pointe der Geschichte nicht verstanden«, sagte Pater Brown. »Nicht darauf kommt es an, daß ein Gegenstand weit trägt, oder ein andrer weiter, sondern, daß ein Werkzeug auf zwei Arten angewendet wird. Die Soldaten auf Crakes Fort dachten, ein Messer sei nur im Nahkampf zu gebrauchen; sie vergaßen, daß es ein Geschoß sein kann wie ein Wurfspeer. Andere Leute, die ich kenne, dachten, eine andere Waffe sei ein Geschoß; sie vergaßen, daß man sie schließlich im Nahkampf gebrauchen kann wie einen Speer. Kurz und gut, die Moral der Geschichte ist die: kann man einen Dolch in einen Pfeil verwandeln, so auch einen Pfeil in einen Dolch.«

Aller Augen waren auf ihn gerichtet, er aber fuhr in demselben leichten und unbeirrten Ton fort:

»Selbstverständlich zerbrachen wir uns den Kopf darüber, wer den Pfeil durch das Fenster abschoß, ob er von weit kam, und so fort. Aber die Wahrheit ist, daß niemand den Pfeil abgeschossen hat. Er kam überhaupt nicht durchs Fenster.«

»Wie ist er aber dann sonst hereingekommen?« fragte der brünette Anwalt mit finsterem Gesicht.

»Irgend jemand hat ihn mitgebracht, möchte ich annehmen«, erwiderte der Priester. »Schwer zu tragen oder zu verbergen war er ja kaum. Jemand hatte ihn in der Hand, während er dort in Mertens eigenem Zimmer mit Merten am Fenster stand. Jemand stach ihn dem alten Merton wie einen Dolch in die Kehle, und hatte dann die höchst intelligente Idee, das Ganze in einem solchen Winkel und einer solchen Lage anzuordnen, daß wir blitzschnell annehmen mußten, der Pfeil sei wie ein Vogel durchs Fenster geflogen.«

»Irgend jemand«, sagte der alte Crake mit einer Stimme, die so schwer war wie ein Stein. Das Telephon läutete mit grellem und fürchterlich hartnäckigem Nachdruck. Es stand im nächsten Zimmer, und bevor jemand sich rührte, war Pater Brown schon dran.

»Zum Teufel, was soll das«, schrie Peter Wain, der ganz zerrüttet und verwirrt schien.

»Er sagte, er erwarte den Anruf des Sekretärs Wilton«, erwiderte sein Onkel mit derselben stumpfen Stimme.

»Vermutlich ist es Wilton«, fragte der Anwalt, wie jemand, der spricht, um eine Pause auszufüllen. Aber niemand antwortete auf seine Frage, bis Pater Brown plötzlich und lautlos im Zimmer erschien und die Erklärung mitbrachte.

»Meine Herren«, sagte er, nachdem er sich gesetzt hatte, »Sie haben mich gebeten, die Wahrheit über dieses Rätsel herauszubekommen. Ich habe die Wahrheit gefunden und muß sie sagen, ohne daß ich zum Schein den Versuch mache, den Schlag zu mildern. Wenn jemand erst einmal seine Nase in solche Dinge hineinsteckt, kann er es sich leider nicht leisten, irgendwelche Rücksichten zu nehmen.«

»Ich vermute«, brach Crake das Schweigen, »das soll heißen, daß wir alle angeklagt oder verdächtig sind.«

»Wir sind alle verdächtig«, erwiderte Pater Brown. »Auch ich, denn ich habe die Leiche gefunden.«

»Natürlich sind wir alle verdächtig«, schnappte Wain zurück. »Pater Brown hat mir freundlicherweise erklärt, wie ich den Turm mit Hilfe eines Flugzeugs geknackt habe.«

»Nein«, antwortete der Priester mit einem Lächeln, »Sie haben mir nur beschrieben, wie Sie ihn hätten knacken können. Das war gerade der interessante Teil unseres Gesprächs.«

»Er sehien es auch ganz einleuchtend zu finden«, murrte Crake, »daß ich ihn mit Hilfe eines Indianerpfeils selber getötet habe.«

»Im Gegenteil, ich fand es ganz unwahrscheinlich«, sagte Pater Brown und machte ein seltsames Gesicht. »Wenn ich Unrecht getan habe, tut es mir sehlr leid. Aber mir ist kein anderer Weg eingefallen, wie ich der Angelegenheit sonst hätte beikommen können. Ich kann mir kaum etwas Unwahrscheinlicheres vorstellen als die Idee, daß Captain Wain in einem riesengroßen Flugzeug genau im Augenblick des Mordes am Fenster vorbeigeflogen sei, ohne daß jemand es bemerkt hätte. Nichts Unwahrscheinlicheres meine ich, als vielleicht noch die Idee, daß ein würdiger älterer Herr mit Pfeil oder Bogen hinter den Büschen Indianer spielt, nur um jemanden zu töten, den er auf zwanzig einfachere Arten hätte töten können. Aber ich mußte herausfinden, ob Sie alle etwas mit der Sache zu tun hatten. Und darum hatte ich Sie anzuklagen, um Ihre Unschuld jeweils zu beweisen.«

»Und wie haben Sie dann ihre Unschuld bewiesen?« fragte der Rechtsanwalt Blake und lehnte sich neugierig nach vorn.

»Dazu genügte die Aufregung, in die sie bei der Anklage gerieten«, antwortete sein Gegenüber.

»Was meinen Sie damit genau?«

»Wenn Sie mir mein Wort nachsehen wollen«, bemerkte Pater Brown ganz gefaßt, »so hielt ich es ganz ohne Zweifel für meine Pflicht, Sie und jedermann sonst zu verdächtigen. Ich habe Mr. Crake verdächtigt und Captain Wain, verdächtigt in dem Sinn, daß ich bei ihnen nach der Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit ihrer Schuld suchte. Ich erzählte ihnen, daß ich darüber Schlußfolgerungen gezogen hatte. Und jetzt will ich Ihnen erzählen, worin diese Schlußfolgerungen bestanden. Ich war nämlich sicher, daß sie alle unschuldig waren, und das aus zwei Gründen: aus der Weise, wie sie meine Winke aufnahmen, und aus der Beobachtung des Augenblicks, in dem sie von Unwissenheit zu Empörung übergingen. Solange sie nicht auf die Idee kamen, daß sie selber angeklagt sein könnten, gaben sie mir bereitwillig Material, das eben diese Anklage unterstützen mußte. Jeder von ihnen erklärte mir praktisch bis ins Detail, wie er das Verbrechen hätte begehen können. Dann wurde ihnen plötzlich mit einem jähen Schrecken und einem Schrei der Empörung klar, daß ich sie angeklagt hatte. Es wurde ihnen lange nach dem Zeitpunkt klar, zu dem sie eine Anklage hätten erwarten können, aber doch noch lange bevor ich sie angeklagt hatte. Kein Schuldiger könnte so reagieren. Er könnte abweisend und mißtrauisch von Anfang sein, oder er könnte Unwissenheit und Unschuld bis zum Ende simulieren. Aber er würde sicher nicht damit anfangen, daß er die Dinge für sich immer schlechter macht, und dann plötzlich aufschreckt und wie ein Wilder alle die Ideen abstreitet, die er doch selber erst mit erweckt hat. Das wäre nur möglich, wenn er wirklich nicht bemerkt hätte, was er da durch seine Worte mit wachgerufen hatte. Das Gewissen eines Mörders wäre aber immer auf morbide Weise wach genug, um ihn daran zu hindern, daß er erst eine Beziehung zu dem Mord ganz vergißt und sich zu spät daran erinnert, sie zu leugnen. So konnte ich Sie beide und auch andere aus anderen Gründen, die jetzt nichts zur Sache tun, aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen. Zum Beispiel gab es da den Sekretär — Aber davon spreche ich jetzt nicht. Passen Sie auf: eben habe ich mit Wilton telephoniert. Er hat mich ermächtigt, Ihnen eine ernste Nachricht mitzuteilen. Ich glaube, Sie wissen inzwischen alle, wer Wilton war und was er wollte.«

»Ich weiß es: er war auf der Fährte Daniel Dooms, und konnte nicht ruhig schlafen, bevor er ihn hatte«, antwortete Peter Wain. »Ich habe auch gehört, daß er der Sohn des alten Herder sein soll und deshalb die Blutrache auf sich genommen hat. Jedenfalls ist er hinter diesem Daniel her.«

»Nun«, sagte Pater Brown, »er hat ihn gefunden.«

Peter Wain sprang aufgeregt vom Sessel auf.

»Den Mörder?« rief er; »ist der Mörder verhaftet?«

»Nein«, sagte Pater Brown ernst. »Ich habe Ihnen gesagt, daß die Nachricht ernst ist. Sie ist ernster als Sie meinen. Ich fürchte, der arme Wilton hat eine schwere Verantwortung auf sich geladen. Auch uns wird sie, fürchte ich, treffen. Er brachte den Verbrecher zur Strecke, und als er ihn gestellt hatte — ja, da hat er eben die Strafe selbst vollzogen.«

»Meinen Sie, daß Daniel —«

»Ich meine, daß Daniel Doom tot ist«, sagte der Priester. »Es gab einen Kampf, und Wilton tötete ihn.«

»Geschieht ihm recht«, brummte Mr. Crake.

»Man kann Wilton nicht übelnehmen, daß er einen solchen Verbrecher um die Ecke gebracht hat«, stimmte ihm Wain bei, »besonders wenn man an die Vendetta denkt.«

»Da bin ich anderer Meinung«, sagte Pater Brown. »Wir reden wohl alle manchmal Unsinn zusammen, wenn wir das Lynchen und die gesetzlose Willkür verteidigen. Aber ich glaube fast, daß wir es sehr bedauern würden, unserer Gesetze und Freiheiten verlustig zu gehen. Außerdem scheint es mir unlogisch, Wiltons Mord an dem Verbrecher zu verteidigen, ohne auch nur danach zu fragen, warum Doom seinerseits mordete. Ich weiß nicht, ob Daniel ein gewöhnlicher Verbrecher war — vielleicht war er ein Ausgestoßener und hatte eine fixe Idee, daß er den Pokal besitzen müsse. Vielleicht hat er ihn zuerst im Guten verlangt, dann gedroht und erst nach einem Kampf getötet — beide Opfer fanden nahe bei ihrem Hause den Tod. Was gegen Wiltons Vorgehen spricht, ist die Gewißheit, daß wir jetzt nie mehr etwas Näheres über Dooms Standpunkt erfahren werden.«

»Ach, für diese ganze sentimentale Verteidigung von schurkischen, schuftigen Mordgesellen habe ich nichts übrig«, rief Wain in Hitze. »Wenn Wilton den Verbrecher kaltgemacht hat, so war das ein ordentliches Stück Arbeit, und damit basta!«

»Sehr richtig, sehr richtig.« Sein Onkel nickte lebhaft.

Pater Browns Miene wurde noch ernster, als er einen Blick über das Halbrund von Gesichtern schweifen ließ.

»Ist das wirklich Ihrer aller Meinung?« fragte er. Und schon während dieser Frage verstand er, daß er ein Engländer, ein Verbannter war. Er begriff, daß er sich unter Ausländern befand, auch wenn sie Freunde waren. Um diesen Ring von Ausländern kreiste ein ruheloses Feuer, das seinem Blute fremd war. Der wildere Geist der westlichen Nation, die es fertig bringt, sich zu empören, zu steinigen und — vor allem — sich zu verbünden. Er wußte, daß sie sich bereits verbündet hatten.

»Ja«, sagte Pater Brown mit einem Seufzer, »ich soll das wohl so verstehen, daß Sie endgültig das Verbrechen dieses Unglücklichen, oder seine Privatrache — wie immer Sie es nennen wollen — gutheißen? Dann wird es ihm ja nichts schaden, wenn ich Ihnen mehr darüber mitteile.«

Er stand plötzlich auf. Sie verstanden die Bewegung nicht, aber auf sonderbare Weise schien sie die Luft des Zimmers zu verändern, ja abzukühlen.

»Wilton hat Doom auf recht merkwürdige Art getötet«, fing er an.

»Wie?« fragte Crake plötzlich.

»Mit einem Pfeil«, erwiderte Pater Brown. Dämmerung zog sich in dem langgestreckten Zimmer zusammen, das Tageslicht war nur noch ein schwaches Leuchten von dem großen Fenster im inneren Zimmer her, wo der große Millionär gestorben war. Fast automatisch wandertendie Augen der Gruppe langsam dorthin, aber noch hörte man keinen Laut. Dann endlich ertönte die Stimme des alten Crake, heiser, kreischend und senil, ein krähendes Geschwätz.

»Was soll das heißen? Was meinen Sie? — Brander Merten durch einen Pfeil getötet — dieser Verbrecher durch einen Pfeil getötet —«

»Durch denselben Pfeil«, sagte der Priester, »und im gleichen Augenblick.«

Wieder herrschte ein ersticktes, aber doch geschwollenes und zum Bersten gespanntes Schweigen. Dann begann der junge Wain: »Meinen Sie —«

»Ich meine, daß Ihr Freund Merten Daniel Doom war«, sagte Pater Brown fest. »Einen anderen Daniel Doom werden Sie nicht finden. Ihr Freund Merten war in den Pokal verliebt, den er jeden Tag anbetete wie einen Götzen; in seiner wüsten Jugend hat er zwei Menschen getötet, um in den Besitz des Kleinods zu gelangen. Freilich glaube ich auch jetzt noch, daß die beiden nur zufällig während des Einbruchs getötet wurden. Jedenfalls hatte er jetzt den Pokal. Drage kannte die Geschichte und erpreßte Geld von ihm. Aber Wilton war aus einem ganz anderen Grunde hinter ihm her. Vermutlich hat er die Wahrheit erst erfahren, als er schon hier im Hause war. Jedenfalls aber hat seine Jagd in diesem Hause und in dem Zimmer dort geendet, denn dort hat er den Mörder seines Vaters umgebracht.«

Lange Zeit antwortete niemand. Dann hörte man, wie der alte Crake mit den Fingern auf dem Tisch trommelte und brummte: »Brander war gewiß wahnsinnig. Ja, er muß wahnsinnig gewesen sein.«

»Aber um Himmels Willen!« platzte Peter Wain los, »was sollen wir tun? Was sollen wir sagen? Das ändert ja alles! Was sollen wir mit den Zeitungen und den Geschäftsleuten anfangen? Brander Merton ist ungefähr dasselbe wie der Papst oder der Präsident.«

»Ja gewiß, das ändert natürlich alles«, begann der Anwalt Barnard Blake leise. »Der Unterschied bringt mit sich —«

Pater Brown schlug mit der Hand auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. Man konnte sich fast einbilden, daß ein gespenstisches Echo von dem geheimnisvollen Kelch erklang, der noch immer im Nebenzimmer stand.

»Nein«, rief er mit einer Stimme wie ein Pistolenschuß. »Es gibt keinen Unterschied. Ich habe Ihnen die Möglichkeit gelassen, den armen Teufel zu bedauern, solange Sie ihn noch für einen gewöhnlichen Verbrecher hielten. Damals wollten Sie nicht auf mich hören — damals waren Sie nur für persönliche Rache. Sie waren dafür, ihn ohne Gehör und ohne öffentlichen Prozeß hinschlachten zu lassen wie ein wildes Tier. Sie sagten, es sei ihm recht geschehen. Gut, wenn Daniel Doom recht geschah, dann ist Brander Merton recht geschehen. Entscheiden Sie sich — für Lynchjustiz oder für unseren langweiligen Rechtsweg — aber im Namen des Allmächtigen, lassen Sie gleiche Willkür herrschen oder gleiches Gesetz.«

Niemand antwortete außer dem Anwalt, und. er antwortete mit einem Knurren.

»Was wird die Polizei sagen, wenn wir ihr mitteilen, daß wir das Verbrechen gutheißen wollen?«

»Was wird sie sagen, wenn ich ihr mitteile, daß Sie es schon gutgeheißen haben?« antwortete Pater Brown. »Ihre Ehrfurcht vor dem Gesetz kommt etwas spät, Mr. Barnard Blake.«

Nach einer Pause fuhr er mit milderer Stimme fort: »Ich persönlich bin bereit, die Wahrheit zu sagen, wenn die zuständigen Stellen mich ausfragen. Sie alle können tun, was Ihnen beliebt. Aber es wird tatsächlich kaum etwas ausmachen. Wilton rief nur an, um mir zu sagen, daß ich jetzt die Freiheit hätte, Ihnen seine Beichte zu überbringen. Denn als Sie davon hörten, war er menschlicher Strafe bereits entzogen.«

Er ging langsam ins Nebenzimmer und trat an den kleinen Tisch, an dem der Millionär gestorben war. Die koptische Vase stand noch am glg.ichen Platz, und. eine Weile blieb er dort stehen und betrachtete auf ihrer Oberfläche die Mischung aus allen Farben des Regenbogens und hinter ihr den blauen Himmel.

Das Hundeorakel

»Ja«, sagte Pater Brown, »ich habe Hunde sehr gern — aber nur als Hunde.«

Gewandte Sprecher sind nicht immer gewandte Zuhörer. Gerade die geistreichen Leute erweisen sich bisweilen als begriffsstutzig. Pater Browns Freund und Besucher war ein junger Mann namens Fiennes, ein Enthusiast mit temperamentvollen blauen Augen; sein blondes Haar machte den Eindruck, als sei es nicht mit der Haarbürste, sondern vom Gegenwind des Lebens, das er durchraste, zurückgestrichen. Er unterbrach seinen Redestrom von Ideen und Geschichten und schwieg einen Augenblick verdutzt, bis er die sehr einfachen Worte des Priesters verstand.

»Sie meinen, solange man sie nicht anbetet?« sagte er. »Ja, aber ich weiß nicht — es sind doch wunderbare Geschöpfe. Manchmal habe ich die Empfindung, daß sie bedeutend mehr wissen als unsereiner.« Pater Brown erwiderte nichts. Er streichelte weiter halb unbewußt dem großen Schäferhund den Kopf, was dem Tier offenbar wohltat.

»Zufällig«, setzte Fiennes mit steigender Wärme seinen Monolog fort, »spielt auch in der Sache, in der ich mir heute bei Ihnen Rat holen möchte, ein Hund eine gewisse Rolle. Ich meine den Fall des ›Unsichtbaren Mörders‹, wie man ihn nennt. Die Geschichte ist gewiß sonderbar, am allersonderbarsten aber kommt mir der Hund dabei vor. Natürlich bleibt auch das Verbrechen an sich höchst merkwürdig; wie konnte der alte Druce von einem anderen Menschen ermordet werden, während er doch ganz alleine in der Laube saß?«

Die Hand, die den Hund streichelte, unterbrach auf einen Augenblick die rhythmische Bewegung, und Pater Brown fragte ruhig:

»Ach, es war also eine Laube?«

»Haben Sie denn den Fall nicht in den Zeitungen verfolgt?« erwiderte Fiennes. »Warten Sie mal — ich glaube, ich habe da einen Ausschnitt bei mir, aus dem Sie alle Einzelheiten ersehen können.« Er zog ein Stückchen Zeitung aus der Tasche und gab es dem Priester, der es dicht an die blinzelnden Augen hielt und anfing zu lesen; mit der anderen Hand liebkoste er mechanisch den Hund weiter — das verkörperte Gleichnis vom Manne, dessen rechte Hand nicht weiß, was die linke tut.

»Viele Detektivgeschichten von Menschen, die hinter verschlossenen Türen und Fenstern ermordet wurden und deren Mörder entkamen, ohne eine Tür zu benutzen, sind im Laufe der außergewöhnlichen Vorfälle in Cranston an der Küste von Yorkshire zur Wirklichkeit geworden. Dort wurde Oberst Druce erstochen aufgefunden; er war von rückwärts mit einem Dolche durchbohrt werden. Das Mordwerkzeug ist vom Tatort, ja überhaupt aus der nächsten Umgebung verschwunden. Die Laube, in der der Ermordete starb, war allerdings von einer Seite aus zugänglich — nämlich durch die gewöhnliche Tür, die zum Mittelweg des Gartens und zum Hause offen stand. Durch eine merkwürdige Verkettung von Zufällen standen jedoch offensichtlich sowohl Weg als auch Eingang während der kritischen Zeit unter genauer Beobachtung, und es gab eine Reihe von Zeugen, deren Aussagen sich gegenseitig stützten. Die Laube steht am äußersten Ende des Gartens, der an dieser Stelle keinerlei Ein- oder Ausgang besitzt. Der Mittelweg des Gartens läuft zwischen zwei Reihen von hohem Rittersporn, der so eng gepflanzt ist, daß jeder Schritt vom Wege ab eine Spur hinterlassen müßte. Weg und Blumen führen bis dicht an die Laube; es würde auffallen, wenn jemand vom geraden Pfad abweichen wollte. Ein anderer Zugang ist aber nicht vorhanden. Patrick Floyd, der Sekretär des Ermordeten, bezeugt, daß er sich in einer Lage befand, von der aus er den ganzen Garten übersehen konnte, und zwar von dem Augenblick an, wo der Oberst zuletzt lebend in der Türe stand, bis zu der Zeit, wo er tot aufgefunden wurde; Floyd war nämlich oben auf einer Leiter und stutzte die Gartenhecke. Diese Aussage wird von Janet Druce, der Tochter des Verstorbenen, bestätigt. Sie saß während der ganzen Zeit auf der Terrasse vor dem Hause und sah Floyd arbeiten. Auch dies wird, wenigstens für einen Teil der Zeit, von Donald Druce, dem Bruder der jungen Dame, beglaubigt, der vom Fenster seines Schlafzimmers aus, wo er im Schlafrock stand — denn er war erst sehr spät aufgewacht — den Garten übersehen konnte. Endlich passen die Angaben zu der Aussage eines Nachbars, des Dr. Valentine, der zu Besuch kam und sich einige Zeit mit Miss Druce auf der Terrasse unterhielt, und zu der des Familienanwalts Aubrey Traill, der offenbar als letzter den Ermordeten lebend gesehen hat — vermutlich mit Ausnahme des Mörders. Alle stimmen darin überein, daß die Vorgänge sich folgendermaßen abspielten: um halb vier Uhr nachmittags ging Miss Druce den Gartenweg hinunter und fragte ihren Vater, für wieviel Uhr sie den Tee bestellen sollte. Er lehnte jedoch ab; er wollte auf seinen Rechtsanwalt Traill warten, den man ihm in die Laube schicken sollte, sobald er käme. Die junge Dame ging zur Terrasse zurück und traf unterwegs Traill, den sie in die Laube wies, wo er auch hinging. Nach einer halben Stunde kam er wieder heraus, der Oberst begleitete ihn bis zur Tür der Laube und war augenscheinlich in bester Verfassung und sogar glänzender Laune. Etwas früher hatte er sich über die Nachtschwärmereien seines Sohnes geärgert, aber seine gute Laune jedenfalls in ganz normaler Weise wiedergefunden; denn er hatte mehrere andere Besucher auffallend herzlich empfangen, darunter seine beiden Neffen, die auf einen Tag herausgekommen waren. Da die beiden Letztgenannten jedoch während der ganzen Zeit der Untat auf einem Spaziergang abwesend waren, konnten sie nichts aussagen. Wie man sagt, stand zwar der Oberst nicht zum Besten mit Dr. Valentine, aber der Arzt hatte nur eine kurze Unterredung mit der Tochter des Hauses, auf die er, wie man annimmt, ernste Absichten hat. Der Rechtsanwalt, Traill, sagt aus, daß der Oberst allein in der Laube zurückblieb, und dies wird durch Floyd bestätigt, der den Garten aus der Vogelschau überblickte, da er niemand durch den einzigen Eingang eintreten sah. Zehn Minuten später ging Miss Bruce wieder durch den Garten; bevor sie am Ende des Weges angekommen war, sah sie ihren Vater auf dem Boden liegen; er fiel ihr durch seinen weißen Leinenmantel schon von weitem auf. Sie stieß einen Schrei aus, der die andern herbeilockte; als man die Laube betrat, fand man den Oberst tot neben seinem Korbsessel liegen, der ebenfalls umgefallen war. Wie Dr. Valentine, der sich noch in der Nähe befand, feststellte, rührte die Wunde von einer Art Stilett her, das unterhalb des Schulterblatts eingedrungen war und das Herz durchbohrt hatte. Die Polizei hat den Tatort und die Umgebung nach einer solchen Waffe durchsucht, ohne eine Spur davon zu finden.«

»Also einen weißen Mantel hatte der Oberst an, wie?« sagte Pater Brown und legte die Zeitung hin.

»Das war so seine Gewohnheit von den Tropen her«, antwortete Fiennes erstaunt. »Wie er selbst erzählte, muß er dort die merkwürdigsten Dinge erlebt haben, und wahrscheinlich war ihm Dr. Valentine so unsympathisch, weil er auch von den Tropen her kam. Aber die ganze Sache ist ein verdammtes Rätsel. Was da in der Zeitung steht, stimmt ziemlich genau — erlebt habe ich die Tragödie nicht, denn ich war nicht dabei, wie sie ihn fanden, weil ich gerade mit den beiden jungen Neffen und dem Hund spazieren war — eben dem Hund, von dem ich erzählen wollte. Aber ich habe den Schauplatz der Tat gesehen, wie er hier beschrieben steht — den geraden Pfad zwischen den blauen Blumen bis hinauf zu dem dunklen Eingang, den Rechtsanwalt mit seinem schwarzen Anzug und Zylinder, wie er ihn entlang ging, und den roten Kopf des Sekretärs gerade über der grünen Hecke, an der er mit seiner Gartenschere herumarbeitete. Dieser rote Kopf war auf keine Entfernung hin zu verkennen; und wenn die Zeugen sagen, daß sie ihn die ganze Zeit über gesehen haben, stimmt das sicher. Der rothaarige Sekretär Floyd ist überhaupt ein Original — ein unruhiger Geist, der immer anderen Leuten die Arbeit abnimmt, wie damals dem Gärtner. Ich glaube, er ist Amerikaner — jedenfalls hat er den amerikanischen Gesichtspunkt, wie sie drüben sagen.«

»Und der Rechtsanwalt?« fragte Pater Brown. Nach kurzem Schweigen sagte Fiennes ungewöhnlich langsam: »Von Traill hatte ich einen merkwürdigen Eindruck. In seinem vornehmen schwarzen Anzug sah er fast wie ein Stutzer aus, aber doch nicht modisch oder elegant. Denn er trug einen langen, vollen schwarzen Backenbart, wie man ihn seit dreißig Jahren kaum mehr zu sehen bekommt. Er hatte ein vornehmes, ernstes Gesicht, und ein vornehmes, ernstes Wesen, aber manchmal schien ihm einzufallen, daß er lächeln müßte — und wenn er dann seine weißen Zähne zeigte, schien er etwas an würde einzubüßen, ja er bekam sogar etwas Kriecherisches. Vielleicht war es auch nur Verlegenheit, denn er spielte auch gern mit seinem Schlips und seiner Krawattennadel, die ebenso schön und ungewöhnlich waren, wie er selbst. Wenn es irgend jemand gewesen sein könnte — aber was soll das alles — es ist doch ausgeschlossen. Kein Mensch weiß, wer es getan hat — niemand weiß, wie es überhaupt geschehen konnte. Das heißt, mit einer Ausnahme, die ich denn doch machen möchte — und deshalb erzähle ich es gerade. Der Hund weiß es.«

Pater Brown seufzte und sagte zerstreut: »Sie waren zum jungen Donald zu Besuch gekommen, nicht wahr? Er hat Sie doch auf dem Spaziergang nicht begleitet?«

»Nein«, lächelte Fiennes. »Der Lump war am Morgen zu Bett gegangen und am Nachmittag aufgestanden. Ich habe seine Vettern begleitet, zwei junge Offiziere aus Indien, und wir haben uns über höchst alltägliche Dinge unterhalten. Der Ältere, der, wenn ich nicht irre, Herbert Druce heißt, gilt als ein hervorragender Pferdezüchter, er redete in einem fort von einer Stute, die er gekauft hatte, und dem Schurken von einem Verkäufer; sein Bruder Harry war schlechter Laune, weil er in Monte Carlo viel Geld verspielt hatte. Ich erwähne das nur wegen der Dinge, die sich auf unserem Spaziergang ereigneten, um Ihnen zu beweisen, daß uns Telepathie ganz fernlag von uns vieren war der Hund der einzige Hellseher.«

»Was für eine Rasse?« fragte der Priester.

»So einer wie der da«, erwiderte Fiennes. »Dadurch bin ich auf die Geschichte gekommen — weil Sie, wie Sie sagen, nicht glauben, daß man an einen Hund glauben soll. Der Hund war ein großer deutscher Schäferhund und hörte auf den Namen ›Nox‹ — ein sehr passender Name übrigens, denn mir scheint das, was er anstellte, viel dunkler und geheimnisvoller als der Mord2 . Sie müssen wissen, daß das Haus und der Garten des Obersten am Meer liegen; wir gingen etwa anderthalb Kilometer weit fort und längs des Strandes zurück. Wir kamen an einem merkwürdigen Felsen vorüber, dem ›Schicksalsfelsen‹; er ist in der Gegend sehr berühmt, weil, wie das manchmal so vorkommt, zwei Steine so aufeinander ausbalanciert sind, daß ein Stoß genügen würde, um den oberen herunterzuwerfen. Wirklich hoch ist er nicht, aber durch seine sonderbare Form wirkt er ziemlich wild und schaurig; mir wenigstens kam er so vor, denn die beiden jungen Kerle zeigten wenig Sinn für das Romantische. Vielleicht hatte ich auch schon Ahnungen — eben wurde die Frage aufgeworfen, ob es Zeit sei, zum Tee zurückzugeben, und gerade da hatte ich so ein Gefühl, als ob es sehr auf die Zeit ankäme. Herbert und ich hatten beide keine Uhr mit. Wir riefen also seinen Bruder an, der ein wenig zurückgeblieben war, um sich an einer windgeschützten Stelle bei der Hecke seine Pfeife anzuzünden. Daher kam es, daß er die Zeit — nämlich zwanzig nach vier — mit seiner dröhnenden Stimme laut durch die Dämmerung grölte — es klang so laut, daß es wie die Verkündigung einer ungeheuer wichtigen Epoche wirkte. Besonders, weil er so ahnungslos war. Mit Vorzeichen ist das immer so — und gewissen Augenblicke waren ja an dem Nachmittag besonders bedeutungsvoll. Nach Dr. Valentines Aussage starb der arme Druce wirklich kurz vor halb fünf Uhr.

Na, die Jungens sagten, wir hätten noch zehn Minuten Zeit. Wir gingen also am Strand weiter, ohne was Besonderes zu tun — wir warfen Steine für den Hund und schleuderten Stöcke ins Meer, die er apportieren sollte. Mir schien aber die Dämmerung immer drückender zu werden; selbst der Schatten des überhängenden Schicksalsfelsens lag wie eine Last auf mir. Und da geschah das Merkwürdige. Nox hatte gerade Herberts Spazierstock aus dem Wasser apportiert, und sein Bruder warf nun auch seinen hinein. Der Hund schwamm ins Meer hinaus — aber auf einmal — es muß genau um Schlag halb vier Uhr gewesen sein — hörte er auf zu schwimmen. Er kehrte an den Strand zurück und blieb vor uns stehen. Dann warf er plötzlich den Kopf zurück und stieß ein Geheul aus — ein klagendes Wehgeheul, wie ich es nie im Leben gehört habe.

›Was zum Teufel hat der Hund?‹ fragte Herbert; aber keiner von uns wußte eine Antwort. Das Heulen und Winseln erstarb auf dem verlassenen Ufer der See; dann herrschte ein langes Schweigen, das plötzlich unterbrochen wurde. Unterbrochen, so wahr ich lebe, durch einen schwachen Schrei wie von einer Frau, der von weither, aus dem Innern jenseits der Hecke zu kommen schien. Damals wußten wir noch nicht, was es zu bedeuten hatte; aber später erfuhren wir es. Es war der Schrei, den das Mädchen ausstieß, als sie den Leichnam ihres Vaters fand.«

»Nun kehrten Sie wohl um, nicht wahr?« fragte Pater Brown geduldig. »Und was geschah weiter?«

»Ich will Ihnen sagen, was weiter geschah«, sagte Fiennes mit finsterem Nachdruck. »Als wir in den Garten kamen, war das erste, was wir erblickten, der Rechtsanwalt Traill — ich sehe ihn noch jetzt vor mir mit seinem schwarzen Hut und schwarzem Backenbart, die sich gegen den Hintergrund von blauen Blumen, die Laube, den Sonnenuntergang und. den Schicksalsfelsen in der Ferne abhoben. Sein Gesicht und seine Gestalt waren im Schatten; aber ich könnte einen Eid leisten, daß man seine Zähne sah, und daß er lächelte.

Kaum hatte Nox den Menschen erblickt, so raste er nach vorn, blieb mitten auf dem Wege stehen und bellte ihn wie besessen an. Er heulte mörderisch; aus seiner Hundekehle brachen Flüche, die mit ihrem deutlichen Ausdruck von Haß fast menschlich wirkten. Der Mann kroch in sich zusammen und flüchtete zwischen den Blumen den Weg hinauf.«

Pater Brown sprang mit erstaunlicher Ungeduld von seinem Sitz auf.

»Der Hund hat ihn also angeklagt, nicht wahr?« rief er aus. »Das Hundeorakel hat ihn verurteilt. Haben Sie sich auch um den Vogelflug gekümmert, und ob die Vögel rechts oder links vorheizogen? Haben Sie die Auguren um die Opfer befragt? Hoffentlich haben Sie nicht unterlassen, den Hund aufzuschneiden, und die Eingeweide zu beschauen. Auf diese Art von wissenschaftlicher Probe scheint Ihr aufgeklärten Heiden Euch zu verlassen, wenn es sich darum handelt, einem Manne Leben und Ehre abzuschneiden.«

Fiennes saß einen Augenblick mit offenem Munde da, bevor er die Worte herausbrachte: »Ja, was haben Sie denn? Was hab ich denn getan?«

In die Augen des Priesters stahl sich ein Ausdruck von Besorgnis — die Besorgnis des Mannes, der im Dunkel an einen Pfosten angerannt ist und sich einen Augenblick lang fragt, ob er kein Unheil angerichtet hat.

»Ich bedaure unendlich«, sagte er voll aufrichtiger Betrübnis. »Ich bitte um Entschuldigung wegen meiner Unhöflichkeit — verzeihen Sie.«

Fiennes sah ihn neugierig an. »Manchmal kommen Sie mir geheimnisvoller vor als alle Geheimnisse«, sagte er. »Aber — wenn Sie an das Geheimnis vom Hund nicht glauben wollen, über das Geheimnis vom Menschen kommen Sie nicht hinweg. Sie können doch nicht leugnen, daß im gleichen Augenblick, wo das Tier aus dem Wasser kam und bellte, die Seele seines Herren aus ihrem Leib getrieben wurde durch den Stoß einer unsichtbaren Kraft, die kein Sterblicher auffinden oder sich auch nur vorstellen kann. Und was den Rechtsanwalt betrifft; ich halte mich nicht nur an den Hund: da gibt es noch andere sonderbare Einzelheiten. Mir machte er den Eindruck eines glatten, lächelnden, doppelzüngigen Menschen, und eine seiner Angewohnheiten kam mir förmlich wie ein Anhaltspunkt vor. Wie Sie wissen, waren Arzt und Polizei sehr bald zur Stelle — Valentine wurde eingeholt, als er vom Hause wegging, und er telephonierte sofort. Dieser Umstand, und dazu die Abgeschlossenheit des Hauses, die kleine Anzahl von Personen und der begrenzte Raum haben es sozusagen möglich gemacht, jeden genau zu durchsuchen, der in der Nähe war — und es wurde auch jeder durchsucht — nach einer Waffe. Das ganze Haus, der Garten und der Strand wurden aufs genaueste nach einer Waffe abgesucht. Daß der Dolch so einfach verschwinden konnte, ist fast ebenso widersinnig, wie daß der Mörder verschwand.«

»Daß der Dolch verschwand —« Pater Brown nickte. Er schien plötzlich aufmerksam zu werden.

»Nun passen Sie auf«, fuhr Fiennes fort, »ich habe Ihnen schon gesagt, daß dieser Traill die Gewohnheit hatte, fortwährend an seinem Schlips und an der Krawattennadel herumzubasteln — besonders an der Nadel. Seine Nadel war gleichzeitig auffallend prächtig und altmodisch — genau wie er selbst. Sie bestand aus einem Stein mit konzentrischen farbigen Kreisen, die wie ein Auge aussahen — und je mehr er sich damit befaßte, desto mehr fiel sie mir auf die Nerven, gerade als wäre er ein Zyklop mit einem einzigen Auge mitten im Körper. Aber die Nadel war nicht nur groß, sondern auch lang — und mir fiel ein, daß er sich vielleicht so große Mühe gab, sie richtig zu stecken, weil sie noch länger war als sie aussah — so lang wie ein Stilett, mit einem Wort.«

Pater Brown nickte nachdenklich. »Wurde noch von einer anderen Waffe gesprochen?« fragte er.

»Ja«, erwiderte Fiennes, »einer der beiden jungen Druces — ich meine die Vettern — hatte noch eine Idee. Weder Herbert noch Harry machten zuerst den Eindruck, als ob sie für Detektivarbeit in Frage kämen — aber während Herbert genau dem althergebrachten Typus des schweren Dragoners entspricht, mit nur einer Leidenschaft für Pferde und dem einzigen Wunsch, in der Garde eine gute Figur zu machen, gehörte sein jüngerer Bruder seinerzeit der indischen Polizei an und wußte in diesen Dingen Bescheid. Auf seine Art war er sogar nicht einmal dumm — mir kommt es fast vor, daß er zu gescheit war und abgesägt wurde, weil er sich nicht um den Amtsschimmel kümmerte und auf seine eigene Verantwortung handelte. Jedenfalls war er sozusagen ein Detektiv ohne Stellung und warf sich mit mehr als Dilettanteneifer auf den Fall. Mit ihm hatte ich auch die Debatte über die Waffe — und die Debatte brachte uns auf eine neue Idee. Es fing damit an, daß er meine Beschreibung von der Art und Weise, wie der Hund auf Traill losgegangen war, in Abrede stellte — er sagte, daß ein Hund, wenn er ganz gefährlich sei, nie belle, sondern knurre.«

»Damit hatte er völlig recht«, bemerkte der Priester.

»Ferner sagte er, wenn es darauf ankäme, hätte er Nox schon andere Leute anknurren gehört — zum Beispiel den Sekretär Floyd. Ich gab zur Antwort, daß sein Einwurf sich selbst erledige — zwei oder drei Leute konnten das Verbrechen nicht begangen haben, am wenigsten Floyd, der so unschuldig war wie ein wilder Schuljunge und allen sichtbar über der Hecke saß und mit seinem roten Schopf so auffallend aussah, wie ein scharlachroter Kakadu. ›Ja, leicht ist die Sache nicht‹, gab mein Kollege mir zur Antwort, ›aber kommen Sie doch bitte mal mit mir in den Garten. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, was wohl noch keiner gesehen hat.‹ Das war am Tage, an dem der Mord entdeckt wurde und im Garten lag noch alles unverändert da: die Leiter stand bei der Hecke; und unter die Hecke bückte sich mein Begleiter und zog aus dem tiefen Gras etwas heraus. Es war die Schere, mit der die Hecke gestutzt werden war; an einer Spitze klebte Blut.«

Nach einem kurzen Schweigen fragte Peter Brown plötzlich: »Weshalb war der Rechtsanwalt da?«

»Er sagte uns, daß ihn der Oberst bestellt hatte, weil er sein Testament ändern wollte«, erwiderte Fiennes. »Nebenbei bemerkt gab es noch eine andere Seltsamkeit bei der Abfassung des Testaments, die ich erwähnen sollte. Sehen Sie, das Testament wurde an diesem Nachmittag in der Laube gar nicht unterzeichnet.«

»Das dachte ich mir«, sagte Pater Brown, »dazu hätte es zweier Zeugen bedurft.«

»Der Rechtsanwalt kam tatsächlich schon am Tag vorher und es wurde da auch unterzeichnet. Aber am nächsten Tag ließ man ihn wieder holen, da der alte Herr Zweifel über einen der Zeugen bekommen hatte und sich deshalb noch einmal rückversichern wollte.«

»Wer waren die Zeugen?« fragte Pater Brown.

»Das ist es ja gerade«, antwortete sein Informant lebhaft, »die Zeugen waren der Sekretär Floyd und dieser Dr. Valentine, dieser ausländische Chirurg oder was er sein mag; beide hatten einen Streit miteinander. Nun fühle ich mich zu der Mitteilung verpflichtet, daß der Sekretär eine Art von Wichtigtuer ist. Er ist einer dieser hitzigen und halsstarrigen Leute, deren heftiges Temperament sie unseligerweise ganz in die Aggression und in den Argwohn getrieben hat, so daß sie allen Leuten mißtrauen, statt ihnen auch gelegentlich zu vertrauen. Diese Sorte von rothaarigen und rotglühenden Burschen ist immer entweder vertrauensselig gegen jedermann oder mißtrauisch gegen jedermann. Manchmal freilich auch beides zugleich. Floyd war nicht allein ein Alleskönner und Faktotum, er wußte auch in jedem Punkt besser Bescheid als jeder Fachmann. Und er wußte nicht nur alles, sondern er warnte auch jeden vor jedem. Das alles muß man in Rechnung stellen, wenn man von seinen Verdächtigungen gegen Valentine erzählt. In diesem besonderen Fall aber scheint doch etwas an den Gerüchten dran zu sein. Floyd sagte, Valentines Name sei nicht wirklich Valentine gewesen. Er behauptete, ihn früher an einem anderen Ort schon unter dem Namen De Villon gekannt zu haben. Und er versicherte auch, dadurch würde das Testament ungültig werden; denn natürlich war er auch hier wieder freundlich genug, dem Rechtsanwalt die genaue Rechtslage in dieser Sache zu erläutern. Sie hatten sich beide ganz schön in den Haaren.«

Pater Brown lachte. »Die Leute haben sich oft in den Haaren, wenn sie ein Testament als Zeugen unterschreiben sollen«, sagte: er. »Das heißt ja zum Beispiel, daß sie selber nicht als Erben in ihm erwähnt werden. Was sagte aber nun Dr. Valentine genau? Ohne Zweifel weiß zwar dieser universale Sekretär auch über den Namen des Doktors mehr als der Doktor selber. Aber vielleicht könnte ja der Doktor auch die eine oder andere Information über seinen eigenen Namen beisteuern.«

Fiennes hielt einen Augenblick inne, ehe er fortfuhr.

»Dr. Valentine nahm den Vorfall auf sehr sonderbare Weise auf. Dr. Valentine ist überhaupt ein sehr sonderbarer Mann. Schon seine Erscheinung ist ziemlich auffallend und sehr ausländisch. Er ist jung und trägt einen richtig geschnittenen Bart. Sein Gesicht ist sehr bleich, erschreckend bleich und erschreckend ernst. In seinen Augen ist eine Art angestrengter Schmerz, so als ob er gewohnt wäre, eine Brille zu tragen, oder als ob er sich durch unausgesetztes Denken schwere Kopfschmerzen zugezogen hätte. Im übrigen aber sieht er sehr gut aus und ist immer korrekt gekleidet, mit Zylinder und dunklem Rock, in dem eine kleine rote Rose steckt. Sein Auftreten ist eher kühl und hochmütig, und seine Art, einen anzustarren, ist für das Gegenüber sehr irritierend. Als man ihm den Namenstausch so brüsk vorhielt, stand er nur da und sah starr vor sich hin wie eine Sphinx, dann sagte er mit einem leichten Lachen, er nehme an, die Amerikaner hätten keine Namen zum Wechseln. An diesem Punkt schien auch der Colonel in Wut zu geraten, jedenfalls sagte er dem Doktor alle möglichen Grobheiten. Er war um so ärgerlicher, da er des Doktors Absichten auf einen zukünftigen Platz in der eigenen Familie ja kannte. Ich hätte nicht weiter über die Sache nachgedacht, hätte ich nicht zufällig früh am Nachmittag der Tragödie ein paar Worte aufgeschnappt. Auch aus ihnen will ich keine große Affäre machen, zumal es nicht ein Gespräch war, bei dem man unter gewöhnlichen Umständen gerne den ungebetenen Zuhörer macht.

Ich war gerade mit meinen beiden Begleitern und dem Hund durch den Haupteingang gegangen, da hörte ich Stimmen. Ich konnte daraus entnehmen, daß Dr. Valentine und Miss Druce sich einen Augenblick in den Schatten des Hauses zurückgezogen hatten, in einen Winkel hinter einer Reihe blühender Pflanzen, und daß sie dort in leidenschaftlichem Flüstern miteinander sprachen — manchmal klang es fast wie ein wütendes Zischen. Es muß eine Mischung aus Liebeszank und Stelldichein gewesen sein. Niemand wird da das Gespräch in allen Einzelheiten wiederholen, bei einem so unglücklichen Vorfall wie diesem fühle ich mich aber doch verpflichtet zu sagen, daß mehr als einmal davon die Rede war, daß jemand getötet werden sollte. Soweit ich es verstanden habe, bat ihn das Mädchen, jemanden nicht zu toten, oder sie sagte, daß keine noch so schwere Herausforderung es rechtfertigen könne, jemanden zu töten. Jedenfalls ein ungewöhnliches Gespräch mit einem Herrn, der gesellig zum Tee hereingeschaut hat.«

»Erinnern Sie sich«, fragte der Priester, »ob Dr. Valentine nach dem Auftritt mit dem Sekretär und dem Colonel besonders erregt und wütend schien — ich meine darüber, daß er als Zeuge das Testament unterschreiben sollte?«

»Allem Anschein nach«, erwiderte der andere, »war er nicht halb so wütend wie der Sekretär. Es war ja auch der Sekretär, der nach der Unterschrift unter dem Testament in offener Wut davonlief.«

»Und jetzt«, sagte Pater Brown, »erzählen Sie mir, was es mit dem Testament selbst auf sich hat.«

»Der Oberst war sehr reich und sein Testament war wichtig. Damals wollte Traill uns noch nichts Genaueres über die Änderung sagen, aber ich habe seither erfahren — erst heute früh nämlich —, daß der Hauptteil des Vermögens dem Sohne entzogen und der Tochter vermacht wurde. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Druce auf seinen Sohn wütend war, weil er ein so flottes Leben führte.«

»Die Frage nach dem Warum ist bis jetzt durch die Frage nach dem Wie in den Hintergrund gedrängt worden«, bemerkte Pater Brown nachdenklich.

»In diesem Augenblick hat Miss Druce, wie es scheint, durch den Tod unmittelbar gewonnen.«

»Um Himmelswillen! Sind Sie aber ein Gemütsmensch«, rief Fiennes aus und starrte ihn an. »Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß sie —«

»Wird sie den Doktor Valentine heiraten?« fragte der andere. »Was ist das für ein Mensch?«

»Valentine? Er trägt einen Bart — sehr blaß, sehr schön — sieht wie ein Ausländer aus. Auch der Name klingt nicht gerade englisch. Aber im Ort hat man ihn gern und hält viel von ihm; er ist ein geschickter und gewissenhafter Chrirurg.«

»Ein so gewissenhafter Chirurg«, sagte Pater Brown, »daß er sein Besteck mit hatte, als er die junge Dame zur Vesperzeit besuchte. Er muß doch eine Lanzette oder etwas ähnliches benutzt haben — und er war in der Zwischenzeit nicht zu Hause.«

Fiennes sprang auf und sah ihn hitzig vor Neugierde an. »Meinen Sie, daß er dieselbe Lanzette benutzt hat —«

Pater Brown schüttelte den Kopf. »Alle diese Einfälle sind vorläufig noch ganz phantastisch«, sagte er. »Die Frage lautet nicht, wer es getan hat und womit, sondern wie es getan wurde. Wir könnten viele Männer finden und viele Werkzeuge — Nadeln und Scheren und Lanzetten. Aber wie konnte ein Mensch in das Zimmer gelangen — oder auch nur eine Nadel?«

Während er sprach, blickte er nachdenklich auf die Decke — aber bei den letzten Worten wurde sein Auge plötzlich munter, als hätte er da oben eine merkwürdige Fliege erblickt.

»Nun, wie würden Sie jetzt vorgehen?« fragte der Jüngere. »Sie haben soviel Erfahrung — wozu würden Sie mir raten?«

»Ich fürchte, daß ich nicht viel tun kann«, sagte der Priester mit einem Seufzer. »Ich kann wenig sagen, da ich den Ort und die Leute so gar nicht kenne. Für den Augenblick können Sie nur die lokalen Nachforschungen fortsetzen. Ich habe Sie doch richtig verstanden, daß Ihr Freund, der indische Polizeibeamte, mehr oder weniger die Untersuchung leitet. Ich würde an Ihrer Stelle hinfahren und sehen, was er macht. Was bei seiner dilettantischen Detektivarbeit herausgekommen ist. Vielleicht gibt es schon etwras Neues.«

Während seine Gäste — der Zweifüßler und der Vierfüßler — sich entfernten, griff Pater Brown zur Feder und widmete sich wieder seiner unterbrochenen Arbeit; er war dabei, eine Vortragsreihe über die Enzyklika Rerum Novarum zu entwerfen. Das Thema war umfassend, daher war er nach zwei Tagen ähnlich beschäftigt, als der große schwarze Hund wieder ins Zimmer gesprungen kam und sich voll Begeisterung und Aufregung über ihn warf. Der Herr, der nach dem Hund eintrat, teilte die Aufregung, wenn auch nicht die Begeisterung. Er war in weniger angenehmer Weise aufgeregt worden — die blauen Augen traten aus den Höhlen und das ausdrucksvolle Gesicht war ein wenig bleich.

»Sie haben mir gesagt«, fing er unvermittelt und ohne Einleitung an, »ich sollte nachsehen, was Harry Druce macht. Wissen Sie, was er gemacht hat?«

Der Priester antwortete nicht und der junge Mann stieß heraus: »Ich will’s Ihnen sagen. Er hat sich umgebracht.«

Die Lippen des Paters bewegten sich ganz leise; was er sagte, hat mit dieser Geschichte — und dieser Welt — nichts zu schaffen.

»Manchmal graut mir vor Ihnen«, sagte Fiennes. »Haben Sie — haben Sie das erwartet?«

»Ich hielt es für möglich«, sagte Pater Brown, »deshalb riet ich Ihnen, hinzufahren und sich nach ihm umzusehen. Ich hoffte, es würde nicht zu spät sein.«

»Ich war derjenige, der ihn fand«, sagte Fiennes mit belegter Stimme. »Es ist die häßlichste und unheimlichste Erfahrung meines Lebens. Ich ging wieder durch den alten Garten und merkte, daß etwas außer dem Mord darin neu und ungewöhnlich war. Die Blumen drängten sich noch immer in blauer Fülle um den dunklen Eingang in die alte graue Laube — aber sie sahen aus wie blaue Dämonen, die in der Unterwelt vor einer dunklen Höhle tanzen. Ich blickte mich um — alles schien an seinem gewohnten Ort. Aber mir drängte sich das sonderbare Gefühl auf, daß selbst der Himmel nicht so aussah wie sonst. Und dann verstand ich — sonst erhob sich der Schicksalsfelsen im Hintergrund jenseits der Hecke und vor dem Meer. Und der Schicksalsfelsen war verschwunden.«

Pater Brown hatte den Kopf gehoben und hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Es traf mich so, als hätte sich ein Berg aus der Landschaft fortbewegt oder als sei der Mond vom Himmel gefallen; obwohl ich ja natürlich wußte, daß das Ding jederzeit bei einer bloßen Berührung umkippen konnte. Wie besessen stürzte ich in Windeseile den Gartenweg hinunter und drang durch die Hecke, als wäre es ein Spinngewebe. Es war auch nur eine dünne Hecke, obwohl sie, unberührt und gutgestutzt, denselben Zweck erfüllt hatte wie eine Mauer. Am Strande sah ich, daß der Felsen von seinem Untersatz gefallen war; der arme Harry Druce lag zerschmettert darunter. Einen Arm hatte er um den Stein geschlungen, als hätte er ihn auf sich heruntergezogen; die andere Hand krampfte sich um einen Zettel, auf den er die Worte geschmiert hatte: ›Der Schicksalsfelsen begräbt den Narren.‹«

»Daran war das Testament des Obersten schuld«, bemerkte Brown. »Der junge Mensch hatte alles auf eine Karte gesetzt; er wollte dadurch profitieren, daß Donald in Ungnade gefallen war, besonders als der Onkel ihn am selben Tage kommen ließ wie den Anwalt und ihn mit solcher Wärme empfing. Andernfalls war er erledigt; seine Anstellung bei der Polizei hatte er verloren; in Monte Carlo war er zum Bettler geworden. Und er nahm sich das Leben, sobald er erfuhr, daß er seinen Verwandten zwecklos getötet hatte.«

»Halt, warten Sie einen Augenblick!« rief Fiennes mit aufgerissenen Augen. »Sie sind mir einfach zu schnell.«

»Da wir übrigens schon beim Testament sind«, fuhr Pater Brown ruhig fort, »sollte ich sagen, ehe ich es vergesse oder wir zu wichtigeren Dingen kommen, daß es nach meiner Auffassung eine ganz einfache Erklärung für alle die Mißverständnisse um den Namen des Doktors gibt. Ich bin ziemlich sicher, daß ich beide Namen schon früher gehört habe. Tatsächlich ist der Doktor ein französischer Adliger, der den Titel eines Marquis de Villon trägt. Auf der anderen Seite ist er ein glühender Republikaner und hat deshalb seinen Titel abgelegt und den lange vergessenen Familien-Nachnamen wieder ausgegraben. ›Mit Eurem Bürger Riquetti habt Ihr zehn Tage lang ganz Europa verwirrt.‹«

»Was heißt das?« fragte der junge Mann verwirrt.

»Lassen wir das«, sagte der Priester. »In neun von zehn Fällen liegt einem Namenswechsel eine Lumperei zugrunde, dieses Mal aber war ein Namenswechsel ein Zeugnis für eine sympathische Grundüberzeugung. Darin liegt auch der Witz einer sarkastischen Bemerkung über die Amerikaner, die keinen Namen, das heißt keinen Titel haben. In England nämlich wird der Marquis of Hartington niemals Mr. Hartington genannt, in Frankreich dagegen heißt der Marquis de Villon immer M. de Villon. So konnte das Ganze aussehen wie ein willentlicher Namenstausch. Was das Gerede über Mord und Totschlag betrifft, so betraf auch dies, glaube ich wenigstens, einen Ehrenpunkt der französischen Etikette. Der Doktor sprach davon, daß er Floyd zu einem Duell herausfordern wolle, und das Mädchen versuchte ihn von seinem Vorhaben abzubringen.« — »Oh, ich verstehe«, meinte Fiennes langsam. »Jetzt verstehe ich auch, was sie gemeint hat.«

»Und worum ging es?« fragte ihn sein Begleiter lächelnd.

»Nun«, sagte der junge Mann, »mir war da etwas zugestoßen, kurz ehe ich den Leichnam des armen Teufels fand. Nur die Katastrophe hat mir die ganze Geschichte aus dem Gedächtnis verdrängt. Ich vermute, es ist immer schwierig, sich an ein kleines romantisches Idyll zu erinnern, wenn man gerade auf dem Höhepunkt einer Tragödie angelangt ist. Aber jetzt erinnere ich mich: Als ich den Weg hinunterging, der zum alten Lieblingsplatz des Colonels führte, traf ich dort seine Tochter beim Spaziergang mit Dr. Valentine. Sie war natürlich in Trauer, und er trug ja immer Schwarz, so als ob er zu einem Begräbnis ginge. Ihre Gesichter aber — ich kann nicht sagen, daß ihre Gesichter gerade leichenbitterhaft aussahen. Nie habe ich zwei Menschen gesehen, die auf ihre anständige Weise glücklicher und strahlender ausgesehen hätten. Sie blieben stehen und grüßten mich, und dann erzählte sie mir, daß sie jetzt verheiratet seien und in einem kleinen Haus in den Außenbezirken der Stadt lebten, wo der Doktor seine Praxis weiterführte. Das verwunderte mich ziemlich, da ich ja wußte, daß ihres Vaters Testament ihr sein ganzes Vermögen hinterlassen hatte. Ich spielte vorsichtig darauf an und sagte, ich sei unterwegs nach dem alten Domizil ihres Vaters und daß ich halb und halb erwartet hatte, sie dort zu treffen. Sie lachte mich aber nur freundlich an und sagte: ›Oh, das haben wir alles aufgegeben. Mein Mann mag keine Erbinnen.‹ Und da entdeckte ich zu meiner nicht geringen Verwunderung, daß beide darauf bestanden hatten, das ganze Vermögen dem armen Donald zurückzugeben. Ich hoffe darum auch, daß ihm das Ganze eine heilsame Lehre war und daß er das Vermögen jetzt mit Verstand behandeln wird. So schlimm war es um ihn ja wirklich nie bestellt; er war eben noch sehr jung, und sein Vater behandelte ihn nicht eben sehr klug. Aber es war in Verbindung mit dem Verzicht, daß sie etwas sagte, was ich zu dieser Zeit überhaupt nicht verstehen konnte, was mich aber jetzt auf die Idee bringt, daß alles sich genauso verhält, wie Sie sagen. Sie sagte nämlich in einer Aufwallung großmütiger Arroganz, die ganz altruistisch gemeint war:

›Ich hoffe, daß wir den rothaarigen Narren davon abbringen,noch weiter hinter dem Testament herzuschnüffeln. Glaubt er denn, daß mein Mann, der seinen Prinzipien Wappen und Krone, so alt wie die Kreuzzüge, geopfert hat, einen wehrlosen alten Mann in einer Laube umbringen würde, um sich ein Vermächtnis wie dieses anzueignen?‹

Dann lachte sie noch einmal und sagte: ›Mein Mann bringt außer in seinem Beruf niemanden um. Hat er denn nicht sogar darauf verzichtet, seine Freunde zu dem Sekretär zu schicken?‹ Jetzt verstehe ich natürlich, was sie mit dem allen gemeint hat.«

»Einen Teil davon verstehe ich natürlich auch«, sagte Pater Brown. »Was aber meint sie genau mit der Bemerkung von dem Sekretär, der hinter dem Testament herschnüffelte?«

Fiennes lächelte bei seiner Antwort: »Sie sollten den Sekretär kennen, Pater Brown, Sie würden mit Vergnügen beobachten, wie er alle Dinge surren läßt, wie er das nennt. Er sorgte dafür, daß das ganze Trauerhaus surrte. Das Begräbnis umgab er mit allem Durcheinander einer sportlichen Großveranstaltung. Wenn wirklich irgend etwas passiert war, dann war bei ihm kein Halten. Ich habe Ihnen ja erzählt, wie er mit dem Garten auch den Gärtner überwachte, und wie er den Rechtsanwalt in Rechtsfragen unterrichtete. Es versteht sich, daß er auch den Arzt ausführlich über sein Metier belehrte; da nun aber der Arzt Dr. Valentine war, können Sie sich vorstellen, daß es damit endete, daß er Dr. Valentine schlimmerer Dinge als nur ärztlichem Unvermögen bezichtigte. Der Sekretär hatte es sich in seinen roten Kopf gesetzt, daß niemand anderer als der Doktor das Verbrechen begangen haben könne, und nach dem Eintreffen der Polizei war er gar vollends in erhabenes Geheimnis gehüllt. Muß ich noch nachtragen, daß er selbstverständlich auf der Stelle der größte aller lebenden Amateurdetektive wurde? Niemals hat Sherlock Holmes mit gleich titanischer Geistesüberlegenheit und Verachtung auf Scotland Yard herabgesehen wie jetzt Colonel Druces Privatsekretär auf die Polizei, die Colonel Druces Tod untersuchte. Ich sage Ihnen, es war das reine Vergnügen, ihn zu sehen. Er stiefelte umher mit abwesendem Gesichtsausdruck, strich sich hin und wieder eine rote Locke aus dem Gesicht und gab kurze ungeduldige Antworten. Und gerade dieses Auftreten den ganzen Tag über war es, was Druces Tochter so gegen ihn aufbrachte. Natürlich hatte er auch eine Theorie. Und es ist genau die Art Theorie, wie man sie in einem Buch entwickeln würde, und Floyd ist gerade die Art von einem Menschen, die auch in ein Buch hineingehört. Er wäre viel komischer und er würde einen viel weniger aufregen, wenn er in einem Buch stände.«

»Was war das für eine Theorie?« fragte der andere.

»Oh, die war schon ziemlich ausgefallen«, erwiderte Fiennes düster. »Sie hätte Furore gemacht, wenn die Fakten nur für zehn Minuten länger zusammengehalten hätten. Er behauptete nämlich, der Colonel sei zu dem Zeitpunkt, da sie ihn in der Laube gefunden hätten, noch am Leben gewesen, und der Doktor habe ihn mit Hilfe seines Chirurgenbestecks ermordet unter dem Vorwand, seine Kleider aufzuschneiden.« — »Ich verstehe«, sagte der Geistliche. »Er hatte sich wohl flach auf sein Gesicht und auf den Fußboden hingelegt zu einer Art von Siesta.«

»Wunderbar, wie weit man es mit bloßer Betriebsamkeit bringen kann«, fuhr sein Informant fort. »Ich bin sicher, Floyd hätte seine meisterhafte Theorie auf jeden Fall in die Zeitungen gebracht, und wahrscheinlich hätte der Doktor sie auch noch bezeugt, wäre die ganze Geschichte nicht himmelweit aufgeflogen wie durch eine Ladung Dynamit, als man seine Leiche unter dem Schicksalsfelsen gefunden hatte. Damit wären wir wieder am Anfang angelangt. Ich halte diesen Selbstmord für ein gültiges Geständnis. Aber die ganze Geschichte wird wohl nie jemand erfahren.«

Einen Augenblick schwiegen beide, dann sagte der Geistliche ganz bescheiden: »Ich denke doch, daß ich jetzt die ganze Geschichte kenne.«

Fiennes sah ihn verblüfft an: »Ja, hören Sie mal«, rief er aus, »woher wollen Sie denn die Geschichte wissen? Und woher wollen Sie wissen, daß sie auch stimmt? Sie sind die ganze Zeit hundert Meilen vom Tatort entfernt gewesen und haben an einer Predigt geschrieben — wollen Sie wirklich behaupten, daß Sie schon wissen, was passiert ist? Wenn Sie das Ende schon kennen — wo in aller Welt haben Sie angefangen? Wo haben Sie den ersten Anhaltspunkt hergenommen?«

Pater Brown sprang in ungewohnter Aufregung vom Sitze. Sein erster Ausruf klang wie eine Explosion.

»Und der Hund?« rief er, »der Hund? Sie hatten die Erklärung zu der ganzen Sache in Händen — das Benehmen des Hundes am Strande nämlich —, Sie hätten nur richtig auf den Hund aufpassen müssen.«

Fiennes Erstaunen wuchs. »Aber Sie haben mir doch gesagt, daß meine Meinung über den Hund heller Blödsinn ist, und daß er nichts mit der Sache zu tun hat.«

»Der Hund hatte sehr viel damit zu tun«, erwiderte Pater Brown, »und das hätten Sie auch bald herausgehabt, wenn Sie ihn nur wie einen Hund behandelt hätten und nicht wie Gott, der über die Seelen der Menschen zu Gericht sitzt.«

Er schwieg einen Augenblick verlegen und sagte dann in rührend entschuldigendem Ton: »Ich habe nämlich, aufrichtig gesagt, Hunde furchtbar gern. Und ich hatte den Eindruck, daß bei der ganzen geisterhaften Gloriole, mit der man abergläubischerweise die Hunde umgibt, kein Mensch wirklich an den armen Hund dachte. Um mit einer Kleinigkeit anzufangen: er bellte den Anwalt an und knurrte, wenn er den Sekretär sah. Sie fragen, wieso ich auf hundert Meilen Entfernung alles erraten konnte; ehrlich gesprochen, ist dies Ihr Verdienst, denn Sie haben die Leute so meisterhaft beschrieben, daß ich die Typen sofort erkannte. Ein Mensch wie Traill, der gewöhnlich die Stirn runzelt und plötzlich lächelt, ein Mensch, der viel und gern mit Gegenständen spielt und sich immer an seinem Hals zu schaffen macht, ist ein nervöser Mensch, der leicht in Verlegenheit kommt. Wahrscheinlich ist Floyd, der tüchtige Sekretär, auch nervös und schreckhaft; gerade die übereifrigen Amerikaner sind es oft. Sonst hätte er sich nicht mit der Schere in die Finger geschnitten und sie fallen lassen, als er Janet Druce schreien hörte.

Hunde können aber nervöse und ängstliche Leute gar nicht leiden. Vielleicht, weil solche Leute den Hund auch nervös machen; oder weil er doch grausam ist — schließlich ist es bloß ein Tier —, oder weil er in seiner hündischen Eitelkeit — die ungeheuer ist — sich einfach beleidigt fühlt, daß man ihn nicht gern hat. Wenn jedenfalls der arme Nox gegen beide heftig protestierte, so steckte da nichts weiter dahinter, als daß er sie nicht mochte, weil beide sich vor ihm fürchteten. Nun weiß ich zwar, daß Sie sehr klug sind und kein Einsichtiger wird sich über Klugheit mokieren. Aber manchmal habe ich doch den Eindruck, daß Sie zum Beispiel zu klug sind, um Tiere zu verstehen. Manchmal sind Sie sicher auch zu klug, um Menschen zu verstehen, besonders dann, wenn diese genauso einfach handeln wie Tiere. Tiere nehmen alles sehr wörtlich, sie leben in einer Welt vorgegebener Wahrheiten. Nehmen wir diesen Fall: Ein Hund bellt einen Mann an und daraufhin läuft der Mann vor dem Hund davon. Sie scheinen mir nun nicht einfach genug angelegt zu sein, um das Faktum genau zu sehen, daß nämlich der Hund bellte, weil er den Mann nicht leiden konnte, und daß der Mann davonlief, weil er vor dem Hund Angst hatte. Beide hatten keine anderen Motive, brauchten auch keine; Sie aber müssen psychologische Geheimnisse hineinlesen und annehmen, der Hund habe eine übernatürliche Vision gehabt. Er sei so etwas wie das geheimnisvolle Sprachrohr des Schicksals geworden. Sie müssen bei Ihrer Vermutung bleiben, daß der Mann nicht vor dem Hund davonlief, sondern vor dem Henker. Und doch, wenn Sie einmal genau darüber nachdenken, erweisen sich diese tieferen psychologischen Schlüsse als außerordentlich unwahrscheinlich. Wenn der Hund wirklich in der Lage wäre, bewußt und genau den Mörder seines Herrn auszumachen, dann würde er nicht stehenbleiben und ihn anbellen wie einen Pfarrer bei einer Teeparty; er würde doch viel wahrscheinlicher dem Mörder an die Kehle springen. Und glauben Sie denn andererseits wirklich, daß ein Mann, der sein Herz so verhärtet hat, daß er einen alten Freund umbringt, und dann herumgeht, als sei nichts geschehen, und die Familie seines Freundes anlächelt, unter den Augen der Tochter und des Doktors, der den Freund obduziert hat; ja, glauben Sie denn wirklich, daß ein solcher Mann aus lauter Gewissensbissen die Nerven verliert, nur weil ihn ein Hund angebellt hat? Er könnte durchaus die tragische Ironie empfinden. Der Vorfall könnte ihn im Innersten erschüttern wie jede tragisch wirkende Lappalie. Aber niemals würde er wie ein Verrückter an das Ende des Gartens laufen, um vor dem einzigen Zeugen zu fliehen, von dem er wußte, daß er nicht reden konnte. In eine solche Panik geraten Leute nur, wenn sie nicht vor tragischen Ironien, sondern vor den Zähnen des Hundes Angst haben. Die ganze Geschichte ist einfacher, als Sie sie sich vorstellen.

Nun kommen wir aber zu den Vorgängen am Strande und da fängt die Sache erst an, richtig interessant zu werden. In Ihrer Darstellung klang alles viel rätselhafter. Ich konnte nicht begreifen, weshalb der Hund zuerst ins Wasser ging und dann wieder herauskam; so was sieht einem Hund nicht ein bißchen ähnlich. Wenn Nox sich über etwas anderes sehr aufgeregt hätte, wäre er vielleicht gar nicht dazu zu bringen gewesen, den Stock zu apportieren. Vermutlich hätte er dann dort herumgeschnüffelt, wo er Unheil witterte. Aber wenn ein Hund einmal wirklich hinter einer Sache her ist — ob’s nun ein Stock oder ein Stein oder ein Hase ist, wird er meiner Erfahrung nach nicht davon ablassen, wenn es ihm nicht aufs entschiedenste befohlen wird — und auch dann nicht immer. Daß er aus einer Laune heraus umkehrt, scheint mir undenkbar.«

»Er ist aber doch umgekehrt«, beharrte Fiennes, »und ohne den Stock wiedergekommen.«

»Ohne den Stock wiedergekommen ist er aus dem stichhaltigsten Grund von der Welt«, erwiderte der Priester. »Er ist wiedergekommen, weil er ihn nicht finden konnte. Er hat geheult, weil er ihn nicht finden konnte. Über so etwas heult ein Hund nämlich wirklich. Ein Hund hält sich streng an die Regel. Er legt ebensoviel Gewicht auf den genauen Verlauf eines Spieles, wie ein Kind auf die genaue Wiederholung eines Märchens. In diesem Falle war etwas an dem Spiel nicht in Ordnung. Er kam wieder, um sich ernstlich über das Benehmen des Stockes zu beschweren. So etwas war noch nie dagewesen — noch nie war ein bedeutender und prominenter Hund so von einem scheußlichen Spazierstock behandelt worden.«

»Ja, Was hatte denn der Spazierstock angestellt?« fragte der junge Mann.

»Er war untergegangen«, sagte Pater Brown.

Fiennes sagte nichts, sondern sah weiter verblüfft den Priester an, der fortfuhr:

»Er war untergegangen, weil es kein wirklicher Stock war, sondern eine Stahlklinge mit äußerst dünnem Bambusüberzug und scharfer Spitze. Mit anderen Worten, ein Stockdegen. Es ist wohl noch niemals ein Mörder auf so sonderbare und doch natürliche Weise eine blutige Waffe losgeworden, wie dieser, der sie einem Schäferhund zum Apportieren ins Wasser warf.«

»Ich fange an, zu verstehen«, gab Fiennes zu, »aber selbst wenn ein Stockdegen benutzt wurde, habe ich doch keine Ahnung, wie.«

»Ich hatte eine Ahnung«, sagte Pater Brown, »gleich anfangs, als Sie von einer Laube sprachen. Und dann wieder, als Sie erwähnten, daß Bruce einen weißen Rock trug. Solange alle auf der Suche nach einem kurzen Dolch waren, fiel es niemand ein — aber sowie wir an eine lange Klinge wie bei einem Fechtdegen denken, ist es nicht mehr so unmöglich.«

Er lehnte sich zurück, richtete den Blick zur Decke und fing an, seine ersten Gedanken und Voraussetzungen zu rekonstruieren.

»Das ganze Gerede über Detektivgeschichten wie das Gelbe Zimmer, wo ein Toter in versiegelten Stuben aufgefunden wird, in die niemand eindringen konnte, läßt sich auf den vorliegenden Fall gar nicht anwenden; denn es handelt sich um eine Laube. Wenn wir von einem Gelben Zimmer, oder irgend einem Zimmer sprechen, setzen wir Wände voraus, die wirklich homogen und undurchdringlich sind. Aber eine Laube sieht gar nicht so aus. Oft, und auch in diesem Falle, besteht sie aus dicht geflochtenen aber doch getrennten Zweigen und Holzstäben, die hie und da Löcher aufweisen. Ein solches Loch befand sich gerade hinter dem Rücken des Obersten, als er in seinem Sessel an der Rückwand der Laube saß. Und wie das Zimmer eine Laube, so war auch der Sessel ein Korbsessel — ein Geflecht mit lauter kleinen Löchern. Und endlich stand die Laube an der Hecke — eben haben Sie mir erzählt, daß es in Wirklichkeit eine dünne Hecke war, Jemand, der draußen stand, konnte durch das Netz von Ästen, Zweigen und Rohr einen weißen Fleck vom Rock des Obersten so deutlich sehen wie eine Schießscheibe.

Ihre geographischen Angaben waren nicht sehr genau, aber ich war doch im Bilde. Wie Sie sagten, war der Schicksalsfelsen nicht sehr hoch; aber Sie sagten auch, daß er den Garten wie ein Berggipfel beherrschte. Mit anderen Worten: er war gar nicht so weit vom Ende des Gartens entfernt, obwohl Ihr Spaziergang Sie auf einem großen Umweg hingeführt hatte. Wahrscheinlich hat auch die junge Dame nicht so gebrüllt, daß man es eine halbe Meile weit hören konnte. Sie hat einen gewöhnlichen, unwillkürlichen Schrei ausgestoßen, und doch haben Sie ihn am Strand gehört. Und was die anderen interessanten Dinge betrifft, die Sie mir erzählten, so darf ich Sie vielleicht an Ihre Bemerkung erinnern, daß Harry Druce zurückgeblieben war, um sich im Schutz der Hecke die Pfeife anzuzünden.«

Fiennes schauderte. »Sie meinen, daß er dort den Degen gezogen und nach dem weißen Fleck durch die Hecke gestochen hat? Aber das war doch sicher eine sonderbare Gelegenheit und ein sehr plötzlicher Entschluß. Außerdem konnte er doch nicht sicher wissen, daß der Alte ihm sein Geld vermacht hatte, und faktisch war es ja auch gar nicht der Fall.«

Pater Browns Gesicht belebte sich.

»Sie verstehen seinen Charakter falsch«, sagte er, ganz als ob er den Menschen sein Lebtag gekannt hätte. »Ein merkwürdiger, aber nicht unbekannter Typ. Wenn er sicher gewußt hätte, daß er das Geld erben würde, hätte er es nicht getan — davon bin ich überzeugt. Es wäre ihm dann als die Schurkerei erschienen, die es ist.«

»Ist das nicht etwas paradox?« fragte der andere.

»Der Mensch war eine Spielernatur«, sagte der Priester, »er war mit Schimpf und Schande davongejagt worden, weil er zuviel gewagt hatte und den Weisungen zuvorgekommen war. Wahrscheinlich handelte es sich um eine recht skrupellose Angelegenheit, denn jede imperialistische Polizei hat mehr Ähnlichkeit mit der russischen Geheimpolizei, als wir gern glauben möchten. Er war aber zu weit gegangen und hatte verspielt. Diese Art Mensch fühlt immer die Versuchung, eine verrückte Handlung zu begehen, weil die Gefahr nachher so großartig aussieht. Er sehnt sich danach, sagen zu können: ›Außer mir hätte kein Mensch die Gelegenheit ergriffen und gewußt: jetzt oder nie. Was war das doch für ein wildes und wunderbares Rätselraten — wie klug habe ich mir auf die verschiedenen Umstände meinen Reim gemacht! Donald in Ungnade — der Alte schickt nach dem Anwalt —, gleichzeitig läßt man mich und Herbert holen. Und dann nichts weiter, als daß mich der Alte anfeixt und mir fest die Hand drückt. Jeder würde sagen, daß ich verrückt war, es zu riskieren — aber so werden Vermögen gewonnen, immer von dem Einen, der verrückt genug ist, ein klein wenig Weitblick zu haben.‹ Kurz und gut: es handelt sich um die Eitelkeit des Rätselraters, um den Größenwahn des Spielers. Je unwahrscheinlicher das Zusammentreffen, je drängender die Entscheidung, desto mehr beeilt er sich, zuzugreifen. Der Zufall, ja die Alltäglichkeit des weißen Flecks und des Lochs in der Hecke berauschten ihn, als hätte man ihm alle Schätze der Welt gezeigt. Wer konnte so klug sein, die Verbindung von Zufällen zu bemerken, und so feige, sie nicht zu nutzen! Auf diese Weise lockt der Teufel den Spieler. Aber der Teufel selbst hätte den Unglücklichen nicht dazu vermocht, nach einer langweiligen Überlegung hinzufahren und einen alten Erbonkel umzubringen. Das wäre ihm zu bürgerlich gewesen.«

Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er mit einer gewissen stillen Emphase fort.

»Versuchen Sie nun, sich die Szene noch einmal zu vergegenwärtigen, wie Sie sie selbst gesehen haben. Während er dastand, innerlich taumelnd über diese teuflische Gelegenheit, blickte er auf und gewahrte die sonderbare Silhouette, die ein Abbild seiner eigenen unausgeglichenen Seele sein konnte: den einen großen Felsen, der da halsbrecherisch auf dem anderen auflag wie eine Pyramide auf ihrer Spitze, und da erinnerte er sich, daß dieses Gebilde der Schicksalsfelsen genannt wurde. Felsen der Fortuna. Können Sie sich vorstellen, wie ein solcher Mann in einem solchen Augenblick ein solches Signal lesen würde? Ich bin sicher, es versetzte ihn sogleich in Bewegung und machte ihn sogar wachsam. Wer ein Turm werden will, darf nicht fürchten, ein wankender Turm zu sein. Wie auch immer, er handelte sofort. Seine nächste Schwierigkeit bestand im Verbergen seiner Spuren. Mit einem Stockdegen angetroffen zu werden, gar noch mit einem blutverschmierten Stockdegen, mußte für ihn bei der mit Sicherheit zu erwartenden Nachforschung fatal werden. Wenn er ihn irgendwo versteckte, mußte man ihn finden und würde ihn vermutlich als sein Eigentum identifizieren. Und selbst wenn er ihn ins Meer warf, konnte irgend jemand die Bewegung sehen und ihr das nötige Gewicht beimessen — es sei denn, ihm fiele eine natürliche Maskierung dieser seiner Bewegung ein. Wie Sie wissen, fiel ihm eine solche Maskierung ein, und eine ziemlich gute überdies. Da er der einzige der Gesellschaft mit einer Uhr war, erzählte er ihnen, es sei noch nicht Zeit, zurückzukehren, entfernte sich ein wenig und begann das Spiel, dem Hund Stöcke hinzuwerfen. Aber wie verzweifelt müssen seine Augen die ganze öde Seeküste entlang gesucht haben, ehe sie zu ihrer Erleichterung den Hund entdeckten!«

Fiennes war in Gedanken verloren. Er schien sich an den weniger handgreiflichen Teil des Falles zu erinnern.

»Es bleibt sonderbar«, sagte er, »daß der Hund nun doch etwas mit der Geschichte zu tun hatte.«

»Der Hund hätte Ihnen beinahe die ganze Geschichte erzählen können, wenn er nur sprechen könnte«, sagte der Priester. »Ich beklage mich nur darüber, daß Sie — weil er nicht sprechen kann — eine Geschichte für ihn erfanden und ihn mit Menschen- und Engelszungen reden ließen. Ich habe das schon oft in unserer Zeit beobachtet. Man findet es in allen möglichen Zeitungsgerüchten und Schlagworten der Unterhaltung — man erkennt es an, weil es Entscheidung ist und nicht Gesetz. Die Leute lassen sich das und jenes vormachen, ohne es zu prüfen. Es schwemmt den alten Rationalismus und Skeptizismus fort, es flutet herein wie die See — und sein Name ist Aberglaube.« Er stand plötzlich auf und runzelte die Stirne; dann fuhr er fort zu sprechen, als wäre er allein. »Als erste Folge davon, daß ihr nicht an Gott glaubt, verliert ihr euren gesunden Menschenverstand und seht die Dinge nicht mehr, wie sie sind. Man mag reden, wovon man will — wenn man nur sagt, daß da sehr viel dahintersteckt, streckt es sich immer weiter, wie eine Fernsicht in einem Fiebertraum. Dann ist der Hund ein Omen und die Katze ein Rätsel und ein Schwein ein Glücksbringer und der Käfer ein Skarabäus, und man ruft die ganze Menagerie des Polytheismus aus Ägypten und dem alten Indien zu Hilfe — Anubis mit dem Hundekopf und Pasht mit den grünen Augen und die heiligen brüllenden Stiere von Bashan, taumelt zu den Tiergöttern der ersten Anfänge und rettet sich zu Elefanten und Schlangen und Krokodilen — und das alles, weil ihr euch vor drei Worten fürchtet: Homo factus est.«

Der junge Mann stand etwas verlegen auf, als hätte er ein Selbstgespräch belauscht. Er rief seinen Hund und verließ das Zimmer mit undeutliehen, aber herzlichen Abschiedsworten. Er mußte jedoch zweimal rufen; denn der Hund stand einen Augenblick unbeweglich da und sah unverwandt zu Pater Brown empor, wie der Wolf zu Sankt Franziskus.

Das Wunder von Moon Crescent

Moon Crescent war seiner Anlage nach ebenso romantisch gedacht wie den Name versprach — und was sich dort ereignete, war auch in seiner Art romantisch genug. Jedenfalls brachte Moon Crescent jenes genuine Element von Sentimentalität zum Ausdruck — historisch und beinahe heroisch —, das es in allen älteren Städten an der amerikanischen Ostküste fertigbringt, sich neben dem rüdesten Kommerzdenken zu behaupten. Ursprünglich eine gerundete Häuserreihe mit klassizistischer Architektur, hielt sie die Atmosphäre des 18. Jahrhunderts wach, jener Zeit, in der Männer wie Washington und Jefferson um so bessere Republikaner schienen, weil sie Aristokraten waren. Reisende, die nach ihrer Meinung von der Stadt gefragt wurden, mußten besonders darauf eingehen, wie ihnen die Mondstraße gefiel. Gerade die Gegensätze, die jene ursprüngliche Harmonie störten, waren schuld daran, daß sich die Straße so lange erhalten hatte. Durch die letzten Fenster an einem Ende oder Horn der Straße sah man auf eine parkähnliche Anlage mit Bäumen und Hecken, steif wie ein Garten aus der Zeitder Queen Anne. Gleich um die Ecke jedoch blickten die Fenster derselben Zimmer oder »Apartments« auf die blinde, abstoßende Feuermauer eines riesigen Lagerhauses, das zu irgendeinem häßlichen Industrieunternehmen gehörte. An diesem Ende waren die Häuser der Mondstraße nach dem eintönigen Muster der amerikanischen Hotels umgebaut werden; obwohl niedriger als das Lagerhaus, hätte man sie in Europa schon als Wolkenkratzer bezeichnet. Aber der Säulengang, der sich vorn an sämtlichen Häusern der Straße entlangzog, trug eine graue und verwitterte Stattlichkeit zur Schau, als gingen die Geister der Väter der Republik noch jetzt darin spazieren. Innen jedoch waren die Räume mit dem modernsten New-Yorker Komfort ausgestattet, besonders in dem letzten Hause, das zwischen der Feuermauer der Fabrik und dem gepflegten Garten lag. Es enthielt eine Reihe abgeschlossener Hotelwohnungen, die aus Wohn- und Schlafzimmer und Baderaurn bestanden und einander so ähnlich waren wie die Zellen eines Bienenstocks.

In einer dieser Wohnungen saß der berühmte Warren Wynd an seinem Schreibtisch und ordnete Briefschaften, wobei er mit erstaunlicher Schnelligkeit und Exaktheit Befehle erteilte. Er war ein sehr kleiner Mann mit schütterem grauem Haar und einem Spitzbart, dem Anschein nach zart, aber feurig und energisch. Seine Augen waren herrlich — strahlender als Sterne und stärker als Magnete —, wer sie je gesehen, konnte sie nicht so leicht vergessen. Und er hatte auch tatsächlich in seinem Beruf als Reformator und Organisator an vielen wohltätigen Anstalten bewiesen, daß er Augen im Kopf hatte. Man erzählte sich alle möglichen Geschichten und Legenden über die wunderbare Schnelligkeit, mit der er sich ein richtiges Urteil bildete, besonders über den Charakter eines Menschen. Wie man behauptete, hatte er sich die Gattin, die ihm so lange Zeit bei seinen Hilfsaktionen beigestanden war, aus einem ganzen Regiment von Frauen in Uniform herausgesucht, das bei einer offiziellen Gelegenheit vorbeidefiliert war — Pfadfinderinnen sagten die einen, weibliche Polizisten die anderen. Und bekannt war auch noch eine andere Geschichte. Eines Tages hatten ihn drei Landstreicher um ein Almosen angesprochen — alle drei gleich zerlumpt, verwahrlost und schmutzig und nicht voneinander zu unterscheiden. Ohne einen Augenblick zu zögern, hatte er den einen einem Krankenhaus zugewiesen, das sich mit der Heilung eines bestimmten nervösen Leidens befaßte, dem zweiten eine Empfehlung für ein Alkoholikerheim mitgegeben und den dritten mit einem schönen Gehalt als seinen Privatsekretär angestellt, welche Stellung er noch viele Jahre ausfüllte. Unvermeidlich waren natürlich die Anekdoten, wie er sich bei der Unterredung mit berühmten Personen wie Henry Ford und Mrs. Asquith benommen hatte, und auch mit anderen Persönlichkeiten, mit denen ein öffentlicher Charakter in Amerika ein historisches Zwiegespräch haben sollte, und sei es nur in den Zeitungen. Eines stand jedenfalls fest: er war nicht der Mann, sich von irgendwelchen Persönlichkeiten einschüchtern zu lassen. Auch jetzt fuhr er ruhig fort, ü seinen Wirbelwind von Papieren Ordnung zu bringen, obwohl er einem Mann von nicht geringer Bedeutung gegenübersaß.

Silas T. Vandam, der Milliardär und Ölmagnat, war ein magerer Mensch mit einem langen gelben Gesicht und blauschwarzem Haar, was beides im Augenblick an ihm weniger auffiel und dafür um so unheimlicher wirkte, weil sein Profil und seine Gestalt sich dunkel von dem Fenster und der weißen Feuermauer draußen abhoben. Er trug einen eleganten Wintermantel mit Pelzverbrämung, der bis oben hinauf zugeknöpft war. Wynds angeregtes Gesicht und seine leuchtenden Augen dagegen wurden von dem zweiten Fenster, das auf den Garten sah, voll beleuchtet — sein Gesicht schien stark, aber nicht ungebührlich beeindruckt durch den Milliardär. Sein Kammerdiener oder Faktotum, ein großer, kräftiger Mann mit schüchtern blondem Haar stand hinter dem Schreibtisch seines Herrn und hielt einen Stoß Briefe, während sein Privatsekretär, ein adretter, rothaariger junger Mann mit schlauem Gesicht, schon die Türklinke in der Hand hatte, als erriete er die Absicht oder gehorchte einem Wink seines Chefs. Das Zimmer war nicht nur ordentlich, sondern kahl, ja fast leer; denn mit seiner bekannten Gründlichkeit hatte Wynd das Apartment darüber ganz gemietet und daraus eine Art Archiv oder Bodenraum gemacht, wo seine sämtlichen Papiere und Besitztümer in Kisten und verschnürten Paketen aufbewahrt wurden.

»Geben Sie das dem Buchhalter, Wilson«, sagte er zu dem Diener, der die Papiere hielt, »und dann bringen Sie mir von oben das Pamphlet gegen die Nachtlokale in Minneapolis; es muß in dem Paket sein, auf dem ›G‹ steht. Ich muß es in einer halben Stunde haben, vorher bitte ich, mich nicht zu stören. Nun, Mr. Vandam, Ihr Vorschlag klingt vielversprechend — aber ich kann mich erst endgültig entscheiden, wenn ich den Bericht gelesen habe. Ich dürfte ihn morgen nachmittag bekommen, dann rufe ich Sie sofort an. Ich bedaure sehr, Ihnen jetzt noch nichts Entscheidendes sagen zu können.«

Vandam schien zu fühlen, daß man ihn auf höfliche Art verabschiede — sein bleiches, düsteres Gesicht zeigte, daß diese Tatsache auf ihn ironisch wirkte.

»Na, dann werde ich wohl gehen müssen«, sagte er.

»Vielen Dank für Ihren Besuch«, erwiderte Wynd höflich. »Sie sind doch nicht böse, wenn ich Sie nicht hinausbegleite? Ich muß hier sofort etwas erledigen: Fenner«, setzte er zum Sekretär gewandt hinzu, »begleiten Sie Mr. Vandam zu seinem Auto und kommen Sie erst nach einer halben Stunde wieder. Ich muß hier allein eine Sache durcharbeiten; nachher brauche ich Sie noch.«

Die drei Männer gingen zusammen in den Korridor hinaus und machten die Tür hinter sich zu. Der großgewachsene Diener Wilson ging zur Treppe, die hinaufführte, und die andern beiden nach der entgegengesetzten Seite, wo der Aufzug sich befand — denn Wynds Wohnung lag im vierzehnten Stockwerk des Hauses. Sie waren noch in nächster Nähe der geschlossenen Türe, als der Korridor von einer imposanten, ja majestätischen Gestalt ausgefüllt wurde, die sich ihnen näherte.

Der Mann war sehr groß und breitschultrig; seine Größe fiel noch mehr dadurch auf, daß er ganz in Weiß war, oder in Hellgrau, das wie Weiß wirkte; dazu trug er einen breiten weißen Panama und einen fast ebenso breiten und ebenso weißen Heiligenschein von weißem Haar. In dieser Aureole wirkte sein Gesicht stark und schön, wie das eines römischen Imperators, bis auf einen knabenhaften, fast kindischen Zug, der sich besonders in den hellen Augen und einem beseligten Lächeln ausdrückte.

»Ist Mr. Warren Wynd zu Hause?« fragte er lebhaft und freundlich.

»Mr. Warren Wynd ist beschäftigt«, sagte Fenner. »Er darf auf keinen Fall gestört werden. Ich bin sein Sekretär und werde gern bestellen, was Sie wünschen.«

»Mr. Warren Wynd ist auch für den Papst und gekrönte Häupter nicht zu sprechen«, sagte der Ölmagnat mit saurem Humor. »Mr. Warren Wynd ist sehr eigen. Ich bin da hineingegangen, um ihm unter gewissen Bedingungen 20.000 Dollar zukommen zu lassen, und er hat mir gesagt, daß ich später wiederkommen soll, wie ein Botenjunge.«

»Ein Junge sein ist etwas sehr Schönes«, sagte der Fremde, »und eine Botschaft bringen noch schöner; und ich habe eine für ihn, die er einfach hören muß. Es ist eine Botschaft aus dem großen, guten Lande im Westen, wo der echte Amerikaner im Werden begriffen ist, während ihr anderen alle schnarcht. Sagen Sie ihm nur, daß Art Alboin aus Oklahoma hergekommen ist, um ihn zu bekehren.«

»Ich sage Ihnen doch, daß er nicht zu sprechen ist«, erwiderte der rothaarige Sekretär mit Schärfe. »Er hat Befehl gegeben, ihn eine halbe Stunde lang nicht zu stören.«

»Ihr Leute hier im Osten laßt euch nicht gerne stören«, sagte der lebhafte Alboin. »Ich sage euch aber, daß im Westen ein starker Sturm braut, der euch doch stören wird. Er rechnet sich aus, wieviel Geld die und wieviel jene alte staubige Religion kriegen soll — aber ich sage euch, jede Verteilung, die die neue Bewegung in Texas und Oklahoma vergißt, vergißt die Religion der Zukunft.«

»Oh, ich bin mit den Religionen der Zukunft fertig«, meinte der Milliardär verächtlich. »Ich bin sie mit dem Staubkamm durchgegangen, und sie sind so räudig wie gelbe Hunde. Da war zum Beispiel diese Frau, Sophia geheißen, die hätte genausogut Sapphira heißen können. Nichts als ein plumper Schwindel. Überall Fäden an Tische und Tamburine gebunden, mit denen sie ihren Zauber vorführte. Dann gab es da die Vereinigung des Unsichtbaren Lebens. Lauter Brüder, die mir einreden wollten, sie könnten sich nach Belieben unsichtbar machen, und das haben sie dann auch bewerkstelligt — mit hunderttausend Dollar aus meiner Tasche in der ihren. Ich kannte einen Jupiter Jesus draußen in Denver. Ich sah ihn Woche für Woche, und am Ende war er nichts als ein ordinärer Schwindler. Aber das gleiche gilt auch für den Propheten aus Patagonien. Sie können jede Wette darauf eingehen, daß er in der Zwischenzeit nach Patagonien geflohen ist. Nein, ich bin fertig mit all dem. Von jetzt an glaube ich nur das, was ich mit eigenen Augen sehe. Wahrscheinlich nennt man das einen Atheisten.«

»Nein, Sie verstehen mich falsch«, sagte der Herr aus Oklahoma beinahe eifrig. »Ich bin sicher ein ebenso großer Atheist wie Sie. In unserer Bewegung gibt es keinen übernatürlichen und abergläubischen Quatsch — nur saubere Wissenschaft. Die einzige richtige Wissenschaft ist die Lehre von der Gesundheit — und die einzige richtige Gesundheit beruht auf dem Atmen. Füllen Sie Ihre Lungen mit der freien Luft der Steppe, und Sie können alle alten Städte hier im Osten ins Meer pusten. Sie können alle großen Männer wegblasen wie Federdaunen. Und das machen wir eben zu Hause: wir atmen. Wir beten nicht — wir atmen.«

»Ja, das nehme ich an«, sagte der Sekretär mit erschöpfter Stimme. Sein aufgewecktes, intelligentes Gesicht konnte kaum seine Müdigkeit verbergen. Er hatte jedoch den beiden Vorträgen mit der bewunderungswürdigen Geduld und Höflichkeit zugehört (so sehr im Gegensatz zu den Legenden über die amerikanische Ungeduld und Gleichgültigkeit), mit der solche Monologe in Amerika hingenommen werden.

»Nichts Übernatürliches«, fuhr Alboin fort, »nur die einzige große natürliche Tatsache, die hinter allem Aberglauben steht. Wozu brauchten die alten Juden einen Gott, als um dem Menschen den Lebensodem einzublasen? Das besorgen wir in Oklahoma selber. Was bedeutet der Ausdruck ›Spiritus‹? Es ist griechisch und heißt Atemübung. Leben, Fortschritt, Prophezeiung, alles beruht auf dem Atmen.«

»Manche könnten das auch bloßen Wind nennen«, sagte Vandam. »Na, ich bin jedenfalls froh, daß Sie mit dem alten Götterglauben aufgeräumt haben.«

Das angespannte Gesicht des Sekretärs, ziemlich bleich gegen sein rotes Haar, zeigte einen Zug, der von einer sonderbaren Verbitterung zu sprechen schien.

»Ich nicht«, sagte er. »Ich weiß bloß, daß es keinen Gott gibt. Wie es scheint, macht Ihnen der Atheismus Spaß — vielleicht glauben Sie also nur, was Sie gern glauben möchten. Ich aber wollte bei Gott, daß es einen Gott gäbe — und es gibt keinen. Mein Pech.«

Unversehens, ohne daß sich ein Geräusch oder eine Bewegung ereignet hätte, wurden sie sich bewußt, daß die Gruppe Menschen, die vor Wynds Türe stand, in aller Stille auf vier Personen angewachsen war. Keiner der so eifrig Disputierenden hätte sagen können, wie lange der Vierte da stand; jedenfalls sah es aus, als warte er voll Respekt, ja Schüchternheit auf die Gelegenheit, etwas Dringendes vorzubringen. Nervös und überreizt wie sie waren, schien es ihnen jedoch, als sei er wie ein Pilz leise und plötzlich aus dem Boden gewachsen. Und so sah er auch aus, wie ein großer schwarzer Pilz, denn er war sehr untersetzt und sein geistlicher schwarzer und breiter Hut beschattete ihn völlig. Vielleicht wäre die Ähnlichkeit noch größer gewesen, hätten die Pilze die Gewohnheit, abgenutzte und unförmige Regenschirme zu tragen.

Der Sekretär Fenner wunderte sich doppelt, einen Geistlichen zu erkennen — aber als der Geistliche unter dem runden Hut ein rundes Gesicht emporhob und nach Mr. Warren Wynd fragte, gab er den gewöhnlichen abschlägigen Bescheid noch kürzer angebunden als zuvor. Der Priester ließ sich jedoch nicht abschrecken.

»Ich möchte Mr. Wynd wirklich gerne sehen«, sagte er. »Es klingt so sonderbar — aber ich möchte ihn nur sehen. Ich möchte ihn gar nicht sprechen. Ich möchte sehen, ob er da ist und ob man ihn noch sehen kann.«

»Ich versichere Ihnen, daß er da, aber nicht zu sehen ist«, erwiderte Fenner gereizt. »Was soll das heißen: Sie wollen sehen, ob man ihn sehen kann? Natürlich ist er da — wir sind erst vor fünf Minuten von ihm fort, und seither sind wir immer vor der Türe gestanden.«

»Nun, ich möchte sehen, ob es ihm gut geht«, sagte der Priester.

»Warum?« fragte der Sekretär erbittert.

»Weil ich ernste, ich möchte sagen, traurige Gründe habe«, erwiderte der Geistliche, »an seinem Wohlergehen zu zweifeln.«

»Allmächtigerl« rief Vandem wütend aus, »schon wieder ein neuer Aberglaube!«

»Ich sehe, daß ich meine Gründe anführen muß«, bemerkte der kleine Geistliche ernst. »Vermutlich werden Sie mich nicht einmal durch einen Türspalt sehen lassen, bevor ich Ihnen die ganze Geschichte erzähle.«

Er schwieg einen Augenblick nachdenklich und fuhr dann fort, ohne die erstaunten Gesichter zu beachten. »Ich ging gerade draußen die Kolonnaden entlang, als ich einen sehr zerlumpten Mann sah, der von der Ecke am äußeren Ende der Straße hergelaufen kam. Er taste mir auf dem Pflaster entgegen und wies mir eine große, derbknochige Gestalt und ein Gesicht, das ich kannte. Es war das Gesicht eines verwilderten Iren, dem ich einmal geholfen habe — den Namen werde ich nicht nennen. Als er mich erblickte, wankte er, rief mich beim Namen und sagte: ›Himmlischer Vater, es ist der Pater Brown — Sie sind der einzige Mensch, dessen Gesicht mich heute erschrecken kann.‹ Ich verstand, was er meinte — er hatte irgend etwas angestellt, und ich glaube, daß ihn mein Gesicht nicht einmal so sehr erschreckt haben kann, denn er erzählte mir bald die ganze Geschichte. Eine höchst sonderbare Geschichte allerdings. Er fragte mich, ob ich Warren Wynd persönlich kenne und ich verneinte es, obgleich ich wußte, daß er hier oben eine Wohnung hat. Er sagte darauf: ›Das ist ein Mensch, der sich für einen Heiligen Gottes hält. Wenn er aber wüßte, was ich über ihn zu sagen habe, würde er sich aufhängen.‹ Und er wiederholte hysterisch ein paarmal den gleichen Satz: ›Ja, aufhängen würde er sich.‹ Ich fragte, ob er Wynd etwas getan habe, und seine Antwort war recht merkwürdig. Er sagte: ›Ich habe einen Revolver genommen und ihn weder mit Schrot noch mit einer Kugel, wohl aber mit einem Fluche geladen.‹ Soweit ich ihn verstand, hatte er nichts weiter getan, als daß er in die kleine Sackgasse zwischen dem Lagerhaus und diesem Gebäude gegangen war, einen nur mit Pulver geladenen Revolver in der Hand, und ihn gegen die Wand abgefeuert hatte, als ob er damit das Haus habe niederschießen wollen. ›Aber während ich das tat‹, sagte er, ›habe ich ihm mit dem schwersten aller Flüche geflucht. Gottes Gerechtigkeit sollte ihn ereilen und ihn am Kopfe, die Rache der Hölle aber an den Füßen fassen, und wie Judas sollte er auseinandergerissen werden, auf daß die Erde ihn nicht mehr kenne.‹ Was ich dem armen Wahnsinnigen noch gesagt habe, gehört nicht hierher — er ging beruhigt fort und ich begab mich an die Rückwand des Gebäudes, um nachzusehen. Und da lag wahrhaftig am Fuße dieser Mauer ein altmodischer, rostiger Revolver; ich verstehe genug von diesen Dingen, um zu wissen, daß er nur mit etwas Pulver geladen worden war; auf der Mauer sah man die schwarzen Pulverspuren und sogar die Stelle, wo der Lauf sich abgedrückt hatte, aber keine noch so kleine Vertiefung durch eine Kugel. Er hat: keine Spuren der Zerstörung hinterlassen, ja überhaupt keine Spuren außer diesen schwarzen Zeichen und den schwarzen Flüchen, die er gegen den Himmel schleuderte. Und deshalb bin ich hierher gekommen, um Warren Wynd zu sehen und mich zu überzeugen, daß es ihm gutgeht.«

Fenner, der Sekretär, lachte. »Da kann ich Sie leicht beruhigen. Ich versichere Sie, daß er durchaus wohl ist; vor ein paar Minuten, als wir ihn verließen, schrieb er an seinem Schreibtisch. Er war allein in der Wohnung; die Entfernung von der Straße beträgt dreißig Meter, und sein Zimmer ist so gelegen, daß ihn kein Schuß erreicht haben würde, selbst angenommen, Ihr Freund hätte nicht nur Pulver verschossen. Außer dieser Türe gibt es keinen Eingang zur Wohnung, und wir stehen die ganze Zeit hier.«

»Trotzdem«, sagte der Priester ernst, »möchte ich gerne einen Blick hineintun.«

»Es geht aber nicht«, gab der andere zurück.

»Sie werden mir doch um Himmels Willen nicht sagen, daß Sie auf den Fluch etwas geben.«

»Sie vergessen«, sagte der Milliardär mit leichtem Hohn, »daß Seine Hochwürden sich nur mit Flüchen und Segen abgeben. Sagen Sie, lieber Herr, wenn er zur Hölle verflucht werden ist, warum segnen Sie ihn nicht, bis er wieder zurückkommt? Was nutzen Ihre Segenssprüche, wenn Sie nicht imstande sind, den Fluch eines Irländers zu entkräften?«

»Ja glaubt denn heute noch irgend jemand an solche Dinge?« protestierte der Mann aus dem Westen.

»Pater Brown glaubt eine ganze Menge solcher Dinge, wenn ich das richtig sehe«, sagte Vandam, dessen Laune zugleich unter dem eben verwundenen Ärger und dem gegenwärtigen Zank litt. »Pater Brown glaubt sicher auch, daß es einem Eremiten gelingen könne, den Fluß auf einem Krokodil zu überqueren, das er aus dem Nichts hervorzaubert und dem er dann wieder zu sterben befiehlt, und das auch noch mit Erfolg. Und Pater Brown glaubt auch, daß der eine oder andere gelebte Heilige bei seinem Sterben seinen eigenen Leichnam in drei Leichname aufspaltet, nur damit drei Pfarreien sich drein teilen und miteinander um die Ehre seiner Geburtsstadt streiten können. Und Pater Brown glaubt an den Heiligen, der seinen Rock an einen Sonnenstrahl hängte, und an den anderen, der den seinen zu einer Fahrt über den Atlantik verwenden konnte. Denn Pater Brown muß ja auch glauben, daß der heilige Esel sechs Beine hat und daß das Haus von Loretto durch die Luft geflogen ist. Er glaubt an Hunderte von steinernen Marienfiguren, die den Gläubigen zunicken und den ganzen Tag weinen. Ihm kann es nichts ausmachen, auch an einen Mann zu glauben, der durch ein Schlüsselloch verschwindet oder in einem verschlossenen Raum unsichtbar wird. Ich bin ziemlich sicher, daß er den Gesetzen der Natur nicht allzuviel Bedeutung beimißt.«

»Wie auch immer, ich meinerseits habe den Gesetzen von Warren Wynd alles Gewicht beizumessen«, sagte der Sekretär müde, »und zu seinen Regeln gehört es, daß man ihn allein läßt, wenn er dies so haben will. Wilson wird Ihnen das bestätigen können«, denn der riesige Diener, der eben nach dem Pamphlet geschickt werden war, kam in diesem Augenblick gelassen den Korridor entlang, das Parnphlet in Händen, ging aber seelenruhig an der Tür vorbei. »Er geht jetzt und setzt sich dort auf die Bank neben den Etagenkellner und dreht Daumen, bis man ihn ruft. Er wird keinen Augenblick früher ins Zimmer gehen, und so werde ich es auch halten. Ich denke, wir wissen beide, auf welcher Seite die Butter auf dem Brot liegt, und Pater Brown wird eine Menge seiner Engel und Heiligen bemühen müssen, um uns das vergessen zu lassen.«

»Was die Heiligen und Engel betrifft —«, fing der Geistliche an.

»Das ist alles Blödsinn«, sagte Fenner. »Ich will nicht beleidigend werden. Der ganze Quatsch paßt vielleicht sehr gut in Klöster und Grabgewölbe und andere mondbeglänzte Baulichkeiten. Aber durch eine geschlossene Tür in einem amerikanischen Hotel kommen keine Gespenster durch.«

»Aber Menschen können diese Tür öffnen«, sagte der Priester geduldig, »sogar in einem amerikanischen Hotel. Und mir scheint es das einfachste, sie zu öffnen.«

»So einfach, daß es mich meine Stelle kosten würde«, antwortete der Sekretär. »Warren Wynd liebt das gar nicht, wenn seine Sekretäre auf jedes Märchen hereinfallen, an das Sie vielleicht glauben.«

»Ich glaube vermutlich an viele Dinge«, erwiderte der Priester ernst, »an die Sie nicht glauben. Aber es würde zu lange dauern, wenn ich das erklären und Ihnen beweisen wollte, warum ich recht habe. Dagegen dauert es nur zwei Sekunden, die Tür zu öffnen und mir zu beweisen, daß ich im Unrecht bin.«

Irgend etwas an diesem Ausdruck schien dem unsteten und ruhelosen Geist des Mannes aus dem Westen zu entsprechen.

»Ich würde Ihnen verteufelt gern beweisen, daß Sie Unrecht haben«, sagte Alboin. »Und ich tue es auch.«

Er ging schnell an ihnen vorbei, öffnete die Türe und blickte hinein.

Auf den ersten Blick sahen sie Wynds leeren Sessel. Ein zweiter Blick zeigte, daß auch das Zimmer leer war. Fenner schien wie elektrisch belebt. Er stürzte an ihnen vorbei ins Zimmer.

»Er ist im Schlafzimmer«, sagte er kurz, »er muß dort sein.«

Während er im Innenraum verschwand, standen die anderen da und starrten das leere Zimmer an. Die strenge Einfachheit der Ausstattung, von der wir bereits gesprochen haben, wirkte auf sie wie eine Herausforderung. In diesem Zimmer konnte man nicht einmal eine Maus verstecken, geschweige denn einen Menschen. Es gab weder Vorhänge noch — was in Amerika selten ist — eingebaute Schränke. Selbst das Pult war nur ein einfacher Tisch mit einer flachen Schublade und aufgeklappter Platte. Die Stühle waren harte und gradlehnige Gerippe. Einen Augenblick später kam der Sekretär wieder durch die andere Tür zum Vorschein. Er hatte die beiden Innenräume durchsucht. In seinen Augen stand eine gespannte Frage zu lesen, und sein Mund schien selbständig zu arbeiten, als er fragte: »Hier ist er wohl nicht herausgekommen?«

Die anderen schienen es nicht einmal nötig zu finden, diese verneinende Frage nochmals zu verneinen. Ihr Verstand befand sich vor einem Hindernis, daß ebenso undurchdringlich war wie die blinde Feuermauer des Lagerhauses, die durch das gegenüberliegende Fenster hereinsah und langsam ihre Farbe von Weiß zu Grau veränderte, während mit dem sinkenden Nachmittag die Dämmerung hereinbrach. Vandam ging an die Fensterbrüstung, über die er sich vor einer halben Stunde gelehnt hatte, und sah durch das offene Fenster hinaus. Es waren weder Röhren noch Feuerleitern vorhanden, kein Gesims und keine Ausbuchtung, nichts, worauf der Fuß sich halten konnte — das Gebäude fiel senkrecht zur Straße hinab, und auch nach oben hin konnte man an der Mauer, die sich noch viele Stockwerke hoch erhob, nicht das Geringste erblicken. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war noch weniger zu sehen — da gab es nichts als die ermüdende Fläche der weißgetünchten Mauer. Er spähte nach unten, als erwarte er, den verschwundenen Philanthropen als Selbstmörderleiche auf dem Pflaster liegen zu sehen. Er sah aber nichts als einen kleinen dunklen Gegenstand, der, obwohl durch die Entfernung winzig verkleinert, sehr wohl der Revolver sein konnte, den der Priester dort gefunden hatte. Inzwischen war Fenner an das andere Fenster getreten, das in einer ebenso glatten und unzugänglichen Wand lag, aber statt auf eine Seitenstraße auf eine kleine Anlage hinuntersah. Eine Gruppe von Bäumen unterbrach zwar hier die Aussicht auf den Erdboden, aber sie reichten an dem riesigen von Menschenhänden erbauten Felsen nur in geringer Höhe hinauf. Beide wandten sich ins Zimmer zurück und sahen sich an. Die Dämmerung wuchs zusehends und der letzte Glimmer des Tageslichts auf den glänzenden Flächen der Tische und Pulte wurde immer grauer. Wie vom Zwielicht gereizt, berührte Fenner den Schalter und die Szene wurde plötzlich von der erschreckenden Deutlichkeit der elektrischen Beleuchtung erhellt.

»Wie Sie eben sagten«, meinte Vandam grimmig, »hätte ihn ein Schuß von da unten nicht erreichen können, selbst wenn der Revolver geladen war. Aber selbst wenn ihn die Kugel erreicht hätte, wäre er doch nicht wie eine Blase geplatzt!«

Der Sekretär, der noch bleicher war als sonst, blickte verärgert auf das krankhaft gelbe Gesicht des Milliardärs.

»Wie kommen Sie auf diese trübsinnigen Gedanken? Weshalb reden Sie von Blasen und Kugeln? Warum soll er denn nicht am Leben sein?«

»Ja gewiß«, erwiderte Vandam fließend. »Wenn Sie mir sagen, wo er ist, werde ich Ihnen auch erzählen, wie er hingekommen sein kann.« Nach einer Pause erwiderte der Sekretär trotzig: »Sie haben vermutlich recht. Wir sind hier gerade in die Sache hineingeraten, von der wir vorhin sprachen. Das wäre doch sonderbar, wenn Sie oder ich zugeben müßten, daß Flüche wirklich etwas zu bedeuten haben. Aber wer hätte Wynd hier oben etwas anhaben können?«

Mr. Alboin aus Oklahoma stand mit gespreizten Beinen mitten im Zimmer. Sein weißer flaumiger Heiligenschein und seine runden Augen strahlten Erstaunen aus. An diesem Punkt des Gesprächesj sagte er unvermittelt, mit der herausplatzenden Frechheit eines enfant terrible:

»Sie konnten ihn wohl nicht recht riechen, wie, Mr. Vandam?« Vandams langes Gesicht schien noch länger und düsterer zu werden, während er mit einem Lächeln ruhig antwortete:

»Da wir von merkwürdigen Zufällen reden, waren Sie es, glaube ich, der vorhin sagte, daß ein Wind vom Westen her unsere großen Männer wegblasen würde wie Federdaunen.«

»Ja, gesagt habe ich es wohl«, sagte der Mann aus dem Westen offenherzig; »aber trotzdem begreife ich nicht, wie zum Teufel es möglich war?«

Das Schweigen wurde durch Fenner gebrochen, der plötzlich, ja fast heftig ausrief: »Über die ganze Sache läßt sich nur eins sagen: sie ist nicht passiert. Sie kann nicht passiert sein.«

»O doch«, bemerkte Pater Brown aus seiner Ecke, »sie ist allerdings passiert.«

Alle fuhren zusammen, denn sie hatten wirklich ganz den unscheinbaren kleinen Priester vergessen, der sie zuerst veranlaßt hatte, die Türe zu öffnen. Zugleich mit der Erinnerung überkam sie ein jäher Stimmungswechsel. Plötzlich fiel es ihnen ein, daß sie ihn als abergläubischen Träumer abgelehnt hatten, weil er auf genau das angespielt hatte, was sie seither mit Augen sehen mußten.

»Donnerwetter nochmal!« rief der impulsive Mann aus dem Westen, als ginge die Zunge mit ihm durch. »Vielleicht ist doch noch was dran.«

»Ich kann nicht leugnen«, sagte Fenner und runzelte die Stirn, »daß die Annahme von Hochwürden scheinbar wohlbegründet war. Ich weiß nicht, ob er uns sonst noch etwas zu sagen hat.«

»Er könnte uns vielleicht sagen«, meinte Vandam ironisch, »was zum Teufel wir jetzt tun sollen?«

Der Priester schien die Verantwortung bescheiden, aber selbstverständlich aufzunehmen.

»Mir fällt auch nichts anderes ein«, bemerkte er, »als daß wir zuerst die Leitung verständigen und dann nachsehen müssen, ob der Mann mit dem Revolver nicht noch andere Spuren hinterlassen hat. Er ist am anderen Ende der Straße verschwunden, bei dem kleinen Garten; dort sind Sitzplätze, wo sich Landstreicher gern aufhalten.«

Eine ziemliche Zeit verstrich mit direkten Besprechungen, die mit der Hotelleitung, und mit indirekten, die mit der Polizei geführt wurden, und so war es fast Nacht, als sie den runden, klassizistischen Bogen der Kolonnade betraten. Der Crescent sah so kahl und hohl aus wie der Mond, nach dem er benannt war, und der Mond selbst stieg leuchtend, aber gespenstisch hinter den schwarzen Baumkronen hervor, als sie an der Anlage um die Ecke bogen. Die Nacht verschleierte manches, was sonst nur städtisch und künstlich aussah, und als sie im Schatten der Bäume untertauchten, hatten sie das sonderbare Gefühl, plötzlich viele hundert Meilen von ihrer Heimat fortgereist zu sein. Sie gingen ein Weilchen schweigend dahin, bis Alboin, der wirklich etwas Elementares an sich hatte, plötzlich ausbrach.

»Ich geb’s auf«, rief er; »ich bin geschlagen. Ich hätte nie geglaubt, daß ich mich mit solchen Dingen befassen müßte — aber was soll man tun, wenn die Dinge sich an einen herandrängeln? Verzeihen Sie, Pater Brown — ich gebe klein bei, was Sie und Ihre Ammenmärchen betrifft. Von jetzt an stehe ich auf seiten der Ammenmärchen. Und Sie, Mr. Vandam, Sie haben selbst gesagt, daß Sie ein Atheist sind und nur glauben, was Sie sehen. Nun, was haben Sie gesehen? Oder vielmehr, was haben Sie nicht gesehen?«

»Ich weiß«, nickte Vandam trübselig.

»Ach, zum Teil ist es nur der Mond und die Bäume, die uns auf die Nerven fallen«, meinte Fenner hartnäckig. »Bäume sehen im Mondlicht immer sonderbar aus, wenn ihre Zweige an ihnen herumkriechen. Da sehen Sie mal —«

»Ja«, sagte Pater Brown. Er war stillgestanden und betrachtete den Mond durch ein Geflecht von Bäumen. »Das da oben ist auch ein sehr sonderbarer Ast.«

Als er wieder sprach, sagte er bloß:

»Ich dachte, es sei ein gebrochener Ast.«

Aber in seiner Stimme klang jetzt ein Zittern mit, das seine Begleiter erschauern machte. Da oben hing wirklich etwas, das wie ein toter Ast aussah, schlaff an dem Baum herab, der sich schwarz vom Mond abhob; aber es war kein toter Ast. Als sie nahe genug herankamen, um es zu erkennen, sprang Fenner mit einem lauten Fluch zur Seite. Dann lief er näher heran und löste einen Strick von dem Hals eines kleinen dunklen Körpers mit hängenden Strähnen von grauem Haar, der vom Ast baumelte. Irgendwie wußte er, daß der Körper ein Leichnam war, noch bevor es ihm gelang, ihn vom Baume abzunehmen. Ein langer Strick war mehrmals um die Zweige gewunden, und nur ein kurzes Stück davon verband die Gabel des Astes mit dem Körper. Ein großer Gartenbottich war einige Meter weit unter den Füßen fortgerollt, wie der Schemel, den Selbstmörder im letzten Augenblick mit den Füßen fortstoßen.

»O Gott«, sagte Alboin, und es klang halb wie ein Gebet und halb wie ein Fluch. »Was war es gleich, was der Mann über ihn gesagt hat? Wenn er es wüßte, würde er sich aufhängen. Nicht wahr, das hat er doch gesagt, Pater Brown?«

»Ja«, sagte der Priester.

»Na«, flüsterte Vandam mit hohler Stimme, »ich hab’s mir nie träumen lassen, daß ich nochmal so etwas denken oder sagen würde. Aber was soll man anderes dazu sagen, als daß der Fluch gewirkt hat?«

Fenner stand da, die Hände vor dem Gesicht, und der Priester legte ihm die Hand auf den Arm und fragte sanft: »Hatten Sie ihn gern?« Der Sekretär ließ die Hände sinken. Sein weißes Gesicht sah unter dem Mond totenbleich aus.

»Ich habe ihn gehaßt wie die Hölle«, sagte er, »und wenn er an einem Fluch gestorben ist, kann es ebensogut meiner sein.«

Die Hand des Priesters drückte seinen Arm stärker, und Pater Brown sagte mit einer Eindringlichkeit, die er bisher nicht gezeigt hatte: »Bitte trösten Sie sich, er ist keineswegs an Ihrem Fluch gestorben.«

Die Distriktspolizei hatte erhebliche Mühe bei ihren Verhandlungen mit den vier Zeugen, die in den Fall verwickelt waren. Alle waren sie angesehene und — nach dem gewohnten Wortverstand — auch verläßliche Leute, und einer von ihnen war darüberhinaus eine Persönlichkeit von beträchtlichem Einfluß und Ansehen: Silas Vandam von der Oil Trust Company. Der erste Polizeioffizier, der es wagte, seiner Geschichte mit Skepsis zu begegnen, schlug sogleich Funken aus dem stählernen Willen des Magnaten.

»Hören Sie auf, mir Vorhaltungen zu machen und mich daran zu erinnern, daß ich mich an die Fakten zu halten habe«, sagte der Millionär mit Strenge. »Ich habe mich an eine Menge Fakten gehalten, lange ehe Sie erst auf der Welt waren, und ein paar von den Fakten haben sich auch an mich gehalten. Ich werde Ihnen die Tatsachen schon genau genug berichten, wofern Sie nur Verstand genug haben, sie richtig mitzuschreiben.«

Der fragliche Polizist war jung und am Anfang der Stufenleiter zu seiner Karriere. Da er eine vage Ahnung hatte, der Milliardär könnte eine zu gewichtige Figur sein, als daß man ihn wie einen gewöhnlichen Bürger behandeln könnte, reichte er ihn und seine Gefährten an seinen etwas standfesteren Vorgesetzten, einen gewissen Inspektor Collins, weiter, ein schon etwas graumelierter Beamter mit einer grimmig behaglichen Redeweise, wie jemand, der entgegenkommend genug ist, aber keinerlei Flausen zulassen würde.

»Nun, nun«, meinte er und sah die drei Figuren vor ihm mit zwinkernden Augen an, »das scheint mir aber eine spaßige Geschichte zu sein.«

Pater Brown war bereits wieder an seine täglichen Geschäfte gegangen, Silas Vandam aber ließ sogar seine gigantischen Geschäfte auf dem Finanzmarkt für eine Stunde und mehr hängen, um von seinem außerordentlichen Erlebnis Zeugnis abzulegen. Fenners Tätigkeit als Sekretär hatte gewissermaßen mit dem Ende seines Arbeitgebers auch ihr eigenes Ende gefunden, und der große Art Alboin, da er weder in New York noch anderswo eine Aufgabe hatte, außer der Verbreitung seiner Religion vom Großen Hauch oder vom Abend des Lebens, hatte erst recht nichts, was ihn im Augenblick von dem vorliegenden Fall ablenken konnte. So standen sie in einer Reihe nebeneinander im Dienstzimmer des Inspektors, fest entschlossen, in ihren Zeugenaussagen einander wechselseitig zu bestätigen.

»Es ist sicher besser, wenn ich damit beginne«, sagte der Inspektor eindringlich, »daß ich niemand rate, mit irgendwelchen Wundergeschichten oder Märchen ausgerechnet zu mir zu kommen. Ich bin ein Mann der Praxis und ein Polizist, und diese Art von Faxen ist allenfalls für Geistliche oder Pfarrer gut. Der Pater in Ihrer Umgebung scheint Sie alle mit irgendwelchen Winken über das Grauen von Tod und Letztem Gericht aus dem Häuschen gebracht zu haben. Ich aber werde ihn und seine Religion ganz aus dem Fall draußen lassen. Wenn Wynd aus diesem Zimmer herausgekommen ist, so hat ihn jemand herausgelassen. Und wenn man Wynd an jenem Baum hängend gefunden hat, so hat ihn jemand dort aufgehängt.«

»Ganz Ihrer Meinung«, sagte Fenner, »da aber aus unserer Aussage unwiderleglich hervorgeht, daß ihn niemand herausgelassen hat, erhebt sich die Frage, wie ihn dann jemand dort aufgehängt haben kann?«

»Na, wie bekommt wohl jemand die Nase in sein Gesicht?« fragte der Inspektor zurück. »Er hatte eine Nase in seinem Gesicht und er hatte einen Strick um den Hals. Das sind Tatsachen, und, wie ich schon sagte, ich bin ein Mann der Praxis und gehe nach den Tatsachen. Es kann nicht durch ein Wunder geschehen sein, sondern es muß jemand dafür verantwortlich sein.«

Alboin hatte sich ziemlich im Hintergrund gehalten, seine breitschultrige Figur eignete sich auch besonders zu einem natürlichen Hintergrund für die schmaleren und lebhafteren Männer, die vor ihm standen. Er hatte seinen weißhaarigen Kopf in einer gewissen Selbstvergessenheit gesenkt. Als jedoch der Inspektor den letzten Satz sprach, hob er seinen Kopf, schüttelte seine Mähne auf Löwenweise und sah verwirrt, aber plötzlich erwacht aus. Er bewegte sich nach vorne, nach der Mitte der Gruppe zu, und alle hatten den unbestimmten Eindruck, als sei er jetzt noch mächtiger als zuvor. Sie waren nur zu rasch bereit gewesen, ihn für einen bloßen Narren oder Aufschneider zu halten. Er war jedoch nicht ganz im Unrecht, wenn er von sich behauptet hatte, daß in ihm eine erstaunliche Tiefe und Kraft seiner Lungen und seines Lebens wirksam war, als wäre der Westwind in seiner mächtigen Struktur eingesperrt, bis er eines Tages alle leichteren Dinge vor sich wegblasen könnte.

»So, Sie sind ein Mann der Praxis, Mr. Collins«, sagte er mit einer Stimme, die zugleich gedämpft und schwer war. »Es ist sicher schon das zweite oder dritte Mal, daß Sie in dieser kleinen Unterhaltung darauf hingewiesen haben, wie sehr Sie ein Mann der Praxis seien, das kann ich nicht mißverstanden haben. Und es ist ein fesselnder Charakterzug für den Mann, der später einmal das Buch über Ihr Leben, Ihre Werke und Ihre Konversation mit berühmten Zeitgenossen verfassen wird, samt Porträt im Alter von fünf Jahren, Photographie Ihrer Großmutter und Ansichten Ihrer alten Geburtsstadt. Auch bin ich sicher, daß Ihr Biograph nicht vergessen wird, diese Tatsache ebenso zu vermerken wie die Tatsache, daß Sie eine Knollennase mit einem Pickel darauf haben und benahe zu fett zum Laufen sind. Und da Sie schon ein Mann der Praxis sind, probieren Sie vielleicht Ihre praktischen Fähigkeiten aus, bis Sie Warren Wynd wieder zum Leben erweckt und genau herausgefunden haben, wie ein Mann der Praxis durch eine Tür aus massiven Bohlen verschwinden kann. Ich glaube jedenfalls, Sie haben die Sache verkehrt angefaßt. Sie sind nicht ein Mann der Praxis. Sie sind ein Witz auf Rädern. Genau das sind Sie. Der allmächtige Gott wollte sich mit uns einen Scherz erlauben, als er sich Sie ausgedacht hat.«

Mit charakteristischem Sinn für den dramatischen Effekt war er zur Tür gesegelt, noch ehe der erstaunte Inspektor eine Antwort finden konnte, und keine spätere Beschuldigung konnte ihm den Triumph ganz rauben.

»Sie haben mir aus der Seele gesprochen«, sagte Fenner. »Wenn so die Männer der Praxis aussehen, dann lebe ich mir die Geistlichen.« Ein neuer Versuch, zu einer offiziellen Version des Falles zu gelangen, wurde unternommen, sobald die Autoritäten sich über die Zeugengeschichte ganz klar geworden waren und die Implikationen des Falles ganz durchdacht hatten. Schon war in der Presse die Geschichte, sensationell aufgemacht und bis zur schamlosen Indiskretion vorgetrieben, groß herausgekommen. Interviews mit Vandam über sein außerordentliches Abenteuer, Leitartikel über Pater Brown und seine mystischen Intuitionen, verstärkten bei allen Einsichtigen, die sich für die Unterrichtung des Publikums verantwortlich fühlten, den Wunsch, das Publikumsinteresse in geordnetere Bahnen zu lenken. So wurden beim nächsten Termin die unbequemen Zeugen weniger direkt und dafür taktvoller befragt, man sagte ihnen ganz en passant, daß Professor Vair sich ganz besonders für solche Erfahrungen mit dem Abnormen interessiere, daß er reges Interesse an ihrem so besonders aufregenden Fall nehme. Professor Vair war ein Psychologe von internationalem Ruhm. Man wußte seit langem, daß er ein nüchternes Interesse an der Kriminologie zeige. Erst geraume Zeit später merkten die Zeugen, daß er überhaupt mit der Polizei in Verbindung stand.

Professor Vair war ein höflicher und vornehmer Herr, distinguiert gekleidet mit hellgrauem Anzug, künstlerisch beschwingter Krawatte und einem sehr schönen, gepflegten Bart. Er sah mehr wie ein Landschaftsmaler aus, zumindest für jemanden, der mit den verschiedenen Spezies der Universitätsdozenten nicht vertraut war. Er verbreitete nicht nur den Eindruck von Höflichkeit, sondern zugleich von Offenheit.

»Ja, ja, ich verstehe«, sagte er lächelnd. »Ich kann mir sehr gut vorstellen, was Sie alles durchgemacht haben. Die Polizei zeigt sich bei Untersuchungen psychischer Phänomene nicht in ihrem besten Licht. Meinen Sie nicht auch? Natürlich sagte der gute alte Collins wieder, daß ihn nur Tatsachen interessieren. Was für ein absurder Fehler! In einem Fall wie diesem ist es besonders wichtig, daß man sich nicht auf die Tatsachen beschränkt. Viel wichtiger ist es, daneben auch alle Eindrücke und Einbildungen zu berücksichtigen.«

»Wollen Sie damit sagen«, fragte Vandam mit drohendem Ernst, »daß alle von uns beschriebenen Tatsachen lediglich Eindrücke und Einbildungen gewesen seien?«

»Keineswegs«, sagte der Professor. »Ich wollte lediglich ausdrücken, für wie töricht ich die Auffassung der Polizei halte, man könne in solchen Dingen das psychologische Element ganz auslassen. Nun, das psychologische Element ist doch im Gegenteil alles in allem, auch wenn wir da noch ganz in den Anfängen stehen. Nehmen wir, um irgendwo anzufangen, das Element, das man für gewöhnlich die Persönlichkeit nennt. Ich habe von diesem Geistlichen, Pater Brown, schon früher gehört. Er ist sicher einer der bemerkenswertesten Männer unserer Zeit. Männer seiner Art tragen gewissermaßen ihre Atmosphäre mit sich, und niemand kann in seiner Gegenwart sagen, ob und inwieweit seine Nerven, ja seine Sinne von dieser Atmosphäre berührt sind. Die Leute sind hypnotisiert — ja, ich wiederhole es, hypnotisiert. Wie alles andere ist ja auch die Hypnose eine Frage des Grades. Sie schleicht sich unmerklich in die alltägliche Konversation ein. Sie wird nicht notwendigerweise von einem Herrn im Abendanzug zelebriert, der auf der Plattform eines öffentlichen Saales steht. Pater Browns Glaubensgemeinschaft hat es immer verstanden, die Psychologie der Atmosphäre auszunutzen. Sie weiß, wie man alle Dinge zugleich anspricht und in Rechnung stellt, sogar, um ein Beispiel zu geben, den Geruchssinn. Sie hat Erfahrung mit den sonderbaren Effekten, die von der Musik auf Tiere und menschliche Wesen ausgeübt werden, sie vermag …«

»Hol’s der Henker!« protestierte Fenner, »Sie wollen doch nicht unterstellen, daß Pater Brown den Korridor mit einer Kirchenorgel unter dem Arm entlanggegangen ist?«

»Er versteht sich besser auf diese Dinge«, sagte Professor Vair lachend. »Er versteht es, die Essenz all dieser spirituellen Laute und Gesichte und sogar Gerüche in ganz wenige zurückgenommene Gesten zu konzentrieren, in eine Kunst oder Schule des Verhaltens. Er würde es fertigbringen, Ihren Sinn und Verstand durch seine bloße Gegenwart so sehr auf das Übernatürliche zu richten, daß die natürlichen Erfahrungen links und rechts unbemerkt Ihrer Aufmerksamkeit und Erinnerung entfallen müssen. Nun wissen Sie selbst«, fuhr er mit einem Rückgriff auf den gesunden Menschenverstand fort, »daß die ganze Frage des Zeugnisses aus Augenschein immer vertrackter wird, je länger wir sie studieren. Kaum ein Mensch unter zwanzig nimmt die Dinge überhaupt wahr, wie sie sind. Nicht einer unter hundert vermag sie mit wirklicher Genauigkeit zu beobachten. Ganz sicher gibt es nicht einen unter den hundert, der erst beobachten, dann erinnern und schließlich beschreiben kann. Wissenschaftliche Experimente sind wieder und wieder gemacht werden, die beweisen, daß Menschen in einer Ausnahmesituation eine Tür für verschlossen hielten, wenn sie offen war, oder für offen, wenn sie verschlossen war. Sie waren sich uneinig über die Anzahl von Türen oder Fenstern in einer Wand, die ihnen genau vor Augen stand. Sie haben im hellen Tageslicht unter optischen Täuschungen gelitten. Alles das haben sie ohne den hypnotischen Effekt einer bedeutenden Persönlichkeit getan; hier aber haben wir eine besonders mächtige und überredungsstarke Persönlichkeit vor uns, die es darauf anlegte, nur ein bestimmtes Bild Ihrem Gedächtnis einzuprägen, das Bild des verwilderten irischen Rebellen, wie er mit seiner Pistole gegen den Himmel fuchtelt und den leeren Schuß abfeuert, dessen Echo in den himmlischen Donner nachtönt.«

»Professor!« rief Fenner, »ich könnte auf meinem Totenbett schwören, daß die Tür nicht geöffnet wurde.«

»Jüngste Experimente«, fuhr der Professor ruhig fort, »lassen den Schluß zu, daß unser Bewußtsein nicht einen Zusammenhang darstellt, sondern eine Abfolge von einander rasch wie im Kino folgenden Eindrücken. Es ist möglich, daß jemand oder etwas sozusagen zwischen den Szenen hinein- oder herausschlüpfen kann. Es agiert gewissermaßen in dem Augenblick, so lange der Vorhang zugezogen ist. Möglicherweise hängt das Gelingen von Zaubertricks und von allen Formen der Taschenspielerei von dem ab, was wir die schwarzen Blitze der Blindheit zwischen den Blitzen der Einsicht nennen können. Nun hat ja dieser Geistliche und dieser Prediger transzendentaler Ideen Sie ganz mit einer transzendentalen Bildwelt erfüllt, mit dem Bild des Kelten nämlich, der wie ein Titan den Turm mit seinem Fluch erschüttert. Vielleicht hat er das Bild mit einer unmerklichen, aber zwingenden Geste begleitet, vielleicht hat er Ihre Augen und Ihre Gedanken in die Richtung des unbekannten Zerstörers auf der Straße gelenkt. Vielleicht ist auch sonst etwas geschehen oder sonst jemand vorbeigegangen.«

»Wilson, der Diener«, brummte Alboin, »ging als einziger den Korridor entlang und setzte sich zum Warten auf die Bank. Ich glaube aber nicht, daß er uns sehr abgelenkt hat.«

»Sie wissen nicht, wie sehr«, erwiderte Vair. »Das hätte es sein können, oder wahrscheinlicher noch ist es, daß Ihre Augen einer Bewegung des Geistlichen nachfolgten, während er seine magische Geschichte erzählte. Es war während eines dieser schwarzen Blitze, daß Mr. Warren Wynd aus seiner Tür schlüpfte und seinem Tod entgegenlief. Das scheint mir die wahrscheinlichste Erklärung. Eine Erklärung, die zugleich Illustration einer neuen Entwicklung ist. Der menschliche Geist ist keine kontinuierliche Linie, eher eine gepunktete Linie.«

»Sehr gepunktet«, sagte Fenner schwach. »Um nicht zu sagen überhaupt keine Linie.«

»Sie werden doch nicht im Ernst glauben«, fragte Fair, »daß Ihr Arbeitgeber in sein Zimmer wie in eine Schachtel eingesperrt war?«

»Immer noch besser, als wenn ich glaubten müßte, daß ich selbst in ein Zimmer wie in eine Gummizelle eingesperrt gehöre«, antwortete Fair. »Das ist der Punkt, an dem ich Ihren Vermutungen nicht folgen kann, Professor. Ich könnte genausogut einem Priester glauben, der seinerseits an ein Wunder glaubt, als einem Mann nicht glauben, daß er irgendein Recht hat, an eine Tatsache zu glauben. Der Geistliche versichert mir, daß der Mensch an einen Gott, über den ich nichts weiß, appellieren kann, damit er ihn nach den Gesetzen einer höheren Gerichtsbarkeit, von der ich wieder nichts weiß, rächen soll. Ich kann dazu nichts sagen außer, daß ich darüber nichts weiß. Sollten aber Gebet und Pistolenschuß des armen Iren in einer höheren Welt gehört werden können, so könnte wenigstens diese höhere Welt auf eine Weise in die unsere eingreifen, die uns sonderbar erscheint. Sie aber verlangen von mir, daß ich den Tatsachen in dieser unserer Welt mißtraue, so wie sie sich unseren fünf Sinnen darstellen. Nach Ihrer Auffassung hätte ja eine ganze Portion von Iren mit Vorderladern in der Hand mitten durchs Zimmer laufen können, während wir uns unterhielten, solange sie nur vorsichtig genug waren, immer auf die blinden Punkte in unserem Verstand zu treten. Wunder nach der alten Mönchsweise wie das Erscheinen eines Krokodils oder der Mantel, den man an einem Sonnenstrahl aufhängt, wirken geradezu vernünftig im Vergleich zu Ihnen.«

»Oh, gut, gut«, sagte Professor Vair kurz angebunden, »wenn Sie denn fest entschlossen, an Ihren Pfaffen und an den wunderwirkenden Iren zu glauben, so kann ich dazu nichts mehr sagen. Ich fürchte, Sie hatten nie Gelegenheit, Psychologie zu studieren.«

»Nein«, sagte Fenner trocken, »aber ich hatte eine gute Gelegenheit, Psychologen zu studieren.«

Und damit, sich höflich verneigend, geleitete er seine Deputation aus dem Zimmer. Er sprach erst unten auf der Straße wieder. Dort erst wandte er sich ihnen zu und redete sie mit einem Zornausbruch an. »Lauter mondsüchtige Narrenl« rief Fenner schäumend. »Was zum Teufel glauben die Herren denn, daß mit der Welt geschehen wird, wenn niemand mehr weiß, ob er etwas gesehen hat oder nicht? Ich wollte, ich hätte ihm seinen Holzkopf mit einer Kugel weggeblasen und hinterher versichert, das sei alles nur auf einen schwarzen Blitz zurückzuführen. Pater Browns Wunder mögen nun wunderbar sein oder nicht. Jedenfalls sagte er, was geschehen würde, und das geschah dann auch. Diese aufgeblasenen Schwindler aber können nichts weiter, als, wenn sie etwas geschehen sehen, im nachhinein behaupten, es sei gar nicht geschehen. Sehen Sie, meiner Meinung nach schulden wir es dem Pater, daß wir seiner Demonstration das Zeugnis nicht verweigern. Wir sind alle gesunde, solide Männer, die nie an etwas geglaubt haben. Wir waren nicht betrunken. Wir waren nicht voreingenommen. Es geschah einfach so, wie er es prophezeit hatte.«

»Ich stimme Ihnen voll zu«, sagte der Milliardär. »Das kann der Anfang von gewaltigen Umwälzungen im Bereich des Übersinnlichen werden. Wie auch immer, Pater Brown, der selbst dem übersinnlichen Bereich zugehört, hat ganz sicher bei dieser Geschichte Pluspunkte gesammelt.«

Wenige Tage späfer erhielt Pater Brown einen sehr höflichen Brief, der »Silas T. Vandam« unterschrieben war und ihn aufforderte, zu einer gegebenen Zeit sich in den Räumen einzufinden, aus denen der Tote verschwunden war, um die nötigen Schritte zur Feststellung dieses wunderbaren Ereignisses vorzunehmen. Das Ereignis selbst war bereits in den Zeitungen aufgetaucht und wurde überall von den feurigen Anhängern des Okkultismus mit Begeisterung aufgegriffen. Pater Brown sah grelle Plakate mit den Worten: »Selbstmord des Mannes, der sich in Luft auflösen konnte!« und »Fremder Fluch mordet bekannten Philanthropisten«, als er Moon Crescent betrat und die Stiege zum Aufzug hinaufging. Er fand die kleine Gruppe so vor, wie er sie verlassen hatte, nämlich Vandam, Alboin und den Sekretär — aber in ihrem Ton ihm gegenüber lag neue Achtung und selbst Ehrfurcht. Sie standen an Wynds Schreibtisch, auf dem ein großer Papierbogen und Schreibmaterialien lagen, und wandten sich um, ihn zu begrüßen.

»Pater Brown«, sagte der Sprecher — es war der weißhaarige Mann aus dem Westen, den die Verantwortung etwas gesetzter gemacht hatte, »wir haben Sie hergebeten, um Ihnen erstens einmal unsere Entschuldigungen und unseren Dank auszusprechen. Wir sehen ein, daß Sie es waren, der zuerst die geistige Manifestation als solche erkannte. Wir waren alle hartgesottene Skeptiker; aber jetzt begreifen wir, daß man diese harte Schale durchbrechen muß, um die großen Dinge jener anderen Welt zu erfassen. Diesen Standpunkt vertreten Sie; Sie vertreten die übernatürliche Erklärung der Dinge; und wir müssen uns Ihnen unterordnen. Und zweitens fühlen wir, daß dieses Dokument hier ohne Ihre Unterschrift unvollständig wäre. Wir teilen darin die genauen Tatsachen der Gesellschaft zur Erforschung der psychischen Phänomene mit, weil die Zeitungsmeldungen sozusagen nicht genau stimmen. Wir führen an, wie der Fluch auf der Straße ausgesprochen wurde; wie derselbe Mensch, der in diesem Zimmer eingeschlossen war wie in einer versiegelten Kiste, durch den Fluch sofort zu Luft aufgelöst, auf unausdenkbare Weise wieder verkörpert und als Selbstmörder an einen Galgen gehängt wurde. Und da Sie der erste waren, der an das Wunder geglaubt hat, sind wir alle der Meinung, daß Sie auch als erster unterschreiben müssen.«

»Nein, danke«, sagte Pater Brown verlegen. »Ich glaube nicht, daß ich das möchte.«

»Sie meinen, Sie möchten nicht als erster zeichnen?«

»Ich meine, daß ich überhaupt nicht gerne zeichnen möchte«, sagte Pater Brown bescheiden. »Wissen Sie, ein Mann in meiner Stellung darf wirklich nicht über Wunder Witze machen.«

»Aber Sie haben doch selber gesagt, daß es ein Wunder ist?« fragte Alboin mit weit aufgerissenen Augen.

»Das tut mir aber sehr leid«, sagte Pater Brown. »Mir scheint, hier liegt ein kleiner Irrtum vor. Ich glaube nicht, je gesagt zu haben, daß es ein Wunder ist. Ich habe nur gesagt, daß etwas passieren könnte. Und darauf bemerkten Sie dann, so etwas könnte ohne ein Wunder nicht passieren. Dann passierte es doch. Und deshalb sagten Sie, es sei ein Wunder. Aber ich habe von Anfang bis zu Ende nicht ein Wort von Wundern oder Magie oder ähnlichem gesprochen.«

»Aber ich habe doch gemeint, daß Sie an Wunder glauben?« unterbrach der Sekretär.

»Ja«, sagte Pater Brown. »Ich glaube an Wunder. Ich glaube auch daran, daß es menschenfressende Tiger gibt, aber ich bilde mir nicht ein, sie überall zu sehen. Wenn ich Wunder brauche, weiß ich, wo sie zu finden sind.«

»Ich begreife nicht, wie Sie diese Haltung einnehmen können, Pater Brown«, sagte Vandam sehr ernst. »Das klingt so engherzig — und Sie machen doch keinen engherzigen Eindruck, wenn Sie auch ein Pfaffe sind. Sehen Sie nicht, daß ein Wunder wie dieses da endgültig allem Materialismus den Garaus machen muß? Es wird der ganzen Welt in Riesendruck verkünden, was geistige Kräfte ausrichten können und sehon ausgerichtet haben. Sie werden dem Glauben einen Dienst leisten, wie er ihm von keinem Priester je geleistet wurde.«

Der kleine Priester hatte sich aufgerichtet und schien trotz seiner untersetzten Figur auf seltsame Weise in unbewußte und unpersönliche Würde gekleidet. »Nun«, sagte er, »Sie werden mir gewiß nicht zumuten wollen, daß ich dem Glauben durch etwas diene, was ich als Lüge erkannt habe. Ich weiß nicht genau, was Sie mit dieser Phrase meinen — und Sie vermutlich auch nicht, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Vielleicht kann man dem Glauben dienen, indem man lügt — Gott aber sicherlich nicht. Und da Sie so hartnäckig immer wieder darauf zurückkommen, was ich glaube, wäre es da so gefehlt, wenn Sie endlich eine Ahnung davon bekämen, was das eigentlich ist?«

»Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz«, bemerkte der Milliardär neugierig.

»Das glaube ich auch«, erwiderte Pater Brown einfach. »Sie sagen, übersinnliche Kräfte hätten es begangen. Welche übersinnlichen Kräfte? Sie glauben doch nicht, daß die heiligen Engel ihn genommen und an einem Baum im Garten aufgehängt haben, nicht wahr, nein? Und was die gefallenen Engel betrifft — nein, nein und nochmals nein Die Menschen, die das verbrochen haben, taten etwas sehr Böses, aber sie begnügten sich mit ihrer eigenen Bosheit — sie waren nicht so böse, sich mit übersinnlichen Kräften einzulassen. Der Satanismus ist mir nicht unbekannt, leider — ich war gezwungen, mich mit ihm abzugeben und weiß, wie er ist, wie er praktisch immer ist. Er ist stolz und er ist verschlagen. Er liebt es, sich als überlegen aufzuspielen, die Unschuldigen mit halbverstandenen Dingen zu erschrecken, kleine Kinder zu ängstigen. Darum hat er solch eine Vorliebe für Mysterien und Einweihungen und geheime Gesellschaften und so weiter. Seine Augen sind nach innen gerichtet, und so erhaben und ernst er auch aussehen mag, so verbirgt er doch immer ein kleines, wahnsinniges Lächeln.« Er erzitterte, wie von einem eisigen Luftzug getroffen. »Lassen wir sie beiseite — hiermit haben sie nichts zu tun, das können Sie mir glauben. Meinen Sie, daß dieser arme, verwilderte Ire, der rasend durch die Straße lief, die Hälfte ausschwatzte, als er mein Gesicht erblickte, und dann ausriß aus Angst, noch mehr zu verraten — glauben Sie, daß Satan ihm Geheimnisse anvertraut? Ich will zugeben, daß er an einem Komplott beteiligt war, vermutlich mit zwei anderen, die schlechter waren als er — aber trotzdem befand er sich nur in einem furchtbaren Zornausbruch, als er den Revolver und den Fluch losließ.«

»Was in aller Welt soll denn das bedeuten?« fragte Vandam. »Das Abschießen einer Kinderpistole und eines lächerlichen Fluches hätte die Tat, die geschah, nicht veranlassen können, wenn nicht ein Wunder im Spiel war — es konnte Wynd nicht wie eine Fee zum Verschwinden bringen und ihn eine Meile weiter mit einem Strick um den Hals wieder auftauchen lassen.«

»Nein, das nicht«, sagte Brown scharf, »aber was sonst?«

»Ich kann noch immer nicht folgen«, erwiderte der Milliardär ernst. »Ich frage Sie, was konnte es tun«, wiederholte der Priester, zum ersten Mal mit einer Bewegung, die an Gereiztheit grenzte. »Sie wiederholen immer wieder, daß ein blinder Schuß das nicht könne und jenes nicht könne. Daß er allein nicht genüge, um den Mord zu verursachen oder ein Wunder hervorzubringen. Aber es fällt Ihnen nicht ein, sich zu fragen, was wirklich die Folge sein könnte. Was würde Ihnen geschehen, wenn ein Irrer sich’s einfallen ließe, eine Waffe ohne Sinn und Verstand gerade unter ihrem Fenster loszubrennen? Was würde zu allererst passieren?«

Vandam sah nachdenklich aus. »Ich glaube, ich würde zuerst aus dem Fenster schauen«, sagte er.

»Ja«, erwiderte der Priester, »Sie würden aus dem Fenster schauen. Das ist die ganze Geschichte. Es ist eine traurige Geschichte, aber sie ist vorbei — und schließlich gab es mildernde Umstände.«

»Wieso konnte er aber zu Schaden kommen, bloß weil er aus dem Fenster sah?« fragte Alboin. »Er ist nicht hinausgefallen, sonst hätte man ihn in der Gasse gefunden.«

»Nein«, erwiderte Pater Brown mit leiser Stimme. »Er fiel nicht — er stieg empor.« In seiner Stimme klang es wie vom Grollen eines Gongs, schwer und schicksalshaft. Aber er fuhr ruhig fort:

»Er stieg empor — aber nicht auf Flügeln; nicht auf den Fittichen der heiligen oder der gefallenen Engel. Er stieg am Ende eines Strickes empor, so wie Sie ihn im Garten sahen — eine Schlinge wurde ihm über den Kopf geworfen, während er ihn zum Fenster hinausstreckte. Erinnern Sie sich nicht an Wilson, seinen großen Diener, einen Menschen von Riesenkräften, während Wynd so klein und leicht war wie eine Krabbe? Ging Wilson nicht hinauf um eine Broschüre zu holen, in ein Zimmer voll Akten und Gepäck, das mit Metern und Metern Strick verschnürt war? Hat man Wilson seit jenem Tage gesehen? Ich glaube kaum.«

»Wollen Sie sagen«, fragte der Sekretär, »daß Wilson ihn einfach aus seinem eigenen Fenster herauszog, wie eine Forelle an der Angelschnur?«

»Ja«, sagte der andere, »und ihn dann aus dem zweiten Fenster in den Park hinunterließ, wo der dritte Komplize ihn an einen Baum band. Vergessen Sie nicht, daß die Gasse immer leer war — daß die Mauer gegenüber keine Fenster hat — daß alles fünf Minuten, nachdem der Ire mit seiner Pistole das Zeichen gegeben hatte, vollkommen vorüber war. Natürlich waren drei Leute beteiligt — können Sie wohl erraten, wer sie waren?«

Sie starrten alle auf das schmucklose viereckige Fenster und die Mauer dahinter, und keiner antwortete.

»Übrigens«, fuhr Pater Brown fort, »mache ich Ihnen keinen Vorwurf daraus, daß Sie so schnell auf übernatürliche Kräfte schlossen. Der Grund dafür ist ganz einfach. Sie verschworen sich alle, hartgesottene Materialisten zu sein — und in Wirklichkeit balancierten Sie alle gerade an der Kante des Glaubens — des Glaubens an irgend etwas und an nahezu alles. Viele Tausende balancieren heute so — aber es ist kein Vergnügen, auf dieser scharfen, unbequemen Kante zu sitzen. Man kommt nicht zur Ruhe, bevor man an etwas glaubt — deshalb hat Mr. Vandam alle neuen Religionen mit dem Staubkamm durchgekämmt, deshalb zitiert Mr. Alboin die Heilige Schrift als Beleg für seine Religion der neuen Atemübungen und murrt Mr. Fenner über denselben Gott, den er leugnet. Darüber stolperten Sie alle: Es ist etwas ganz Natürliches, nur an das Ubersinnliche zu glauben. Natürliche Ursachen anzunehmen, kommt den Menschen nie natürlich vor. Aber obwohl es nur des leisesten Anstoßes bedurfte, um Sie über die Kante in den Glauben an das Übernatürliche zu kippen, waren diese Dinge in Wahrheit die einzig natürlichen. Sie waren nicht nur natürlich, sie waren sogar unnatürlich einfach. Ich glaube, daß es noch nie eine so einfache Geschichte gegeben hat.«

Fenner lachte und runzelte dann die Brauen. »Eins verstehe ich aber nicht«, sagte er. »Wenn Wilson es getan hat — wieso hat Wynd einen solchen Menschen als vertrauten Diener aufgenommen? Wieso wurde er von einem Menschen umgebracht, den er jahrelang täglich gesehen hatte? Er war berühmt wegen seines Scharfblicks und seines klaren Urteils über Menschen.«

Pater Brown schlug mit seinem Regenschirm auf den Boden auf, mit einer Heftigkeit, die man selten an ihm sah.

»Jawohl«, erwiderte er fast zornig. »Deshalb wurde er ja gerade getötet. Gerade deswegen. Er wurde getötet, weil er über Menschen urteilte und sie richtete.«

Sie starrten ihn alle an; aber er fuhr fort, als wäre niemand zugegen: »Was ist der Mensch, irgendein Mensch, daß er ein Richter sein darf über Menschen?« fragte er. »Die drei Leute waren die Landstreicher, die einst vor ihm standen und geschwinde nach rechts und links verschickt wurden — als hätten sie keinen Anspruch auf den Mantel der Höflichkeit, auf langsames Wachsen der Vertrautheit, auf freien Willen in der Wahl ihrer Freunde. Zwanzig Jahre waren nicht imstande, die Erbitterung über die abgrundtiefe Beleidigung zu erschöpfen, die er ihnen antat, als er sich vermaß, sie in einem Augenblick zu durchschauen.«

»Ja«, sagte der Sekretär, »ich verstehe jetzt — und ich weiß jetzt auch, wieso Sie — so vieles verstehen —«

»Hol mich der Teufel, ob ich das verstehe«, rief der stürmische Herr aus dem Westen lärmend aus. »Dieser Wilson und der Ire sind in meinen Augen nur zwei Halsabschneider, die ihren Wohltäter ermordet haben. In meiner Moral — mag sie nun eine Religion sein oder nicht — habe ich keinen Platz für solche schwarzen und blutigen Mörder.«

»Sicher war er ein blutiger und schwarzer Mörder«, sagte Fenner ruhig. »Ich will ihn doch nicht verteidigen. Aber ich denke, daß Pater Brown für alle Menschen beten muß, sogar für einen Menschen wie —«

Der Fluch des goldenen Kreuzes

Um einen kleinen Tisch saßen sechs Personen, eine so bunt zusammengewürfelte Gesellschaft, als sei jeder für sich auf derselben einsamen kleinen Insel als Schiffbrüchiger angekommen. Jedenfalls waren sie vom Meere umgeben — denn in gewissem Sinne war ihre Insel von einer zweiten umschlossen, einem großen, fliegenden Eilend gleich Laputa. Der kleine Tisch war einer von vielen im Speisesaal des Riesenschiffes »Moravia«, das durch die Nacht und die ewige Leere des Atlantischen Ozeans dahineilte. Die Gesellschaft hatte nichts miteinander gemein, als daß alle von Amerika nach England reisten. Zwei zumindest konnten für Berühmtheiten gelten; die anderen waren unbekannte, in einem und dem anderen Fall sogar zweifelhafte Persönlichkeiten.

Der erste war der berühmte Professor Smaill, eine Autorität auf dem Gebiete der spätbyzantinischen Archäologie. Seine Vorlesungen, die er an einer amerikanischen Universität hielt, galten selbst in den maßgebenden europäischen Sitzen der Gelehrsamkeit noch als das letzte Wort in seinem Fache. Seine literarischen Arbeiten waren so sehr von reifem und phantasievollem Verständnis für die Vergangenheit Europas durchdrungen, daß Fremde oft erstaunten, wenn sie ihn mit amerikanischem Akzent reden hörten. Und doch war sein Äußeres typisch amerikanisch; er trug sein blondes Haar lang und von der hohen, viereckigen Stirn zurückgestrichen, und die langen, geraden Gesichtszüge spiegelten in sonderbarer Mischung Zerstreutheit und verhaltene Schnelligkeit, wie bei einem Löwen, der in Gedanken schon seinen nächsten Sprung erwägt.

Nur eine einzige Dame befand sich unter den sechsen, freilich stellte sie, wie die Presse oft von ihr sagte, in ihrer Person eine ganze Heerschar dar. Sie wäre mit Freuden darauf eingegangen, an diesem oder an einem anderen Tisch die Gastgeberin, um nicht zu sagen die Kaiserin zu spielen. Es war Lady Diana Wales, die berühmte Reisende in tropischen und anderen Ländern; aber bei Tische wies ihre Erscheinung keine eckigen oder männlichen Züge auf. Sie war eine fast tropische Schönheit, mit einer Fülle von brennendem, schwerem rotem Haar — sie war, wie Modeberichte sagen würden, auffallend gekleidet, aber ihr Gesicht war intelligent und ihre Augen hell und ein wenig vorstehend wie die Augen der Damen, die bei politischen Versammlungen Fragen stellen.

Die anderen vier Gestalten sahen in dieser glänzenden Umgebung zuerst wie Schatten aus; bei näherem Hinsehen ergaben sich aber Unterschiede. Einer war ein junger Mann, der als Paul T. Tarrant in der Schiffsliste eingetragen war. Er war ein amerikanischer Typ, besser gesagt, Gegentyp. Jedes Volk hat vermutlich seinen Gegentyp; eine extreme Ausnahme, die nur die nationale Regel bestätigt. Die Amerikaner achten in Wirklichkeit die Arbeit, wie die Europäer den Krieg achten. Sie ist von einem Heiligenschein von Heldentum umgeben, und wer sich von ihr zurückzieht, ist weniger als ein Mann. Der Gegentyp liegt auf der Hand, obwohl er selten vorkommt. Er ist der Geck, das Gigerl — der reiche Müßiggänger, der in so vielen amerikanischen Romanen den Bösewicht abgibt. Paul Tarrant schien nichts zu tun zu haben, als seine Anzüge zu wechseln, was er täglich sechsmal tat; bald erschien er in helleren, bald in dunkleren Schattierungen von exquisitem Lichtgrau, wie die zarten wechselnden Silbertöne der Dämmerung. Im Gegensatz zu den meisten Amerikanern hatte er sich einen sorgfältig gepflegten, kurzen lockigen Bart zugelegt; und im Gegensatz zu den meisten Gecken seines eigenen Typs schien er eher trotzig als protzig. Eigentlich erinnerte sein düsteres Schweigen in etwas an Lord Byron.

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Die beiden nächsten Reisenden gehörten von Natur zusammen, einfach weil sie beide Engländer waren, die von einer Vortragsreise aus Amerika zurückkehrten. Einer führte den Namen Leonard Smyth und war eine Kreuzung zwischen einem kleinen Dichter und einem großen Journalisten; mit schmalem Kopf, hellem Haar und sehr sicherem Auftreten. Der andere mutete an wie sein komischer Gegenspieler, da er kurz und breit war, einen schwarzen Schnurrbart hatte wie ein Seehund und ebenso stumm war wie der andere gesprächig. Da er einmal wegen Raubes angeklagt gewesen war und sich außerdem einen Namen gemacht hatte, weil er eine rumänische Prinzessin in einer Menagerie aus den Pranken eines Jaguars gerettet hatte, war man selbstredend der Ansicht, daß seine Meinung über Gott, Fortschritt, seine eigene Kindheit und die Zukunft der englisch-amerikanischen Beziehungen für die Einwohner von Minneapolis und Omaha von größtem Interesse und Wert sein müßte. Die sechste und unscheinbarste Gestalt war die eines kleinen englischen Priesters, der sich Brown nannte. Er lauschte den Gesprächen mit Achtung und Aufmerksamkeit und hatte eben den Eindruck gewonnen, daß sie in einer Beziehung etwas sonderbar waren.

»Vermutlich sind Ihre Studien über Byzanz dazu angetan, etwas Licht in die Angelegenheit der Grabstätte zu bringen, die man an der Südküste entdeckt hat?« fragte Leonard Smyth. »Ich glaube es war bei Brighton. Nun Brighton ist natürlich recht weit weg von Byzanz. Aber ich glaube gelesen zu haben, daß die Art der Bestattung oder Einbalsamierung oder sonst etwas für byzantinisch gehalten wurde.«

»Studien über Byzanz müssen wirklich für vieles herhalten«, antwortete der Professor trocken. »Da spricht man von Spezialisten — aber ich glaube, nichts auf Erden ist schwerer, als sich zu spezialisieren. Nehmen Sie gleich diesen Fall: wie kann man etwas über Byzanz wissen, bevor man sich mit dem alten Rom vor der byzantinischen Zeit und dem Islam nach derselben völlig vertraut gemacht hat? Die meisten arabischen Künste stammen aus Byzanz. Wenn Sie sich zum Beispiel mit Algebra beschäftigen —«

»Ich denke nicht daran«, rief die Dame entschieden. »Ich habe es nie getan und tue es auch jetzt nicht. Aber fürs Einbalsamieren interessiere ich mich außerordentlich. Ich war dabei, wissen Sie, wie Gatten die babylonischen Gräber öffnete. Seit der Zeit schwärme ich für Mumien und erhaltene Leichen und all das. Bitte, erzählen Sie uns doch mehr von diesem Grab.«

»Gatton war ein interessanter Mensch«, sagte der Professor. »Die ganze Familie war interessant. Der Bruder, der ins Parlament gewählt wurde, war auch bedeutend mehr als ein Durchschnittspolitiker. Ich begriff erst, was die Faschisten eigentlich wollten, nachdem er seine Rede über Italien gehalten hatte.«

»Ja, aber diesmal führt uns doch unsere Reise nicht nach Italien«, fuhr Lady Diana hartnäckig fort, »und ich vermute, Sie reisen nach dem kleinen Ort, wo das Grab aufgefunden wurde. Ist es nicht in Sussex?«

»Sussex ist sehr groß«, erwiderte der Professor. »Man kann ziemlich lange darin herumwandern; und es ist auch dafür wie geschaffen. Es ist unglaublich, wie hoch die niedrigen Berge aussehen, wenn man sich mitten drin befindet.«

Eine plötzliche Stille trat ein; dann sagte die Dame:

»Ich will mal ein bißchen auf Deck«, und stand auf. Die Männer taten dasselbe. Nur der Professor blieb noch ein wenig, und als letzter verließ der kleine Priester den Tisch, nachdem er seine Serviette sauber zusammengefaltet hatte. Da sie so allein zurückblieben, wandte sich der Professor plötzlich an den anderen:

»Worauf, glauben Sie, wollte das Gespräch hinaus?«

Pater Brown lächelte. »Wenn Sie mich fragen: es gab da etwas, worüber ich mich ein wenig amüsiert habe. Vielleicht irre ich mich — aber mir schien, daß die Gesellschaft es dreimal versuchte, Sie in ein Gespräch über den einbalsamierten Leichnam, den man in Sussex gefunden haben will, zu verwickeln. Sie Ihrerseits waren mit der größten Höflichkeit bereit, sich zu unterhalten — über Algebra, über die Faschisten und über die Landschaft an der Südküste Englands.«

»Das heißt«, sagte der Professor, »ich war gerne bereit, mich über jeden beliebigen Gesprächsstoff zu unterhalten, mit Ausnahme des einen. Sie haben ganz recht.«

Er schwieg einen Augenblick und betrachtete das Tischtuch. Dann blickte er auf und sagte mit schneller, impulsiver Art, die an den Sprung eines Löwen erinnerte:

»Passen Sie auf, Hochwürden. Ich halte Sie so ungefähr für den anständigsten und klügsten Menschen, dem ich je begegnet bin.«

Pater Brown war ein typischer Engländer. Wie alle seine Landsleute, konnte ihn ein auf amerikanische Art ohne Umschweife vorgebrachtes Kompliment völlig aus der Fassung bringen. Als Antwort kam nur ein unverständliches Murmeln; der Professor fuhr in derselben, ernsten, abgehackten Weise fort:

»Sehen Sie, bis zu einem bestimmten Punkt ist alles sehr einfach. Ein christliches Grab aus dunklen Zeiten, jedenfalls ein Bischofsgrab, wird unter einer kleinen Kirche in Dulham an der Küste von Sussex aufgefunden. Zufälligerweise verstand der Pfarrer des Ortes etwas von Altertumskunde und brachte mehr heraus, als ich bis heute selbst weiß. Es gab das Gerücht, daß die Leiche auf eine den Griechen und Ägyptern eigentümliche, aber im Westen — und besonders zu dieser Zeit — unbekannten Weise einbalsamiert war. Aus diesem Grunde dachte der Pfarrer Walters an byzantinische Einflüsse. Er erwähnte aber noch etwas, das mich persönlich weit mehr interessiert.«

Sein langes, ernstes Gesicht schien noch länger und ernster zu werden. Er sah auf das Tischtuch und runzelte die Stirn. Sein langer Zeigefinger schien Muster von Plänen versunkener Städte und ihrer Tempel und Gräber zu zeichnen.

»Deshalb will ich Ihnen — und sonst keinem — jetzt sagen, warum ich über den Gegenstand in größerer Gesellschaft nicht sprechen darf — und warum ich um so vorsichtiger sein muß, je mehr man es darauf anlegt, darüber zu reden. Es ist auch angegeben werden, daß sich im Sarg eine Kette mit einem Kreuz befindet, das ganz gewöhnlich aussieht, aber auf der Rückseite ein Zeichen trägt, wie es nur noch auf einem einzigen anderen Kreuz vorkommt. Es ist eines der geheimen Zeichen der allerersten Christen und soll der Zeit angehören, in der Sankt Peter zu Antiochia Bischof war, bevor er nach Rom kam. Sei dem wie immer: ich glaube, daß nur noch ein einziges Kreuz dieser Art existiert, und das befindet sich in meinem Besitz. Es gibt da auch ein Gerücht von einem Fluch, der daran haftet, doch darum kümmere ich mich nicht. Aber ob es nun einen Fluch gibt oder nicht — jedenfalls gibt es in gewissem Sinn eine Verschwörung, obwohl sie sicherlich nur aus einer einzigen Person besteht.«

»Aus einer einzigen Person?« wiederholte Pater Brown fast mechanisch.

»Aus einem Irrsinnigen, soviel ich weiß«, sagte der Professor. »Die Geschichte ist lang und ziemlich albern.« Er machte abermals eine Pause und zeichnete mit seinem Finger architektonische Grundrisse auf das Tischtuch. Dann erzählte er folgendes:

»Am besten berichte ich Ihnen alles von Anfang an, denn möglicherweise fällt Ihnen in der Geschichte eine Kleinigkeit auf, die für mich bedeutungslos ist. Es begann vor vielen Jahren, als ich auf eigene Rechnung auf Kreta und den griechischen Inseln nach Altertümern suchte. Einen großen Teil der Arbeiten führte ich selbst durch; manchmal mit der außerordentlich prirnitiven Hilfe von Ortsansässigen, und manchmal buchstäblich allein. Und ich war auch allein, als ich ein Labyrinth unterirdischer Gänge fand, das schließlich zu einem Haufen wertvollen Abfalls führte — zerbrochene Ornamente, verstreute Gemmen, den ich für die Reste eines versunkenen Altars hielt und auf dem ich das seltsame goldene Kreuz fand. Ich drehte es um und auf der Rückseite sah ich das Ichthyszeichen oder den Fisch, der ein frühchristliches Symbol ist. Doch es unterschied sich in Zeichnung und Ausführung ziemlich von denen, die man gewöhnlich findet. Und der Fisch war, so schien es mir jedenfalls, realistischer, so als ob der archaische Zeichner die Absicht gehabt hatte, ihn nicht nur wie ein konventionelles Zeichen sondern mehr wie einen richtigen Fisch aussehen zu lassen. Ich hatte den Eindruck, er sei am einen Ende etwas abgeflacht, was nicht lediglich geometrische Dekoration, sondern eher eine grobe Art von zoologischer Beobachtung bedeuten konnte.

Um Ihnen kurz zu erklären, warum ich diesen Fund für bedeutend hielt, muß ich das Besondere dieser Fundstätte erwähnen. Einmal war sie so etwas, wie die Ausgrabungsstätte einer Ausgrabungsstätte. Wir waren nicht nur Altertümern auf der Spur, sondern den Antiquitätenhändlern der Antike. Wir hatten Grund anzunehmen, oder zumindest einige von uns glaubten dazu Grund zu haben, daß diese unterirdischen Gänge, die vorwiegend aus der Minoischen Zeit stammen, wie jener berühmte, der gerade jetzt als das Labyrinth des Minotaurus erkannt wird, nicht wirklich verschüttet gewesen und während all der Jahrhunderte zwischen dem Minotaurus und seinen modernen Erforschern unberührt geblieben waren. Wir glaubten, daß diese unterirdischen Stätten, ich möchte fast sagen, diese Untergrundstädte und Dörfer, in der Zwischenzeit schon, aus welchen Motiven auch immer, von Menschen betreten worden waren. Was die Motive anlangt, gab es mehrere Schulen mit verschiedenen Ansichten: einige glaubten, daß die Eroberer eine Erforschung aus purer wissenschaftlicher Neugier angeordnet hatten; andere glaubten, daß die verrückte Mode zur Zeit des späten römischen Reiches, sich mit allem möglichen finsteren asiatischen Aberglauben zu beschäftigen, irgendwelche unbekannten manichäischen Sekten oder andere Vereinigungen in die Höhlen geführt hatte, um dort Orgien zu feiern, die vor dem Angesicht der Sonne verborgen werden mußten. Ich gehöre zu denen, die glaubten, daß diese Höhlen auf die gleiche Weise wie die Katakomben benützt wurden. Das heißt, wir glaubten, daß die Christen während einiger der Verfolgungen, die sich wie ein Feuer über das ganze Imperium verbreiteten, sich in diesen alten heidnischen Steinlabyrinthen verborgen hatten. Ich entdeckte mit einem Schauder, der heftig wie ein Donnerschlag war, dieses goldene Kreuz, hob es auf und sah das Zeichen auf ihm; und es war ein noch größerer Schock des Glücks, als ich auf meinem Weg zurück und hinauf ins Licht des Tages die nackten Felswände, die sich in diesen niederen Gängen endlos hinzogen, entlangblickte und plötzlich in gröberer Zeichnung, aber womöglich noch unmißverständlicher, abermals das Zeichen des Fisches sah.

Irgend etwas ließ ihn so aussehen, als sei er ein versteinerter wirklicher Fisch oder ein rudimentärer Organismus, für immer in einem versteinerten Meer festgehalten. Ich konnte mir diese Analogie nicht erklären, es gab keinen sonstigen Bezug auf diese simple, auf den Stein gekratzte Zeichnung, bis ich mir in meinem Unterbewußtsein sagte, die ersten Christen müßten wie Fische gewesen sein, stumm und in einer gefallenen Welt aus Dämmerung und Schweigen lebend, tief unter die Menschen gestürzt, wo sie sich in einer dunklen und dämmrigen und geräuschlosen Welt bewegten.

Wer durch steinerne Gänge gegangen ist, weiß was es heißt, von Geisterfüßen verfolgt zu werden. Das Echo verfolgt einen tappend oder klappernd von hinten oder vorne, so daß es für einen Menschen, obwohl er tatsächlich alleine ist, fast unmöglich wird, an seine Einsamkeit zu glauben. Ich hatte mich bereits an die Wirkungen dieses Echos gewöhnt und es seit einiger Zeit wahrgenommen, als mein Blick auf das Symbol auf der Felswand fiel. Ich hielt an und im gleichen Augenblick schien auch mein Herz anzuhalten. Meine Füße waren stehengeblieben, doch das Echo marschierte weiter.

Ich rannte vorwärts und es schien, als ob die geisterhaften Schritte auch rannten, jedoch nicht mit der genauen Imitation des tatsächlichen Widerhalls eines Geräusches. Ich hielt wieder an und die Schritte hielten ebenfalls an, aber ich hätte schwören mögen, daß sie einen Augenblick zu spät anhielten; ich rief eine Frage und mein Ruf wurde beantwortet. Aber die Stimme war nicht die meine. Das Echo kann um die Ecke eines Felsens gerade vor mir. Und während der folgenden unheimlichen Jagd bemerkte ich, daß es immer an den Ecken des gewundenen Pfades anhielt und sprach. Die kleine Spanne vor mir, die von meiner elektrischen Taschenlampe beleuchtet werden konnte, war leer wie ein leerer Raum. So führte ich eine Unterhaltung mit ich weiß nicht wem, die den ganzen Weg bis zum ersten weißen Schimmer des Tageslichts dauerte, und selbst da konnte ich nicht sehen, auf welche Weise der andere im Licht des Tages verschwand. Der Rachen des Labyrinths war voller Öffnungen, Risse und Spalten und es wäre für ihn nicht schwierig gewesen, sich da hineinzustürzen und wieder in der Unterwelt der Höhlen zu verschwinden. Ich weiß nur, daß ich auf die einsamen Stufen eines großen Berges hinauskam, auf eine Art Marmorterrasse, die von einer grünen Vegetation bestanden war, die tropisch wirkte gegen die Nacktheit des Felsens, sie erinnerte an eine der orientalischen Invasionen, die sich sporadisch über das verfallene klassische Hellas ausgebreitet hatten. Ich blickte auf ein Meer von makellosem Blau; die Sonne schien einsam und schweigend. Es gab nicht einen Halm eines Grases, der vom Hauch einer Flucht bewegt war, noch den Schatten von einem Schatten eines Menschen.

Es war eine schreckliche Unterhaltung gewesen; so intim und so individuell und in gewissem Sinn so beiläufig. Dieses Wesen, körperlos, gesichtslos, namenlos und dennoch mich bei meinem Namen nennend, hatte in diesen Grüften und Spalten, in denen wir ohne mehr Leidenschaft oder Dramatik, als wenn wir in zwei Lehnsesseln im Club gesessen hätten, lebend begraben waren, zu mir gesprochen. Aber es hatte mir auch gesagt, daß es mich oder jeden anderen, der in den Besitz des Kreuzes mit dem Fischzeichen käme, unweigerlich töten würde. Es sagte mir unumwunden, es sei kein solcher Narr, mich in dem Labyrinth anzugreifen, da es wisse, daß ich einen geladenen Revolver bei mir hätte und es ein ebenso großes Risiko liefe wie ich. Doch es sagte mir ebenso ruhig, daß es meinen Mord mit tödlicher Sicherheit planen würde, unter Berücksichtigung jeden Details und unter Ausschluß jeder Gefahr, kurz mit jener, Art künstlerischer Perfektion, wie sie ein chinesischer Handwerker oder ein indischer Teppichsticker einem lebenslangen künstlerischen Werk widmen würde. Doch es war kein Orientale. Ich war sicher, daß es ein Weißer war. Ich vermute, es war ein Landsmann von mir.

Seitdem habe ich von Zeit zu Zeit Zeichen und seltsame unpersönliche Botschaften erhalten, die mir zumindest die Gewißheit gegeben haben, daß der Mann, wenn er ein Irrsinniger ist, ein Monomane ist? Er erzählt mir unentwegt in seiner munteren und beiläufigen Art, daß die Vorbereitungen zu meinem Tod und meiner Beerdigung zufriedenstellend vorangingen; und daß ich nur verhüten könnte, daß sie von Erfolg gekrönt würden, wenn ich die Reliquie, die sich in meinem Besitz befindet, das einmalige Kreuz, das ich in der Höhle gefunden hatte, weggäbe. Es scheint aber, daß er keinerlei religiöse Beweggründe hat, noch ein Fanatiker ist; er hat offenbar keine andere Leidenschaft, als die Leidenschaft eines Sammlers von Kuriositäten. Das ist,einer der Gründe, die mir das sichere Gefühl geben, er ist aus dem Westen und nicht aus dem Osten. Doch diese besondere Neugier scheint ihn ganz verrückt gemacht zu haben.

Und dann kam diese, allerdings noch nicht nachgeprüfte Nachricht über das Duplikat der Reliquie, das auf einem einbalsamierten Leichnam in einem Grab in Sussex gefunden werden sei. Wenn er bisher ein Irrsinniger gewesen war, dann hatte diese Nachricht ihn jetzt in einen Besessenen verwandelt, einen von sieben Teufeln Besessenen. Daß es ein solches Kreuz geben sollte, das einem anderen gehörte, war schon schlimm genug, aber daß zwei existierten und keines davon ihm gehörte, das war eine Qual, die er nicht ertragen konnte. Seine verrückten Botschaften kamen nun gebündelt und rasch, wie Scharen von vergifteten Pfeilen, und jede schrie mit mehr Zuversicht als die letzte hinaus, daß der Tod mich in dem Moment ereilen würde, da ich meine unwürdige Hand nach dem Kreuz in dem Grab ausstrecken würde.

›Sie werden mich nie kennen‹, schrieb er, ›Sie werden niemals meinen Namen aussprechen; Sie werden niemals mein Gesicht sehen; Sie werden sterben ohne zu wissen, wer Sie getötet hat. Ich werde in irgendeiner Form unter denen sein, die Sie umgeben; aber ich werde gerade in dem sein, vor dem sich vorzusehen Sie vergessen haben werden.‹

Ich will nur noch so viel sagen, daß mir einmal jemand eine gleiche Antiquität zur Begutachtung übersandt hat. Er hielt sie für echt, und ich für eine Fälschung, und seither ist mir auf hundertfache Weise klar geworden, daß jemand gegen mich intrigiert und sich mir aus Bosheit in den Weg stellt; er bietet bei Auktionen gegen mich, verbreitet Verleumdungen über mich und droht mir manchmal in anonymen Briefen.

Ich schließe aus diesen Drohungen, daß er mich wahrscheinlich auch auf dieser Reise verfolgt und versuchen wird, mir die Antiquität zu stehlen oder mir etwas Böses anzutun, weil ich sie besitze. Aber ich habe den Menschen nie in meinem Leben gesehen, und es kann also jeder sein, dem ich begegne. Wenn man streng logisch vorgeht, kann es ebensogut einer der Kellner sein, die uns bei Tische bedienen oder einer der Reisenden, die mit mir bei Tische sitzen.«

»Ich zum Beispiel«, bemerkte Pater Brown.

»Jeder außer Ihnen«, antwortete der Professor ernst. »Damit wollte ich sagen: Sie sind der einzige, von dem ich sicher weiß, daß er nicht der Feind ist.«

Pater Brown war wieder verlegen; dann lächelte er und sagte: »Sonderbarerweise bin ich es wirklich nicht. Wir müssen jetzt überlegen, ob wir die Möglichkeit haben, ihn zu entlarven, bevor er — sich unangenehm bemerkbar macht.«

»Wir haben eine Möglichkeit, das herauszubekommen«, sagte der Professor ziemlich grimmig. »Wenn wir nach Southampton kommen, nehme ich sofort ein Auto, das mich auf dem Weg längs der Küste hinbringen soll. Für Ihre Begleitung wäre ich Ihnen sehr dankbar. Natürlich löst sich im übrigen unsere Gesellschaft auf. Wenn aber einer von ihnen plötzlich in dem kleinen Friedhof an der Küste von Sussex wieder auftaucht, werden wir wissen, wer es ist.«

Der Professor führte sein Programm aus, wenigstens was den Wagen und seinen Fahrgast in Person des Pater Brown betraf. Sie flogen das Ufer entlang, die See auf der einen, die Hügel von Hampshire und Sussex auf der anderen Seite; soviel man sehen konnte, verfolgte sie niemand. Als sie sich dem Dorfe Dulham näherten, kam ihnen ein einziger Mensch in den Weg, der allerdings mit der bewußten Sache zu tun hatte; es war ein Journalist, der eben die Kirche besucht hatte und vom Pfarrer höflich durch die neu ausgegrabene Kapelle geführt werden war. Was er sagte und notierte, schien jedoch nicht über eine gewöhnliche Pressenotiz hinauszugehen. Aber vielleicht war Professor Smaill stark phantasiebegabt; jedenfalls konnte er das Gefühl nicht los werden, daß etwas in der Haltung und dem Aussehen des Mannes sonderbar und beunruhigend wirkte. Er war hochgewachsen und ärmlich gekleidet, mit großer Hakennase und tiefen Schatten unter den Augen; sein Schnurrbart hing melancholisch herunter. Die Besichtigung der archäologischen Merkwürdigkeiten hatte ihn wie es schien nicht erheitert; es machte beinahe den Eindruck, als trachte er sich so schnell wie möglich zu entfernen. Sie hielten ihn an und stellten ihm eine Frage.

»Man hört von nichts weiter als von dem Fluch«, sagte er; »ein Fluch soll auf dem Ort ruhen; das behauptet der Fremdenführer oder der Pfarrer oder der älteste Bewohner oder sonst eine Autorität; und es kommt mir wahrhaftig so vor. Fluch oder nicht, ich bin froh, daß ich draußen bin.«

»Glauben Sie an Flüche?« fragte Smaill neugierig.

»Ich glaube an gar nichts; ich bin von der Presse«, antwortete die traurige Gestalt; »mein Name ist Boon, von der ›Tagespost‹. Aber irgendwas ist an der Krypta nicht ganz geheuer — und ich kann nicht leugnen, daß es mir kalt über den Rücken gelaufen ist.«

Er eilte mit beschleunigten Schritten zum Bahnhof weiter.

»Der Mensch sieht aus wie ein Rabe oder wie eine Krähe«, bemerkte Smaill, während sie sich zum Kirchhof wandten. »Wie lautet doch das Sprichwort von dem unheilbringenden Vogel?«

Langsam betraten sie den Kirchhof. Das Auge des amerikanischen Altertumforschers verweilte mit Freuden an dem eisernen Dach der Pforte und dem undurchdringlichen Riesenwuchs einer Eibe; sie sah aus wie die Nacht selbst, die dem Tage Trotz bietet. Zwischen wogenden Rasenflächen, wo die Grabsteine nach allen Richtungen Winkel bildeten wie Steinflöße, die auf einem grünen Meer schwanken, stieg der Weg an, bis er an den Kamm gelangte, hinter dem die große graue See wie ein Stück Eisen lag; bleiche Lichter erglänzten darin wie Stahl. Beinahe zu ihren Füßen verwandelte sich das zähe, verwilderte Gras in ein Büschel Disteln und endete in grauem und gelbem Sand; ein bis zwei Fuß von den Disteln entfernt, dunkel umrissen gegen die stahlgraue See, stand eine unbewegliche Gestalt. Ohne die dunkelgraue Kleidung hätte man sie fast für eine Statue auf einem Grabsockel halten können. An den elegant gekrümmten Schultern und der trotzigen Haltung des kurzen Bartes kam Pater Brown jedoch sofort etwas bekannt vor.

»Nanu«, entfuhr es dem Professor der Altertumskunde, »da haben Sie den Herren — Tarrant, wenn Sie ihn einen Herren nennen wollen. Als ich Ihnen die Sache auf dem Schiff auseinandersetzte, haben Sie wohl nicht geglaubt, daß wir so schnell eine Antwort auf meine Frage erhalten würden?«

»Ich habe gefürchtet, Sie könnten zu viele Antworten bekommen«, erwiderte Pater Brown.

»Ja, wieso denn?« fragte der Professor, indem er ihm einen Blick über die Schulter zuwarf.

»Ich meine«, antwortete der andere sanft, »daß mir vorkommt, als hörte ich Stimmen hinter der Eibe. Ich glaube nicht, daß Herr Tarrant so einsam ist, wie er aussieht. Oder, wie ich lieber sagen möchte, so einsam, wie er auszusehen wünscht.«

Während sich Tarrant unwirsch umwandte, kam schon die Bestätigung. Eine zweite Stimme, hoch und etwas hart, aber trotzdem weiblicher Natur, sagte mit kunstgerechter Koketterie:

»Woher sollte ich wissen, daß er auch herkommt?«

Professor Smaill verstand, daß diese heitere Bemerkung nicht ihm galt; er mußte also zu seinem Erstaunen daraus schließen, daß noch eine dritte Person zugegen war. Während Lady Diana Wales strahlend und entschlossen wie nur je aus dem Schatten der Eibe trat, bemerkte er mit Ingrimm, daß sie über einen eigenen, lebendigen Schatten verfügte. Die schlanke, schmucke Gestalt des sympathischen Mannes der Feder, Leonhard Smyth, erschien gleich hinter ihrer eigenen grellen Figur; er lächelte und hielt seinen Kopf zur Seite geneigt wie ein Hund.

»Donnerwetter!« murmelte Smaill. »Sie sind alle hier. Oder jedenfalls alle außer dem kleinen Zirkushelden mit dem Seehundsbart.«

Er hörte, wie Pater Brown neben ihm leise lachte. Und wirklich wurde die Lage mit jedem Augenblick lächerlicher. Sie verwandelte sich von Minute zu Minute, wie bei einem Kunststück im Theater; während der Professor noch sprach, wurden seine Worte auf ganz komische Weise widerlegt. Der runde Kopf mit dem grotesken schwarzen Halbmond von einem Bart war plötzlich zum Vorschein gekommen; aus einem Loch im Boden, wie es schien. Einen Augenblick später wurde ihnen klar, daß das Loch in Wahrheit eine Grube war und zu einer Leiter führte, die aus dem Innern der Erde zu kommen schien; es war mit einem Wort der Eingang zu dem unterirdischen Schauplatz, den sie sich ansehen wollten. Der kleine Mann hatte als erster den Eingang entdeckt und war schon ein bis zwei Sprossen der Leiter hinabgestiegen, als er nochmals den Kopf heraussteckte, um seine Mitreisenden anzusprechen. Er sah aus wie ein ganz unmöglicher Totengräber in einer »Hamlet«-Parodie. Er sagte nur undeutlich hinter seinem Schnurrbart: »Da unten ist’s.« Aber mit Erstaunen begriff die Gesellschaft, daß sie ihn fast noch nie hatten reden hören, obwohl sie eine Woche lang bei den Mahlzeiten an einem Tisch gesessen waren, und daß er, obwohl er für einen englischen Vortragsreisenden galt, mit ziemlich geheimnisvollem ausländischem Akzent sprach.

»Wissen Sie, lieber Herr Professor«, rief Lady Diana mit schneidender der Freundlichkeit, »Ihre byzantinische Mumie war zu interessant — wir konnten sie uns nicht entgehen lassen. Ich mußte sie mir ansehen; und dem Herrn da ist es sicher ebenso ergangen. Nun müssen Sie uns aber auch alles erklären.«

»Ich weiß aber keineswegs alles«, erwiderte der Professor ernst, um nicht zu sagen grimmig. »Teilweise weiß ich gar nicht, um was es sich eigentlich handelt. Jedenfalls ist es eigentümlich, daß wir uns alle so bald wieder hier treffen; ich vermute, daß der neuzeitliche Durst nach Wissen keine Grenzen kennt. Aber wenn wir uns alle den Ort ansehen wollen, müssen wir es auf verantwortliche Weise tun und — Sie verzeihen schon — auch unter verantwortlicher Leitung. Wir müssen die Leitung der Ausgrabungen verständigen und vermutlich zumindest unsere Namen in ein Register eintragen.«

Auf diesen Zusammenstoß zwischen der Ungeduld der Dame und dem Mißtrauen des Archäologen folgte etwas wie ein Streit; endlich jedoch siegte der Professor, der auf den offiziellen Rechten des Pfarrers und der einheimischen Untersuchungskommission bestand. Der kleine Mann mit dem Schnurrbart entstieg unwillig seinem Grabe und erklärte sich schweigend mit einem weniger stürmischen Hinabsteigen einverstanden. Glücklicherweise erschien in diesem Augenblick der Pfarrer selbst — ein grauhaariger, gut aussehender Mann in gebückter Haltung, die durch doppelte Brillen noch unterstrichen wurde; und während er schnell mit dem Professor, als einem kollegialen Kenner von Altertümern, freundschaftliche Beziehungen anknüpfte, schien er die andern nicht feindlich, sondern eher belustigt zu betrachten.

»Hoffentlich ist keiner von Ihnen abergläubisch«, sagte er liebenswürdig. »Ich muß Ihnen gleich sagen, daß angeblich allerhand üble Vorbedeutungen und Flüche in dieser Angelegenheit über unseren gläubigen Häuptern hängen. Eben habe ich eine lateinische Inschrift entziffert, die wir über dem Eingang zur Kapelle gefunden haben; wie es scheint, sind nicht weniger als drei Flüche im Spiel — ein Fluch für denjenigen, der die heilige Kapelle betritt, ein doppelter Fluch, wenn jemand den Sarg öffnet, und ein dreifacher, falls die goldene Reliquie darin berührt wird. Die beiden ersten Verwünschungen habe ich schon auf mich geladen«, fuhr er lächelnd fort, »aber ich fürchte, daß Sie die erste und harmloseste auch auf sich laden müssen, wenn Sie überhaupt etwas sehen wollen. Nach der Geschichte zu schließen, erfüllen sich die Flüche sehr langsam, nach langen Pausen und bei späteren Gelegenheiten. Vielleicht ist Ihnen das ein Trost und Seine Hochwürden.« Herr Walters lächelte wieder auf seine gebückte und wohlwollende Weise.

»Geschichte«, wiederholte Professor Smaill, »was für eine Geschichte meinen Sie?«

»Es ist eine lange Geschichte mit vielen Variationen, wie andere lokale Legenden«, erwiderte der Pfarrer. »Aber jedenfalls stammt sie aus derselben Zeit wie das Grab; ihr Kern geht aus der Inschrift hervor und lautet ungefähr folgendermaßen: Guy de Gisors, ein hiesiger Grundherr aus dem 13. Jahrhundert, hatte sich in ein wunderbares schwarzes Roß verliebt, das einem Abgesandten der Stadt Genua gehörte und diesem, einem weltklugen Kaufmannsfürsten, nur zu einem sehr hohen Preise feil war. Durch Habsucht getrieben, beraubte Guy den Schrein, ja, er tötete sogar den Bischof, der damals hier seinen Sitz hatte. Jedenfalls sprach der Bischof einen Fluch aus. Er sollte sich an jedem erfüllen, der das goldene Kreuz an seiner Ruhestätte im Grabe störte, oder versuchen würde, es nach seiner Rückkehr wieder zu rauben. Der Adelige hatte sich nämlich Gold für das Pferd verschafft, indem er die goldene Reliquie an einen Goldschmied im Orte verkaufte; am ersten Tage jedoch, an dem er das Pferd bestieg, bäumte sich das Tier auf und warf ihn vor der Kirche ab, so daß er sich den Hals brach. Inzwischen wurde der Goldschmied, der bis dahin reich und glücklich gewesen war, durch eine Reihe von unerklärlichen Zufällen ruiniert und fiel einem jüdischen Geldverleiher in die Hände, der im Orte lebte. Endlich erhängte sich der unglückliche Goldschmied, dem nichts übriggeblieben war als zu verhungern, an einem Apfelbaum. Das goldene Kreuz war mit seinem andern Besitztum, mit Haus, Geschäft und Werkzeug schon längst in die Hände des Wucherers übergegangen. Inzwischen war der Sohn und Erbe des Adeligen aus Entsetzen über das Gericht, das über seinen gotteslästerlichen Vater hereingebrochen war, zu einem frommen Diener der Kirche geworden, der ganz im Sinne jener dunklen und strengen Zeiten es für seine Pflicht hielt, Ketzerei und Unglauben unter seinen Vasallen zu bekämpfen. So wurde der Jude, den der zynische Vater geduldet hatte, auf Befehl des Sohnes unbarmherzig verbrannt, so daß er seinerseits für den Besitz der Reliquie büßen mußte; nach diesem dreifachen Gericht wurde sie in das Grab des Bischofs zurückgelegt, und seither hat sie kein Auge gesehen und keine Hand berührt.«

Auf Lady Diana Wales schien die Erzählung einen über Erwartung großen Eindruck zu machen.

»Es läuft einem wirklich kalt den Rücken hinunter«, sagte sie, »wenn man bedenkt, daß wir die ersten sein werden — außer dem Pfarrer natürlich.«

Der Pionier mit dem großen Schnurrbart und dem gebrochenen Englisch stieg schließlich doch nicht auf seiner geliebten Leiter hinunter, die bisher nur von den Arbeitern bei den Ausgrabungen benutzt werden war. Der Geistliche führte sie auf einem Umweg zu einem größeren und bequemeren Eingang, der etwa dreißig Meter entfernt lag, und durch den er eben selbst von seinen unterirdischen Forschungen zurückgekommen war. Hier konnte man über eine sanft geneigte schiefe Ebene hinuntersteigen, wo sich außer der wachsenden Dunkelheit keine Schwierigkeiten boten; denn nach kurzer Zeit ging man im Gänsemarsch durch einen Tunnel, der schwarz wie Pech war, und erst nach mehreren Minuten zeigte sich war ihnen ein Fünkchen Licht. Einmal während dieser schweigenden Prozession hörte man einen Laut, der wie ein Seufzer klang, man wußte nicht, aus welchem Munde; und einmal ertönte ein Fluchen wie eine gedämpfte Explosion, in einer fremden Sprache.

Sie keinen schließlich in ein rundes Zimmer, eine Basilika mit einem Kreis von Rundbogen; denn die Kapelle war gebaut werden, bevor der erste spitze Bogen der Gotik unsere Zivilisation wie ein Speer durchbohrt hatte. Ein Schimmer von grünlichem Licht zwischen einigen Säulen bezeichnete den Ort, wo sich der zweite Ausgang zur Oberwelt öffnete, und erregte das Gefühl, als befände man sich unter dem Meeresspiegel, was durch einige zufällige und vielleicht phantastische Ähnlichkeiten noch verstärkt wurde. Denn das Hundszahnmuster der Normannen war schwach auf allen Bogen zu erkennen und verlieh ihnen in der kellerartigen Dunkelheit etwas vom Aussehen der Rachen ungeheurer Haifische. Und die dunkle Masse des Grabes selbst; in der Mitte des Raumes, machte mit dem hochgehobenen Steindeckel beinahe den Eindruck von Kiefern eines Leviathan.

Sei es aus einem Sinn für das Gemäße oder aus Mangel an modernen Einrichtungen, jedenfalls hatte der geistliche Forscher für die Erleuchtung der Kapelle nur durch vier hohe Kerzen gesorgt, die in großen Holzleuchtern auf der Erde standen. Nur eine davon brannte, als sie eintraten, und warf einen schwachen Schein über die mächtigen archätektonischen Formen. Als alle zugegen waren, zündete der Geistliche auch die anderen drei an und Aussehen wie Inhalt des Sarkophags boten sich den Blicken deutlich dar.

Aller Augen wandten sich zuerst zu dem Gesicht des Toten, der sich durch so viele Jahrhunderte vermittels einer geheimen östlichen Behandlung den Schein des Lebens bewahrt hatte, eine Behandlung, die, wie es hieß, vom heidnischen Altertum übernommen und in den einfachen Friedhöfen Englands unbekannt war. Der Professor konnte kaum einen Ausruf des Staunens unterdrücken; denn obwohl das Gesicht weiß war wie Wachs, sah es mehr einem Schlafenden ähnlich, der eben erst die Augen geschlossen hatte. Das Gesicht gehörte dem asketischen, vielleicht sogar dem fanatischen Typus an, mit langgestrecktem Knochenbau; die Gestalt war in einem goldenen Chorrock und in prächtige Gewänder gekleidet; hoch oben auf der Brust, am Halsansatz, glänzte das berühmte Goldkreuz an einer kurzen goldenen Kette, richtiger gesagt, einem Halsband. Der Steinsarg war geöffnet werden, indem man den Deckel am Kopfende gehoben und ihn in dieser Lage durch zwei starke hölzerne Stäbe oder Stangen festgehalten hatte, die oben den Rand der Steintafel stützten und unten in die Ecken des Sarges hinter dem Kopf der Leiche eingezwängt waren. Von den Füßen und dem unteren Teil des Körpers war daher weniger zu sehen; aber das Kerzenlicht fiel voll auf das Gesicht; und im Gegensatz zu dessen toten Elfenbeintönen schien das goldene Kreuz sich wie ein Feuer zu bewegen und zu funkeln.

Professor Smaills hohe Stirn zeigte eine tiefe Denker- oder gar Sorgenfalte, seit der Geistliche die Geschichte des Fluches erzählt hatte. Weibliche Intuition, nicht unbeeinflußt von weiblicher Hysterie, verstand die Bedeutung seiner grübelnden Unbeweglichkeit besser als die Männer um ihn herum. In dem Schweigen der vom Kerzenlicht erhellten Höhle rief Lady Diana plötzlich laut:

»Rühren Sie es nicht an, sage ich Ihnen!« Aber der Mann hatte schon eine seiner schnellen, löwenartigen Bewegungen ausgeführt und beugte sich über den Körper. Im nächsten Augenblick fuhren alle auf — manche nach vom, andere nach hinten —, aber alle mit einer erschreckten, duckenden Bewegung, als sei der Himmel am Einstürzen.

Während der Professor einen Finger auf das goldene Kreuz legte, schienen die hölzernen Stützen, die sich unter der Last des aufgestellten Steindeckels leicht bogen, zusammenzuzucken und sich mit einem Ruck aufzurichten. Der Rand des Deckels rutschte von seiner hölzernen Unterlage; in Herz und Magen wurde ihnen allen übel von einem Gefühl der sausenden Vernichtung, als hätte man sie in einen Abgrund geschleudert. Smaill hatte den Kopf schnell, aber nicht rechtzeitig zurückgezogen; er lag bewußtlos neben dem Sarg, in einer roten Lache von Blut, das aus Kopfhaut oder Hirnschale floß. Der alte Steinsarg war wieder geschlossen, wie seit vielen Jahrhunderten; nur daß ein oder zwei Splitter oder Späne im Spalt staken und in entsetzlicher Weise an Knochen erinnerten, die ein Riese zerkaut. Der Leviathan hatte mit seinen steinernen Kiefern zugebissen.

Lady Diana betrachtete den Zusammengebrochenen mit Augen, in denen ein elektrischer Glanz wie von Irrsinn funkelte; in der grünlichen Dämmerung sah ihr rotes Haar gegen das bleiche Gesicht scharlachfarben aus. Smyth sah sie an, und seine Kopfhaltung erinnerte noch immer an einen Hund; doch es war der Ausdruck eines Hundes, der nur teilweise versteht, was für eine Katastrophe seinen Herrn betroffen hat. Tarrant und der Ausländer waren in ihrer gewöhnlichen trotzigen Haltung erstarrt; aber ihre Gesichter waren lehmfarben. Der Pfarrer schien ohnmächtig zu sein. Pater Brown kniete neben der hingesunkenen Gestalt des Professors und versuchte, dessen Zustand festzustellen.

Unter allgemeinem Erstaunen machte der romantische Müßiggänger Paul Tarrant Anstalten, ihm zu helfen.

»Am besten tragen wir ihn hinauf«, sagte er. »Vermutlich hat er noch eine schwache Chance.«

»Tot ist er nicht«, erwiderte der Pater leise, »aber es steht recht schlecht; ein Arzt sind Sie wohl nicht?«

»Nein, aber ich habe mir im Laufe der Zeit verschiedenes angeeignet«, sagte der andere. »Doch lassen wir das. Sie würden sich vermutlich wundern, meinen wahren Beruf zu erfahren.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte der Priester mit leichtem Lächeln. »So gegen Mitte der Überfahrt fiel es mir ein. Sie sind ein Detektiv, der jemand überwacht. Nun, jetzt ist das Kreuz jedenfalls vor Dieben sicher.«

Während sie sprachen, hatte Tarrant die zarte Gestalt des Verunglückten leicht und geschickt aufgenommen und trug sie nun sorgsam zum Ausgang. Er antwortete über die Schulter: »Ja, das Kreuz schon.«

»Sie meinen, daß sonst niemand sicher ist? Denken Sie auch an den Fluch?«

Während der nächsten ein oder zwei Stunden trug Pater Brown sich mit einer Last von verwirrender Unklarheit, die schlimmer war als der Schlag des tragischen Unglücksfalles. Er legte mit Hand an, als das Opfer in den kleinen Gasthof gegenüber der Schenke getragen wurde, fragte den Arzt aus, der die Verletzung als ernsthaft und gefährlich, aber nicht unbedingt tödlich bezeichnete, und überbrachte diese Nachricht der kleinen Gesellschaft der Reisenden, die sich im Speisezimmer des Gasthofes um den Tisch versammelt hatten. Wo immer jedoch er sich hinwandte, die Wolke des Unverständlichen ruhte auf ihm und schien dunkler zu werden, je mehr er überlegte. Das Hauptgeheimnis wurde immer geheimnisvoller, je mehr die Nebenumstände in seinem Geiste sich erhellten. Je deutlicher die einzelnen Figuren in der bunt zusammengewürfelten Gesellschaft sich erklärten, desto unerklärlicher wurde das, was geschehen war. Leonard Smyth war nur hergekommen, weil Lady Diana gekommen war; und Lady Diana war nur gekommen, weil es ihr so paßte. Sie hatten einen oberflächlichen Gesellschaftsflirt angefangen, einen von denen, die um so alberner sind, als sie sozusagen auf intellektueller Grundlage beruhen. Aber die Dame war nicht nur romantisch, sie war auch abergläubisch, und das schreckliche Ende ihres Abenteuers hatte sie fast krank gemacht. Paul Tarrant war ein Privatdetektiv, der wahrscheinlich im Auftrage einer Frau oder eines Gatten den Flirt beobachtete; vielleicht war er auch hinter dem Fremden mit dem Schnurrbart her, der ganz wie ein lästiger Ausländer aussah. Hatte aber er oder irgendein anderer die Absicht gehabt, die Reliquie zu stehlen, so war diese Absicht endgültig gescheitert. Und aller menschlichen Wahrscheinlichkeit nach war sie entweder an einem unglaublichen Zufall gescheitert oder an dem Dazwischentreten des uralten Fluches.

So stand er in einer ganz ungewöhnlichen Verwirrung mitten auf der Dorfstraße und war überrascht, eine in der letzten Zeit zwar häufig gesehene, aber ziemlich unerwartete Gestalt herankommen zu sehen. Mr. Boon, der Journalist, sah recht zerrupft aus und im Licht der Sonne wirkte seine Kleidung wie die einer Vogelscheuche. Seine schwarzen, tiefen Augen, die auf beiden Seiten seiner lang herabhängenden Nase nahe beieinanderstanden, waren auf den Priester gerichtet. Dieser sah zweimal hin bevor er sicher war, ob der schwere schwarze Schnurrbart etwas wie ein Grinsen oder zumindest in hämisches Lächeln verbarg.

»Ich dachte, Sie wären abgereist«, sagte Pater Brown etwas spitz. »Ich dachte, Sie hätten den Zug genommen, der vor zwei Stunden abfuhr.«

»Nun, Sie sehen, das habe ich nicht getan«, sagte Boon.

»Warum sind Sie zurückgekommen?« fragte der Priester fast streng.

»Dies hier ist nicht eines der kleinen ländlichen Paradiese, die ein Journalist rasch wieder verläßt«, antwortete der andere, »Die Ereignisse folgen hier zu rasch aufeinander, um inzwischen an einen so langweiligen Platz wie London zurückzugeben. Außerdem kann man mich von dieser ganzen Affäre nicht ausschließen — ich meine von dieser zweiten Affäre. Schließlich habe ich den Leichnam gefunden, oder zumindest die Kleider. Mein Benehmen war ziemlich verdächtig, nicht wahr? Vielleicht glauben Sie, ich wollte mich mit diesen Kleidungsstücken verkleiden. Würde ich nicht einen reizenden Priester abgeben?«

Und der dürre und langnasige Schmierenkomödiant machte plötzlich mitten auf dem Marktplatz eine theatralische Geste, breitete seine Arme aus und spreizte seine schwarz behandschuhten Finger, als wollte er auf eine komische Art den Segen erteilen, und sagte: »Oh, ihr meine lieben Brüder und Schwestern, laßt mich euch alle umarmen …«

»Um Himmels willen, wovon reden Sie?« rief Pater Brown und kratzte mit einem unförmigen Regenschirm auf den Steinen herum, denn er war etwas weniger geduldig als gewöhnlich.

»Sie werden schon alles erfahren, wenn Sie nur Ihre Picknickgesellschaft da drinnen im Gasthof fragen«, erwiderte Boon verächtlich. »Dieser Mr. Tarrant scheint mich zu verdächtigen, lediglich weil ich die Kleider fand. Obwohl er nur eine Minute zu spät kam, um sie selbst zu finden. Doch es gibt allerhand Geheimnisse in dieser Geschichte. Der kleine Mann mit dem großen Schnurrbart scheint mehr hinter den Ohren zu haben, als man auf den ersten Blick sieht. Und was das betrifft, so sehe ich nicht ein, warum nicht Sie selbst den armen Burschen getötet haben sollten.«

Pater Brown schien von dieser Verdächtigung nicht im geringsten berührt, doch von den Bemerkungen recht beunruhigt und verwirrt.

»Glauben Sie«, fragte er schlicht, »daß ich versucht habe, Professor Smaill zu töten?«

»Keineswegs«, sagte der andere und schwang seine Hand wie jemand, der ein artiges Zugeständnis macht. »Es gibt genug Tote unter denen Sie wählen können. Sie sind nicht auf Professor Smaill angewiesen. Wie, Sie wissen nicht, daß jemand anderer aufgetaucht ist, der noch um ein beträchtliches toter war als Professor Smaill? Und ich wüßte nicht, warum nicht Sie ihn um die Ecke gebracht haben sollten, ganz still und heimlich. Religöse Differenzen, man kennt das ja … bedauerliche Uneinigkeit der Christenheit … ich vermute, Sie wollten immer schon die englischen Pfarreien zurückhaben.«

»Ich gehe in den Gasthof zurück«, sagte der Priester ruhig; »Sie sagen, die Leute dort wüßten, was Sie meinen, und vielleicht sind sie in der Lage, es auch zu sagen.«

Einige Augenblicke später wurden seine persönlichen Besorgnisse für einen Augenblick durch die Nachricht von einem neuen Unglücksfall zerstreut. Als er das Gastzimmer betrat, in dem sich die übrige Gesellschaft versammelt hatte, ersah er sofort aus ihren bleichen Gesichtern, daß sie durch ein späteres Ereignis als die Katastrophe am Grabe tief erschüttert waren. Als er eintrat, sagte Leonard Smyth gerade: »Wann wird das ein Ende nehmen?«

»Es wird nie ein Ende nehmen, sage ich Ihnen«, wiederholte Lady Diana. Sie blickte mit glasigen Augen ins Leere. »Es wird erst enden, wenn wir alle nicht mehr sind. Einen nach dem andern wird uns der Fluch dahinraffen; langsam vielleicht, wie der arme Pfarrer meinte; aber uns alle wird er erreichen, wie er ihn erreicht hat.«

»Was in aller Welt ist geschehen?« fragte Pater Brown.

Zuerst herrschte Schweigen; dann sagte Tarrant mit einer Stimme, die etwas hohl klang: »Herr Walters, der Pfarrer, hat Selbstmord begangen. Wahrscheinlich hat: sein Verstand unter dem Schlag gelitten. Aber leider steht die Sache fest. Ich habe selbst seinen schwarzen Hut und Rock auf einem Felsen gefunden, der von der Küste ins Meer hinausragt. Er scheint ins Meer gesprungen zu sein. Er hatte allerdings so ausgesehen, als sei er halb irrsinnig geworden, und vielleicht hätten wir uns um ihn kümmern müssen — aber wir mußten uns um so vieles kümmern!«

»Sie hätten gar nichts ausgerichtet«, sagte die Dame; »sehen Sie denn nicht, daß das Verhängnis in einer fürchterlichen Reihenfolge seinen Lauf nimmt? Der Professor berührte das Kreuz und er mußte zuerst verschwinden; der Pfarrer hatte das Grab geöffnet — er war der zweite; wir haben nur die Kapelle betreten und wir —«

»Still«, sagte Pater Brown mit einer schneidenden Stimme, die er nur selten annahm. »Das muß aufhören.«

Unwillkürlich runzelte er noch immer stark die Brauen, aber seine Augen waren nicht mehr von dem ungelösten Geheimnis bewölkt, sondern leuchteten in einem fast furchtbaren Verstehen.

»Was bin ich nur für ein Esel gewesen!« murmelte er. »Ich hätte es längst sehen müssen. An der Geschichte von dem Fluch hätte ich es erkennen können.«

»Wollen Sie behaupten«, fragte Tarrant, »daß wir wirklich jetzt an einer Sache sterben können, die sich im 13. Jahrhundert ereignet hat?«

Pater Brown schüttelte den Kopf und sagte mit ruhiger Betonung: »Ich möchte nicht darüber diskutieren, ob wir an etwas sterben können, das im 13. Jahrhundert passiert ist. Aber das eine steht für mich bombenfest, daß wir nicht an etwas sterben können, was keinesfalls im 13.Jahrhundert passiert ist, ja überhaupt nie und nirgends.«

»Nun«, sagte Tarrant, »es tut wohl zu hören, daß ein Priester das Übernatürliche so skeptisch betrachtet.«

»Keineswegs«, erwiderte der Priester ruhig; »ich zweifle nicht an der übernatürlichen Seite der Sache. Sondern an der natürlichen. Ich befinde mich genau in der Lage des Mannes, der erklärte: Ich kann das Unmögliche glauben, aber nicht das Unwahrscheinliche.«

»Das würden Sie ein Paradoxon nennen, nicht wahr?« fragte der andere.

»Ich würde es gesunden Menschenverstand nennen, wenn man es richtig begreift«, erwiderte Pater Brown. »Es ist viel natürlicher, einer übernatürlichen Erzählung Glauben zu schenken, die von unverständlichen Dingen handelt, als einer natürlichen Geschichte, die zu wohlbekannten Dingen in Widerspruch steht. Wenn Sie mir erzählen, daß der große Gladstone in seiner Todesstunde den Geist Parnells erblickte, werde ich mich wie ein Agnostiker verhalten. Wenn Sie mir aber sagen, daß Gladstone, als er zum ersten Mal der Königin Viktoria vorgestellt wurde, in ihrem Salon den Hut auf dem Kopf behielt, ihr auf die Schulter klopfte und ihr eine Zigarre anbot, so werde ich mich nicht wie ein Agnostiker gebärden. Es ist nicht unmöglich, es ist nur unglaublich. Trotzdem bin ich viel überzeugter, daß es nicht passiert ist, als ich sicher bin, daß Parnells Geist nicht erschien; denn es verletzt die Gesetze einer Welt, die ich kenne. Ebenso ist es mir mit der Erzählung vom Fluch ergangen. Nicht der Legende mißtraue ich, sondern der Geschichte.«

Lady Diana hatte sich von ihrer kassandrahaften Erstarrung etwas erholt und die ewige Neugierde nach Neuem gückte ihr bereits wieder aus den hellen, vorstehenden Augen.

»Was sind Sie doch für ein ulkiger Mensch!« sagte sie. »Warum wollen Sie die Geschichte nicht glauben?«

»Weil die Geschichte nicht historisch ist«, antwortete der Priester. »Jedem, der auch nur das Geringste vom Mittelalter weiß, mußte die Erzählung so unwahrscheinlich klingen, wie, daß Gladstone der Königin eine Zigarre angeboten hat. Aber wer weiß denn etwas vom Mittelalter? Wissen Sie, was eine Innung war? Haben Sie je von salvo vanagio suo gehört? Ist Ihnen klar, was für Leute die servi regis waren?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte die Dame ärgerlich. »Was für eine Unmenge lateinischer Wörter!«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Pater Brown. »Hätte es sich um Tut-ench-Amun und eine Anzahl vertrockneter Afrikaner gehandelt, die Gott weiß warum, am andern Ende der Welt erhalten geblieben sind; wäre von Babylon oder China die Rede gewesen, oder von einer Rasse, die uns so wenig angeht und so geheimnisvoll ist wie der Mann im Mond, dann hätten Sie aus Ihren Zeitungen jede Kleinigkeit darüber erfahren, bis zur Entdeckung einer Zahnbürste und eines Kragenknopfes. Aber die Leute, die Ihre eigenen Pfarrkirchen gebaut haben, die Ihren eigenen Städten und Gewerben, ja sogar den Straßen, auf denen Sie gehen, ihre Namen gegeben haben — nie ist Ihnen der Gedanke gekommen, irgend etwas über sie in Erfahrung zu bringen. Ich behaupte nicht, daß ich sehr viel weiß; aber genug, um zu begreifen, daß die Geschichte von A bis Z Blödsinn ist. Nie hätte ein Geldverleiher den Laden und das Werkzeug eines Mannes pfänden können. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die Innung ihn nicht vom Untergang gerettet hätte, besonders wenn er von einem Juden zugrunde gerichtet wurde. Die damaligen Menschen hatten ihre eigenen Laster und Tragödien; es kam vor, daß sie Menschen folterten und verbrannten. Aber die Idee, daß ein Mensch, der von Gott und jeder Hoffnung verlassen sich in eine Ecke verkriecht um zu sterben — einfach, weil niemand an seinem Leben etwas liegt —, das ist keine mittelalterliche Idee. Das ist eine Folge unserer Wirtschaftspolitik und unseres Fortschritts. Der Jude konnte auch nicht Vasall eines Grundherrn sein. Die Juden nahmen als Diener des Königs immer eine besondere Stellung ein. Jedenfalls konnte er nicht verbrannt werden, weil er ein Jude war.«

»Das wird ja immer widerspruchsvoller«, bemerkte Tarrant; »wollen Sie etwa auch leugnen, daß die Juden im Mittelalter verfolgt wurden?«

»Es wird der Wahrheit näher kommen«, sagte Pater Brown, »wenn wir sagen, daß sie die einzigen Leute waren, die im Mittelalter nicht verfolgt wurden. Wenn Sie sich über das Mittelalter lustig machen wollen, können Sie Eindruck machen, indem Sie sagen, daß vielleicht ein armer Christ verbrannt werden konnte, weil er im Homoousion einen Fehler gemacht hatte, während ein reicher Jude öffentlich auf der Straße Christus und die Mutter Gottes verhöhnen durfte. Ja, so sieht die Geschichte aus. Es ist keine mittelalterliche Geschichte, ja nicht einmal eine mittelalterliche Legende. Sie wurde von einem Menschen, dessen Begriffe aus Romanen und Zeitungen stammen, erfunden, und höchstwahrscheinlich aus dem Stegreif.«

Die andern schienen durch die historische Abschweifung etwas benommen und ein wenig erstaunt, warum der Priester sie so stark unterstrich und zu einem wichtigen Teil des Rätsels erhob. Tarrant jedoch, dessen Beruf es war, die wichtigen Einzelheiten aus vielen verworrenen Abschweifungen herauszuklauben, war plötzlich aufmerksam geworden. Sein bärtiges Kinn schob sich weiter vor als je, aber seine trotzigen Augen waren ganz lebendig.

»Aha«, sagte er, »aus dem Stegreif erfunden!«

»Das ist vielleicht übertrieben«, erwiderte Pater Brown ruhig. »Ich hätte sagen sollen: sorgloser und improvisierter erfunden als die übrige, ungemein vorsichtig ausgedachte Intrige. Freilich dachte der Intrigant, daß sich niemand viel um die geschichtlichen Einzelheiten kümmern würde. Und im Ganzen war die Berechnung ja auch ziemlich richtig, so wie seine anderen Berechnungen.«

»Wessen Berechnungen? Was war richtig?« fragte die Dame mit plötzlicher, leidenschaftlicher Ungeduld. »Von wem reden Sie eigentlich? Haben wir nicht genug ausgestanden? Müssen Sie uns noch mit Ihrem ›Er‹ und ›Seine‹ zum Gruseln bringen?«

»Ich spreche von dem Mörder«, sagte Pater Brown.

»Von welchem Mörder?« fragte sie scharf. »Wollen Sie damit sagen, daß der arme Professor ermordet wurde?«

»Nun«, sagte Tarrant, dessen Augen weit geöffnet waren, in seinen Bart hinein, »wir können kaum sagen: ›ermordet‹, denn wir wissen ja noch nicht, ob er sterben muß.«

»Der Mörder hat einen andern getötet«, sagte der Priester ernst, »der nicht Professor Smaill war.«

»Wen hat er denn töten können?« fragte sie.

»Er hat Hochwürden, den Pfarrer John Walters von Dulham getötet«, erwiderte Pater Brown mit Präzision. »Er wollte auch nur diese beiden töten, denn sie waren beide im Besitz ganz bestimmter Reliquien von großer Seltenheit. In diesem Punkte war der Mörder ein Monomane.«

»Das klingt alles sehr sonderbar«, brummte Tarrant. »Wir können ja auch gar nicht darauf schwören, daß der Pfarrer wirklich tot ist. Wir haben ja seinen Leichnam nicht gesehen.«

»O doch«, sagte Pater Brown.

Eine Stille entstand, plötzlich wie der Schlag einer Glocke; eine Stille, in der das unbewußte Rätselraten, das in der Frau so lebendig und so sicher war, sie fast bis zum Aufschrei erschütterte.

»Gerade den haben Sie gesehen«, fuhr der Priester fort. »Sie haben seinen Leichnam gesehen. Ihn selbst, den Lebenden, haben Sie nicht gesehen; wohl aber seinen Leichnam. Sie haben ihn beim Lichte von vier Kerzen ganz genau angestarrt; nicht nach einem Selbstmord, vom Meere hin- und hergeworfen, sondern prunkvoll aufgebahrt, wie ein Kirchenfürst, in einem Schrein, der vor den Kreuzzügen errichtet werden war.«

»Kurzum«, sagte Tarrant, »Sie fordern uns tatsächlich auf zu glauben, daß der einbalsamierte Körper die Leiche eines Ermordeten war.«

Einen Augenblick schwieg Pater Brown; dann sagte er, als gehöre es nicht zur Sache:

»Das erste, das mir auffiel, war das Kreuz — oder vielmehr die Schnur, an der das Kreuz hing. Erklärlicherweise war es für die meisten von Ihnen nur eine Schnur Perlen, und nichts weiter, aber — ebenso erklärlicherweise — schlug das mehr in mein Fach als in Ihres. Wie Sie sich erinnern, lag sie nahe am Kinn; wenige Perlen waren sichtbar, als sei das ganze Halsband nur sehr kurz. Die sichtbaren Perlen waren jedoch in ganz bestimmter Reihenfolge angeordnet; erst eine, dann drei und so weiter; kurz, ich erkannte auf den ersten Blick den Rosenkranz, einen gewöhnlichen Rosenkranz mit einem Kreuz am Ende. Nun hat aber ein Rosenkranz mindestens fünf mal zehn Perlen, und noch einige darüber; und selbstredend konnte ich nicht begreifen, wo das übrige hingekommen war. Die Kette hätte mehr als zweimal um den Hals des Greises reichen müssen. Damals verstand ich es nicht; erst später fiel mir ein, wo die ganze Länge geblieben war. Sie war mehrmals um das untere Ende der Holzstütze gewickelt werden, die in der Ecke des Sarges eingezwängt stand und den Deckel offenhielt. Und als der arme Smaill nur eben am Kreuz zupfte, zog er die Stütze fort, und der Deckel fiel auf seinen Schädel wie ein steinerner Knüppel.«

»Donnerwetter!« sagte Tarrant, »ich fange an zu glauben, daß Sie recht haben. Eine merkwürdige Sache, wenn es stimmt.«

»Als ich das begriffen hatte«, fuhr Pater Brown fort, »konnte ich mir das übrige recht und schlecht zusammenreimen. Bedenken Sie vor allem, daß vorläufig die Altertumsforschung sich nur darauf erstreckte, die Untersuchung zu gestatten. Der arme alte Walters war ein ehrlicher Forscher und hatte das Grab geöffnet, um sich zu überzeugen, ob an der Legende über einbalsamierte Körper etwas Wahres war oder nicht. Alles andere waren bloß jene Gerüchte, die oft solche Funde zu früh ausschreien oder übertreiben. Tatsächlich sah er, daß der Körper nicht einbalsamiert, sondern längst zu Staub zerfallen war. Als er aber beim Schein seiner einsamen Kerze in der versunkenen Kapelle arbeitete, warf das Kerzenlicht plötzlich einen Schatten, der nicht sein eigener war.«

»Ach!« rief Lady Diana und hielt den Atem an. »Jetzt weiß ich, was Sie meinen. Sie wollen damit sagen, daß wir den Mörder getroffen, mit ihm gesprochen und gescherzt, eine romantische Geschichte angehört und ihn dann ungestraft haben gehen lassen.«

»Wobei er seine geistliche Verkleidung auf dem Felsen zurückließ«, stimmte Pater Brown bei. »Es ist alles schauerlich einfach. Dieser Mensch kam dem Professor beim Wettlauf zu Kirchhof und Kapelle zuvor — vielleicht gerade, während der Professor mit dem melancholischen Journalisten sprach. Er traf den alten Geistlichen am offenen Grab und tötete ihn. Dann zog er die schwarzen Kleider des Toten an, hüllte den Leichnam in einen alten Chorrock, den man wirklich im Sarge gefunden hatte, und legte ihn in den Sarg, wobei er den Rosenkranz und die Stäbe so herrichtete, wie ich es Ihnen geschildert habe. Nachdem er so die Falle für den zweiten Feind gestellt hatte ging er wieder ans Tageslicht und begrüßte uns alle mit der liebenswürdigen Herzlichkeit eines Landgeistlichen.«

»Er setzte sich dabei der erheblichen Gefahr aus«, wandte Tarrant ein, »daß jemand Walters vom Sehen kannte.«

»Ich gebe zu, daß er halb verrückt war«, stimmte Brown bei, »aber Sie werden zugeben, daß es sich für ihn gelohnt hat, sich der Gefahr auszusetzen, denn schließlich ist er doch entwischt.«

»Ich gebe zu, daß er großes Glück gehabt hat«, brummte Tarrant. »Wer zum Teufel ist es nun eigentlich gewesen?«

»Wie Sie sagen, hat er großes Glück gehabt«, antwortete Pater Brown, »und nicht zum wenigsten gerade darin. Denn dies eine werden wir wohl nie erfahren.«

Er blickte mit gerunzelten Brauen auf den Tisch und fuhr fort: »Der Mensch hat jahrelang auf der Lauer gelegen und gedroht, aber dabei sorgfältigst das Geheimnis seiner Identität gewahrt; und er wahrt es noch. Wenn jedoch der arme Smaill wieder aufkommt — und ich hoffe es bestimmt — dann werden Sie wohl sicher nochmals von der Sache hören.«

»Wieso? Was wird Professor Smaill tun, glauben Sie?« fragte Lady Diana.

»Ich glaube, zuerst wird er die Detektive wie Spürhunde auf den mordlustigen Teufel hetzen«, sagte Tarrant. »Am liebsten würde ich selbst mein Glück versuchen.«

»Nun«, sagte Pater Brown und lächelte zum ersten Mal, statt die Brauen zu runzeln wie bisher, »ich glaube zu wissen, was er eigentlich zu allererst tun müßte.«

»Nämlich?« fragte Lady Diana mit anmutiger Neugier.

»Er sollte Sie alle um Verzeihung bitten«, sagte Pater Brown.

Doch darüber sprach Pater Brown nicht, als er am Bett von Professor Smaill während dessen Genesung saß. Auch war es nicht in erster Linie Pater Brown, der sprach; denn obwohl dem Professor die Aufregung einer Unterhaltung nur in kleinen Dosen erlaubt war, sprach er häufig mit seinem geistlichen Freund. Pater Brown hatte das Talent, auf anregende Art schweigen zu können, und Smaill wurde dadurch angeregt, manche seltsamen Dinge zu erörtern, über die man nicht immer leicht spricht; wie etwa über die krankhaften Phasen der Genesung und die monströsen Träume, die oft das Delirium begleiten. Es ist zuweilen ein recht zwiespältiges Geschäft, sich von einem bösen Schlag auf den Kopf zu erholen; wenn es sich dabei jedoch um einen so interessanten Kopf wie den von Professor Smaill handelt, können sogar seine Verstörungen und Verwirrungen originell und interessant sein. Seine Träume erhielten kühne und große, ziemlich ungefüge Vorstellungen, die denen der starken, aber starren archaischen Kunst gleichen, die er studiert hatte; sie waren voller absonderlicher Heiliger mit viereckigen oder dreieckigen Heiligenscheinen, voller goldener ungewöhnlicher Kronen und Gloriolen um dunkle abgeplattete Gesichter, voller östlicher Adler und hoher Kopfputze bärtiger Männer, deren Haare wie die von Frauen aufgebunden waren. Es gab, wie er seinem Freund erzählte, nur eine einzige einfachere und weniger verwirrende Gestalt, die immer wieder in seine Erinnerungsvorstellungen zurückkam. Immer wieder verblaßte diese byzantinische Bilderwelt wie Gold in Flammen; und nichts bliebe übrig als die nackte schwarze Felswand, auf die die schimmernden Umrisse des Fisches gezeichnet waren, wie mit einem Finger, der in die phosphoreszierenden Leiber der Fische getaucht war. Es war das Zeichen, das er einst gefunden hatte und das er in dem Augenblick gesehen hatte, als er zum ersten Mal hinter einer Biegung des schwarzen Ganges die Stimme seines Feindes gehört hatte.

»Endlich«, sagte er, »glaube ich einen Sinn in dem Bild und in der Stimme erkannt zu haben; und einen, auf den ich nie zuvor gekommen wäre. Warum soll es mich beunruhigen, wenn ein Verrückter unter einer Million gesunder Menschen, der in eine große Gesellschaft, die gegen ihn steht, eingeschlossen ist, sich dessen rühmt, daß er mir nachstellt oder mich bis in den Tod verfolgt? Der Mensch, der in der dunklen Katakombe das geheime Symbol Christi gezeichnet hatte, wurde auf ganz andere Art verfolgt. Er war ein einsamer Verrückter und die ganze gesunde Gesellschaft war sich einig, ihn nicht retten, sondern vernichten zu wollen. Ich habe manchmal gegrübelt und mich beunruhigt und darüber nachgedacht, wer denn mein Verfolger war; ob es Tarrant war; ob es Leonard Smyth war; ob es überhaupt einer von ihnen war. Nehmen wir an, alle seien es gewesen. Stellen wir uns vor, es seien alle die Menschen auf dem Schiff und die Menschen im Zug und die Menschen im Dorf gewesen. Nehmen wir an, sie wären, soweit es mich betrifft, alle potentielle Mörder. Ich glaubte, ich hätte ein Recht, beunruhigt zu sein, weil ich im Finstern durch die Eingeweide der Erde gekrochen war und dort einen Menschen getroffen hatte, der mich vernichten wollte. Was wäre gewesen, wenn der Vernichter oben im Tageslicht gewesen wäre und ihm die ganze Erde gehört und er alle Armeen und Massen befehligt hätte? Was wäre gewesen, wenn er in der Lage gewesen wäre, mich in meinem Loch auszuräuchern oder mich in dem Augenblick zu töten, da ich meine Nase ans Tageslicht herausstreckte? Wie wäre es, wenn man sich mit Mord in solchem Ausmaß beschäftigte? Die Welt hat diese Dinge vergessen, so wie sie bis vor kurzem den Krieg vergessen hat.«

»Ja«, sagte Pater Brown, »aber der Krieg ist gekommen. Der Fisch kann wieder in den Untergrund getrieben werden, aber er wird wieder ans Tageslicht heraufkommen. Wie der heilige Antonius von Padua humorvoll bemerkte: ›Nur die Fische überleben die Sintflut.‹«

Der geflügelte Dolch

Pater Brown wurde es zu einer bestimmten Zeit seines Lebens recht schwer, seinen Hut an einem Garderobeständer aufzuhängen, ohne einen leichten Schauer zu unterdrücken. Diese Idiosynkrasie entsprang freilich nur einer nebensächlichen Episode in einem Komplex von Ereignissen, aber vielleicht der einzigen, die den Vielbeschäftigten später noch an den Fall erinnerte. Sie hing mit denselben Tatsachen zusammen, die den Polizeiarzt Boyne dazu veranlaßten, an einem frostkalten Dezembermorgen nach dem Priester zu schicken.

Dr. Boyne, ein großer, brünetter Ire, gehörte zu den rätselhaften Söhnen Irlands, die man überall auf der Welt findet: sie reden ein Langes und Breites über wissenschaftlichen Skeptizismus, Materialismus und Zynismus; wo aber ein religiöser Ritus ins Spiel kommt, fällt es ihnen nicht im Traume ein, etwas anderes zu Rate zu ziehen als die traditionelle Religion ihres Vaterlandes. Es läßt sich schwer feststellen, ob ihr Glaubensbekenntnis aus einem oberflächlichen Firnis oder einer soliden Grundlage besteht; vermutlich aus beidem und einer Zwischenschicht von Materialismus. Wie dem auch sei, der Arzt ließ den Priester immer dann rufen, wenn es sich um solche Fragen zu handeln schien, ohne jedoch viel Wert auf diese besondere Seite der Angelegenheit zu legen.

»Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich Sie brauche«, begrüßte er den Priester. »Ich weiß überhaupt noch herzlich wenig. Hol’ mich der Teufel, mit ist doch noch nicht mal klar, ob dies ein Fall ist, der einen Arzt, einen Polizisten oder einen Priester angeht.«

»Nun«, sagte Pater Brown lächelnd, »da Sie doch sowohl Arzt als Polizist sind, bilde ich jedenfalls eine Minorität.«

»Aber eine unterrichtete Minorität, wie es in der Politik heißt«, erwiderte der Arzt. »Damit meine ich, daß Sie schon in unserem Ressort gearbeitet haben. Aber es ist eben verflucht schwer zu entscheiden, ob der bewußte Fall in Ihr Fach schlägt oder in unseres, oder gar ganz einfach in das Ressort eines Irrenarztes gehört. Ein Mann, der hier in der Nähe wohnt — in dem weißen Haus, das Sie da oben auf dem Hügel sehen —, hat uns eben einen Boten geschickt: er bittet um Hilfe, weil er in mörderischer Absicht verfolgt wird. Wir haben bereits so gut wie möglich recherchiert. Am besten erzähle ich Ihnen von Anfang an, wie nach unserer Ansicht der Fall sich bis jetzt entwickelt hat.

Wie es scheint, hat ein gewisser Aylmer, ein reicher Gutsbesitzer aus dem Westen Englands, sich spät verheiratet und drei Söhne gehabt: Philipp, Stefan und Arnold. Als er aber noch Junggeselle war und nicht auf einen Erben hoffte, hatte er einen sehr begabten und vielversprechenden Jungen namens John Strake adoptiert. Die Abstammung des Jungen ist dunkel; er gilt für ein Findelkind, andere behaupten sogar, er sei Zigeuner. Wahrscheinlich hängt diese zweite Vermutung mit dem Umstand zusammen, daß der alte Aylmer sich als Greis mit allen möglichen trüben okkultistischen Dingen befaßt hat, wie Chiromantie und Astrologie; seine drei Söhne behaupteten, daß Strake ihn darin bestärkt habe. Aber sie haben auch sonst noch eine Menge gesagt. Daß Strake ein erstaunlicher Schurke und besonders ein erstaunlicher Lügner war; daß er es auf geniale Weise verstand, aus dem Stegreif Lügen zu erfinden und sie so überzeugend vorzutragen, daß sogar die Polizei darauf hereinfiel. Aber möglicherweise ist das ein natürliches Vorurteil, wenn man bedenkt, was nachher geschah. Der Alte hinterließ nämlich so gut wie alles dem adoptierten Sohn, und nach seinem Tode fochten die drei Söhne das Testament an. Sie führten an, daß ihr Vater solange in Angst versetzt worden sei, bis er nachgegeben, oder, um es geradeheraus zu sagen, bis er das letzte bißchen Verstand verloren habe. Sie behaupteten, daß Strake es auf die sonderbarste und gerissenste Weise fertigbrachte, zu ihm vorzudringen, obwohl die Pflegerinnen und die Familie auf der Lauer lagen, und ihn noch auf dem Sterbebett terrorisierte. Jedenfalls ist es ihnen gelungen, etwas über den Geisteszustand des Alten zu beweisen, denn die Gerichte erklärten das Testament für ungültig und die Söhne erbten das Vermögen. Strake soll einen furchtbaren Wutanfall gehabt und geschworen haben, sie alle drei nacheinander zu ermorden; kein Versteck könnte sie vor seiner Rache schützen. Jetzt hat sich der dritte und letzte der Brüder, Arnold Aylmer, an die Polizei um Schlutz gewendet.«

»Der dritte und letzte«, sagte der Priester und sah ihn ernst an.

»Jawohl«, erwiderte Boyne. »Die beiden anderen sind tot.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann fuhr er fort: »Hier beginnt die Sache unklar zu werden. Beweise, daß sie ermordet wurden, liegen nicht vor — aber es ist nicht ausgeschlossen. Der Älteste, der sich als Grundbesitzer aufs Land zurückzog, soll in seinem Garten Selbstmord begangen haben. Der zweite, der sich als Fabrikant etablierte, wurde in seiner Fabrik von einer Maschine tödlich verletzt; es ist möglich, daß er gestolpert und gefallen ist. Wenn Strake sie aber wirklich beide umgebracht hat, ist die Art und Weise, wie er es anstellt und sich dann aus dem Staube macht, wirklich außerordentlich geschickt. Andererseits ist es mehr als wahrscheinlich, daß die ganze Sache auf eine Verschwörungsmanie hinausläuft, die nur auf einen Zufall zurückgeht. Passen Sie mal auf, was ich möchte. Ich möchte, daß ein vernünftiger Mensch, aber kein Beamter, hingeht, mit diesem Arnold Aylmer redet und sich den Mann anguckt. Sie wissen ja, wie ein Mensch aussieht, der eine fixe Idee hat, und wie sich einer benimmt, der die Wahrheit spricht. Bilden Sie die Vorhut, bevor wir die Sache in die Hand nehmen.«

»Es ist ziemlich dumm«, sagte Pater Brown, »daß Sie die Sache nicht früher in die Hand zu nehmen hatten. Wenn an dieser Geschichte etwas dran ist, dann zieht sich das wahrscheinlich schon eine ganze Weile hin. Gibt es einen besonderen Grund, warum er gerade jetzt nach Ihnen rufen läßt?«

»Daran habe ich auch schon gedacht, wie Sie sich vorstellen können«, antwortete Dr. Boyne. »Er gibt einen Grund an, aber ich muß gestehen, das ist es gerade, wodurch mir das ganze wie der schrullige Einfall eines halbschlauen Sonderlings vorkommt. Er erklärte, seine gesamte Dienerschaft sei plötzlich in Streik getreten und hätte ihn verlassen, so daß er gezwungen sei, die Polizei zu bitten, sein Haus zu bewachen. Als ich nachforschte, habe ich in der Tat herausgefunden, daß es einen allgemeinen Auszug der Dienerschaft aus dem Haus am Berg gegeben hat; und natürlich ist die Stadt voller Gerüchte, ziemlich einseitiger Gerüchte muß ich sagen. Nach ihnen scheint ihr Arbeitgeber in seiner Unruhe und Furcht und durch seine Ansprüche ziemlich unmöglich geworden zu sein. Er verlangte von ihnen, daß sie das Haus wie regelrechte Wachposten bewachten oder wie Nachtschwestern wach blieben; sie konnten nie alleine sein, weil er nie alleine gelassen werden durfte. So verkündeten sie laut, er sei geisteskrank und machten sich davon. Natürlich beweist das noch nicht, daß er wirklich geisteskrank ist; es dürfte heutzutage jedoch als ziemlish überdreht gelten, wenn ein Mann erwartet, daß sein Kammerdiener oder sein Zimmermädchen sich wie eine bewaffnete Leibgarde verhalten.«

»Er will also«, sagte der Priester mit einem Lächeln, »daß ein Polizist sein Zimmermädchen ist, weil sein Zimmermädchen kein Polizist sein will.«

»Ich fand das auch ziemlich stark«, gab der Doktor zu, »aber ich kann es nicht verantworten, das einfach abzulehnen, solange ich nicht einen Kompromiß versucht habe. Sie sind der Kompromiß.«

»Schön«, sagte Pater Brown einfach. »Wenn Sie wollen, besuche ich ihn gleich jetzt.«

Das hügelige Land rings um die kleine Stadt war vom Frost in Fesseln geschlagen, der Himmel so blau und kalt wie Stahl. Nur im Nordosten begannen Wolken mit schwefeligem Rand am Himmel hochzusteigen. Gegen diesen Hintergrund von dunklen und drohenden Farben erglänzte das Haus auf dem Hügel mit einer Reihe von blassen Pfeilern, die nach klassischem Muster einen kurzen Säulengang bildeten. Eine Straße führte in Windungen über die Schwellung des Hügels und verschwand in einem dunklen Gebüsch. Kurz bevor er die Büsche erreichte, wurde die Luft kälter und kälter, als nähere der Priester sich einem Eiskeller oder dem Nordpol. Da er aber ein höchst praktisch veranlagter Mensch war, der Phantasien nur als Phantasien gelten ließ, schielte er nur einen Augenblick lang nach der großen fahlen Wolke, die über dem Hause heraufkroch, und bemerkte in heiterem Tone:

»Es wird bald schneien.«

Durch ein niedriges Eisentor mit Ornamenten in italienisierendem Stil betrat er einen Garten, der etwas von der Trostlosigkeit hatte, die durch die Unordnung geordneter Dinge entsteht. Tiefgrüne Gewächse waren grau vom leichten Reif des Frostes, lange Gräser hatten um die unkenntlich gewordenen Blumenbeete, die nun wie zerborstene Rahmen aussahen, Fransen gelegt; und das Haus stand bis zu den Hüften in einem verkümmerten Wald von Büschen und Sträuchern. Die Vegetation bestand hauptsächlich aus immergrünen oder sehr widerstandsfähigen Pflanzen; und wenn der Garten auch dicht und fällig war, wirkte er doch zu nördlich, um üppig genannt zu werden. Man hätte ihn einen arktischen Dschungel nennen können. In gewissem Sinn traf das auch auf das Haus zu, das eine Säulenreihe und eine klassische Fassade aufwies, die durchaus auf das Mittelmeer hätte schauen können, die aber jetzt im Wind der Nordsee zu verwelken schien. Einige klassische Ornamente unterstrichen den Kontrast; Karyatiden und komische oder tragische Steinmasken glotzten von den Ecken des Gebäudes auf das graue Durcheinander der Gartenwege herab; aber man hatte das Gefühl, die Gesichter fröstelten und selbst die Voluten der Kapitelle schienen sich in der Kälte eingerollt zu haben.

Pater Brown ging die grasbewachsenen Stufen zu einer quadratischen Terrasse, die von großen Säulen flankiert war, hinauf und klopfte an die Tür. Nach etwa vier Minuten klopfte er abermals. Dann stand er ruhig da und wartete geduldig, den Rücken hatte er der Tür zugekehrt, er sah auf die langsam dunkler werdende Landschaft hinaus. Sie wurde dunkler durch den Schatten einer großen Wolkenbank, die von Norden heraufzog; und gerade als er durch die Säulen der Terrasse, die in dem Zwielicht gewaltig und dunkel über ihm aufragten, hinausblickte, sah er den schimmernden, sich kräuselnden Rand der großen Wolke, die über das Dach segelte und sich wie ein Baldachin darüberwölbte. Dieser Baldachin mit seinen zartgefärbten Rändern schien tiefer und tiefer über den Garten zu sinken, und was vor kurzem noch ein bleicher Winterhimmel gewesen war, bestand jetzt aus einigen silbernen Bändern und Fetzen. Pater Brown wartete, aber kein Ton kam aus dem Haus.

Dann begab er sich rasch die Treppen wieder hinunter und hinters Haus, um einen anderen Eingang zu suchen. Schließlich fand er einen, eine Seitentür an der langen Wand, und an diese hämmerte er ebenfalls und vor ihr wartete er abermals. Dann versuchte er, die Klinke niederzudrücken, stellte aber fest, daß die Tür offenbar blockiert oder auf irgendeine Weise festgemacht war. So ging er an dieser Seite des Hauses entlang und dachte über die Situation nach; er überlegte, ob der exzentrische Mr. Aylmer sich vielleicht zu tief im Haus verbarrikadiert hatte, um irgendwelche Geräusche zu hören; oder ob er sich vielleicht jetzt erst recht verbarrikadieren würde, in der Annahme, daß jedes Geräusch die Drohung des Rächers Strake sein müßte. Es konnte auch sein, daß die Dienstboten bei ihrem Aufbruch im Morgengrauen nur eine Tür aufgeschlossen hatten und daß ihr Herr diese dann wieder verschlossen hatte; wie immer er sich aber auch verhalten haben mochte, es war unwahrscheinlich, daß sie in der Stimmung dieses Aufbruchs alle Türen so sorgfältig wie zu einer Verteidigung verschlossen hatten. Er setzte seinen Streifzug durch das Anwesen fort: es war eigentlich kein großes, wenn auch vielleicht ein bißchen ein angeberhaftes Anwesen. Nach ein paar Minuten stellte er fest, daß er es schon ganz umschritten hatte. Und nach einem weiteren Augenblick fand er, was er erhofft und gesucht hatte. Das französische Fenster eines Zimmers, verhangen und überschattet von Weinranken, stand einen Spalt offen und war ohne Zweifel nur zufällig angelehnt geblieben. Er fand sich in einem zentralen Raum, der in einer recht altmodischen Weise gemütlich ausgestattet war. Auf der einen Seite führte eine Treppe nach oben, auf der anderen eine Tür hinaus. Ihm unmittelbar gegenüber war eine weitere Tür, mit einem roten Glasfenster, das in billigem Glas eine rotgekleidete Figur zeigte, etwas kitschig für einen guten Geschmack. Auf einem runden Tischchen zur Rechten sah er eine Art Aquarium — ein großes Glasgefäß mit grünlichem Wasser, in dem Fische und ähnliche Geschöpfe sich wie in einer Zisterne bewegten; gerade gegenüber stand eine Pflanze von der Gattung Palme mit sehr großen grünen Blättern. All dies sah staubig und sehr nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus, und das Telephon, das hinter der Draperie des Alkovens sichtbar wurde, wirkte beinahe überraschend.

»Wer ist da?« rief eine scharfe und mißtrauische Stimme hinter der Glastüre.

»Kann ich Herrn Aylmer sprechen?« erwiderte der Priester in begütigendem Ton.

Die Tür ging auf und ein Herr in einem pfauengrünen Schlafrock trat mit fragendem Ausdruck herein. Sein Haar war struppig und etwas unordentlich, als sei er eben erst aufgestanden oder gewohnt, sich sehr langsam anzuziehen, aber seine Augen blickten nicht nur wach, sondern gespannt, vielleicht sogar erschreckt. Pater Brown konnte sich vorstellen, daß dieser Widerspruch nichts Unnatürliches hatte bei einem Menschen, der unter einer Wolke von Wahnvorstellungen oder Gefahren seelisch gelitten hatte. Der Mann hatte ein schönes Adlerprofil, aber von vorn gesehen herrschte der unordentliche, ja wilde Eindruck vor, den sein ungepflegter brauner Bart hervorrief.

»Ich bin Aylmer«, sagte er, »aber ich bin nicht mehr daran gewöhnt, Gäste zu erwarten.«

Irgendein Ausdruck in den unruhigen Augen des Mr. Aylmer bewog den Priester, sofort zur Sache zu kommen. Wenn der Mann wirklich nur an Verfolgungswahn litt, würde er es wohl um so weniger übelnehmen.

»Stimmt das denn«, sagte er leise, »daß Sie keine Gäste erwarten?«

»Sie haben recht«, erwiderte der andere, »ich erwarte stets einen Gast. Und es kann sein, daß er der Letzte ist.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte Pater Brown. »Jedenfalls aber beruhigt es mich, daß ich ihm offenbar nicht sehr ähnlich sehe.«

Mr. Aylmer schüttelte sich mit einem etwas grimmigen Lachen, »Ganz gewiß nicht«, sagte er.

»Mr. Aylmer«, sagte der Priester offen, »verzeihen Sie die Freiheit, die ich mir herausnehme. Einige Freunde haben mir gesagt, welche Sorgen Sie bedrücken, und mich gebeten, Ihnen, wenn möglich, zu helfen. Um die Wahrheit zu sagen: ich bin in diesen und ähnlichen Dingen nicht ganz unerfahren.«

»Es gibt keine ähnlichen Dinge«, sagte Aylmer.

»Sie meinen«, bemerkte Brown, »daß die Tragödien in Ihrer bedauernswerten Familie keine normalen Todesfälle waren.«

»Ich meine, daß es nicht einmal normale Mordfälle waren«, erwiderte der andere. »Der Mann, der uns alle in den Tod hetzt, ist ein Höllenhund, und seine Macht stammt vom Teufel.«

»Das Böse hat immer nur einen Ursprung«, erwiderte der Priester ernst. »Aber woher wissen Sie, daß es keine normalen Mordfälle waren?«

Aylmer antwortete mit einer einladenden Handbewegung auf einen Sessel hin; dann setzte er sich langsam in einen zweiten, zog die Stirne in Falten und stützte seine Hände auf die Knie. Als er wieder aufsah, war sein Ausdruck milder und nachdenklicher, seine Stimme herzlich und ganz ruhig.

»Glauben Sie nicht«, sagte er, »daß ich ein Mensch bin, dem es an klarem Verstand fehlt. Ich habe diese Schlüsse verstandesmäßig gezogen, denn leider führt der Verstand wirklich dorthin. Ich habe sehr viel darüber gelesen, denn ich habe als einziger die Begabung meines Vaters für etwas dunkle Materien geerbt, so wie ich später seine Bibliothek erbte. Trotzdem beruht das, was ich Ihnen erzählen will, nicht auf dem, was ich gelesen, sondern auf dem, was ich gesehen habe.«

Pater Brown nickte, und der andere fuhr fort, als suche er seine Worte zusammen:

»Im Falle meines älteren Bruders war ich mir zuerst nicht ganz sicher. Es gab dort, wo er erschossen aufgefunden wurde, keine Zeichen oder Fußstapfen, und die Pistole lag neben ihm. Aber er hatte eben einen Drohbrief erhalten; jedenfalls von unserem Feinde, denn er war mit einem geflügelten Dolch gezeichnet, eins seiner verdammten kabbalistischen Mätzchen. Auch hat eines der Dienstmädchen etwas gesehen, was sich in der Dämmerung auf der Gartenmauer fortbewegte und viel zu groß für eine Katze war. Ich will nichts weiter sagen, jedenfalls steht fest, daß der Mörder, wenn er da war, keine Spuren hinterließ. Als aber mein Bruder Stefan starb, lag die Sache anders; und seit damals weiß ich es. Eine Maschine war auf einem offenen Gerüst unter dem Fabrikschlot in Betrieb; ich erreichte die Plattform einen Augenblick, nachdem der eiserne Hammer ihn zu Tode getroffen hatte. Ich sah nicht, daß etwas anderes,ihn getroffen hätte, aber ich sah das Folgende:

Zwischen mir und dem Schlot trieb eine Wolke von Fabriksrauch, aber durch einen Riß sah ich oben auf dem Schlot eine dunkle menschliche Gestalt, in etwas gewickelt, das wie ein schwarzer Mantel aussah. Dann kam der schwefelhaltige Dampf wieder dazwischen, und als er vorübergezogen war, sah ich wieder zu dem entfernten Kamin empor. Da war niemand. Ich bin ein Mensch mit gesundem Menschenverstand, und möchte gerne alle Leute mit gesundem Menschenverstand fragen, wie er auf den schwindlig hohen, unzugänglichen Turm gelangt und wieder heruntergekommen men ist.«

Er starrte den Priester mit rätselhaft herausforderndem Blick an und sagte nach einer Pause unvermittelt:

»Meinem Bruder war der Kopf zerschmettert werden, aber sein Körper hatte nicht sehr gelitten. In seiner Tasche fanden wir wieder eine warnende Botschaft, die vom Tag vorher datiert und mit dem fliegenden Dolch gestempelt war. Ich bin überzeugt davon«, fuhr er düster fort, »daß das Zeichen der geflügelten Dolche nicht willkürlich oder zufällig ist. Nichts was mit diesem widerwärtigen Menschen zusammenhängt, ist zufällig. Alles ist Absicht, wenn auch recht finstere und vertrackte Absicht. Sein Geist ist nicht nur kompliziert zusammengesetzt, sondern beherrscht auch alle möglichen Arten von Geheimsprachen und Zeichen, stumme Signale und wortlose Bilder, die die Namen von namenlosen Dingen sind. Er ist der schlimmste Mensch, den die Welt kennt: der böse Mystiker. Nun, ich will nicht behaupten, alles zu durchschauen, was in diesem Zeichen enthalten ist; aber es scheint mir sicher, daß es mit allem, was er an bemerkenswerten oder sogar unglaublichen Aktionen gegen meine unglückliche Familie ausgeführt hat, in Verbindung stehen muß. Gibt es etwa keine Verbindung zwischen der Vorstellung einer geflügelten Waffe und der geheimnisvollen Art, wie Philip auf seiner eigenen Wiese vom Tode ereilt wurde, ohne daß sich auch nur der leiseste Hauch eines Fußabdruckes im Sand oder Gras gefunden hat? Gibt es keine Verbindung zwischen dem geflügelten Dolch, der wie ein gefiederter Pfeil dahinflog, und der Gestalt, die hoch oben am Schornstein hing, in einen geflügelten Mantel gehüllt?«

»Sie glauben«, sagte Pater Brown nachdenklich, »daß er sich in einem beständigen Schwebezustand befindet?«

»Denken Sie an den fliegenden Ketzer Simon Magus«, erwiderte Aylmer, »und eine der verbreitetsten Weissagungen des Mittelalters behauptete, der Antichrist könne fliegen. Jedenfalls auf dem Dokument war der fliegende Dolch; und ob er nun fliegen konnte oder nicht, töten konnte er jedenfalls.«

»Haben Sie vielleicht bemerkt, auf was für Papier die Botschaft stand?« fragte Pater Brown. »War es gewöhnliches Papier?«

Das sphynxähnliche Gesicht ließ plötzlich ein heiseres Lachen ertönen.

»Sie können sich die Dinger mal selber ansehen«, sagte Aylmer grimmig, »denn ich habe heute morgen auch eines bekommen.«

Er lag in den Sessel zurückgelehnt, seine langen Beine staken aus dem blauen Schlafrock, der ihm etwas zu kurz war, sein bärtiges Kinn ruhte auf der Brust. Ohne weitere Bewegung steckte er die Hand tief in die Tasche des Schlafrocks und hielt mit starr ausgestrecktem Arm dem Priester einen Fetzen Papier hin. Seine ganze Haltung drückte, ähnlich wie bei Paralyse, Starrheit und Zusammenbruch zugleich aus. Doch schon die nächste Bemerkung Pater Browns übte eine merkwürdige belebende Wirkung auf ihn aus.

Pater Brown blinzelte auf seine kurzsichtige Art nach dem Zettel, den der andre ihm zeigte. Es war ein merkwürdiges Papier, rauh, aber nicht billig, wie aus dem Skizzenbuch eines Künstlers; darauf war in kühnen Umrissen mit roter Tinte ein Dolch mit Hermesflügeln gezeichnet, darunter die Worte: »Am morgigen Tage kommt der Tod zu Dir wie zu Deinen Brüdern.«

Pater Brown warf das Papier zu Boden und setzte sich kerzengerade auf.

»Lassen Sie sich durch dieses Zeug nicht bange machen«, sagte er streng. »Diese Teufel versuchen immer, uns hilflos zu machen, indem sie uns die Hoffnung rauben.«

Zu seinem Erstaunen bewegte sich die liegende Gestalt ganz plötzlich. Aylmer sprang vom Sessel auf, als sei er aus einem Traum erwacht.

»Sie haben recht, ja, Sie haben recht«, rief er mit unheimlicher Lebhaftigkeit, »und die Teufel werden sehen, daß ich gar nicht so hilflos und hoffnungslos bin. Vielleicht habe ich mehr Hoffnung und bessere Hilfe, als sie glauben.«

Er stand da, die Hände in den Taschen, und starrte mit gerunzelten Brauen den Priester an, der einen Augenblick lang während dieses gespannten Schweigens geglaubt hatte, die andauernde Gefahr sei nicht ohne Wirkung auf den Verstand des andern geblieben. Aber als Aylmer sprach, geschah es auf ernste ruhige Weise.

»Ich glaube, daß meine unglücklichen Brüder keinen Erfolg hatten, weil sie nicht die richtigen Waffen benutzten. Philipp trug einen Revolver bei sich, deshalb nahm man bei ihm Selbstmord an. Stefan stand unter polizeilichem Schutz, aber er hatte einen feinen Sinn für das Lächerliche und konnte sich nicht von einem Polizisten auf ein Gerüst begleiten lassen, wo er sich nur einen Augenblick aufhielt. Sie waren beide Spötter und verfielen nach dem sonderbaren Mystizismus, der meinen Vater während seiner letzten Tage beherrschte, in eine skeptische Reaktion. Ich aber wußte immer, daß sie vieles an meinem Vater gar nicht begreifen konnten. Es ist wahr, daß er durch das Studium der Zauberei zuletzt unter den Bann der schwarzen Magie geraten war, unter die schwarze Magie dieses Schurken Strake. Aber meine Brüder irrten sich, was das Gegengift angeht. Das Gegengift zu schwarzer Magie ist nicht krasser Materialismus oder weltliehe Klugheit. Das Gegengift zu schwarzer Magie ist weiße Magie.«

»Dabei kommt es doch wohl darauf an, was Sie unter weißer Magie verstehen«, sagte Pater Brown.

»Ich meine silberne Magie«, antwortete der andere mit: leiser Stimme, als spräche er von einer geheimen Offenbarung. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wissen Sie, was ich unter silberner Magie verstehe? Kommen Sie einen Augenblick mit.«

Er wandte sich um, öffnete die mittlere Tür mit dem roten Glasfenster und ging hinaus. Das Gebäude war weniger tief, als Brown angenommen hatte. Die Tür führte nicht zu Zimmern im Innern des Hauses, sondern auf einen Korridor, an dessen anderem Ende eine Tür sich in den Garten öffnete. An einer Seite des Ganges lag noch eine Tür; zweifellos zum Schlafzimmer des Besitzers, aus dem er in seinem Schlafrock hervorgestürzt war. Auf dieser Seite befand sich nichts weiter als ein gewöhnlicher Kleiderständer mit dem gewöhnlichen Durcheinander von staubigen Überziehern und Hüten; aber auf der anderen gab es Interessanteres zu sehen, nämlich ein sehr dunkles, altes Eichenbüffet, auf dem altes Silber stand und über dem ein Ornament oder eine Trophäe von alten Waffen aufgehängt war. Dort blieb Arnold Aylmer stehen und blickte zu einer langen, altmodischen Pistole mit glockenförmiger Öffnung empor.

Die Tür am anderen Ende des Korridors war nur angelehnt; durch die Ritze schien ein Streifen weißes Tageslicht. Der Priester hatte in bezug auf Naturerscheinungen einen schnellen Instinkt. Die unnatürliche Weiße dieser schmalen Linie sagte ihm, was draußen geschehen war; eben das, was er prophezeit hatte, als er sich dem Hause näherte. Er lief an dem erschreckten Aylmer vorbei und öffnete die Türe; was er sah, war ein weißes glänzendes Nichts. Durch die Türspalte hatte nicht nur das weiße Tageslicht geschienen, sondern die deutlichere Weiße des Schnees. Ringsum war das hügelige Gelände mit der schimmernden Blässe bedeckt, die zugleich ehrwürdig und unschuldig aussieht.

»Da haben wir sie ja, die weiße Magie«, sagte Pater Brown mit seiner heiteren Stimme. Er ging in die Halle zurück und setzte leise hinzu: »Und silberne auch, wie es scheint.«

Der weiße Schimmer übergoß das alte Silber auf dem Büffet mit Glanz und ließ den Stahl auf den dunklen Waffen hin und wieder aufleuchten. Der zottige Kopf des grübelnden Aylmer schien von einem feurig-silbrigen Strahlenkranz umgeben, als er sich nun im Dunkeln umwandte — sein Gesicht war im Schatten, in der Hand hielt er die fremdartige Pistole.

»Wissen Sie, warum ich mir gerade diese alte Donnerbüchse ausgesucht habe?« fragte er. »Weil ich sie mit diesen Kugeln laden kann.«

Er nahm einen alten silbernen Zwrloffel vom Buffet und brach die Figur am Griff mit Gewalt ab. »er wollen wieder inss andere Zimmer gehen«, sagte er.

»Haben Sie je vom Tode Dundees gehört?« fragte er, als sie wieder saßen. Er hatte sich nach seinem momentanen Ärger über die Unruhe des Priesters wieder besänftigt. »Ich meine den berühmten Graham von Claverhouse, der die Presbyterianer in Schottland verfolgte und ein schwarzes Pferd besaß, das aus einem Abgrund geradewegs hinaufreiten konnte. Er hatte seine Seele dem Teufel verschrieben und konnte nur mit einer silbernen Kugel erschossen werden. Mit Ihnen kann man doch wenigstens reden; Sie wissen genug, um an den Teufel zu glauben.«

»O ja«, erwiderte Pater Brown, »ich glaube an den Teufel. Ich glaube aber nicht an Dundee, das heißt an den Dundee der alten Legenden, mit seinem märchenhaften Pferd. John Graham war nur ein Berufssoldat des siebzehnten Jahrhunderts, vielleicht etwas besser als der Durchschnitt. Die Sorte Prahlhänse verschreibt sich nicht dem Teufel. Die Teufelanbeter, die ich kenne, sehen anders aus. Ich möchte keinen heutigen Namen nennen, um nicht Anstoß zu erregen — nehmen wir einen Zeitgenossen Dundees. Haben Sie je von Dalrymple von Stair gehört?«

»Nein«, erwiderte der andere unfreundlich.

»Aber Sie wissen sicher, was er getan hat«, sagte der Pater; »und das war schlimmer als jedes Verbrechen, das der Dundee begangen haben kann. Trotzdem ist er der Schande entgangen, weil man ihn vergaß. Er war der Mann, der am Massaker von Glencoe schuld war. Ein gelehrter Herr und tüchtiger Jurist, ein Staatsmann mit ernsten und weitblickenden Begriffen von Politik, ein ruhiger Mensch mit einem feinen, intelligenten Gesicht. So sehen die Leute aus, die sich dem Teufel verschreiben.«

Aylmer sprang mit allen Anzeichen feuriger Zustimmung halb vom Sessel auf.

»Weiß Gott«, rief er, »Sie haben recht! Ein feines, intelligentes Gesicht — so sieht John Strake aus!«

Er erhob sich und sagte mit einem merkwürdig konzentrierten Blick auf den Priester: »Warten Sie einen Augenblick. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Er verließ das Zimmer durch die mittlere Tür, die er hinter sich schloß; er wollte zum Büffet, wie der Priester annahm, oder in sein Schlafzimmer. Pater Brown blieb sitzen und starrte zerstreut auf den Teppich, auf den durch das Glasfenster in der Tür ein schwacher rötlicher Schimmer fiel. Einmal erhellte sich der rote Schein wie ein Rubin, dann wurde er wieder dunkel, als sei die Sonne dieses stürmischen Tages von einer Wolke zur andern gewandert. Nichts rührte sich als die Wassertiere, die in dem grünen Glase hin und her schwammen. Pater Brown dachte angestrengt nach.

Nach ein oder zwei Minuten stand er auf und ging leise zum Telephon im Alkoven und rief seinen Freund, den Polizeiarzt, im Hauptbüro der Polizei an. »Es handelt sich um Aylmer und seine Angelegenheiten«, sagte er ruhig. »Es ist eine sonderbare Geschichte, aber etwas steckt doch dahinter. An Ihrer Stelle würde ich sofort ein paar Leute heraufschicken, vier oder fünf am besten, und das Haus umstellen lassen. Wenn wirklich etwas passiert, wird der Mörder eine sensationelle Flucht versuchen.«

Dann ging er an seinen Platz zurück und starrte wieder auf den roten Teppich, der nochmals im Lichte der Glasfenster blutrot aufleuchtete. In dem Licht, das da durch das Glas sickerte, war etwas, das seine Gedanken zu gewissen Grenzen des Denkens trieb, dem weißen Dämmern, bevor die Farben des Tages erstrahlen und den Mysterien, die in den Symbolen der Fenster und Türen abwechselnd erhellt und verdunkelt werden.

Ein unmenschliches Geheul aus einer menschlichen Kehle ertönte hinter der geschlossenen Türe, fast gleichzeitig mit einem Schuß. Bevor der Widerhall erstorben war, wurde die Türe heftig aufgerissen. Aylmer wankte ins Zimmer; sein Schlafrock war halb zerfetzt, die lange Pistole in seiner Hand rauchte noch. Er zitterte am ganzen Körper, aber nicht zum wenigsten vor unnatürlichem Gelächter.

»Gepriesen sei die weiße Magiel« rief er, »gepriesen die silberne Kugel! Der Höllenhund hat einmal zu oft gejagt, meine Brüder sind endlich gerächt.«

Er sank in den Sessel, die Pistole fiel aus seiner Hand auf den Boden. Pater Brown lief an ihm vorüber durch die Glastür und ging den Gang hinunter. Dabei legte er seine Hand an die Tür, die ins Schlafzimmer führte, als wollte er eintreten, bückte sich einen Augenblick lang, um etwas zu untersuchen und lief dann zur äußeren Tür, die er öffnete.

Auf der schneeigen Fläche, die vor kurzem noch so leer gewesen war, lag ein schwarzer Gegenstand. Beim ersten Blick sah er aus wie eine ungeheure Fledermaus. Beim zweiten jedoch sah man, daß es eine menschliche Gestalt war, die auf dem Gesicht lag, der Kopf gänzlich mit einem großen schwarzen Filzhut bedeckt, wie ihn die Südamerikaner tragen; der Eindruck von schwarzen Flügeln wurde durch zwei Falten oder lose Ärmel eines riesigen schwarzen Mantels hervorgerufen, die vielleicht durch Zufall auf beiden Seiten in ihrer ganzen Länge ausgebreitet lagen. Beide Hände waren versteckt. Aber Pater Brown glaubte zusehen, wo die eine lag; daneben glänzte unter dem Saum des Mantels das Metall einer Waffe. Das Ganze sah aus wie ein heraldisches Wappen — ein schwarzer Adler auf weißem Felde. Der Priester ging um die Gestalt herum und erblickte das Gesicht, das wirklich der Beschreibung Aylmers entsprach; es war fein und intelligent, sogar skeptisch und streng; das Gesicht John Strakes.

»Da hört sich doch alles auf«, murmelte Pater Brown. »Es sieht aus wie ein ungeheurer Vampir, der wie ein Raubvogel heruntergestoßen ist.«

»Wie hätte er auch sonst herkommen sollen?« fragte eine Stimme hinter ihm — Pater Brown drehte sich um und sah Aylmer, der in der Türe stand.

»Hätte er nicht zu Fuß kommen können?« erwiderte Brown ausweichend.

Aylmer streckte den Arm aus und beschrieb einen Kreis um die weiße Landschaft.

»Betrachten Sie den Schnee«, sagte er mit tiefer Stimme, die sonderbar vibrierte. »Ist der Schnee nicht unbefleckt — so rein wie die weiße Magie, mit der Sie ihn verglichen haben? Sehen Sie irgendwo einen Flecken, außer dem einen scheußlichen schwarzen Klecks, der dort liegt? Keine Fußspuren, außer Ihren und meinen — auch zum Hause führen keine.«

Er sah den kleinen Priester einen Augenblick lang mit einem sonderbar konzentrierten Ausdruck an und sagte:

»Ich werde Ihnen noch etwas sagen. Der Mantel, mit dem er fliegt, ist zum Gehen zu lang. Er war nicht sehr groß — der Mantel hätte hinter ihm hergeschleift wie die Schleppe eines Königs. Wenn Sie wollen, breiten Sie ihn über seinen Körper aus, dann werden Sie es schon sehen.«

»Wie ging das alles vor sich?« unterbrach Pater Brown.

»So schnell, daß es sich nicht schildern läßt«, antwortete Aylmer. »Ich hatte einen Blick zur Türe hinausgeworfen und wandte mich wieder ins Haus zurück, als plötzlich ein starker Wind um mich zu kreisen begann — als würde ich durch ein Rad hoch in der Luft herumgetrieben. Irgendwie gelang es mir, mich umzudrehen und aufs Geratewohl einen Schuß abzugeben; nachher sah ich nichts anderes, als was Sie jetzt sehen. Aber ich bin überzeugt davon, daß Sie es nicht sehen könnten, wäre nicht eine Silberladung in meiner Pistole gewesen. Dort im Schnee wäre ein anderer Körper gelegen.«

»Ja«, bemerkte Pater Brown, »Wollen wir ihn übrigens dort im Schnee liegen lassen? Oder soll man ihn in Ihr Zimmer bringen. — Das ist doch Ihr Schlafzimmer dort im Gang?«

»Nein, nein«, erwiderte Aylmer hastig, »wir müssen ihn dort liegen lassen, bis die Polizei ihn gesehen hat. Außerdem kann ich wirklich im Moment nichts mehr vertragen. Komme was da wolle, ich muß einen Schluck Kognak trinken. Nachher kann man mich meinetwegen wegen aufknüpfen.«

Im Zimmer fiel Aylmer zwischen Palme und Aquarium in einen Sessel. Als er ins Zimmer torkelte, hätte er beinahe das Glas mit den Fischen umgestoßen. Den Kognak fand er endlich, nachdem er mit der Hand vergeblich in mehrere Fächer und Winkel gefahren war. Sehr pedantisch hatte er schon früher nicht ausgesehen; aber in diesem Augenblick mußte er wohl furchtbar zerstreut sein. Er trank einen langen Schluck und fing an, fieberhaft zu reden, als wollte er eine Pause ausfüllen.

»Ich merke, daß Sie noch immer zweifeln«, sagte er, »obwohl Sie es mit Ihren eigenen Augen gesehen haben. Glauben Sie mir, hinter dem Kampf, der zwischen dem Geiste Strakes und dem Geiste der Familie Aylmer ausgefochten wurde, steckte noch mehr. Aber Sie dürften nicht ungläubig sein! Sie müßten für all das eintreten, was dumme Leute Aberglauben nennen. Sagen Sie, glauben Sie nicht, daß in diesen Altweibergeschichten von Glück und Amuletten und so weiter, Silberkugeln eingeschlossen, viel Wahrheit verborgen ist? Was sagen Sie dazu, als Katholik?«

»Ich sage, daß ich ungläubig bin«, erwiderte der Pater lächelnd.

»Unsinn«, sagte Aylmer ungeduldig. »Es gehört doch zu Ihrem Beruf, an solche Sachen zu glauben.«

»Na ja«, gab Pater Brown zu, »ich glaube natürlich an manches, und deshalb glaube ich wieder an anderes nicht.«

Aylmer beugte sich nach vorn; er sah den Priester mit einer seltsamen Intensität an, die fast an einen Hypnotiseur erinnerte.

»Sie glauben doch daran«, sagte er. »Sie glauben an alles. Wir alle glauben alles, auch wenn wir alles leugnen. Die Leugner glauben an alles. Glauben Sie nicht in Ihrem tiefsten Herzen, daß all diese Widersprüche sich nicht widersprechen? Daß es einen Kosmos gibt, in dem sie alle Platz finden? Die Seele dreht sich auf einem Sternenrade. Alles kehrt wieder, vielleicht haben Strake und ich schon in vielen Verkörperungen gekämpft, Tier gegen Tier, Vogel gegen Vogel, und werden so weiterkämpfen in alle Ewigkeit. Doch da wir einander suchen und brauchen, ist selbst dieser ewige Haß nur die ewige Liebe. Das Gute und das Böse drehen sich in einem Rade, das nur eins ist und nicht vieles. Erkennen Sie nicht in Ihrem Innern, glauben éSie nicht hinter all Ihrem Glauben, daß es nur eine Wirklichkeit gibt, von der wir bloß Schatten sind? Daß alle Dinge nur verschiedene Ansichten von einem Einzigen sind: einem Zentrum, in dem Gott mit den Menschen verschmilzt und die Menschen mit Gott?«

»Nein«, sagte Pater Brown.

Draußen fing es an zu dämmern; es war um die Zeit, wo an einem schneebeladenen Abend die Erde heller aussieht als der Himmel. Unter dem Dach des Haupteingangs, durch ein halbverhangenes Fenster, sah Pater Brown eine vierschrötige Gestalt. Er blickte unauffällig durch die Glastüre, durch die er zuerst hereingekommen war, und sah, daß auch sie durch zwei genauso bewegungslose Gestalten verdunkelt wurde. Die innere Tür mit den Butzenscheiben war nur angelehnt, und im Gang dahinter konnte er zwei lange Schatten bemerken, die vom gleichmäßigen Abendlicht vergrößert und verzerrt waren, aber doch wie zwei graue Karikaturen von Männern aussahen. Dr. Boyne hatte dem Telephonanruf bereits Folge geleistet. Das Haus war umstellt.

»Weshalb sagen Sie nein?« fuhr der andere fort. Er starrte den Priester weiter hypnotisch an. »Einen Teil des ewigen Dramas haben Sie mit eigenen Augen gesehen. Sie haben die Drohung John Strakes gehört, Arnold Aylmer durch schwarze Magie zu töten. Sie haben gesehen, wie Arnold Aylmer durch weiße Magie John Strake tötete. Sie sehen, daß Arnold Aylmer lebt und zu Ihnen redet. Und Sie glauben noch immer nicht?«

»Nein, ich glaube nicht daran«, sagte Pater Brown und stand auf, wie jemand, der einen Besuch beendet.

»Warum nicht?« fragte der andere.

Der Priester hob nur wenig die Stimme, aber sie klang bis in die letzte Ecke des Zimmers wie ein Glocke.

»Weil Sie nicht Arnold Aylmer sind«, sagte er. »Ich weiß, wer Sie sind. Sie heißen John Strake, und Sie haben den letzten der Brüder ermordet, der jetzt draußen im Schnee liegt.«

Um die Iris im Auge des andern erschien ein weißer Rand. Er schien mit hervortretenden Augäpfeln einen letzten Versuch zu machen, den Priester zu hypnotisieren und zu besiegen. Dann machte er eine schnelle Bewegung zur Seite; aber im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür hinter ihm und ein groß gewachsener Polizist in Zivil legte ihm ruhig die Hand auf die Schulter. Die andre Hand hing herab, aber sie umschloß eine Pistole. Der Mann sah sich wild um; Polizisten in Zivil füllten alle Ecken des stillen Zimmers.

Am gleichen Abend hatte Pater Brown mit Dr. Boyne eine zweite und längere Unterredung über die Tragödie im Hause Aylmer. Zu der Zeit standen die wichtigen Tatsachen des Falls bereits außer Zweifel, denn John Strake hatte sich zu seinem Namen bekannt, ja sogar zu seinen Verbrechen: eigentlich wäre es richtiger zu sagen, daß er sich seiner Siege rühmte. Verglichen mit der Tatsache, daß er sein Lebenswerk abgeschlossen hatte und Arnold Aylmer eine Leiche war, war alles andre, sogar das Leben selbst, ihm scheinbar gleichgültig. »Der Mann leidet an einer Monomanie«, sagte Pater Brown. »Ihn interessiert nichts anderes, nicht einmal ein andrer Mord. Dafür bin ich ihm eigentlich verpflichtet; denn mit diesem Gedanken habe ich mich heute nachmittag des öfteren trösten müssen. Wie Sie sich jedenfalls selbst gesagt haben, hätte er, anstatt die wilde aber geistreiche Erzählung über geflügelte Vampire und Silberkugeln auszuspinnen, mir einfach mit einer gewöhnlichen Bleikugel den Garaus machen und gemütlich das Haus verlassen können. Ich versichere Sie, daß mir der Gedanke öfters gekommen ist.«

»Ich verstehe noch nicht, warum er es nicht getan hat«, bemerkte Boyne. »Aber ich verstehe überhaupt noch nichts. Wie in aller Welt haben Sie es entdeckt, und was haben Sie entdeckt?«

»Nun, Sie hatten mir sehr wertvolle Auskünfte gegeben«, erwiderte Brown bescheiden, »besonders die eine Auskunft, die wirklich wichtig war. Ich meine damit die Bemerkung, daß Strake ein sehr erfindungsreicher und phantasievoller Lügner war, der seine Lügen mit großer Geistesgegenwart vorzubringen pflegte. Heute nachmittag hatte er diese Gabe bitter nötig; und er hat auch nicht versagt. Sein einziger Fehler war vielleicht, daß er sich zu einer übernatürlichen Geschichte entschloß — er dachte, ich würde alles glauben, weil ich ein Geistlicher bin. Viele Leute bilden sich sowas ein.«

»Aber ich kenne mich überhaupt nicht aus«, sagte der Arzt. »Fangen Sie doch, bitte, mit dem Anfang an.«

»Der Anfang war ein Schlafrock«, erwiderte Pater Brown einfach. »Die einzige gute Verkleidung, die mir je untergekommen ist. Wenn man in einem Hause einen Mann im Schlafrock antrifft, nimmt man ganz automatisch an, daß er sich in seinem eigenen Hause befindet. Auch ich dachte das; aber dann passierten einige merkwürdige Dinge. Als er die Pistole herunternahm, drückte er mit ausgestrecktem Arm den Hahn, wie man das zu machen pflegt, um sich zu vergewissern, daß eine fremde Waffe nicht geladen ist; aber natürlich hätte er wissen müssen, ob die Pistolen in seinem eigenen Korridor geladen waren oder nicht. Dann gefiel mir auch nicht, wie er nach dem Kognak suchte und wie er beinahe das Aquarium umstieß. Wenn jemand einen so zerbrechlichen Gegenstand im Zimmer hat, gewöhnt er sich ganz mechanisch daran, nicht anzustoßen. Aber das konnten alles nur Einbildungen sein; der erste wichtige Punkt war folgender: Er kam aus dem kleinen Konidor zwischen den zwei Türen, wo sich nur eine einzige Tür in ein anderes Zimmer befindet. Deshalb nahm ich an, daß es sein Schlafzimmer war, das er eben verlassen hatte. Ich probierte die Klinke; die Tür war verschlossen. Das schien mir sehr sonderbar, und ich blickte durchs Schlüsselloch. Es war ein völlig leeres Zimmer, das offenbar nicht gebraucht wurde; kein Bett drin oder sonstwas. Er war also nicht aus dem Zimmer gekommen, sondern von draußen. Und sobald ich das erkannt hatte, stieg, glaube ich, das ganze Bild vor mit auf.

Der arme Arnold Aylmer schlief und lebte jedenfalls oben. Er kam im Schlafrock herunter und ging durch die rote Glastür. Am Ende des Korridors, schwarz gegen das Licht des Wintertages, sah er den Feind des Hauses stehen. Er sah einen großen Mann mit einem Bart, in einem breitkrempigen Hut und einem weiten, wehenden schwarzen Mantel. Viel mehr hat er auf dieser Erde nicht mehr gesehen. Strake stürzte sich auf ihn, um ihn zu erdrosseln oder zu erstechen; das werden wir bei der Leichenschau erfahren; Dann hörte Strake, während er in dem engen Gange zwischen dem Kleiderständer und dem alten Büffet stand und triumphierend auf seinen letzten Feind herabsah, ein Geräusch, auf das er nicht vorbereitet war. Er hörte Schritte im Zimmer hinter der Glastür. Das war ich, der eben durch die andere Glastür vom Garten her das Zimmer betrat.

Seine Verkleidung war ein Meisterstück an Geschwindigkeit. Er mußte sich nicht nur umziehen, sondern eine Mär erfinden; und aus dem Stegreif dazu! Er legte seinen schwarzen Mantel und Hut ab und zog den Schlafrock des Toten an. Dann machte er etwas ziemlich Grausiges — jedenfalls berührt es meine Einbildungskraft noch grausiger als alles andere. Er hing die Leiche wie einen Uberzieher an einen Kleiderhaken. Darüber drapierte er seinen eigenen langen Mantel, der noch ein Stück über die Füße reichte; den Kopf bedeckte er völlig mit seinem großen schwarzen Hut. Es war die einzige Möglichkeit, die Leiche in dem kleinen Korridor mit der verschlossenen Türe zu verbergen; aber es war außerordentlich geschickt. Ich bin selbst einmal an dem Kleiderständer vorbeigegangen, ohne zu ahnen, daß er noch etwas anderes war, als ein Kleiderständer. Ich glaube, daß diese Ahnungslosigkeit mir auf ewig einen Schauder über den Rücken jagen wird.

Dabei hätte er es belassen können; aber ich hätte jeden Augenblick die Leiche entdecken können; und an dem Orte, wo sie hing, machte sie sozusagen eine Erklärung nötig. Er ergriff den kühneren Ausweg, sie selbst zu entdecken und selbst zu erklären.

Da entstand in diesem seltsamen und erschreckend schöpferischen Gehirn der Gedanke an eine Verwechslungsgeschichte, an einen Austausch der Rollen. Er hatte bereits die Rolle von Arnold Aylmer angenommen. Warum sollte sein toter Feind nicht die Rolle von John Strake annehmen? Irgend etwas bei dem Gedanken, das Oberste zuunterst zu kehren, mußte die Phantasie dieses finsteren Kopfes angeregt haben. Und so kam etwas wie ein grausiger Maskenball zustande, auf den die beiden Erzfeinde, jeder in der Maske des anderen, zu gehen hatten. Doch der Maskenball sollte ein Totentanz werden; und einer der Tänzer mußte sterben. So hat sich das nach meiner Meinung im Kopf dieses Mannes entwickelt, und ich könnte mir vorstellen, daß er dabei geschmunzelt hat.«

Pater Brown starrte mit seinen großen grauen Augen ins Leere, sie waren, wenn sie nicht von seiner Gewohnheit, zu blinzeln, getrübt waren, das bemerkenswerteste in seinem Gesicht. Er fuhr schlicht und ernst fort:

»Alles ist von Gott; vor allem Vernunft und Einbildungskraft und die großen Gaben des Geistes. Sie sind an sich gut und wir dürfen ihre Herkunft nicht vergessen, selbst nicht in ihrer Verderbtheit. Dieser Mensch hatte die edle Kraft, verderbt zu sein; die Kraft Geschichten zu erzählen. Er war ein großer Romancier, nur hatte er seine Einbildungskraft auf praktische und böse Ziele gerichtet; er hat die Menschen mit erfundenen Wahrheiten, anstatt mit wahren Erfindungen getäuscht. Es begann damit, daß er den alten Aylmer mit ausgeklügelten Flunkereien und genial ausgedachten Lügen täuschte; sie mögen am Anfang nicht viel mehr gewesen sein als die großspurigen Geschichten und Redereien eines Kindes, das genausogut erzählen kann, daß es den König von England wie den Elfenkönig gesehen hat. Doch das Laster, das aller Laster Anfang ist, die Eitelkeit, ergriff Besitz von ihm; er bildete sich immer mehr auf seine rasche Fähigkeit ein, originelle Geschichten zu erfinden, und auf die Schlauheit, sie weiterzuspinnen. Das meinten die jungen Aylmers, als sie sagten, er könne ihren Vater jederzeit in Bann schlagen; und das stimmte. Es war jener Bann, den die Geschichtenerzähletin in Tausendundeiner Nacht auf den Tyrannen ausübt. Und so schritt er schließlich durch die Welt mit dem Stolz eines Dichters und der falschen, doch unergründlichen Kühnheit eines großen Lügners. Er konnte immer noch eine weitere Geschichte zu den tausendundeinen erfinden, wenn sein Hals in einer Schlinge steckte. Und heute hatte sein Hals in einer Schlinge gesteckt.

Aber, wie gesagt, ich bin überzeugt, daß er die Phantasie ebenso genoß wie die Intrige. Er nahm sich vor, die wahre Geschichte in der falschen Reihenfolge zu erzählen: den Toten für einen Lebenden und den Lebenden für einen Toten auszugeben. Er war schon in Aylmers Hausmantel; nun wollte er auch noch in Aylmers Körper und Seele schlüpfen. Er betrachtete den Leichnam, als wäre es sein eigener Leichnam, der da kalt im Schnee lag. Dann spreizte er ihn auf diese seltsame Weise auseinander, um ihn wie einen Raubvogel aussehen zu lassen, der gerade herabgestoßen war und staffierte ihn nicht nur mit seinem eigenen schwarzen Stofflügel aus, sondern auch noch mit dem schwarzen Märchen von dem schwarzen Vogel, der nur von einer silbernen Kugel erlegt werden könnte. Ich bin mir nicht ganz klar darüber, ob es der Schimmer des Silbers auf dem Schrank oder der Schein des Schnees durch die Tür war, was seinem starken künstlerischen Temperament die Idee von der weißen Magie und dem weißen Metall, das man gegen Zauberer benützen müsse, eingegeben hatte. Doch wo immer sie herkam, er machte sie sich wie ein Dichter zu eigen; und das rasch, wie ein alter Praktikus.

Er vollendete den Wechsel und Austausch der Rollen, indem er die Leiche als Leiche Strakes auf den Schnee hinauswarf. Er tat sein Möglichstes, um Strake als eine Art Harpye zu schildern, die irgendwo in der Luft mit geschwinden Flügeln und tödlichen Krallen lauert; er mußte ja das Fehlen der Fußspuren und noch einiges andere erklären. Einen frechen Zug bewundere ich ganz außerordentlich. Er brachte es fertig, einen der Widersprüche in seiner Sache zu einem Beweis zu verkehren! Den Umstand, daß der Mantel zu lang war, erklärte er für einen Beweis, daß der Mann nie wie ein gewöhnlicher Sterblicher auf Erden gehen könne. Aber während er das sagte, sah er mich durchdringend an, und irgend eine innere Stimme sagte mir, daß er einen kolossalen Bluff versuchte.«

Dr. Boyne grübelte. »Hatten Sie damals schon die Wahrheit entdeckt?« fragte er. »Es ist merkwürdig, wie aufregend plötzliche Einfälle wirken, die sich auf die Identität eines Menschen beziehen. Ich weiß nicht, ob es unheimlicher ist, eine solche Eingebung schnell oder langsam zu haben. Ich möchte wissen, wann Sie ihn noch im Verdacht hatten, und wann Sie Ihrer Sache sicher waren.«

»Im Verdacht hatte ich ihn, glaube ich, als ich mit Ihnen telephonierte«, erwiderte der Freund. »Und das kam von nichts anderem, als von dem roten Licht, das durch die Glastür auf den Teppich fiel und bald heller, bald dunkler wurde. Es sah aus wie eine Blutlache, die deutlich wurde, während sie nach Rache schrie. Warum veränderte das Licht sich auf diese Weise? Die Sonne war nicht herausgekommen, das wußte ich; es konnte nur daher stammen, daß die zweite Tür dahinter, die in den Garten führte, geöffnet und geschlossen wurde. Wäre er aber schon damals hinausgegangen, und hätte seinen Feind erblickt, so hätte er sofort Lärm geschlagen; doch das geschah erst viel später. Ich bekam den Eindruck, daß er hinausgegangen war, um etwas zu tun — oder vorzubereiten. Aber sicher war ich meiner Sache da noch nicht. Ich weiß, daß er bis zuletzt versuchte, mich zu hypnotisieren, meinen Willen durch die schwarze Kunst der unheimlichen Augen und singenden Stimme zu lähmen. So hat er es jedenfalls mit dem alten Aylmer angefangen. Aber es war nicht nur seine Art zu sprechen — was er sagte, machte mich stutzig —, ich meine die Philosophie und Religion, die es enthielt.«

»Leider bin ich nur ein alter Praktikus«, sagte der Arzt mit derbem Humor, »um Religion und Philosophie kümmere ich mich nicht viel.«

»Das müssen Sie aber, wenn Sie ein alter Praktikus sein wollen«, sagte Pater Brown. »Sagen Sie mal, Doktor — Sie kennen mich doch recht gut; ich glaube, Sie wissen, daß ich nicht bigott bin. Sie wissen, daß ich davon überzeugt bin, wie verschiedene Menschen es in allen Religionen gibt — gute Menschen in schlechten und schlechte in guten. Aber es gibt eine kleine Tatsache, die ich im praktischen Leben gelernt habe, einen ganz alltäglichen Umstand, den ich mir durch die Erfahrung angeeignet habe, wie die Kenntnis der guten Weinmarken. Ich habe noch nie einen Verbrecher getroffen, der — wenn er überhaupt philosophierte — nicht von orientalischen Kulten wie Wiederkehr und Wiederverkörperung sprach. Vom Rad des Schicksals und der Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Durch die Erfahrung habe ich gelernt, daß auf diesen Dienern der Schlange wirklich ein Fluch ruht; auf ihrem Bauche sollen sie kriechen und Staub sollen sie fressen; es hat noch nie einen Schuft oder Verbrecher gegeben, der nicht mit dieser Art Geistigkeit aufwarten konnte. Vielleicht ist der wirkliche religiöse Ursprung anders, aber hier, wo die Menschen arbeiten, ist es die Religion der Schurken; und ich wußte im gleichen Augenblick, daß ich einen Schurken vor mir hatte.«

»Nun«, sagte Boyne, »ich hätte gedacht, daß es einem Schurken leichtfällt, sich zu irgendeiner beliebigen Religion zu bekennen.«

»Ja«, stimmte der andere zu, »er hätte sich zu jeder Religion bekennen können; das heißt, er hätte ein Bekenntnis heucheln können, wenn es sich überhaupt um Heuchelei handelte. Wenn es sich lediglich um eine konsequente Schwindelei handelte, dann hätte das auch jeder konsequente Schwindler tun können. Jede beliebige Maske kann auf jedes beliebige Gesicht gesetzt werden. Jeder kann gewisse Phrasen auswendig lernen oder mit den Lippen bekennen, daß er bestimmte Ansichten hat. Ich kann auf die Straße gehen und behaupten, ich sei ein Methodist oder ein Mitglied irgendeiner anderen Sekte, obwohl ich befürchten muß, nicht sehr überzeugend zu wirken. Aber wir sprechen von einem Künstler, und um ein Künstler zu genügen, muß die Maske bis zu einem gewissen Grad nach seinem Gesicht geformt sein. Seine äußerliche Erscheinung muß seinem inneren Wesen entsprechen; er kann seine Wirkung nur mit etwas erzielen, was auch in seiner eigenen Seele liegt. Er hätte wahrscheinlich behaupten können, daß er Methodist sei, aber er hätte nie einen so überzeugenden Methodisten abgegeben wie einen überzeugenden Mystiker und Schicksalsgläubigen, was er ja ist. Ich spreche von dem Ideal, das ein derartiger Mensch vor Augen hat, wenn er wirklich versucht, idealistisch zu sein. Sein ganzes Spiel mit mir bestand darin, so idealistisch zu sein wie nur möglich. Immer wenn so ein Mensch etwas derartiges versucht, werden Sie diese besondere Art von Idealismus finden. Ein solcher Mensch kann von Blut triefen und ihnen dennoch mit voller Überzeugung erklären, daß der Buddhismus besser als das Christentum sei. Ja, er wird ihnen sogar mit voller Überzeugung erzählen, daß der Buddhismus christlicher ist als das Christentum. Das allein genügt schon, um ein widerliches und scheußliches Licht auf seine Auffassung von Christentum zu werfen.«

»Bei meiner Seele«, sagte der Arzt lachend, »ich bin mir nicht klar, ob Sie ihn nun verurteilen oder verteidigen.«

»Es heißt nicht einen Menschen verteidigen, wenn man sagt, daß er ein Genie ist«, sagte Pater Brown. »Weit entfernt davon. Es ist einfach ein psychologisches Faktum, daß ein Künstler sich immer durch irgendeine Art von Aufrichtigkeit verrät. Leonardo da Vinci kann nicht so zeichnen, als ob er nicht zeichnen könnte. Selbst wenn er es versuchte, würde immer nur die Parodie einer Stümperei herauskommen. Dieser Bursche hätte etwas zu Schreckliches und Wunderbares aus einem Methodisten gemacht.«

Als der Priester sich wieder aufmachte und nach Hause strebte, war die Kälte noch strenger geworden, dennoch war sie irgendwie anregend. Die Bäume standen da wie silberne Leuchter auf einem Altar der Reinigung. Die schneidende Kälte war wie das silberne Schwert reinigenden Schmerzes, das mitten ins Herz dringt. Doch es war keine tödliche Kälte, es sei denn in dem Sinn, daß sie all die sterblichen Widerstände gegen unsere unsterbliche und unermeßliche Lebenskraft zu töten schien. Der bleiche grüne Himmel der Dämmerung, auf dem nur ein Stern wie der Stern von Bethlehem leuchtete, schien, seltsam widersprüchlich, eine Höhle der Klarheit zu sein. Es war, als ob nicht Wärme, sondern ein grünes Feuer der Kälte alle Dinge zum Leben erweckte. Die Luft prickelte vor Wahrheit und trennte mit einem Messer aus Eis die Wahrheit vom Irrtum; und was übrigblieb, hatte sich nie so lebendig gefuhlt. Alle Freuden waren wie ein Juwel im Herzen eines Eisberges. Der Priester wußte kaum wie ihm war, als er immer tiefer in die grüne Dämmerung schritt und immer tiefer die unbescholtene Lebenskraft der Luft einatmete. Schwierigkeiten und Krankheiten schienen hinter ihm zu liegen, oder ausgelöscht, wie der Schnee die Fußspuren des blutigen Mannes ausgelöscht hatte. Und so durch den Schnee nach Hause schlurfend, murmelte er vor sich hin: »Und dennoch hat er recht, daß es eine weiße Magie gibt, wenn er nur auch wüßte, wo er sie zu suchen hat.«

Das Verhängnis der Darnaways

Zwei Landschaftsmaler betrachteten eine Landschaft, die auch ein Seestück war. Beide empfingen davon einen sonderbaren, wenn auch nicht den gleichen Eindruck. Der eine, der als Maler in London einen wachsenden Ruf genoß, empfand sie neu und fremdartig. Dem anderen, einem ansässigen Künstler mit mehr als örtlichem Ruhm, war sie besser bekannt, aber vielleicht um so fremder durch alles, was er von ihr wußte.

In Farbe und Form, unter welchem Gesichtspunkt die beiden Männer sie sahen, lag da ein Strich Sand gegen einen Strich Sonnenuntergang, das ganze in Streifen düsterer Farben, einem toten Grün und Bronze und Braun und einem Dunkelgelb, das nicht nur matt war, sondern in der Dämmerung geheimnisvoller wirkte als Gold. Unterbrochen wurden diese geraden Linien nur durch ein langgestrecktes Gebäude, das von den Feldern in den Sand des Meeres verlief, so daß sein Saum aus trübseligem Unkraut und Rohr fast an das Seegras stieß. Seine größte Eigenart war jedoch, daß der obere Teil dem Umriß einer Ruine glich, die von so vielen breiten Fenstern und großen Rissen durchbrochen war, daß sie wie ein bloßes dunkles Gerippe gegen das ersterbende Licht aussah, während die untere Masse des Gebäudes überhaupt keine Fenster hatte, denn die meisten waren blind und vermauert, und ihre Umrisse im Zwielicht nur schwach erkennbar. Ein Fenster aber war wenigstens noch Fenster geblieben, und am sonderbarsten schien, daß es erleuchtet war.

»Wer in aller Welt lebt wohl in dem alten Gehäuse?« rief der Londoner, ein großer, wie ein Bohemien aussehender Mann, der noch jung war, aber durch seinen buschigen roten Bart älter aussah. In Chelsea war er unter dem Namen Harry Payne bekannt.

»Gespenster, könnte man meinen«, erwiderte sein Freund Martin Wood. »Nun, die Leute, die da drin wohnen, sind fast Gespenster.«

Vielleicht war es ein Paradoxon, daß der Künstler aus London in seiner lärmenden Frische und Neugierde fast bäuerlich wirkte, während der Landmaler weiser und erfahrener schien und ihm mit reifer und gutmütiger Belustigung zuhörte. Er schien überhaut ruhiger und konventioneller in seiner dunklen Kleidung und mit seinem viereckigen, glattrasierten und schwerfälligen Gesicht.

»Es ist natürlich nur ein Zeichen der Zeit«, fuhr er fort, »oder des Zerfalls der alten Zeit und der alten Familien. In diesem Hause wohnen die letzten Abkömmlinge der großen Darnaways; nicht viele der neuen Armen sind so arm wie sie. Sie können es sich nicht einmal leisten, ihr eigenes Obergeschoß in wohnlichen Zustand bringen zu lassen, sondern müssen in den unteren Zimmern einer Ruine wohnen, wie Fledermäuse und Eulen. Trotzdem haben sie Familienbilder, die bis auf den Krieg der Rosen und die älteste Porträtmalerei in England zurückgehen, und davon sind einige sehr schön; ich weiß es zufällig, weil sie bei der Durchsicht meinen fachmännischen Rat eingeholt haben. Eins davon, eines der ältesten, ist besonders gut, so gut, daß man eine Gänsehaut bekommt, wenn man es ansieht.«

»Die kann man wohl in dem Haus überhaupt leicht bekommen, nach dem Äußeren zu schließen«, erwiderte Payne.

»Ja«, sagte sein Freund, »so ist es, wenn ich aufrichtig sein soll.«

In dem Schweigen, das folgte, hörten sie ein schwaches Rauschen im Schilf; und verständlicherweise zuckten sie zusammen, als eine dunkle Gestalt schnell, fast wie ein aufgeschreckter Vogel am Ufer dahinstrich. Es war aber nur ein Mensch, der mit einer schwarzen Reisetasche in der Hand hurtig ausschritt, ein Mann mit langem bleichem Gesicht und stechenden Augen, die den Fremden aus London mit etwas argwöhnischem und mißtrauischem Blick verfolgten.

»Es ist nur Dr. Barnet«, sagte Wood mit erleichterter Stimme.

»Guten Abend, Doktor. Gehen Sie ins Haus? Ich hoffe, daß niemand krank ist.«

»In einem solchen Haus ist immer Jemand krank«, brummte der Arzt, »manchmal sind sie nur zu krank, um es zu wissen. Schon die Luft da drin ist Gift und Pestilenz. Ich beneide den jungen Mann aus Australien nicht.« .

»Und wer«, sagte Payne unvermittelt und etwas zerstreut, »wer ist das, der junge Mann aus Australien?«

»So«, schnob der Doktor, »hat Ihnen Ihr Freund nicht von ihm erzählt? Ich glaube sogar, daß er heute ankommt. Eine romantische Angelegenheit, ganz im alten Stil des Melodramas. Der Erbe kehrt aus den Kolonien in sein zerfallenes Schloß zurück. Nichts fehlt, nicht einmal der alte Familienpakt, wonach er die Dame heiraten muß, die im efeubesponnenen Turm Ausschau hält. Alter Quatsch, nicht wahr? Aber manchmal trifft das wirklich ein. Er hat sogar ein bißehen Geld, der einzige Lichtstrahl in dieser Sache.«

»Und wie denkt Fräulein Darnaway in dem efeubesponnenen Turm selbst darüber?« fragte Martin Wood trocken.

»Was sie nunmehr über alles auf der Welt denkt«, erwiderte der Arzt. »In dieser bemoosten Höhle, die voll Aberglauben steckt, denkt man überhaupt nicht viel nach, man träumt und läßt sich treiben. Ich glaube, daß sie den Familienvertrag und den Gatten aus den Kolonien als Teil vom Verhängnis der Darnaways ansieht. Ich glaube, wenn er ein buckliger Neger mit einem Auge und mörderischen Neigungen wäre, so würde sie auch nur finden, daß dieser letztere Zug sehr gut in diese düstere Inszenierung paßt.«

»Sie geben meinem Londoner Kollegen kein sehr heiteres Bild von meinen Freunden auf dem Lande«, sagte Wood lachend. »Ich wollte dort mit ihm einen Besuch machen; ein Künstler sollte es nicht versäumen, sich die Darnawayschen Bilder anzusehen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Aber vielleicht sollte ich das lieber aufschieben, wenn gerade die Invasion aus Australien stattfindet.«

»Nein, um Gottes willen, gehen Sie nur hinein und machen Sie Ihren Besuch«, sagte Dr. Barnet mit Wärme. »Alles, was ihr zerstörtes Leben aufheitert, erleichtert mir meine Aufgabe. Es wird sehr viele Vettern aus den Kolonien brauchen, um Leben in die Bude zu bringen, meine ich, je mehr, desto besser. Kommen Sie, ich führe Sie selbst hinein.«

Als sie sich dem Hause näherten, sahen sie, daß es wie eine Insel in einem Graben mit faulendem Wasser stand, den sie auf einer Brücke überschritten. Auf der anderen Seite dehnte sich eine ziemlich breite Steinterrasse aus, mit großen Sprüngen, aus denen hier und da kleine Büschel Unkraut emporwuchsen. Diese Felsenplattform sah im grauen Zwielicht groß und kahl aus, und Payne hätte es nicht für möglich gehalten, daß ein so kleiner Raum soviel von der Seele der Wüste enthalten könne. Die Plattform verlief nur nach einer Seite, wie eine Riesenstufe, und dahinter war die Türe; ein niedriger, mittelalterlicher Torbogen, der offenstand, aber dunkel war wie eine Höhle.

Als der muntere Arzt sie ohne Förmlichkeit hineinführte, empfing Payne wiederum einen deprimierenden Eindruck. Er war darauf gefaßt gewesen, einen stark zerstörten Turm auf einer sehr engen Wendeltreppe ersteigen zu müssen; in diesem Fall aber führten die ersten Schritte ins Haus abwärts. Sie gingen mehrere kurze und geborstene Treppen hinunter, in große, dämmrige Zimmer, die ohne ihre dunklen Bilder und verstaubten Bücherregale ausgesehen hätten, wie die traditionellen Gefängnisse unter dem Schloßgraben. Hier und dort erleuchtete eine Kerze in einem alten Leuchter das verstaubte, zufällige Denkmal einer toten Pracht, aber der Gast empfing einen stärkeren, wenn auch traurigeren Eindruck von dem einen blassen Schein des natürlichen Lichtes. Während er den Saal durchschritt, sah er das einzige Fenster, das die Wand aufwies, ein merkwürdiges, niedriges Oval im Stil des späten siebzehnten Jahrhunderts. Das Sonderbare aber war, daß es nicht nach dem Himmel ging, sondern nur dessen Spiegelbild zeigte: einen schmalen Streifen Tageslicht, der vom Graben zurückgeworfen wurde und vom Ufer beschattet war. Payne erinnerte sich an die Dame von Shallot, die stets die Welt nur im Spiegel sah. Die Dame dieses Shallot sah die Welt nicht nur im Spiegel, sondern sogar verkehrt.

»Es sieht aus, als stürzte das Haus der Darnaways nicht nur im bildlichen, sondern im wörtlichen Sinne«, sagte Wood leise. »Als ob es langsam in einem Sumpf oder im Treibsand versänke, bis die See es wie ein grünes Dach bedeckt.«

Selbst der robuste Arzt zuckte ein wenig zusammen, denn es näherte sich schweigend eine Gestalt. Der Raum war so still, daß sie alle überrascht wurden von der Erkenntnis, er sei nicht leer. Drei Personen waren in dem Raum, als sie eintraten; alle drei in Schwarz und wie dunkle Schatten anzusehen. Wie sich die erste Gestalt dem grauen Licht des Fensters näherte, zeigte sie ein Gesicht, das fast so grau war wie der Rahmen des Haares. Es war Vine, der alte Verwalter, der seit dem Tode des überspannten Lord Darnaway Vaterstelle vertrat. Ohne Zähne wäre er ein schöner Greis gewesen. So aber hatte er einen, der dann und wann sichtbar wurde und ihm ein unheilvolles Aussehen verlieh. Er empfing den Arzt und seinen Freund mit großer Höflichkeit und geleitete sie zu den anderen beiden schwarzen Gestalten, die saßen. Eine trug nach Paynes Meinung zu der altertümlichen und düsteren Atmosphäre des Schlosses durch den Umstand bei, daß sie ein katholischer Priester war, wie er in alten dunklen Zeiten aus einer Priesterzelle hätte hervortreten können. Payne konnte sich vorstellen, wie er Gebete murmelte, oder Glocken läutete, oder eine Anzahl andere unbestimmte und traurige Dinge in dem traurigen Hause vornahm. Im Augenblick hatte er vielleicht der Dame kirchlichen Trost erteilt; aber es war schwer, sich vorzustellen, daß die Tröstungen der Kirche sehr trostreich oder sehr aufheiternd ausgefallen waren. Im übrigen sah er ganz unbedeutend aus, mit unschönen, ausdruckslosen Gesichtszügen. Nicht so die Dame. Ihr Gesicht, weit davon entfernt, unschön oder unbedeutend zu wirken, hob sich vom dunklen Hintergrund ihres Kleides und ihrer Haare mit einer Blässe ab, die fast furchtbar wirkte, aber auch mit einer Schönheit, die aufs furchtbarste lebendig schien. Payne sah sie so lange an, als er es wagte. Es war ihm bestimmt, sie noch viel länger anzusehen, bevor er starb.

Wood tauschte mit seinen Bekannten nur die freundlichen und höflichen Phrasen, die nötig waren, um seinen Wunsch nach Besichtigung der Bilder vorzubringen. Er bat um Entschuldigung, daß er an einem Tag käme, an dem, wie er gehört hatte, ein Familienempfang gefeiert werden sollte; bald aber mußte er sich dayon überzeugen, daß die Familie eigentlich erleichtert war, daß Fremde anwesend waren, denn das würde sie zerstreuen oder den Schreck der Überraschung mildern. Er zögerte also nicht länger, sondern führte Payne durch den mittleren Empfangssaal in die Bibliothek, wo das Bildnis hing. Denn eines der Bilder zu zeigen, war er besonders bedacht, nicht nur als Bild, sondern vielleicht eher noch als ein Rätsel. Der kleine Priester trabte mit. Er schien von alten Bildern wie von alten Gebeten einiges zu verstehen.

»Ich bin stolz darauf, das hier entdeckt zu haben«, sagte Wood. »Ich halte es für einen Holbein. Wenn es keiner ist, so muß zu Holbeins Zeit jemand gelebt haben, der größer war als Holbein selbst.«

Es war ein Porträt in der harten, aber aufrichtigen und lebendigen Manier der damaligen Zeit; es stellte einen Mann in einem schwarzen Gewande dar, das mit Gold und Pelz verbrämt war; das Gesicht war schwer, voll, etwas bleich, mit spähenden Augen.

»Wie schade, daß die Kunst nicht immer auf diesem Übergangspunkt stehenbleiben konnte«, rief Wood aus, »um nie mehr weiteren Übergängen unterworfen zu werden! Sehen Sie nicht, daß es gerade realistisch genug ist, um wirklich zu sein? Sehen Sie nicht, daß jenes Gesicht um so sprechender wirkt, weil es sich in einem steiferen Rahmen von weniger wichtigen Details abhebt? Und die Augen wirken noch wirklicher als das Gesicht. Mein Gott, die Augen sind fast zu wirklich für das Gesicht! Als ob die schlauen, schnellen Augäpfel aus einer bleichen Maske hervorträten.«

»Mir scheint, daß die Gestalt auch etwas Steifes hat«, sagte Payne. »Als das Mittelalter endete, hatte man wohl noch nicht genügend Kenntnisse in der Anatomie, wenigstens im Norden nicht. Das linke Bein ist doch wohl recht verzeichnet.«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Wood ruhig. »Die Leute, die malten, als der Realismus begann und bevor man ihn übertrieb, waren oft realistischer, als wir denken. Sie gaben Dingen, die wir für konventionell halten, porträtistische Bedeutung. Sie werden vielleicht sagen, daß die Augenbrauen oder Augenhöhlen dieses Menschen schief sind; aber wenn Sie ihn gekannt hätten, wüßten Sie sicher, daß die eine Augenbraue wirklich höher hinaufreichte als die andere. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er tatsächlich lahm oder sowas ähnliches war, und der Maler das Bein wirklich krumm zeichnen wollte

»Wie ein alter Teufel sieht er aus!« brach Payne plötzlich los. »Ich bitte Euer Ehrwürden, meine Sprache zu entschuldigen.«

»Danke, aber ich glaube an den Teufel«, erwiderte der Priester mit undurchdringlichem Gesicht. »Sonderbarerweise gibt es eine Legende, wonach der Teufel lahm sein soll.«

»Nun erlauben Sie mal«, widersprach Payne, »Sie wollen doch nicht sagen, daß das hier der Teufel war? Aber wer zum Teufel war er denn?«

»Er war der Lord Darnaway unter Heinrich dem Siebenten und Heinrich dem Achten«, erwiderte sein Begleiter. »Aber auch über ihn gibt es merkwürdige Legenden. Auf eine nimmt die Inschrift auf dem Rahmen da oben Bezug, und auch in einem Buch habe ich Sie hier erwähnt gefunden. Beides liest sich sehr sonderbar.«

Payne beugte sich vor, um die Inschrift zu lesen, die rings um den Rahmen lief. Abgesehen von den altmodischen Buchstaben und der Rechtschreibung schien es eine Art Reim zu sein, der etwa so läutete:

»Im siebenten Erben er wiederkehrt,

In der siebenten Stunde macht er sich fort,

Dann folgt ihm niemand von diesem Ort,

Und wehe ihr, der sein Herz gehört.«

»Es klingt schaurig«, sagte Payne, »aber vielleicht kommt das daher, daß ich kein Wort davon verstehe.«

»Auch wenn man es versteht, ist es recht schaurig«, sagte Wood mit leiser Stimme. »In dem alten Buch, das ich hier fand, steht verzeichnet, daß der reizende Kerl hier sich mit Überlegung so umgebracht hat, daß seine Frau als Mörderin hingerichtet wurde. Ein zweiter Hinweis erwähnt eine jüngere Tragödie, sieben Erbfolgen später, unter der Regierung König Georgs. Damals hat ein andrer Darnaway Selbstmord begangen, aber vorher nicht vergessen, im Becher seiner Frau etwas Gift zurückzulassen. Es heißt, daß beide Selbstmorde um sieben Uhr abends stattgefunden haben. Vermutlich muß man daraus schließen, daß er wirklich mit jedem siebenten Erben zurückkehrt und, wie der Reim andeutet, jeder Dame, die töricht genug ist, ihn zu heiraten, etwas Unangenehmes antut.«

»Wenn das gelten soll«, erwiderte Payne, »wird es der nächste Siebente nicht sehr leicht haben.«

Woods Stimme klang noch leiser als er antwortete:

»Der neue Erbe wird der siebente sein.«

Harry Payne richtete sich plötzlich auf und wölbte die breite Brust wie ein Mann, der sich einer Last entledigt.

»Was reden wir alle für verrücktes Zeug zusammen?« rief er. »Ich hoffe, daß wir alle gebildete Menschen in einem Zeitalter der Aufklärung sind. Bevor ich in diese verdammt dumpfe Luft kam, hätte ich es nie für möglich gehalten, daß man über solche Dinge reden könnte, außer um sich darüber lustig zu machen.«

»Sie haben recht«, sagte Wood. »Wenn Sie lange genug in diesem unterirdischen Schloß gelebt hätten, würden Sie alles anders ansehen. Ich selbst fange an, sehr merkwürdige Dinge von diesem Bild zu denken, da ich es so oft in der Hand gehabt und selbst aufgehänt habe. Manchmal schien es mir, als sei das gemalte Gesicht lebendiger als die toten Gesichter der Menschen, die hier leben; als sei es eine Art Talisman oder Magnet; als beherrsche es die Elemente und bestimme das Schicksal von Menschen und Dingen. Wahrscheinlich werden Sie sagen, daß ich recht phantasievoll bin.«

»Was ist das für ein Geräusch?« rief Payne plötzlich aus.

Sie lauschten alle, und außer dem dumpfen Donnern der fernen See schien es kein Geräusch zu geben; dann hörten sie, daß sich etwas andres hineinmischte, wie eine Stimme, die durch die Brandung tönte; zuerst von der Brandung noch gedämpft, kam sie näher und näher. Im nächsten Augenblick waren sie gewiß: jemand rief da draußen in der Dämmerung.

Payne wandte sich zu dem niedrigen Fenster hinter ihm und bückte sich, um hinauszusehen. Es war das Fenster, von dem aus man nichts erblicken konnte als den Graben mit seinem Spiegelbild von Ufer und Himmel. Aber diese auf den Kopf gestellte Aussicht war nicht dieselbe, die er früher gesehen hatte. Von dem hängenden Schatten des Ufers im Wasser gingen zwei andre dunkle Schatten hinunter, die von den Füßen und Beinen einer Gestalt auf dem Ufer zurückgeworfen wurden. Durch den begrenzten Spalt konnten sie nichts sehen als die beiden Beine, die sich gegen das Spiegelbild eines bleichen und fahlen Sonnenunterganges schwarz abheben. Aber die bloße Tatsache, daß der Kopf unsichtbar blieb, wie in den Wolken, lieh dem Ton, der nun folgte, etwas Entsetzliches: der Stimme eines Mannes, der laut etwas rief, was sie nicht richtig hören oder verstehen konnten. Payne besonders blickte mit verändertem Gesicht aus dem kleinen Fenster und sprach mit veränderter Stimme.

»Wie sonderbar er dasteht!«

»Nein, nein«, beruhigte Wood ihn flüsternd. »Im Wasser gespiegelt, sieht das oft so aus. Sie glauben das nur, weil das Wasser sich bewegt.«

»Er glaubt was?« fragte der Priester kurz.

»Daß sein linkes Bein krumm ist«, erwiderte Wood.

Payne hatte das ovale Fenster wie eine Art geheimnisvollen Spiegel betrachtet. Seiner Ansicht nach enthielt es noch andre rätselhafte Symbole des Verhängnisses. Er sah noch etwas neben der Gestalt, was er nicht verstand: drei dünnere Beine, die sich in dunklen Linien gegen das Licht abheben, als stünde eine ungeheure dreibeinige Spinne oder ein Vogel neben dem Fremden. Dann hatte er den weniger überspannten Einfall eines Dreifußes, wie ihn die heidnischen Orakel benutzten — und im nächsten Augenblick war das Ding verschwunden und die Beine der menschlichen Gestalt bewegten sich aus dem Bilde.

Als er sich umwandte, begegnete er dem bleichen Gesicht des alten Verwalters Vine, dessen Mund offenstand, begierig zu sprechen, so daß der einzige Zahn sichtbar war.

»Er ist da«, sagte er. »Das Schiff ist heute früh aus Australien angekommen.«

Schon als sie von der Bibliothek aus den mittleren Saal betraten, hörten sie die Schritte des Fremden, der die Eingangsstufen herunterklapperte. Hinter ihm folgten verschiedene Stücke Handgepäck. Als Payne eines davon erblickte, lachte er vor Erleichterung. Sein Dreifuß war nichts als die drei Beine einer tragbaren Kamera, die leicht ein- und auszupacken war, und der Mann, der sie trug, schien ebenso vertraute und normale Eigenschaften anzunehmen. Er war dunkel gekleidet, etwas salopp und ferienmäßig, sein Hemd war aus grauem Flanell und seine Stiefel widerhallten recht selbstbewußt in den stillen Zimmern; als er vorausschritt, um den neuen Kreis zu begrüßen, merkte man kaum mehr als die Andeutung eines Hinkens. Payne und seine Gefährten aber sahen sein Gesicht an und konnten kaum die Augen davon wieder abwenden.

Der Fremde fühlte offenbar etwas Sonderbares und Unheimliches bei seinem Empfang; aber man hätte schwören können, daß er die Ursache davon nicht kannte. Die Dame, die in gewissem Sinne für seine Verlobte galt, schien jedenfalls schön genug, um ihn anzuziehen; aber es war klar zu sehen, daß sie ihn auch erschreckte. Der alte Verwalter brachte ihm eine gewisse feudale Huldigung entgegen, behandelte ihn aber trotzdem, als sei er das Familiengespenst. Der Priester sah ihn noch immer mit undurchdringlichem Gesicht an, was dadurch um so aufregender wirkte. In Paynes Geist regte sich eine neue Ironie, die mit der Ironie der Griechen Ähnlichkeit hatte. Er hatte sich den Fremden wie einen Teufel vorgestellt, aber es schien noch schlimmer, daß er offenbar ein unbewußtes Verhängnis darstellte. Er schien sich dem Verbrechen mit der ungeheuerlichen Unschuld eines Ödipus zu nähern. Mit so blinder Heiterkeit war er ins Haus seiner Väter getreten, daß er sogar seinen Photoapparat aufgestellt hatte, um den ersten Anblick im Bilde festzuhalten; und selbst der Apparat hatte sich in das Symbol des Dreifußes einer tragischen Pythia verwandelt.

Als Payne sich etwas später verabschiedete, war er erstaunt, aus einer Äußerung des Australiers zu entnehmen, daß ihm seine Umgebung schon etwas mehr zu Bewußtsein gekommen war. Er sagte nämlich leise:

»Gehen Sie nicht … oder kommen Sie bald wieder. Sie sehen wie ein Mensch aus. In diesem Haus bekommt man eine Gänsehaut.«

Als Payne aus diesen nachgerade unterirdischen Hallen wieder in die nächtliche Luft und den Geruch des Meeres aufgetaucht war, glaubte er aus jener Unterwelt der Träume zu kommen, in der alle Ereignisse sich rastlos und unwirklich überstürzen. Die Ankunft des seltsamen Verwandten hatte etwas Unklares an sich, ja etwas, was Verdacht erregte. Die Verdoppelung ein und desselben Gesichtes auf dem alten Porträt und bei dem Neuangekommenen verwirrte ihn wie ein doppelköpfiges Ungeheuer. Doch ein Alptraum war es eigentlich nicht und es war auch nicht das Gesicht selbst, was ihn beschäftigte.

»Wie sagten Sie doch?« fragte er den Arzt, als sie zusammen über den dunklen Sandstreifen am sich verdunkelnden Meer schlenderten. »Sagten Sie nicht, daß der junge Mann Miss Darnaway durch einen Familienpakt oder etwas ähnliches anverlobt war? das klingt ja wie in einem Roman.«

»Aber wie in einem historischen Roman«, antwortete Dr. Barnet. »Die Darnaways haben sich alle schon vor Jahrhunderten, als man sich wirklich so benahm, wie man es in alten Romanen liest, schlafen gelegt. Ja, ich glaube, es gibt eine Familientradition, nach der Vettern des zweiten oder dritten Grades immer, wenn sie sich im entsprechenden Alter befinden, heiraten, um den Besitz beisammenzuhalten. Eine verflucht törichte Tradition, würde ich sagen; und wenn sie auf diese Weise immer und immer wieder untereinander geheiratet haben, dann geht es wohl auf das Konto dieses Erbes, daß sie so degeneriert sind.«

»Ich würde nicht sagen«, antwortete Payne etwas steif, »daß sie alle degeneriert sind.«

»Gewiß«, antwortete der Arzt, »der junge Mann sieht nicht degeneriert aus, obwohl er hinkt.«

»Der junge Mann!« rief Payne, der plötzlich unbegründet verärgert schien. »Wenn Sie die junge Dame für degeneriert halten, dann scheinen Sie mir einen degenerierten Geschmack zu haben.«

Das Gesicht des Arztes verdüsterte sich und wurde bitter. »Davon verstehe ich vermutlich mehr als Sie«, platzte er heraus.

Sie gingen schweigend dahin, jeder mit dem Gefühl, daß er unvernünftig grob gewesen sei und eine ebenso unvernünftige Grobheit habe einstecken müssen. Payne fand sich bei diesen Grübeleien bald alleine, denn sein Freund Wood war zurückgeblieben, um sich mit den Bildern zu beschäftigen.

Payne nahm die Einladung des Vetters aus den Kolonien, der jemanden brauchte, der ihn aufheiterte, bereitwillig an. Die nächsten Wochen verbrachte er zum größten Teil in den düsteren Räumen des Darnawayschen Hauses; man muß aber sagen, daß er sich nicht darauf beschränkte, den Vetter aus den Kolonien aufzuheitern. Die Melancholie der Dame hatte tiefere Wurzeln und sie bedurfte weit eher der Aufheiterung; wie auch immer, er gab sich willig und eifrig dieser Aufgabe hin. Er war jedoch nicht ohne Gewissen und die Situation machte ihn nachdenklich und bereitete ihm Unbehagen. Die Wochen gingen hin und niemand konnte aus dem Benehmen des neuen Darnaway schließen, ob er sich nun als verlobt im Sinne des alten Familienpakts fühlte oder nicht. Träumend ging er durch die düsteren Gemächer und geistesabwesend stand er vor dem finsteren und unheimlichen Bildnis. Die Schatten dieses Gefangenenhauses hatten sich offenbar auf ihn gelegt und von seinem australischen Selbstbewußtsein war nur wenig übriggeblieben. Doch über das, was ihn am meisten beschäftigte, konnte Payne nichts herausfinden. Einmal versuchte er sich seinem Freund Martin Wood anzuvertrauen, als der in seiner Eigenschaft als Bilderfachmann herumstöberte, aber selbst von ihm bekam er nur wenig Aufschluß.

»Mir scheint, Sie können sich da nicht einmischen«, sagte Wood kurz, »ich meine wegen der Verlobung.«

»Natürlich werde ich mich nicht einmischen, wenn es eine Verlobung gibt«, erwiderte sein Freund; »aber gibt es die? Ich habe ihr gegenüber natürlich kein Wort gesagt; doch ich war oft genug mit ihr zusammen, um ziemlich sicher zu sein, daß sie nicht glaubt, daß eine Verlobung besteht, wenngleich sie vielleicht denkt, es könnte eine bestehen. Und er sagt nicht, daß eine bestünde, und deutete auch nicht einmal an, daß eine bestehen könnte. Dieses Hin- und Herschwanken kommt mir ziemlich unfair gegen jedermann vor.«

»Besonders Ihnen gegenüber, wie ich vermute«, sagte Wood etwas rauh. »Doch wenn Sie mich fragen, will ich Ihnen sagen, was ich glaube — ich glaube, er hat Angst.«

»Angst, zurückgewiesen zu werden?« fragte Payne.

»Nein, Angst, erhört zu werden«, sagte der andere. »Reißen Sie mir nicht den Kopf ab, ich meine nicht, Angst vor der Dame. Ich meine Angst vor dem Porträt« — »Angst vor dem Porträt!« wiederholte Payne. — »Angst vor dem Fluch«, sagte Wood. »Erinnern Sie sich nicht, daß der Vers sagt, der Fluch der Darnaways träfe ihn und sie.« »Gewiß, aber bedenken Sie«, rief Payne; »selbst der Fluch der Darnaways kann sich sein Opfer nicht aussuchen. Zuerst erzählen Sie mir, daß ich meinen Willen nicht durchsetzen könne wegen des Paktes, und dann, daß der Pakt sich nicht durchsetzen könne wegen des Fluches. Wenn aber der Fluch den Pakt zunichte machen kann, warum sollte sie dann an den Pakt gebunden sein? Wenn sie Angst davor haben, einander zu heiraten, dann ist doch jeder von ihnen frei, jemand anderen zu heiraten, und damit hat die Sache ein Ende. Warum sollte man sich Mühe geben, etwas zu beobachten, das zu beobachten gar kein Anlaß gegeben ist? Ihre Situation erscheint mir sehr unvernünftig.«

»Natürlich, das ist alles ein rechtes Durcheinander«, sagte Wood ziemlich ärgerlich, und fuhr fort, den Rahmen eines Gemäldes abzuklopfen.

Plötzlich, eines Morgens, brach der neue Erbe sein langes und verwirrendes Schweigen. Und zwar auf eine seltsame Weise, etwas grob, wie es seine Art war, aber mit dem offensichtlichen Bemühen, das Richtige zu tun. Er fragte frei heraus um Rat, er wünschte nicht Auskunft über die eine oder andere Person, wie Payne es getan hatte, sondern über alle insgesamt. Als er nun sprach, wandte er sich an die ganze Gesellschaft, wie ein Politiker, der aufs Land geht. Er bezeichnete es als ein »Die Karten auf den Tisch legen«. Glücklicherweise war die Dame in dieses großspurige Unternehmen nicht eingeschlossen; und Payne schauderte es, wenn er an ihre Gefühle dachte. Doch der Australier war ganz ehrlich; er hielt es für ganz natürlich, um Hilfe und Aufklärung zu bitten, und rief eine Art Familienrat zusammen, bei dem er nun also seine Karten auf den Tisch legte. Fast könnte man sagen, sie auf den Tisch warf. Denn er tat es mit verzweifelter Miene, als sei er seit Tagen und Nächten von dem steigenden Druck eines Problems gepeinigt werden. In der kurzen Zeit hatten die Schatten des Hauses mit den niedrigen Fenstern und dem sich senkenden Pflaster ihn in sonderbarer Weise verändert und ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem gegeben, den alle noch in Erinnerung hatten.

Die fünf Männer, Payne unter ihnen, saßen um einen Tisch; Payne dachte eben müßig darüber nach, daß sein heller Sportanzug und sein rotes Haar die einzigen farbigen Flecken im Zimmer waren, denn der Verwalter und der Priester waren schwarz gekleidet, während Wood und Darnaway wie gewöhnlich dunkelgraue Anzüge trugen, die fast schwarz aussahen. Vielleicht hatte der junge Mann diesen Unterschied gemeint, als er ihn einen Menschen nannte. In diesem Augenblick setzte er sich plötzlich im Sessel zurecht und fing an zu sprechen. Und eine Sekunde später wußte der erschreckte Künstler, daß er über die ungeheuerlichste Sache auf der Welt sprach.

»Ist da irgend etwas daran?« sagte er gerade. »Das habe ich mich jetzt wieder und wieder gefragt, bis ich fast den Verstand verloren habe. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ich an solche Dinge glauben würde; aber dann denke ich an das Bild und an den Reim und an die zufälligen Ubereinstimmungen oder wie man es nennen soll — und mir wird eiskalt. Ist da irgend etwas dran? Gibt es ein Verhängnis der Familie Darnaway oder nur einen verdammt sonderbaren Zufall? Habe ich das Recht zu heiraten, oder werde ich damit ein finsteres Unheil, von dem ich heute noch nichts weiß, auf mich oder andere herabbeschwören?«

Sein rollendes Auge schweifte über den Tisch und ruhte auf dem ruhigen Gesicht des Priesters, zu dem er jetzt zu sprechen schien. Paynes praktischer Verstand erwachte wieder und wandte sich dagegen, die Frage des Aberglaubens vor ein so äußerst abergläubisches Tribunal zu bringen. Er saß neben Darnaway und nahm das Wort an sich, bevor der Priester antworten konnte.

»Ich gebe zu, daß der Zufall merkwürdig ist«, sagte er mit erzwungener Heiterkeit. »Aber wir werden doch nicht —«, er unterbrach sich wie vom Blitz getroffen. Denn Darnaway hatte bei der Unterbrechung plötzlich den Kopf über die Achsel gewendet, und während dieser Bewegung schob sich die linke Augenbraue mit einem Ruck höher hinauf als die andere, so daß einen Atemzug lang das Gesicht des Porträts ihn mit einer grausigen Übertreibung anstarrte. Auch die anderen sahen es; und alle sahen aus, als hätte sie ein plötzliches Licht geblendet. Der alte Verwalter stöhnte dumpf auf.

»Es nützt nichts«, sagte er heiser, »Wir haben es mit einer furchtbaren Macht zu tun.«

»Ja«, stimmte der Priester mit leiser Stimme bei, »mit einer furchtbaren Macht, mit der furchtbarsten, die ich kenne — und ihr Name ist Blödsinn.«

»Was sagen Sie?« fragte Darnaway, der ihn noch immer ansah.

»Ich sagte Blödsinn«, wiederholte der Priester. »Bis jetzt habe ich nichts Besonderes gesagt, denn es ging mich nichts an, ich habe nur vorübergehend Dienst in der Nachbarschaft getan und Miss Darnaway wollte mich sprechen. Aber da Sie mich persönlich und geradeheraus fragen, ist es leicht genug zu antworten. Natürlich gibt es kein Verhängnis der Familie Darnaway, das Sie hindern könnte, irgend jemanden zu heiraten, wenn Sie dafür einen anständigen Grund haben. Es gibt kein Schicksal, das einem Menschen vorschreibt, auch nur in die läßlichste Sünde zu verfallen, geschweige in Verbrechen wie Selbstmord und Mord. Man kann Sie nicht zwingen, gegen Ihren Willen böse Taten zu begehen, weil sie Darnaway heißen, ebensowenig wie mich, weil ich Brown heiße. Das Verhägnis der Browns«, fügte er mit Gusto hinzu, »— der Fluch der Browns, das würde noch besser klingen.«

»Und Sie, gerade Sie«, wiederholte der Australier mit weitaufgerissenen Augen, »sagen mir, daß ich so darüber denken soll?«

»Ich sage Ihnen, daß Sie an etwas anderes denken sollen«, erwiderte der Priester heiter. »Was ist aus der hoffnungsvollen Kunst der Photographie geworden? Wie geht es der Kamera? Unten ist es sehr dunkel, das weiß ich, aber die Spitzbögen im ersten Stock könnte man mit Leichtigkeit in ein erstklassiges photographisches Atelier umbauen. Für ein paar Arbeiter wird es eine Kleinigkeit sein, ein Glasdach aufzusetzen.«

»Aber«, wandte Wood ein, »ich glaube, Sie sollten doch zuallerletzt an diese herrlichen gotischen Bögen Hand anlegen, die beste Arbeit, die Ihre Religion je hervorgebracht hat. Ich hätte geglaubt, daß Sie für solche Kunstwerke einige Pietät übrig haben müßten; ich verstehe nicht recht, warum es Ihnen sosehr um Photographie zu tun ist.«

»Mir ist es sehr um Tageslicht zu tun«, erwiderte Pater Brown, »besonders in dieser muffigen Angelegenheit — und die Photographie besitzt die Tugend, daß sie Tageslicht braucht. Und wenn Sie nicht wissen, daß ich bereit wäre, sämtliche gotische Bögen der Welt zu Staub zu zerreiben, um die gesunde Vernunft eines einzigen Menschen zu retten, dann wissen Sie nicht soviel über meine Religion wie Sie glauben.«

Der junge Australier war aufgesprungen wie verjüngt. »Bei Gott, so ist’s«, sagte er, »obwohl ich nicht erwartet hatte, das von Ihnen zu hören. Ich will Ihnen mal was sagen, Ehrwürden, ich werde etwas tun, um zu beweisen, daß ich meinen Mut noch nicht verloren habe.«

Der alte Verwalter sah ihn mit zitternden, spähenden Blicken an, als sei etwas Unheimliches am Widerstand des jungen Mannes.

»Oh«, rief er aus, »was haben Sie vor?«

»Ich werde das Porträt photographieren«, erwiderte Darnaway.

Doch knapp eine Woche später schien der Sturm der Katastrophe vom Himmel herabzusteigen, um die Sonne der gesunden Vernunft zu verdunkeln, an die der Priester sich umsonst gewandt hatte, und das Haus von neuem in das Düster des Familienschicksals zu tauchen. Es war leicht genug gewesen, das neue Atelier einzurichten; von innen gesehen, war es genau wie jedes andere Atelier, es war leer und nur vom hellen Licht erfüllt. Wer aus den düsteren Räumen darunter kam, hatte noch mehr als gewöhnlich das Gefühl, in eine moderne Helle zu treten, die so leer war wie die Zukunft. Auf Anraten Woods, der das Schloß gut kannte und seine erste ästhetische Unzufriedenheit überwunden hatte, wurde ein kleiner Raum im obersten Teil des zerstörten Gebäudes, das unversehrt geblieben war, in eine Dunkelkammer verwandelt, in die Darnaway aus dem weißen Tageslicht eintrat, um bei den karminfarbenen Strahlen einer roten Lampe herumzuhantieren. Wood sagte lachend, die rote Lampe habe ihn mit der vandalischen Handlung versöhnt, denn die blutgetränkte Finsternis sei so romantisch wie die Höhle eines Alchimisten.

Darndway war an dem Tage, an dem er das geheimnisvolle Porträt photographieren wollte, bei Tagesanbruch aufgestanden. Er hatte es über die Wendeltreppe, die einzige, die beide Stockwerke verband, von der Bibliothek ins Atelier schaffen lassen. Dort hatte er es in dem vollen weißen Tageslicht auf eine Staffelei gestellt und den photographischen Dreifuß davor aufgebaut. Wie er sagte, lag ihm sehr viel daran, ein Photo an einen berühmten Antiquar zu senden, der schon über die Altertümer des Hauses geschrieben hatte; doch wußten die anderen, daß dies nur eine Ausrede war, die Tieferes deckte. Es handelte sich, wenn nicht um ein geistiges Duell zwischen Darnaway und dem dämonischen Bilde, so doch um ein Duell zwischen Darnaway und seinem eigenen Zweifel. Er wollte das Tageslicht der Photographie Angesicht zu Angesicht vor das dunkle Meisterwerk der Malerei bringen, um zu sehen, ob der Sonnenschein der neuen Kunst nicht vermöchte, die Schatten der alten zu verdrängen.

Vielleicht war das der Grund, warum er es vorzog, es selbst zu tun, obwohl einige der Nebenarbeiten mehr Zeit in Anspruch nahmen und ihn außergewöhnlich lange aufhielten. Jedenfalls wies er die wenigen Personen ab, die sein Atelier am Tage des Experiments besuchten und ihn bei seinem Ausmessen und Herumhantieren einsam und unzugänglich vorfanden. Da er sich weigerte, hinunterzukommen, hatte der Verwalter ihm ein Mittagbrot hinaufgeschickt; nach einigen Stunden kam der alte Herr nochmals hinauf und sah, daß die Mahlzeit fast ganz verschwunden war; als er sie gebracht hatte, war ein Brummen der einzige Dank gewesen. Einmal ging auch Payne hinauf, um zu sehen, wie weit er war, aber da der Photograph sich nicht zu einem Gespräch aufgelegt zeigte, kam er wieder herunter. Auch Pater Brown war auf seine bescheidene Weise hinaufgeschlendert, um Darnaway einen Brief des Sachverständigen zu überbringen, an den die Photographie geschickt werden sollte. Aber er ließ den Brief auf einem Tablett liegen, und was er auch über das große Glashaus gedacht haben mag, das erfüllt war von Tageslicht und der Liebe zu einem Steckenpferd, über eine Welt, die er in gewissem Sinne selbst erschaffen hatte, er behielt es für sich und kam wieder herunter. Er hatte allen Grund sich bald daran zu erinnern, daß er der letzte war, der die einzige Treppe zwischen den Stockwerken heruntergestiegen war, und daß er einen Einsamen in einem leeren Zimmer zurückgelassen hatte. Die anderen standen in dem Saal, der zur Bibliothek führte, gerade unter der großen schwarzen Ebenholzuhr, die wie ein Riesensarg aussah.

»Wie weit war Darnaway gekommen, als Sie oben waren?« fragte Payne etwas später.

Der Priester fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Sagen Sie mir bloß nicht, daß ich telepathisch werde«, sagte er mit traurigem Lächeln. »Ich glaube, das Sonnenlicht im Zimmer hat mich geblendet, so daß ich nichts richtig erkennen konnte. Offengestanden meinte ich einen Augenblick, an Darnaways Gestalt, wie er so vor dem Bilde stand, etwas Unheimliches zu sehen.«

»Ach ja, das lahme Bein«, erwiderte Barnet sofort. »Darüber wissen wir schon alles.«

»Hören Sie mal«, sagte Payne plötzlich mit leiserer Stimme, »ich glaube nicht, daß wir schon alles darüber, oder überhaupt etwas wissen. Was ist mit seinem Bein los? Was war mit dem Bein seines Vorfahren los?«

»Richtig, darüber steht etwas in dem Buch aus dem Familienarchiv, von dem ich Ihnen erzählt habe«, sagte Wood und ging in die Bibliothek, die sich nebenan befand.

»Ich glaube«, sagte Pater Brown ruhig, »daß Mr. Payne einen besonderen Grund haben muß, diese Frage zu stellen.«

»Ich kann ebensogut gleich damit herausrücken«, sagte Payne ganz leise. »Schließlich gibt es doch eine vernünftige Erklärung. Irgendein Hergelaufener kann sich so hergerichtet haben, daß er wie der Verstorbene aussieht. Was wissen wir eigentlich von Darnaway? Er benimmt sich sehr sonderbar.« —

Die anderen sahen ihn erschreckt an, nur der Priester schien es ruhig aufzunehmen.

»Ich glaube nicht, daß das alte Bild je photographiert wurde«, sagte er, »Deshalb will er es tun. Daran scheint mir nichts Besonderes zu sein.«

»Nein, die natürlichste Sache von der Welt«, erwiderte Wood mit einem Lächeln; er war eben mit dem Buch in der Hand zurückgekommen. Während er noch sprach, regte sich etwas im Uhrwerk der großen dunklen Uhr hinter ihnen und durch das Zimmer zitterten nacheinander die Schläge, sieben an der Zahl. Mit dem letzten Schlag kam von oben ein Krach, der das Haus wie ein Donnerschlag erschütterte; Pater Brown war schon auf der zweiten Stufe der Wendeltreppe, als der Ton erstarb.

»Mein Gott«, rief Payne unwillkürlich aus, »er ist allein dort oben!«

»Ja«, erwiderte Pater Brown ohne sich umzudrehen, während er auf der Treppe verschwand. »Wir werden ihn oben allein vorfinden.«

Als die anderen sich von der ersten Lähmung erholt hatten und holterdipolter die Steinstufen hinauf und in das neue Atelier gelaufen waren, fanden sie ihn in gewissem Sinne wirklich allein vor. Sie fanden ihn in den Trümmern seines Apparates liegend, dessen lange zersplitterte Beine auf groteske Weise nach drei verschiedenen Richtungen in die Luft starrten; Darnaway war darauf gefallen, und ein krummes schwarzes Bein lag in einem vierten Winkel am Boden. Einen Augenblick sah der schwarze Haufen aus, als sei er mit einer riesigen, scheußlichen Spinne verwickelt. Ein Blick und eine Berührung genügten, um ihnen zu sagen, daß er tot war. Nur das Bild stand unberührt auf der Staffelei, und man hätte glauben können, da’s die lächelnden Augen glänzten.

Eine Stunde später traf Pater Brown, der sich bemühte, die Vewirrung der Betroffenen zu lindern, den alten Verwalter, der fast so mechanisch vor sich hinbrummte, wie die Uhr getickt und die schreckliche Stunde geschlagen hatte. Ohne die Worte zu verstehen, wußte er, wie sie lauten mußten.

»Im siebenten Erben es wiederkehrt,

in der siebenten Stunde macht er sich fort.«

Als er gerade etwas Tröstliches sagen wollte, schien der Greis zu erwachen und vor Zorn zu erstarren; sein Geflüster wurde zu einem wütenden Schrei.

»Sie!« sagte er. »Sie mit Ihrem Tageslicht! Selbst Sie werden jetzt nicht mehr sagen, daß es kein Verhängnis für die Darnaways gibt!«

»Ich habe meine Meinung darüber nicht geändert«, sagte Pater Brown sanft.

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich hoffe, Sie werden den letzten Wunsch des armen Darnaway achten und dafür sorgen, daß die Photographie abgeschickt wird.«

»Die Photographie!« rief der Arzt scharf. »Wozu? Übrigens ist es sehr merkwürdig, aber es existiert gar keine. Scheinbar hat er gar keine gemacht, nachdem er den ganzen Tag herumgewirtschaftet hat.«

Pater Brown drehte sich plötzlich um. »Dann machen Sie selbst eine Aufnahme«, sagte er. »Der arme Darnaway hatte vollkommen recht. Es ist von größter Wichtigkeit, daß eine Aufnahme gemacht wird.«

Als alle Besucher, der Arzt, der Priester und die zwei Künstler wie eine düstere und niedergeschlagene Prozession über den braunen und gelben Strand davonzogen, schwiegen sie zuerst verstört. Und in der Tat, es war wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel gewesen, als sich der Fluch gerade in dem Augenblick erfüllte, da man ihn restlos vergessen hatte, gerade in dem Augenblick, als der Arzt und der Priester ihre Köpfe mit Rationalismus angefüllt hatten, wie der Photograph seine Räume mit Tageslicht. Sie machten aber so rationalistisch sein, wie sie wollten, der siebente Erbe war dennoch im hellen Tageslicht zurückgekommen und im hellen Tageslicht zur siebenten Stunde verschieden.

»Ich fürchte, nun werden alle für ewige Zeiten an den Darnaway-Fluch glauben«, sagte Martin Wood.

»Ich kenne einen, der nicht daran glauben wird«, sagte der Arzt scharf. »Wieso sollte ich dem Aberglauben frönen, nur weil jemand anderer dem Selbstmord frönt?«

»Sie glauben, der arme Mr. Darnaway hat Selbstmord begangen?« fragte der Priester.

»Ich bin sicher, daß er Selbstmord begangen hat«, antwortete der Arzt.

»Möglich ist es«, stimmte der andere bei.

»Er war dort oben völlig allein und er hatte in der Dunkelkammer eine ganze Apotheke von Giften. Abgesehen davon ist das gerade das, was die Darnaways tun.«

»Sie glauben doch nicht, daß an dem Familienfluch irgend etwas dran ist?«

»In der Tat«, sagte der Arzt; »ich glaube an einen Familienfluch, er besteht in der Familienkonstitution. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß sie erblich ist und daß sie alle halb verrückt sind. Wenn man derartig stagniert und im eigenen Saft kocht, dann ist man dazu verurteilt, zu degenerieren, ob man will oder nicht. Die Vererbungsgesetze kann man nicht umgehen; die Wahrheit der Wissenschaft kann nicht verleugnet werden. Die geistige Substanz der Darnaways zerfällt, wie ihr morsches altes Gebälk und Mauerwerk in Stücke fällt, ausgezehrt vom Meer und der Salzluft. Selbstmord, natürlich hat er Selbstmord begangen; und ich wage zu behaupten, daß auch alle die anderen noch Selbstmord begehen werden. Vielleicht ist es auch das beste, was sie tun können.«

Als der Mann der Wissenschaft dies sagte, stand Payne plötzlich und mit erschreckendet Klarheit das Gesicht der Tochter der Darnaways vor Augen, eine tragische Maske, bleich vor dem Hintergrund einer unergründlichen Düsterkeit, doch von einer blendenden und mehr als irdischen Schönheit. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, fand jedoch keine Worte.

»Wie ich sehe«, sagte Pater Brown zu dem Arzt, »glauben Sie also doch an den Fluch?«

»Was soll das heißen — ich glaube an den Fluch? Ich glaube an den Selbstmord aus wissenschaftlicher Notwendigkeit.«

»Nun«, sagte der Priester, »ich sehe nicht den Deut eines Unterschiedes zwischem Ihrem wissenschaftlichen Aberglauben und diesem anderen magischen Aberglauben. Beide scheinen darauf hinauszulaufen, daß die Menschen paralysiert sind und weder ihre Arme und Beine bewegen noch ihr Leben oder ihre Seele retten können. Das Gedicht sagte, es sei der Fluch der Darnaways, getötet zu werden, und das wissenschaftliche Lehrbuch sagt, es sei der Fluch der Darnaways, sich selbst zu töten. In beiden Fällen scheinen sie mir Sklaven zu sein.«

»Aber ich dachte, Sie hätten gesagt, daß Sie an eine verstandesmäßige Beurteilung dieser Dinge glauben«, sagte Dr. Barnet. »Glauben Sie nicht an die Vererbungsgesetze?«

»Ich sagte, daß ich an das Tageslicht glaube«, erwiderte der Priester mit lauter und klarer Stimme, »und ich denke nicht daran, zwischen zwei Wegen obskuren Aberglaubens zu wählen, die beide in Finsternis enden. All das beweist nur, daß Sie alle völlig im Dunkel tappen, hinsichtlich dessen, was in diesem Haus vorging.«

»Meinen Sie hinsichtlich des Selbstmordes?« fragte Payne.

»Ich meine hinsichtlich des Mordes«, sagte Pater Brown und seine Stimme, obwohl nur leicht erhoben, schien über den ganzen Strand zu hallen. »Es war Mord; doch Mord kommt aus dem Willen, den Gott frei gemacht hat.«

Was der andere in diesem Augenblick darauf geantwortet hatte, sollte Payne nie erfahren. Denn dieses Wort hatte eine recht seltsame Wirkung auf ihn; es fuhr ihn an wie ein Trompetenstoß und brachte ihn dennoch zum Stehen. Er hielt mitten auf der sandigen Wüste an und ließ die anderen weitergehen; er fühlte, wie ihm das Blut in den Adern gerann und, wie man sagt, die Haare zu Berge standen; und dennoch fühlte er eine neue und unnatürliche Heiterkeit. Ein psychologischer Prozeß, der zu rasch und zu kompliziert war, als daß er ihm selbst hätte folgen können, war bereits zu einem Ende gekommen, das er selbst nicht analysieren konnte. Aber das Ende war eine Erleichterung. Nachdem er eine Weile so dagestanden hatte, wandte er sich um und ging über den Strand langsam zum Haus der Darnaways zurück.

Er ging mit so heftigen Schritten über die Brücke, die den Graben überspannte, daß sie erzitterte, eilte die Stufen hinab und lief mit hallenden Schritten durch die langen Zimmer, bis er an die Stelle kam, wo Adelaide Darnaway saß, den Heiligenschein des dämmrigen Lichtes aus dem ovalen Fenster hinter sich, wie eine vergessene Heilige, die im Land des Todes zurückgeblieben war. Sie blickte auf und ein Ausdruck des Erstaunens machte ihr Gesicht noch wunderbarer.

»Was ist geschehen«, sagte sie. »Warum sind Sie zurückgekommen?«

»Ich bin zur schlafenden Schönen gekommen«, sagte er in einem Ton, der einen Anflug von Lachen hatte. »Dieses alte Haus hat sich vor langer Zeit zum Schlafen gelegt, wie der Arzt sagt; aber es ist töricht von Ihnen, vorzugeben, daß Sie alt seien. Kommen Sie hinauf ins Tageslicht und hören Sie die Wahrheit. Ich habe das Wort für sie; es ist ein schreckliches Wort, aber es wird den Bann Ihrer Gefangenschaft brechen.«

Sie verstand nichts von dem, was er sagte, aber etwas ließ sie aufstehen und ihm folgen durch die lange Halle und. die Stufen hinauf und hinaus unter den Abendhimmel. Die Ruinen eines toten Gartens erstreckten sich zum Meer hin, aus einem alten Brunnen ragte die Figur eines Tritons auf, von Grünspan überzogen, aus dem trockenen Horn strömte nichts in das leere Bassin. Diese trostlose Silhoutte hatte er oft, wenn er vorbeigegangen war, gegen den Abendhimmel gesehen und sie war ihm immer als ein Zeichen gestürzten Glücks, in mehr als einer Hinsicht, erschienen. Es konnte ohne Zweifel nicht mehr lange dauern und diese leeren Brunnen würden angefüllt sein, aber mit dem grünbleichen, bitteren Wasser des Meeres und die Blumen würden ertränkt und vom Seegras erstickt sein. So, hatte er sich gesagt, würde auch die Tochter der Darnaways verheiratet werden, sie würde dem Tod und einem Verhängnis, so stumm und abgründig wie das Meer, verheiratet werden. Doch nun legte er eine Hand auf den bronzenen Triton, und sie war wie die Hand eines Riesen, er schüttelte ihn, als wollte er ihn umstürzen, wie einen Fetisch oder einen bösen Gartengott.

»Was soll das heißen?« fragte sie gefaßt. »Was ist das für ein Wort, das uns frei machen wird?«

»Es ist das Wort Mord«, sagte er, »und die Freiheit, die es bringt, ist so frisch, wie die Blumen im Frühling. Nein, ich will nicht sagen, daß ich jemanden ermordet habe. Aber der Umstand, daß einer ermordet werden kann, ist an sich schon eine gute Nachricht nach all den bösen Träumen, in denen Sie gelebt haben. Verstehen Sie denn nicht? In den Träumen, die Sie gehabt haben, kam alles, was sich ereignete, aus Ihrem eigenen Inneren; der Fluch der Darnaways hauste in den Darnaways selbst; er entfaltete sich, wie eine schreckliche Blume. Es gab kein Entkommen, selbst nicht durch einen glücklichen Umstand, alles war unausweichlich; ob nun wie bei Vine mit seiner Altweibergeschichte, oder wie bei Barnet und seiner läppischen Vererbungstheorie. Aber der Mann, der starb, war nicht das Opfer eines magischen Fluchs oder eines vererbten Irrsinns. Er wurde ermordet; aber für uns ist dieser Mord nur ein gewöhnliches Ereignis; gewiß: requiescat in pace, aber dennoch ein glückliches Ereignis. Es ist ein Strahl des Tageslichts, denn es kommt von außen.«

Plötzlich lächelte sie: »Ja, ich glaube, ich verstehe. Sie scheinen wie ein Wahnsinniger zu sprechen, aber ich verstehe. Doch, wer hat ihn ermordet?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete er ruhig, »aber Pater Brown weiß es. Und wie Pater Brown sagt, gemordet wird aus dem Willen, der frei ist wie der Wind vom Meer.«

»Pater Brown ist ein wunderbarer Mensch«, sagte sie nach einer Pause, »er war der einzige Mensch, der je mein Dasein aufgehellt hat, in jeder Hinsicht, bis —«

»Bis was?« fragte Payne und machte eine fast ungestüme Bewegung, indem er sich an sie lehnte und das bronzene Ungetüm fortschob, so daß es auf seinem Podest zu wackeln begann.

»Nun, bis Sie es taten«, sagte sie und lächelte abermals.

So ward der schlafende Palast erweckt, und es gehört nicht zu dieser Geschichte, die verschiedenen Stadien dieser Erweckung zu beschreiben, obwohl sie sich begaben, noch ehe die Dunkelheit dieses Abends sich über das Ufer gebreitet hatte. Als Harry Payne den dunklen Strand, über den er in so mancher Stimmung geschritten war, entlang nach Hause ging, war er auf dem Gipfel des Glücks, das uns in diesem sterblichen Leben beschieden ist, und all sein Inneres war in Aufruhr. Es kostete ihn keine Mühe, sich alles rundum wieder in Blüte vorzustellen, den bronzenen Tritonen, strahlend wie einen goldenen Gott, und den Brunnen, überfließend von Wasser oder Wein. Und all dieses Strahlen und Blühen war für ihn aufgegangen durch das eine Wort: »Mord«; es war noch immer ein Wort, das er nicht begriff. Er hatte es gutgläubig aufgenommen, aber er war nicht ohne Klugheit; er war einer von jenen, die einen Sinn für die Wahrheit haben.

Über einen Monat später kehrte Payne in sein Londoner Haus zurück, um eine Verabredung mit Pater Brown einzuhalten. Die verlangte Photographie brachte er mit. Seine eigene Liebesromanze war so wohl gediehen, wie es sich im Schatten einer solchen Tragödie schickte, und daher lag der Schatten selbst etwas leichter auf ihm; aber es war schwer, ihn als etwas anderes anzusehen, als den Schatten eines Familiengeschicks. Er war auf mancherlei Weise sehr stark beschäftigt gewesen, und erst als die Darnaway-Familie ihre strenge Tagesroutine wieder aufgenommen hatte und das Bild längst wieder an seinem Platz in der Bibliothek stand, war es ihm gelungen, es mit Blitzlicht zu photographieren. Bevor er das Photo, wie zuerst besproehen, dem Antiquar sandte, brachte er es dem Priester, der es so dringend verlangt hatte.

»Ich verstehe Ihre Haltung in dieser Angelegenheit nicht, Pater Brown«, sagte er. »Sie benehmen sich, als hätten Sie das Rätsel schon auf Ihre eigene Weise gelöst.«

Der Priester schüttelte traurig den Kopf. »Keineswegs«, erwiderte er. »Ich bin gewiß sehr dumm, denn ich sitze fest — sitze fest an der wichtigsten Stelle. Eine sonderbare Sache; bis zu einem Punkt so einfach, und dann — wollen Sie mir die Photographie einmal zeigen, bitte?«

Er hielt sie einen Augenblick an seine zusammengekniffenen, kurzsichtigen Augen und sagte: »Haben Sie ein Vergrößerungsglas?«

Payne holte eines hervor, der Priester blickte eine Weile angestrengt durch und sagte dann: »Sehen Sie sich einmal den Titel dieses Buches an, das am Rand des Bücherbrettes neben dem Rahmen steht, er heißt ›Die Geschichte der Päpstin Johanna‹. Ob da nicht — ja, wahrhaftig; darüber steht ein Buch über Island. Gott! Wie sonderbar, auf diese Weise draufzukommen! Was für ein Dummkopf und Esel bin ich doch gewesen, daß ich es nicht bemerkte, als ich dort war!«

»Ja, worauf sind Sie denn gekommen?« fragte Payne ungeduldig.

»Auf das letzte Glied in der Kette«, erwiderte Pater Brown. »Ich sitze jetzt nicht mehr fest. Ja, ich weiß jetzt, wie die unglückselige Geschichte von Anfang bis zu Ende vor sich ging.«

»Aber wieso?« wiederholte der andre.

»Darum«, sagte der Priester mit einem Lächeln, »weil die Bibliothek der Darnaways Bücher über die Päpstin Johanna und Island enthielt, zu schweigen von einem andern, das ich eben bemerke, und dessen Titel beginnt mit den Worten ›Die Religion Friedrichs…‹, was nicht so schwer zu ergänzen ist.« Als er aber sah, daß der andre sich ärgerte, erlosch sein Lächeln und er sagte mit größerem Ernst:

»In der Tat ist dieser letzte Punkt, obwohl das letzte Glied der Kette, nicht die Hauptsache. Der Fall enthält viel sonderbarere Einzelheiten. So zum Beispiel das sonderbare Beweismaterial. Ich will damit anfangen, Ihnen etwas zu sagen, was Sie wohl in Erstaunen setzen wird. Darnaway starb nicht um sieben Uhr abends. Um die Zeit war er schon einen ganzen Tag tot.«

»Erstaunen ist ein schwacher Ausdruck«, erwiderte Payne bitter. »Wir sahen ihn doch beide, Sie und ich, nachher noch herumgehen.«

»Nein, eben nicht«, sagte Brown ruhig. »Wir haben ihn, glaube ich, beide gesehen, oder gedacht, daß wir ihn sahen, wie er mit vieler Mühe die Linse einstellte. War sein Kopf nicht unter dem schwarzen Mantel verborgen, als Sie durchs Zimmer gingen? Jedenfalls war er nicht zu sehen, als ich durchkam. Darum fühlte ich auch, daß etwas an dem Zimmer und an der Gestalt nicht in Ordnung war. Nicht weil das Bein krumm war — vielmehr, weil es nicht krumm war. Es steckte in demselben dunklen Anzug, aber wenn Sie einen Menschen, den Sie für eine bestimmte Person halten, anders dastehen sehen, als Sie es von dieser Person gewöhnt sind, werden Sie seine Haltung krampfhaft und fremdartig finden.«

»Wollen Sie damit sagen«, rief Payne mit Schaudern aus, »daß es irgendein Fremder war?«

»Es war der Mörder«, sagte Pater Brown. »Er hatte Darnaway bei Tagesanbruch getötet und die Leiche sowie sich selbst in der Dunkelkammer versteckt — ein ausgezeichnetes Versteck, da gewöhnlich niemand hineingeht oder viel sehen kann, wenn er es doch tut. Aber natürlich ließ er die Leiche um sieben Uhr auf den Boden fallen, um die ganze Sache durch den Fluch zu erklären.«

»Aber ich verstehe nicht«, bemerkte Payne. »Warum hat er ihn dann nicht erst um sieben Uhr getötet, anstatt sich vierzehn Stunden lang mit einer Leiche zu beladen?«

»Ich werde eine Gegenfrage stellen«, sagte der Priester. »Warum wurde keine Aufnahme gemacht? Weil es dem Mörder darauf ankam, ihn sofort als er aufstand zu töten, bevor er die Aufnahme machen konnte. Dem Mörder war es von größter Wichtigkeit, zu verhindern, daß die Photographie in die Hände des Sachverständigen gelangte, der die Altertümer des Hauses kannte.«

Ein plötzliches Schweigen trat ein, und nach einer Weile fuhr der Priester mit leiserer Stimme fort:

»Sehen Sie nicht, wie einfach das ist? Eine Möglichkeit haben Sie ja selbst erkannt; aber es ist noch einfacher, als Sie dachten. Sie sagten, ein Mann könne sich so herrichten, daß er einem alten Bild ähnlich wird. Es ist doch sicherlich einfacher, ein Bild so herzurichten, daß es einem Manne ähnlich ist. Geradeheraus gesagt: es trifft auf eine besondere Weise zu, daß es kein Verhängnis des Hauses Darnaway gibt. Es gab kein altes Bild; es gab keinen alten Reim; es gab keine Legende von einem Manne, der den Tod seiner Frau verschuldete. Aber es gab einen sehr bösen und sehr klugen Mann, der bereit war, den Tod eines anderen zu verschulden, um ihm seine angelobte Gattin wegzunehmen.«

Der Priester lächelte Payne zu, wie um ihm Mut zu machen. »Nun haben Sie eben geglaubt, daß ich von Ihnen rede«, sagte er, »aber Sie waren nicht der einzige Mann, der aus Liebe immer wieder in das Haus kam. Sie kennen den Mann, vielmehr, Sie glauben ihn zu kennen. Es gibt aber geheime Abgründe in dem Manne, der sich Martin Wood, Maler und Sachverständiger, nannte, wie keiner seiner Freunde aus Künstlerkreisen sie auch nur erraten konnte. Vergessen Sie nicht, daß er berufen wurde, um über die Bilder sein Urteil abzugeben und sie zu katalogisieren, was in einer solchen Rumpelkammer von Kunstschätzen einfach bedeutet, daß er den Darnaways sagen sollte, was sie eigentlich besaßen. Wenn plötzlich etwas zum Vorschein kam, was sie nie gesehen hatten, konnte sie das nicht wundern. Es mußte nur gut gemacht werden, und es wurde gut gemacht. Vielleicht hatte er recht mit seiner Bemerkung, daß es jemand vom Genie Holbeins gemalt hat, wenn es nicht Holbein selber war.«

»Ich bin wie vor den Kopf geschlagen«, sagte Payne, »und es gibt noch eine Menge Dinge, die ich nicht verstehe. Woher wußte er, wie Darnaway aussah? Wie hat er ihn faktisch getötet? Die Ärzte sind sich noch gar nicht klar darüber.«

»Ich Habe eine Photographie gesehen, die der Dame gehörte und die der Australier nach Hause geschickt hat, bevor er selbst kam«, sagte der Priester. »Hatte man den neuen Erben erst einmal anerkannt, so konnte er auf die verschiedenste Weise weitere Einzelheiten erfahren. Wir kennen diese Einzelheiten nicht — aber sie bieten keine Schwierigkeit. Wie Sie sich erinnern, half er gewöhnlich in der Dunkelkammer mit; ist der Ort nicht geradezu geschaffen, um einen Menschen etwa mit einer vergifteten Nadel zu erstechen? Noch dazu, wo er die Gifte so bequem zur Hand hatte? Nein, darin lag keine Schwierigkeit. Was mich beirrte, war die Unmöglichkeit, daß Wood an zwei Stellen zugleich sein konnte. Wie konnte er die Leiche aus der Dunkelkammer holen und sie so aufstellen, daß sie nach wenigen Sekunden hinfallen mußte, ohne daß er die Stiege herunterkam? Und er war doch in der Bibliothek und suchte ein Buch? Und ich war ein solcher Esel, daß ich mir die Bücher in der Bibliothek nicht näher ansah; erst auf dieser Photographie sah ich die einfache Tatsache, mit mehr Glück als Verstand, daß dort ein Buch über die Päpstin Johanna stand.«

»Ihr bestes Rätsel haben Sie für zuletzt aufgespart«, sagte Payne ernst. »Was in aller Welt hat die Päpstin Johanna damit zu tun?«

»Vergessen Sie nicht das Buch über irgendwas in Island«, sagte der Priester, »und über die Religion eines Mannes, der Friedrich hieß. Man muß sich nur noch fragen, was für ein Mensch der verstorbene Lord Darnaway gewesen ist.«

»So, muß man das?« fragte Payne schwerfällig.

»Ich glaube, daß er ein gebildeter, witziger, etwas überspannter Kopf war«, fuhr Pater Brown fort. »Da er gebildet war, wußte er auch, daß es nie eine Päpstin Johanna gegeben hat. Da er witzig war, hat er sich wahrscheinlich den Titel ›Die Schlangen von Island‹ für etwas ausgedacht, was nicht existierte. Ich nehme mir heraus, den dritten Buchtitel zu ›Die Religion Friedrichs des Großen‹ zu ergänzen — die es auch nicht gab. Fällt Ihnen nicht auf, daß das Titel sind, die man Büchern geben mußte, die gar nicht existierten? Mit anderen Worten, einem Bücherregal, das gar keines war?«

»Aha«, rief Payne, »jetzt verstehe ich. Es gab eine geheime Treppe —« »Zu dem Zimmer, das Wood selbst als Dunkelkammer ausgewählt hatte«, nickte der Priester. »Es tut mir sehr leid. Es klingt entsetzlieh banal und dumm, so dumm, wie ich mich in dieser banalen Sache erwiesen habe. Aber wir waren nun einmal in eine wirklich muffige alte Geschichte von verarmten Adeligen und einem verfallenden Schloß verwickelt — und wir durften nicht hoffen, daß uns ein geheimer Gang erspart bleiben würde. Er war für einen Priester bestimmt — und ich habe verdient, in ihn hineinzustolpern.«

Gideon Wises Geist

Pater Brown hatte diesen Fall immer als das vertrackteste Beispiel für die Grundtheorie eines Alibis betrachtet, für die Theorie, die im Gegensatz zu jenem mythologischen irischen Vogel behauptet, daß niemand an zwei Orten gleichzeitig sein kann. James Byrne allerdings, ein irischer Journalist, und damit fängt die Geschichte an, stellte wahrscheinlich die höchstmögliche Annäherung an den irischen Vogel dar. Mehr als jeder andere kam er dem Phänomen, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, nahe: trat er doch innerhalb von 20 Minuten an zwei völlig entgegengesetzten Punkten des sozialen und politischen Lebens auf. Der erste befand sich in den »Babylonischen Hallen« des Grandhotels »Babylon«, dem Treffpunkt von drei Wirtschaftsmagnaten, die damit beschäftigt waren, eine Aussperrung in einer Kohlengrube zu bewerkstelligen und das als Bergarbeiterstreik hinzustellen, der zweite lag in einer merkwürdigen Kneipe, die nach außen die Fassade eines Gemüseladens zeigte, wo er ein dem Untergrund zugehöriges Triumvirat jener Leute traf, die die Aussperrung gerne in einen Streik verwandelt hätten — und den Streik in eine Revolution.

Der Reporter wechselte zwischen den drei Millionären und den drei Bolschwikenführern mit der Unantastbarkeit eines modernen Herolds oder eines Superbotschafters hin und her.

Er entdeckte die drei Bergwerksmagnaten in einem Dschungel blühender Pflanzen, verborgen in einem Wald kannelierter und überladener Säulen aus vergoldetem Gips; vergoldete Vogelkäfige hingen hoch oben unter bemalten Kuppeln zwischen den höchsten Palmwipfeln, in ihnen tummelte sich eine Vielfalt von Vögeln der buntesten Farben und der unterschiedlichsten Stimmen. Kein Vogel sang je unbemerkter in einer Einöde und keine Blume verströmte je ihren süßen Duft so völlig umsonst an die Wüstenluft wie die Blüten jener hohen Gewächse sie an diese flotten und atemlosen Geschäftsleute, hauptsächlich Amerikaner, verschwendeten, die vor den Pflanzen im Gespräch auf und ab eilten. Dort mitten in einer Explosion von Rokokoornamenten, die nie jemand bemerkte, und mitten im Gekreisch teurer fremdländischer Vögel, denen nie einer lauschte, und in einer Masse opulentester Polster und in einem Labyrinth luxuriöser Architektur saßen die drei Männer und unterhielten sich darüber, daß Erfolg sich auf die Prinzipien von Aufmerksamkeit, Sparsamkeit, Wachsamkeit in ökonomischen Dingen und Selbeherrschung gründe. Einer von ihnen sprach allerdings nicht soviel wie die anderen, aber er spähte mit sehr hellen bewegungslosen Augen umher, die von seinem Zwicker zusammengeschoben schienen, und sein ständiges Lächeln unter dem schwarzen Bärtchen sah eher wie ein ständiges Hohnlachen aus. Das war der berühmte Jakob P. Stein, der nicht sprach, wenn er nichts zu sagen hatte. Sein Begleiter jedoch, Alt-Gallup der Pennsylvanier, ein riesiger fetter Kerl mit würdigem grauem Haar, aber dem Gesicht eines Boxers, sprach unablässig. Er war in jovialer Laune und gerade dabei, den dritten Millionär, Gideon Wise, halb zu verspotten und halb zu schikanieren. Gideon Wise, ein harter, trockener und eckiger alter Vogel, den seine Landsleute mit Hickoryholz verglichen, trug einen steifen grauen Kinnbart und zeigte die Manieren und die Kleidung eines x-beliebigen alten Bauern der mittelamerikanischen Hochebene. Zwischen Wise und Gallup gab es ein altes Streitthema, das ums Sichverbünden und den Konkurrenzkampf ging. Wise klebte nämlich noch an den Verhaltensmustern eines alten Hinterwäldlers, an der Vorstellung eines Individualisten alter Schule; er gehörte, wie wir in England sagen würden, der Manchesterschule an. Gallup versuchte immer, ihn zu überreden, den Konkurrenzkampf zu vergessen und sein Geld in einen Topf mit den Geldern der restlichen Welt zu werfen.

»Früher oder später mußt du einsteigen, alter Knabe«, sagte Gallup eben mit Wärme, als Byrne hereinkam. »So ist der Lauf der Welt und wir können jetzt nicht zurück zu Einmannunternehmungen. Wir müssen alle zusammenhalten.«

»Wenn ich ein Wort sagen darf«, sagte Stein in seiner ruhigen Art. »Ich würde sagen, es gibt Dringlicheres als geschäftlichen Zusammenhalt. Wie dem auch sei, wir müssen politisch zusammenhalten; das ist der Grund, weshalb ich Mr. Byrne gebeten habe, uns heute hier zu treffen. Die politischen Angelegenheiten sind es, in denen wir zusammenarbeiten müssen; aus dem einfachen Grund, weil unsere gefährlichsten Gegner sich bereits verbündet haben.«

»O ja, was politische Zusammenarbeit angeht, bin ich ganz derselben Meinung«, knurrte Gideon Wise.

»Hören Sie mal«, sagte Stein zu dem Journalisten. »Ich weiß, Sie haben Zugang zu seltsamen Orten, Mr. Byrne, und ich hätte einen inoffiziellen Auftrag für Sie. Sie wissen, wo diese Leute sich treffen; es gibt nur zwei oder drei, die wirklich zählen, John Elias und Jake Halket, der die große Schnauze führt, und dann vielleicht noch dieser Dichterling, Horne.«

»Was denn, Horne pflegte doch ein Freund Gideons zu sein«, frolockte Gallup. »War doch in seiner Klasse in der Sonntagsschule oder so?«

»Damals war er noch Christ«, sagte der alte Gideon feierlich. »Aber wenn ein Mann sich mit Atheisten einläßt, weiß man nie, wie man dran ist. Hin und wieder treffe ich ihn noch. Eigentlich wollte ich ihm gegen den Krieg und die Einziehung und all das beistehen, natürlich; aber wenn es um all diese gottverdammten Bolschewikenzirkel, die gerade am Aufblühen sind, geht …«

»Verzeihen Sie mir«, unterbrach Stein. »Die Angelegenheit ist ziemlich dringend, deshalb hoffe ich auf Ihr Verständnis, wenn ich es Mr. Byrne auf der Stelle darlege. Mr. Byrne, ich darf Ihnen im Vertrauen mitteilen, daß ich Informationen besitze im Zusammenhang mit Verschwörungen während des vergangenen Krieges oder besser, Beweise, die zumindest zwei jener Männer auf längere Zeit hinter Gitter bringen könnten. Ich habe nicht vor, dieses Beweismaterial zu verwenden. Ich möchte aber, daß Sie die Betroffenen ohne großes Aufsehen aufsuchen und ihnen mitteilen, ich würde dieses Beweismittel einsetzen, und zwar schon morgen, wenn sie ihre Haltung nicht änderten.«

»Nun«, antwortete Byrne. »Was Sie da vorschlagen, würde mit Sicherheit als Mitwisserschaft eines Kapitalverbrechens und vielleicht auch als Erpressung bezeichnet werden. Halten Sie das nicht für sehr gefährlich?«

»Ich glaube, es ist ziemlich gefährlich für die anderen«, sagte Stein schnip’pisch, »und ich will, daß Sie hingehen und ihnen das sagen.«

»Ist recht«, sagte Byrne und erhob sich mit einem halb amüsierten Seufzer. »Das ist mein tägliches Brot, aber ich warne Sie, wenn ich Ärger kriege, werde ich Sie in die Sache hineinziehen.«

»Versuchen Sie das mal, mein Junge«, sagte der alte Gallup mit herzlichem Gelächter.

Vom großen Traum Jeffersons und dem was die Menschheit Demokratie nennt, ist nämlich noch immer in seinem Land soviel übrig geblieben, daß die Armen sich nicht wie Sklaven fühlen, während die Reichen wie Tyrannen regieren; aber es gibt so etwas wie Höflichkeit zwischen Unterdrückern und Unterdrückten.

Der Treffpunkt der Revolutionäre war ein merkwürdiger, kahler weißgetünchter Raum, an dessen Wänden ein oder zwei verknitterte ungeschlachte Schwarzweißzeichnungen im Stile einer Richtung hingen, die wohl proletarische Kunst sein sollte und die nicht einmal für einen Proletarier unter einer Million Hand und Fuß hatte. Vielleicht war der einzige gemeinsame Punkt der beiden Konferenzräume der, daß beide die amerikanische Verfassung durch den Genuß alkoholischer Getränke mißachteten. Cocktails der verschiedensten Färbungen hatten vor den drei Millionären gestanden. Halket, der wildeste der Bolschewiken, fand es durchaus angemessen, Wodka zu trinken. Er war ein langer plumper Mensch, der bedrohlich vornüberhing, schon sein Profil war aggressiv wie das eines Hundes, Nase und Lippen wölbten sich weit nach vorne und auf letzteren wuchs räudiger roter Bart. Das ganze Gesicht war zusammengezogen zu einer Grimasse ständiger Verächtlichkeit. John Elias war ein dunkler vorsichtiger Mann mit Brille und schwarzem Spitzbart. In vielen europäischen Cafés hatte er sich einen Geschmack für Absinth angewöhnt. Die ersten und letzten Gefühle des Journalisten waren die des Erstaunens darüber, wie ähnlich sich doch John Elias und Jakob P. Stein waren. Sie glichen sich in Gesicht, Denkweise und Haltung so sehr, daß man sich vorstellen konnte, der Millionär habe mittels einer Falltür das Hotel Babylon verlassen und sei nun in der Festung der Bolschewiken wieder aufgetaucht.

Auch der dritte Mann hatte eigenartige Trinkgewohnheiten, und sein Getränk war bezeichnend für ihn. Denn was da vor dem Dichter Herne stand, war ein Glas Milch, das allein durch seine Milde in diesem Kreis etwas Abschreckendes an sich hatte, so als käme diese undurchsichtige und kraftlose Farbe von einer undefinierbaren leprösen Paste, die sich als giftiger erweisen würde als das ekelhafte Grün des Absinths. In Wahrheit nun war die Milde soweit schon echt, als Henry Horne zum Lager der Revolutionäre über Wege und von Orten aus gelangt war, die sich vollkommen von denen unterschieden, von denen Jake, ein gewöhnlicher Spengler, und Elias, der kosmopolitische Drahtzieher, gekommen waren. Er hätte das genossen, was man eine sorgsame Erziehung nennt, hatte in seiner Kindheit die Kirche besucht und schleppte eine Abstinenz durchs Leben, die er auch nicht abzuschütteln vermochte, als er derlei Nebensächlichkeiten wie Christentum und Ehe hinter sich gelassen hatte. Sein Haar war hell und seine Züge fein, er hätte aussehen können wie Shelley, hätte er nicht die Linie des Kinnes mit der Krause eines kleinen ausländischen Bartes verweichlicht. Irgendwie ließ ihn dieser Bart wie eine Frau aussehen, als wären diese paar goldenen Härchen alles, was er zustande gebracht hatte.

Als der Joumalist eintrat, sprach, wie meistens, der unvermeidliche Jake. Horne hatte einige beiläufige und konventionelle Sätze beigesteuert, wie »Der Himmel verbiete« dies oder jenes, und das genügte, um Jake sich in einem Sturzbach von Lästerungen ergießen zu lassen.

»›Der Himmel verbiete!‹, das ist es ja auch genau, was er immer macht«, sagte er. »Gott tut ja nichts anderes, als dies und das und jenes zu verbieten; er verbietet uns zuzuschlagen, verbietet uns zu kämpfen, verbietet uns, die verdammten Wucherer und Blutsauger niederzuschießen. Wieso verbietet Gott eigentlich nicht mal zur Abwechslung ihnen was? Wieso stellen sich eure verdammten Pfaffen und Pastoren nicht mal hin und erzählen zur Abwechslung mal die Wahrheit über diese Widerlinge? Warum will Ihr feiner Gott nicht —« Um dem zu entkommen, erlaubte sich Elias einen kleinen Seufzer, so als sei er sanft ermattet.

»Priester«, sagte er, »gehören, wie Marx aufgezeigt hat, zum feudalistischen Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung und sind deshalb bereits kein wirklicher Faktor dieser Problematik mehr. Die Rolle, die einst der Priester spielte, hat heutzutage der kapitalistische Experte übernommen und —«

»Ja«, unterbrach der Journalist in grimmiger und ironischer Unbeteiligtheit. »Und es wird langsam Zeit, daß ihr lernt, wie virtuos einige von denen diese Rolle beherrschen.«

Und ohne seinen Blick von den glänzenden, aber leblosen Augen Elias’ zu wenden, erzählte er ihm von Steins Drohung.

»Etwas in dieser Art habe ich erwartet«, sagte Elias lächelnd und ohne sich zu bewegen. »Und ich darf sagen, wohl vorbereitet.«

»Dreckige Hunde!« explodierte Jake. »Wenn ein armer Schlucker so was sagen würde, würden sie ihn einlochen. Aber so wie ich es sehe, werden die wo viel Schlimmeres hinkommen, ehe sie es überhaupt merken. Wenn die nicht in die Hölle kommen, weiß ich nicht, wo zum Teufel sie hinkommen sollten —«

Horne machte eine Bewegung des Protestes, weniger zu dem, was der Mann sagte, als zu dem, was er gleich sagen würde.

Elias schnitt seinen Redefluß mit kühler Präzision ab.

»Wir haben es wirklich nicht nötig«, sagte er und sah Byrne fest durch seine Gläser an, »Drohungen mit der anderen Seite zu wechseln. Es ist vollauf genug, daß ihre Drohungen, was uns betrifft, weitgehend wirkungslos bleiben. Auch wir haben unsere Vorkehrungen getroffen, und was da herauskommt, wird sich erst zeigen, wenn wir zu handeln beginnen. Was uns betrifft, so kommt uns ein unvermittelter Bruch und eine extreme Kraftprobe gerade recht.«

Als er derart gelassen und würdig sprach, ließ etwas in seinem unbewegten gelben Gesicht und in seiner riesigen Brille die Nackenhaare des Journalisten in leiser Angst sich sträuben. Halkets wildes Gesicht mochte zwar allein in seiner Silhouette von der Seite gesehen ein Knurren ausdrücken, aber genau betrachtet mischte sich auch Angst in den schwelenden Zorn seiner Augen, so als seien die Rätsel der Ethik und der Ökonomie am Ende doch etwas zuviel für ihn. Horne dagegen schien sogar noch mehr an den Drähten der Furcht und der Selbstkritik zu baumeln. Der dritte Mann aber, mit seiner Brille, der so vernünftig und einfach sprach, hatte etwas Unheimliches; es war, als säße ein toter Mann am Tisch und spräche.

Als Byrne mit der Botschaft des Widerstandes in der Tasche durch die lange und enge Gasse neben dem Gemüseladen schritt, fand er das andere Ende von einer merkwürdigen, aber eigenartig vertrauten Gestalt blockiert: kurz und stämmig sah sie mit dem runden Kopf und dem breiten Hut in der Silhouette ganz sonderbar aus.

»Pater Brown«, rief der verblüffte Journalist. »Ich glaube, Sie haben die falsche Tür erwischt. Es kann doch nicht sein, daß Sie dieser kleinen Verschwörung angehören.«

»Ich bin an einer beträchtlich älteren Verschwörung beteiligt«, erwiderte Pater Brown mit einem Lächeln. »Nichtsdestotrotz einer weit verbreiteten Verschwörung.«

»Nun«, entgegnete Byrne, »von den Leuten hier kann man sich keinen vorstellen, der auch nur 1000 Meilen im Umkreis ihrer Absichten läge.«

»So genau kann man das nie sagen«, erwiderte der Priester gleichmütig. »Aber tatsächlich gibt es hier eine Person, die nur Zentimeter von ihnen entfernt ist.«

Damit verschwand er in der dunklen Tür und der Journalist ging äußerst verwirrt seines Weges. Noch mehr verwirrte ihn ein kleiner Zwischenfall, der sich ereignete, als er ins Hotel zurückkehrte, um seinen kapitalistischen Auftraggebern Bericht zu erstatten. Die Gartenlaube voller Blüten und Vogelbauer, in die jene griesgrämigen Herren eingebettet waren, erreichte man über eine Marmortreppe, die von vergoldeten Nymphen und Tritonen flankiert war. Diese Stufen herab stürzte ein eifriger junger Mann mit schwarzem Haar, einer Stupsnase und einer Blume im Knopfloch, rannte auf ihn zu, pakte ihn und zog ihn, ehe er die Stufen hinaufsteigen konnte, beiseite.

»Was ich sagen wollte«, wisperte er. »Ich bin Potter — der Sekretär des alten Gid, wissen Sie: also ganz unter uns, da wird doch irgendein Donnerkeil geschmiedet oder, na?«

»Ich bin zu der Ansicht gekommen«, antwortete Byrne mit Vorsicht, »daß die Zyklopen etwas auf ihrem Amboß haben. Aber denken Sie immer daran, daß der Zyklop zwar ein Riese ist, doch nur ein Auge hat. Ich glaube, der Bolschewismus ist …«

Während er sprach, lauschte der Sekretär mit einem Gesicht von fast mongolischer Unbewegtheit, die im Gegensatz zur Lebhaftigkeit seiner Beine und seines Anzugs stand. Aber als Byrne das Wort Bolschewismus aussprach, glitten die scharfen Augen des jungen Mannes von ihm ab und er sagte schnell:

»Was hat das — ach so, diese Art von Donnerkeil, zu blöde, mein Fehler. Man sagt so leicht Amboß, wenn man eigentlich Eisschrank meint.«

Damit entschwand dieser ungewöhnliche junge Mann die Treppe hinunter, während Byrne fortfuhr, diese hinaufzusteigen und sein Geist sich von all den Rätseln mehr und mehr umnebelte.

Er fand die Dreiergruppe um eine vierte Person mit einem scharfgeschnittenen Gesicht und dünnem strohfarbenem Haar und einem Monokel erweitert, die eine Art Berater des alten Gallup zu sein schien, möglicherweise dessen Rechtsanwalt, obwohl sie nicht mit Bestimmtheit so bezeichnet wurde. Sein Name war Nares, und die Fragen, die er an Byrne richtete, zielten aus diesem oder jenem Grunde hauptsächlich auf die Anzahl derer, die möglicherweise Mitglied der Revolutionspartei geworden wären. Dazu sagte Byrne um so weniger, als er wenig wußte. Die vier Männer erhoben sich schließlich von ihren Stühlen und der schweigsamste unter ihnen hatte das letzte Wort.

»Vielen Dank, Mr. Byrne«, sagte Stein und klappte seine Brille zusammen. »Es bleibt nur noch zu sagen, daß alles bereit ist; in diesem Punkt stimme ich so ziemlich mit Mr. Elias überein. Morgen noch vor 12 Uhr wird die Polizei Mr. Elias auf Grund von Beweisen verhaftet haben, die ich bis dahin vorgelegt haben werde, und wenigstens diese drei werden noch vor dem Abend im Gefängnis sein. Wie Sie wissen, habe ich versucht, diesen Schritt zu vermeiden. Ich glaube, das ist alles, meine Herren.«

Mr. Jakob P. Stein aber legte am nächsten Tag seine offiziellen Informationen nicht vor, und zwar aus einem Anlaß, der schon oft die Tätigkeiten solch regsamer Charaktere unterbrochen hat. Er tat es nicht, weil er leider tot war; und auch der Rest des Programms kam nicht zur Ausführung, aus Gründen, die Byrne in riesigen Buchstaben dargelegt fand, als er die Morgenzeitung aufschlug: »Atemberaubender dreifacher Mord: Drei Millionäre in einer Nacht geschlachtet.« Es folgten weitere Ausrufesätze in kleineren Buchstaben, doch dem Vierfachen der normalen Größe, die die Besonderheit des Geheimnisses unterstrichen; nämlich die Tatsache, daß drei Männer. nicht nur gleichzeitig, sondern auch an weit von einander entfernten Orten ermordet worden waren. — Stein auf seinem kunstvollen und luxuriösen Landsitz, der hundert Meilen landeinwärts lag, Wise vor seinem kleinen Bungalow an der Küste, wo er sich von der Seeluft und dem einfachen Leben nährte, und der alte Gallup in einem Gebüsch direkt vor dem Balkengatter seines großen Hauses am anderen Ende der Grafschaft.

In allen drei Fällen gab es keinen Zweifel über die Gewalttätigkeiten, die dem Tod vorausgegangen waren, obgleich der Leichnam Gallups erst am zweiten Tage entdeckt wurde, dort wo er riesig und grauenerregend inmitten der geborstenen Astgabeln und Zweige des kleinen Gehölzes hing, in das er mit seinem Gewicht eingebrochen war wie ein Bison, der in die Speerreihen stürzt: Wise dagegen war offensichtlich von einer Klippe ins Meer gestürzt worden, nicht kampflos, denn die Spuren seiner kratzenden und ausgleitenden Füße konnten bis hin zum Rand verfolgt werden. Das erste Anzeichen der Tragödie aber war der große schlaffe Strohhut, den man weit draußen auf den Wellen schwimmend entdeckt hatte, und den man von den Klippen aus hatte sehen können. Auch Steins Körper hatte sich erst der Fahndung entzogen, bis eine schwache Blutspur die Untersuchungskommission zu einem Bad nach alt-römischem Modell führte, das er in seinem Garten errichtet hatte, denn er war ein Mann mit einem Hang zum Experimentieren und mit Geschmack an Antiquitäten.

Was immer er auch denken mochte, Byrne mußte zugeben, daß, so wie die Dinge standen, gegen niemanden ein legaler Beweis vorlag. Ein Mordmotiv reichte dazu nicht aus, selbst die moralische Fähigkeit zu einem Mord reichte nicht aus, und er konnte sich nicht vorstellen, daß dieser Henry Horne, dieser bleiche junge Pazifist, einen anderen Mann mit brutaler Gewalt abschlachtete, obwohl er den blasphemischen Jake und selbst den böhmischen Juden für fähig zu allem hielt. Die Polizei und der Mann, der der Polizei zur Hand zu gehen schien (es war kein anderer als jener mysteriöse Mann mit dem Monokel, der als Mr. Nares vorgestellt worden war), sahen das ebenso klar wie der Journalist; sie wußten, daß man in diesem Augenblick die bolschewistischen Verschwörer weder verfolgen noch verurteilen konnte und daß es ein sensationeller Mißerfolg wäre, sie erst gerichtlich zu belangen, um sie dann freilassen zu müssen. Nares begann die Untersuchung mit kunstvoller Offenheit, indem er sie alle gewissermaßen zu Mitgliedern eines Rates erklärte, sie zu einem Konklave einlud und sie bat, im Interesse der Menschheit frei ihre Meinung zu äußern. Er hatte seine Untersuchungen bei dem der Tragödie nächstgelegenen Schauplatz begonnen, dem Bungalow am Meer; Byrne war es erlaubt, diesem seltsamen Schauspiel beizuwohnen, das zugleich eine friedliche Konferenz von Diplomaten und eine verschleierte Inquisition oder ein Verhör von Verdächtigen war. Der ungleichen Gesellschaft, die um den runden Tisch des Strandbungalows saß, gehörte zum Erstaunen Byrnes auch die gedrungene Gestalt und der eulenhafte Kopf des Pater Brown an, obgleich seine Verbindung mit der Sache sicherst einige Zeit später zeigen sollte. Natürlicher war, daß der junge Potter, des Toten Sekretär, anwesend war, obschon sein Betragen nicht ganz so natürlich war. Er allein war mit dem Ort ihres Treffens vertraut und auf makabre Weise sogar ihr Gastgeber, doch steuerte er wenig an Hilfe und Information bei. Sein rundes stupsnasiges Gesicht trug eher den Ausdruck schlechter Laune denn der Trauer.

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Jake Halket sprach wie gewöhnlich am meisten; und von einem Mann seines Schlages konnte man natürlich nicht erwarten, daß er jene höfliche Annahme aufrechterhielt, er und seine Freunde seien nicht angeklagt. Der junge Horne in seiner etwas feineren Art versuchte, ihn zurückzuhalten, als er anfing, die ermordeten Männer zu beleidigen; aber Jake war immer dazu bereit, Freund wie Feind niederzubrüllen. In einer großen blasphemischen Rede erleichterte er seine Seele von einem unoffiziellen Nachruf auf den verstorbenen Gideon Wise. Elias saß ganz still und offenbar unbeteiligt hinter den Brillengläsern, die seine Augen verbargen.

»Es wäre nutzlos, nehme ich an«, sagte Nares kalt, »Ihnen zu sagen, wie unpassend Ihre Bemerkungen sind. Wahrscheinlich würde es Sie mehr treffen, wenn ich sagte, sie sind unklug. Sie geben praktisch zu, den Toten gehaßt zu haben.«

»Dafür wollen Sie mich in den Knast bringen, nicht wahr?« jubelte Jake. »Gut. Nur müssen Sie dann ein Gefängnis für eine Million Menschen bauen, wenn Sie alle die armen Leute einsperren wollen, die Grund hatten, Gideon Wise zu hassen. Und mit Recht, das wissen Sie genausogut wie ich.«

Nares schwieg. Niemand sprach, bis Elias sich mit seiner klaren, wenn auch schwachen, lispelnden Sprechweise einschaltete:

»Dies scheint mir eine für beide Seiten höchst unergiebige Unterhaltung«, sagte er. »Sie haben uns hierherbestellt, entweder um uns um Informationen zu bitten oder um uns einem Kreuzverhör zu unterziehen. Wenn Sie uns vertrauen, sagen wir Ihnen, daß wir keine Informationen haben — wenn Sie uns aber mißtrauen, müssen Sie uns sagen, wessen wir angeklagt sind oder aber die Höflichkeit haben, diese Tatsache für sich zu behalten. Niemand kann auch nur die schwächste Spur eines Beweises erbringen, der einen von uns mit dieser Tragödie in nähere Verbindung bringen kann als mit der Ermordung Julius Caesars. Sie wagen es nicht, uns zu verhaften, und Sie wollen uns nicht glauben. Wozu soll es also gut sein, wenn wir hierbleiben?«

Und er erhob sich und knöpfte ganz ruhig seine Jacke zu, während seine Freunde seinem Beispiel folgten. Als sie zur Tür gingen, drehte sich der junge Horne um und wandte der Untersuchungskommission einen Augenblick sein bleiches und fanatisches Gesicht zu.

»Ich möchte bemerken«, sagte er, »daß ich den ganzen Krieg in einem schmutzigen Gefängnis zugebracht habe, weil ich nicht dazu bereit war, einen Menschen zu töten.«

Damit gingen sie hinaus, und die zurückgebliebenen Mitglieder der Gruppe tauschten finstere Blicke.

»Ich glaube kaum«, sagte Pater Brown, »daß wir siegreich dastehen, trotz dieses Rückzuges.«

»Mir ist das alles gleich«, sagte Nares. »Ich kann es nur nicht ertragen, wenn mich dieser blasphemische Lump, dieser Halket schikaniert. Horne jedenfalls ist ein Gentleman. Aber was sie auch sagen, ich bin mir todsicher, daß sie Bescheid wissen; sie sind in der Sache drin oder sagen wir,die meisten von ihnen. Sie haben es fast zugegeben. Sie verspotteten uns ja mehr ob unserer Unfähigkeit, zu beweisen, daß wir recht haben, als darüber, daß wir im Unrecht wären. Was denken Sie, Pater Brown?«

Der Angesprochene sah zu Nares mit einem Blick hinüber, der fast verwirrend milde und nachdenklich war.

»Es stimmt schon«, sagte er. »Ich habe eine Ahnung, daß eine bestimmte Person mehr weiß als sie uns gesagt hat. Ich glaube aber, es ist gut, wenn ich diesen Namen jetzt noch nicht erwähne.«

Nares Monokel fiel von seinem Auge und er blickte scharf auf.

»Bis jetzt ist die Sache hier nicht amtlich«, sagte er. »Ich nehme an, Sie wissen, daß Ihre Lage in einem späteren Stadium ernst wäre, falls Sie Informationen zurückhielten.«

»Meine Lage ist einfach«, entgegnete der Priester. »Ich bin hier, um die rechtlichen Interessen meines Freundes Halket zu vertreten. Ich glaube, es ist unter diesen Umständen in seinem Interesse, wenn ich Ihnen sage, daß er meiner Meinung nach in absehbarer Zeit die Verbindung zu dieser Organisation abbrechen wird und aufhört, ein Sozialist in diesem Sinne zu sein. Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß er wahrscheinlich als Katholik enden wird.«

»Halket!« explodierte der andere ungläubig. »Also, der verflucht die Priester doch von morgens bis abends.«

»Ich glaube nicht, daß Sie diese Art Mensch so recht verstehen können«, sagte Pater Brown milde. »Er flucht den Priestern, weil sie (seiner Meinung nach) ihre Pflichten nicht erfüllen, sich um der Gerechtigkeit willen der ganzen Welt entgegenzustellen. Warum sollte er von ihnen erwarten, sich der ganzen Welt um der Gerechtigkeit willen entgegenzustellen, wenn er nicht schon begonnen hätte, vorauszusetzen, sie wären das — was sie sind? Aber wir haben uns nicht hier zusammengefunden, um uns über die Psychologie der Bekehrung auszulassen. Ich erwähne das nur, weil es Ihre Aufgabe vereinfachen und das zu untersuchende Terrain verkleinern könnte.«

»Wenn das stimmt, dann würde es das Terrain so verengen, daß jener engstirnige Halunke Elias übrigbliebe, was mich nicht wundern würde, denn so einen unheimlichen, kaltblütigen und spottsüchtigen Teufel habe ich noch nie gesehen.«

Pater Brown seufzte. »Er erinnerte mich immer an den armen Stein«, sagte er. »Ich glaube sogar, er war ein Verwandter von ihm.«

»Na hören Sie«, fing Nares an, als die aufgerissene Tür seinem Protest ein Ende setzte, wobei sich in der Tür erneut die lange schlaksige Gestalt und das bleiche Gesicht des jungen Horne zeigte; es schien aber, als sei er im Gegensatz zu seiner natürlichen nun von einer neuen unnatürlichen Blässe.

»Hallo«, rief Nares und setzte sein Monokel ins Auge. »Warum sind Sie nochmals zurückgekommen?«

Horne durchkreuzte ziemlich wackelig und ohne ein Wort den Raum und ließ sich schwer in einen Stuhl fallen. Dann sagte er fast wie betäubt: »Ich habe die anderen verfehlt … Ich habe den Weg verloren. Ich dachte, ich käme besser zurück.«

Die Reste der Abenderfrischungen standen noch auf dem Tisch, und Henry Horne, der sein Leben lang Antialkoholiker gewesen war, goß sich ein Weinglas mit Brandy ein und trank es in einem Zuge leer.

»Sie scheinen außer Fassung«, sagte Pater Brown.

Horne hatte seine Hand zur Stirne geführt und sprach gewissermaßen aus ihrem Schatten; er schien nur den Priester mit leiser Stimme anzusprechen:

»Ich kann es Ihnen ruhig sagen. Ich habe einen Geist gesehen.«

»Einen Geist!« wiederholte Nettes voll Erstaunen. »Wessen Geist?«

»Den Geist Gideon Wises, des Herrn dieses Hauses«, antwortete Horne fest. »Er stand über dem Abgrund, in den er fiel.«

»Unsinn!« sagte Nares. »Kein vernünftiger Mensch glaubt an Geister.«

»Das stimmt wohl kaum«, sagte Pater Brown und lächelte ein wenig. »Es gibt ebenso gute Beweise für viele Geister, wie es sie für die meisten Verbrechen gibt.«

»Nun, meine Aufgabe ist es, hinter Verbrechern herzurennen«, sagte Nares ziemlich grob. »Und ich überlasse es anderen Leuten, vor Geistern wegzurennen. Wenn irgend jemand um diese Tageszeit beschließt, sich vor Geistern zu ängstigen, ist das seine Angelegenheit.«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich Angst vor ihnen habe, obwohl ich zu sagen wage, daß dies der Fall sein könnte«, sagte Pater Brown. »Keiner weiß etwas, ehe er es nicht versucht. Ich sage, daß ich an sie glaube, genug jedenfalls, um näheres über diesen hier erfahren zu wollen. Was genau haben Sie gesehen, Mr. Horne?«

»Es war dort drüben am Rande jener abfallenden Klippen. Fast genau an der Stelle, an der man ihn hinunterstieß, gibt es eine Art Lücke oder Spalte. Die anderen waren vorausgegangen, und ich überquerte eben das Ödland auf dem Wege zu dem Fußpfad, der an den Klippen entlangläuft. Diesen Weg bin ich oft gegangen, denn ich liebe es, die hohen Wellen gegen die Felsvorsprünge schlagen zu sehen. Heute nacht machte ich mir wenig daraus, ich wunderte mich lediglich, daß die See in einer so klaren Mondnacht so rauh war. Ich konnte die blassen Gischtkämme der großen Wogen auftauchen und, als sie ans Festland schlugen, wieder verschwinden sehen. Dreimal sah ich das kurze Aufblitzen des Schaumes im Mondlicht und dann sah ich etwas Unerklärliches. Der vierte silberne Schaumblitz schien am Himmel stehenzubleiben. Er fiel nicht zurück. Ich wartete mit wahnsinniger Spannung auf sein Zurückfallen. Ich bildete mir ein, ich sei verrückt geworden und die Zeit sei für mich geheimnisvoll stehengeblieben oder habe sich in die Länge gezogen. Dann trat ich näher und dann, glaube ich, habe ich laut geschrien. Denn jener frei schwebende Schaum hatte sich, wie noch nicht gefallene Schneeflocken, zu einem Gesicht und einer Gestalt verdichtet, weiß wie der leuchtende Leprakranke aus der Legende und grauenvoll wie ein gefrorener Blitz.«

»Und das war Gideon Wise, sagen Sie?«

Horne nickte wortlos. Es gab eine Stille, die von Nares, der aufstand, jählings unterbrochen wurde, so jäh in der Tat, daß er einen Stuhl umwarf.

»Ach das ist doch alles Unsinn«, sagte er. »Aber es ist besser, wir gehen hinaus und sehen nach.«

»Ich gehe nicht!« sagte Horne mit plötzlicher Heftigkeit. »Ich werde diesen Pfad nie mehr betreten.«

»Ich glaube, wir müssen diesen Pfad heute nacht alle betreten«, sagte der Priester ernst. »Obwohl ich nicht leugnen will, daß es ein gefährlicher Pfad gewesen ist … für mehr als einen.«

»Ich werde es nicht tun … O Gott, wie ihr mich auch dazu antreiben wollt«, rief Horne und seine Augen begannen auf merkwürdige Weise zu rollen. Er war mit den anderen aufgestanden, machte aber keine Bewegung zur Tür.

»Mr. Horne«, sagte Nares streng. »Ich bin ein Polizeibeamter, und dieses Haus ist, obwohl Sie das vielleicht nicht wissen, von der Polizei umstellt. Ich habe mich bemüht, die Untersuchung in höflicher Weise zu führen, aber ich muß alles untersuchen, selbst etwas so Törichtes wie einen Geist. Ich muß Sie ersuchen, mich zu der Stelle zu führen, von der Sie sprechen.«

Es gab ein erneutes Schweigen, während Horne von unbeschreiblichen Ängsten gepeinigt würgend und keuchend dastand. Plötzlich aber setzte er sich wieder in seinen Stuhl und sagte mit einer völlig neuen und weit gefaßteren Stimme:

»Ich kann es nicht, und Sie sollen auch wissen, warum. Früher oder später werden Sie es ja doch erfahren. Ich habe ihn getötet.«

Für Augenblicke lag eine Stille über dem Haus, als habe der Blitz eingeschlagen und es wären nur Leichen darinnen. Dann erhob sich die Stimme Pater Browns, die in dieser gewaltigen Stille seltsam klein wie das Quieken einer Maus klang.

»Haben Sie ihn absichtlich getötet?« fragte er.

»Wie soll man eine solche Frage beantworten?« erwiderte der Mann im Stuhl und kaute trübselig an seinem Finger. »Ich war verrückt, glaube ich. Er war unausstehlich und anmaßend, das weiß ich. Ich befand mich auf seinem Grund und Boden und ich glaube, er schlug mich. Wie dem auch sei, wir fingen an zu kämpfen und er stürzte von der Klippe. Als ich schon ein gutes Stück vom Tatort entfernt war, brach die Erkenntnis plötzlich über mich herein, daß ich ein Verbrechen begangen hatte, das mich von der übrigen Menschheit trennte; das Zeichen Kains brannte auf meiner Stirn, ja selbst auf meinem Hirn. Zum ersten Mal begriff ich, daß ich wirklich einen Menschen umgebracht hatte. Ich wußte wohl, daß ich dies früher oder später würde gestehen müssen.« Plötzlich setzte er sich kerzengerade in seinem Stuhl auf. »Ich werde aber gegen niemanden sonst aussagen, es hat keinen Zweck, mich über Pläne oder Mittäter auszufragen — ich werde nichts sagen.«

»Im Licht der anderen Morde«, sagte Nares, »ist es schwierig, zu glauben, dieser Streit wäre so von ungefähr gekommen. Ganz sicher hat Sie jemand dorthin geschickt?«

»Ich werde nichts gegen jemand sagen, mit dem ich zusammengearbeitet habe«, sagte Horne stolz. »Ich mag ein Mörder sein, nicht aber ein Verräter.« Nares trat zwischen den Mann und die Tür und rief mit amtlicher Stimme jemanden von draußen.

»Wir werden dennoch alle zu der Stelle gehen«, sagte er mit leiser Stimme zu dem Sekretär, »aber dieser Mann muß unter Bewachung mitgehen.«

Die Gesellschaft im allgemeinen fand, daß eine Geisterjagd auf einer Klippe am Meer nach dem Geständms des Mörders töricht ser. Nares aber, der skeptischste und spöttischste von allen, hielt es für seine Pflicht, keinen Stein ungewendet zu lassen; keinen Grabstein, könnte man sagen, denn letzten Endes war jene Klippe der einzige Grabstein über dem feuchten Grab des armen Gideon Wise. Nares, der als letzter aus dem Haus trat, verschloß die Tür und folgte den anderen über das Ödland hin zur Klippe und er war erstaunt, als er den jungen Potter, den Sekretär, eilig auf sie zukommen sah, das Gesicht im Mondlicht weiß wie der Mond selbst.

»Bei Gott, Sir«, sagte er und sprach zum ersten Mal in dieser Nacht. »Dort ist wirklich etwas. Es — es sieht aus wie er.«

»Sie rasen ja«, keuchte der Detektiv. »Seid ihr denn alle rasend geworden.«

»Meinen Sie, ich erkenne ihn nicht, wenn ich ihn sehe«, schrie der Sekretär mit außergewöhnlicher Bitterkeit. »Ich habe meinen Grund.«

»Vielleicht«, sagte der Detektiv mit Schärfe, »sind Sie einer von denen, die Grund hatten, ihn zu hassen, wie Halket sagte.«

»Vielleicht«, sagte der Sekretär. »Wie dem auch sei, ich kenne ihn und ich sage Ihnen, ich kann ihn dort steif und starräugig unter diesem höllischen Mond stehen sehen.«

Und er wies zu der Spalte zwischen den Felsen, wo man bereits etwas erkennen konnte, das ein Mondstrahl oder ein Schaumstreifen hätte sein können, das aber bereits anfing, etwas kompakter auszusehen. Sie krochen etwa 100 Meter näher, und das Etwas verharrte immer noch bewegungslos; aber es sah aus wie eine silberne Statue.

Nares sah nun selbst bleich aus und schien mit der Frage zu ringen, was nun zu tun sei. Potter war offensichtlich ebenso erschreckt wie Horne, und sogar Byrne, ein abgehärteter Reporter, war nicht geneigt, näher als nötig hinzugehen. Er konnte deshalb nicht umhin, es merkwürdig zu finden, daß der einzige, der keine Angst vor einem Geist zu haben schien, der Mann war, der offen gestanden hatte, er könne sich wohl vorstellen, daß er Angst hätte. Denn Pater Brown ging in seinem schwerfälligen Gang unentwegt voran, so als wolle er ein Schwarzes Brett konsultieren.

»Scheint Sie ja nicht gerade sehr zu beeindrucken«, sagte Byrne zu dem Priester. »Und doch hatte ich gedacht, Sie wären der einzige hier, der an Spuk glaubt.«

»Was das betrifft«, erwiderte Pater Brown, »hatte ich angenommen, Sie wären der, der nicht daran glaubt. Aber an Geister glauben ist eine Sache und an einen Geist glauben eine ganz andere.«

Byrne sah aus, als schäme er sich und warf einen fast verstohlenen Blick über die im kalten Mondlicht daliegenden steilen Landzungen, die die Stätte jener Vision oder Wahngestalt waren.

»Ich habe nicht an ihn geglaubt, bis ich ihn nicht gesehen habe«, sagte er.

»Und ich habe an ihn geglaubt, bis ich ihn gesehen habe«, sagte Pater Brown.

Der Journalist starrte ihm nach, wie er schwerfällig das weite, kahle Gebiet überquerte, das sich zu den gespaltenen Landzungen hob wie die Steilseite eines Hügels, den man in zwei Hälften geschnitten hat. Unter dem ausbleichenden Mondlicht sah das Gras wie langes graues Haar aus, das vom Wind in eine Richtung gekämmt werden war und zu der Stelle zu weisen schien, wo die abgebröckelte Klippe im Graugrün der Grasnarbe ein blasses Aufleuchten von Kalk zeigte und wo die bleiche Gestalt oder der leuchtende Schatten stand, den bis dahin noch niemand hatte begreifen können. Dennoch beherrschte die bleiche Figur die trostlose Landschaft, die leer war bis auf den schwarzen vierschrötigen Rücken der geschäftigen Gestalt von Pater Brown, der alleine fürbaß schritt. Da schüttelte der gefangene Horne plötzlich mit einem durchdringenden Schrei seine Bewacher ab, rannte dem Priester voraus und fiel vor der Erscheinung auf die Knie.

»Ich habe gestanden«, hörten sie ihn schreien. »Warum kommst du, um ihnen zu sagen, daß ich dich getötet habe?«

»Ich bin gekommen, ihnen zu erzählen, daß du es nicht getan hast«, sagte der Geist und streckte eine Hand nach ihm aus. Da sprang der Kniende mit einem ganz anderen Schrei auf; und sie wußten, daß dies eine Hand aus Fleisch und Blut war.

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In letzter Zeit sei niemand auf so bemerkenswerte Weise dem Tod entronnen, sagten der erfahrene Detektiv und der nicht weniger erfahrene Journalist. Dennoch, wenn man es recht besah, war alles ganz einfach gewesen. Gesteinsplatten und Bruchstücke der Felsen waren immerzu am Abbröckeln, und einige hatten sich in der riesigen Spalte gefangen, um das zu formen, was dort tatsächlich ein Sims oder eine Tasche bildete, wo man an sich einen glatten Absturz durch die Dunkelheit ins Meer erwartet hätte. Der alte überaus zähe und dratige Mann war auf diesen etwas tiefer sitzenden Felsvorsprung gefallen und hatte 24 unangenehme Stunden mit dem Versuch zugebracht, über die ständig unter ihm zerfallenden Steinplatten zurückzuklettern, hatte aber letztlich aus eben diesen Bruchstücken etwas wie eine Fluchttreppe gebaut. Dies mag als Erklärung für Hornes optische Täuschung von der weißen Welle, die auftauchte und wieder verschwand und endlich zum Stillstand kam, dienen. Wie dem auch sei, Gideon Wise war da, mit seinen schweren Knochen und seiner Körperkraft, seinem weißen Haar und seinen weißen staubigen Bauernkleidern und seinen herben Bauernzügen, die aber nun weit weniger herb als gewöhnlich waren. Vielleicht tut es Millionären ganz gut, wenn sie einmal 24 Stunden auf einem Gesteinssims eine Handbreit von der Ewigkeit getrennt zubringen. Er jedenfalls verzichtete nicht nur auf jeden Groll gegenüber dem Verbrecher, sondern gab einen Bericht des ganzen Ablaufes und milderte dadurch die Bedeutung des Verbrechens erheblich. Er erklärte, Horne habe ihn überhaupt nicht gestoßen, der ständig abbröckelnde Boden habe unter ihm nachgegeben, Horne habe sogar einige Bewegungen gemacht, als hätte er ihn retten wollen.

»Auf diesem gottgesandten Stück Felsen da unten«, sagte er feierlich, »versprach ich dem Herrn, meinen Feinden zu vergeben; und der Herr würde es recht gemein finden, wenn ich einen kleinen Unfall wie diesen hier nicht verziehe.«

Natürlich wurde Horne von der Polizei abgeführt, aber der Detektiv war sich darüber klar, daß die Haft wahrscheinlich von kurzer Dauer und seine Strafe, wenn überhaupt, unbeträchtlich sein würde. Nicht jeder Mörder kann sein Opfer in den Zeugenstand bringen, um für ihn auszusagen.

»Ein merkwürdiger Fall«, sagte Byrne, als der Detektiv und die anderen den Weg an den Klippen entlang der Stadt zuhasteten.

»So ist es«, sagte Pater Brown. »Es geht mich zwar nichts an, aber ich wünschte, Sie würden kurz zu mir kommen und alles besprechen.«

Ein Schweigen entstand und dann fügte sich Byrne, indem er plötzlich sagte: »Ich nehme an, Sie dachten bereits an Horne, als Sie sagten, jemand habe nicht alles angegeben, was er wisse.«

»Als ich das sagte«, antwortete sein Freund, »dachte ich an den ungemein schweigsarnen Mr. Potter, den Sekretär des nicht länger verstorbenen oder (sollten wir sagen) zu beklagenden Mr. Gideon Wise.«

»Nun, das einzige Mal, als Potter je mit mir sprach, dachte ich, er sei verrückt«, sagte Byrne und starrte vor sich hin. »Aber für einen Verbrecher habe ich ihn nie gehalten. Er sagte etwas in dem Sinne, alles habe mit einem Eisschrank zu tun.«

»Ja, ich dachte mir, er wüßte etwas darüber«, sagte Pater Brown nachdenklich. »Ich habe nie gesagt, daß er was damit zu tun habe …Ich nehme an, der alte Wise ist wirklich stark genug, um aus jener Spalte geklettert zu sein.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der verblüffte Reporter. »Ja, natürlich ist er aus der Spalte rausgekommen, denn er ist ja da.«

Der Priester antwortete nicht auf diese Frage, sondern fragte abrupt: »Was halten Sie von Horne?«

»Nun, einen Verbrecher kann man ihn nicht eigentlich nennen,« antwortete Byrne. »Er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendeinem Verbrecher, den ich je gekannt habe, und ich habe da einige Erfahrungen, und Nares hat natürlich noch mehr. Ich glaube nicht, daß wir ihn je wirklich für einen Verbrecher gehalten haben.«

»Und ich habe ihm in einer anderen Eigenschaft nicht geglaubt,« sagte der Priester schlicht. »Es mag sein, daß Sie über Verbrecher besser Bescheid wissen. Aber es gibt eine Art Leute, über die ich wahrscheinlich mehr weiß als Sie oder, was das betrifft, sogar Nares. Ich habe eine ganze Anzahl solcher Menschen gekannt und ich kenne ihre kleinen Tricks.«

»Eine andere Art Leute?« wiederholte Byrne stutzig. »Ja, was sind denn das für Leute, über die Sie Bescheid wissen?«

»Reuige Sünder«, sagte Pater Brown.

»Ich verstehe nicht ganz«, wandte Byrne ein. »Soll das heißen, daß Sie ihm das Verbrechen nicht abnehmen?«

»Ich nehme ihm sein Geständnis nicht ab«, sagte Pater Brown. »Ich habe schon einen ganzen Haufen Geständnisse gehört, und kein echtes klang je so wie seines. Es war romantisch, es war literarisch. Sehen Sie mal, wie er davon sprach, das Zeichen Kains zu tragen. Das ist literarisch. Es ist nicht das, was jemand empfinden würde, der in eigener Person eben etwas bis dato für ihn Entsetzliches getan hat. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein ehrlicher Angestellter oder Lehrling und Sie würden mit Schrecken erkennen, daß Sie zum ersten Mal Geld gestohlen hätten. Würden Sie auf der Stelle darüber nachdenken, daß Ihre Tat der des Barrabas gleichkäme? Nehmen wir an, Sie hätten in einem abscheulichen Wutanfall ein Kind getötet. Gingen Sie da so weit in der Geschichte zurück, bis Sie Ihre Tat in der eines idumanischen Potentaten namens Herodes wiedererkennen könnten? Glauben Sie mir, unsere eigenen Verbrechen sind von viel zu abstoß’énder Privatheit und zu prosaisch, als daß sich unsere ersten Gedanken historischen Parallelen zuwenden könnten, wie passend sie auch immer sein mögen. Und warum ist er soweit gegangen, zu sagen, er würde seine Kameraden nicht verraten? Indem er das sagte, hat er sie ja verraten. Niemand hatte bis dahin von ihm verlangt, irgend etwas oder irgend jemanden zu verraten. Nein, ich glaube nicht, daß er aufrichtig war und ich würde ihm nicht die Absolution erteilen. Wäre ja ein feiner Zustand, wenn man anfinge, Leuten für Dinge, die sie nicht getan haben, die Absolution zu erteilen.« Und Pater Brown schaute mit abgewandtem Kopf stetig aufs Meer hinaus.

»Aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, rief Byrne. »Was nützt es denn, ihn mit Verdachtsmomenten zu umgeben, wo man ihn doch von der Schuld freigesprochen hat? Er ist doch jedenfalls aus der Sache raus. Er ist fast in Sicherheit.«

Pater Brown wirbelte herum wie ein Kinderkreisel und bekam seinen Freund mit unerwarteter und unerklärlicher Erregung am Mantel zu fassen.

»Das ist es«, rief er nachdrücklich. »Halten Sie das fest! Er ist fast in Sicherheit. Er ist aus der Sache raus. Das ist es, was ihn zur Schlüsselfigur des Ganzen macht.«

»Hilfe«, sagte Byrne schwach.

»Was ich sagen will«, fuhr der kleine Priester beharrlich fort, »er steckt in der Sache drin, weil er aus der Sache raus ist. Das ist die ganze Erklärung.«

»Und eine wirklich glänzende Erklärung dazu«, sagte der Journalist mit Gefühl.

Sie standen da und sahen eine Zeitlang schweigend aufs Meer hinaus. Dann sagte Pater Brown munter:

»Und jetzt kommen wir wieder auf den Eisschrank zurück. Der Punkt, an dem ihr alle von Anfang an bei dieser Angelegenheit schief gewickelt wart, ist der, an dem so viele Zeitungen und Mänaer im öffentlichen Leben scheitern. Ihr glaubt, daß es in dieser modernen Welt nichts weiter als den Bolschewismus zu bekämpfen gilt. Die ganze Sache hat nicht das geringste mit dem Bolschewismus zu tun; höchstens vielleicht als Tarnung.«

»Ich sehe da nicht klar«, wandte Byrne ein. »Da haben wir also drei Millionäre, die alle auf einmal umgebracht werden …«

»Nein«, sagte der Priester mit einem scharfen Ton in der Stimme. »Das haben wir nicht. Das ist der Punkt, auf den es ankommt. Wir haben nicht drei ermordete Millionäre. Wir haben zwei ermordete Millionäre und wir haben den dritten Millionär quicklebendig um sich schlagend und überaus bereit, noch mehr um sich zu schlagen. Und da haben wir diesen dritten Millionär, der für immer eine Drohung los ist, die ihm vor Ihren eigenen Augen an den Kopf geworfen wurde, in spielerischer und höflicher Form und bei dem Gespräch, von dem Sie erzählten, es habe im Hotel stattgefunden. Gallup und Stein drehten dem altmodischeren und unabhängigeren alten Knacker, ihn auf Eis zu legen, wenn er nicht ihrem Bund beitreten wolle. Daher der Eisschrank, nicht wahr.«

Nach einer Pause fuhr er fort. »Ohne Zweifel gibt es eine bolschewistische Bewegung in der modernen Welt und ohne Zweifel muß man sich dagegen wehren, obwohl ich nicht sehr an ihre Art von Widerstand glaube. Was niemand bemerkt, ist aber die Existenz einer anderen Bewegung, die ebenso modern ist und sich ebenso ausbreitet wie jene: die starke Tendenz zur Monopolisierung oder das Einbringen gen von Kleinbetrieben in große Konzerne. Auch das ist eine Revolution. Auch sie bringt das mit sich, was alle Revolutionen mit sich bringen. Der Mensch wird für sie und gegen sie töten, so wie die Menschen für und gegen den Bolschewismus töten. Auch diese Revolution hat ihre Angebote, Invasionen und Hinrichtungen. Diese Konzerndirektoren halten Hof wie Könige; sie haben ihre Leibwachen und ihre Meuchelmörder; sie haben ihre Spione im Feindlager. Horne war einer von des alten Gideon Spionen in einem der Feindlager, hier aber wurde er gegen einen anderen Gegner eingesetzt; gegen die Rivalen, die ihn dafür ruinieren wollten, daß er sich abseits hielt.«

»Ich sehe immer noch nicht recht, in welcher Weise er eingesetzt wurde«, sagte Byrne, »oder für was das hätte gut sein sollen.«

»Sehen Sie denn nicht«, rief Pater Brown scharf, »daß sie sich gegenseitig ein Alibi verschafften.«

Bryne sah immer noch ein wenig zweifelnd zu ihm auf, obschon in einen Zügen ein Verständnis aufdämmerte.

»Das ist es, was ich meine«, fuhr der andere fort, »wenn ich sage, sie steckten in der Sache drin, weil sie aus ihr raus waren. Die meisten Leute würden sagen, sie können mit den beiden anderen Verbrechen nichts zu tun haben, weil sie mit diesem zu tun hatten. Tatsache ist, daß sie die beiden anderen ausführen konnten, weil sie mit diesem einen nichts zu tun hatten, denn dieses hat ja nie stattgefunden. Ein recht merkwürdiges und unwahrscheinliches Alibi, zugegeben: unwahrscheinlich und deshalb undurchdringlich. Die meisten Leute würden sagen, ein Mann, der einen Mord gesteht, muß aufrichtig sein, ein Mann, der einen Mord vergibt, muß aufrichtig sein. Niemand würde ahnen, die ganze Sache sei nie passiert, so daß der eine nichts zu vergeben und der andere nichts zu befürchten hätte. Sie waren für jene Nacht durch eine Geschichte, die wider sie sprach, an diesem Ort fixiert. Aber in jener Nacht waren sie eben nicht hier, den Horne ermordete den alten Gallup im Gehölz, während Wise den kleinen Juden in seinem römischen Bad erwürgte. Deshalb fragte ich auch, ob Wise für das Kletterabenteuer wirklich stark genug war.«

»Das war wirklich ein gutes Abenteuer«, sagte Byrne reuig. »Es paßte gut in die Landschaft und war echt überzeugend.«

»Zu überzeugend, um zu überzeugen«, sagte Pater Brown und schüttelte den Kopf. »Wie überaus lebendig war doch die Schilderung jenes mondbeschienenen Schaums, der aufspritzte und sich in einen Geist verwandelte. Und wie überaus literarisch! Horne ist ein Kriecher und Stinktier, aber vergessen Sie nicht, wie so viele Kriecher und Stinktiere in der Geschichte ist er auch ein Poet!«

Teil II

Das Geheimnis des Pater Brown

Das Geheimnis des Pater Brown

Flambeau, einst der berüchtigtste Verbrecher Frankreichs, später Privatdetektiv in England, hatte beide Beschäftigungen schon seit langem aufgegeben und sich zur Ruhe gesetzt. Das Umsatteln vom Verbrecher zum Detektiv dürfte ihm freilich nicht gerade leichtgefallen sein, und es hieß, er habe aus seinem ersten Beruf so viele Skrupel mitgebracht, daß er in seinem zweiten lange nicht so erfolgreich arbeiten konnte. Jedenfalls war Flambeau nach einem sehr bewegten Leben an einem Plätzchen gelandet, das man wohl als den geeigneten Ort zum Abschluß einer solchen Karriere bezeichnen kann: auf einem Schloß in Spanien. Es war kein großes Schloß, aber doch ein solider Bau; einen beträchtlichen Teil des sonst braunen Berghangs bedeckten die schwarze Erde eines Weinbergs und das leuchtende Grün eines Gemüsegartens. Flambeau hatte es nach all seinen stürmischen Abenteuern fertiggebracht, sich wirklich zur Ruhe zu setzen — so, wie es viele Romanen können, während diese Fähigkeit den Amerikanern beispielsweise fast völlig abgeht. So gibt es bei den romanischen Völkern manch großen Hotelbesitzer, dessen einziger Ehrgeiz es ist, irgendwo in Ruhe als bescheidener, kleiner Landmann zu leben, und viele französische Kaufleute aus der Provinz ziehen sich vom Geschäft zurück, um sich in Frieden ihrer Häuslichkeit und dem Dominospiel zu widmen, und zwar just in dem Augenblick, da sie sich in einen widerlichen Millionär verwandeln und eine ganze Geschäftsstraße aufkaufen könnten. Rein durch Zufall und fast Hals über Kopf hatte sich Flambeau in eine Spanierinverliebt, sie geheiratet und mit ihr eine zahlreiche Familie gegründet, ohne je noch einmal das Verlangen zu zeigen, die Grenzen seines Besitztums zu überschreiten. Eines schönen Morgens jedoch merkte seine Familie, daß er außergewöhnlich unruhig und aufgeregt war. Er erwartete nämlich einen Gast, und als dieser schließlich als kleines, schwarzes Pünktchen in der Ferne auftauchte, stürmte Flambeau bereits, gefolgt von seinen jüngsten Sprößlingen, den Berghang hinunter, um den das Tal heraufwandernden Ankömmling zu begrüßen.

Langsam vergrößerte sich der schwarze Punkt, ohne allerdings sein Aussehen merklich zu verändern; er blieb weiterhin rund und schwarz. Das schwarze Habit der Geistlichen war in dieser Gegend durchaus nichts Ungewöhnliches; die lange, schwarze Soutane des Besuchers hatte jedoch eine gewisse bürgerliche Unauffälligkeit und zugleich doch etwas Flottes an sich, so daß ihr Träger auf den ersten Blick als ein Bewohner der Britischen Inseln zu erkennen war, so deutlich, als träge er ein Plakat mit dem Namen seiner Heimat mit sich herum. In der Hand hatte er einen unförmigen Regenschirm mit keulenartigem Griff. Beim Anblick dieses Schirmes wäre Flambeau fast in Tränen der Rührung ausgebrochen, denn dieses Monstrum hatte ehemals in vielen gemeinsamen Abenteuern der beiden Freunde eine Rolle gespielt. Der Ankömmling war Pater Brown, ein englischer Freund des Franzosen, der endlich seinen langersehnten, aber immer wieder aufgeschobenen Besuch abstattete. Zwar waren die beiden in ständigem Briefwechsel miteinander gestanden, hatten sich aber schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

Pater Brown wurde herzlich im Kreise der Familie aufgenommen, die so groß war, daß man immer den Eindruck hatte, sich in einer kleineren Versammlung zu befinden. Er machte Bekanntschaft mit den großen, vergoldeten Holzfiguren der Heiligen Drei Könige, die den Kindern zu Weihnachten Geschenke bringen, denn in Spanien spielen die Kinder im häuslichen Leben eine große Rolle. Dann wurde er dem Hund, der Katze und dem gesamten lebenden Inventar des Hauses vorgestellt. Und schließlich machte er durch Zufall auch noch die Bekanntschaft eines Nachbarn, der gleich ihm in dieses abgelegene Tal die Sitten und Gebräuche ferner Länder getragen hatte.

Drei Tage waren seit seiner Ankunft vergangen, als Pater Brown einen stattlichen Fremden erblickte, der mit Verbeugungen, wie sie kein spanischer Grande zuwege gebracht hätte, der Familie seine Aufwartung machte. Er war groß, hager, grauhaarig und sehr elegant, mit gepflegten Händen, leuchtendweißen Manschetten und blitzenden Manschettenknöpfen. Aber entgegen der Vorstellung, die man sich von einem Herrn mit makellosen Manschetten und manikürten Händen zu machen pflegt, trug sein schmales Gesicht keine Spur von Hochnäsigkeit und schläfriger Langeweile. Im Gegenteil, es war auffallend frisch und beweglich, und in seinen Augen zeigte sich eine so kindliche Neugier, wie man sie bei einem Graukopf nur selten sieht. Dies allein schon hätte einem sagen können, welcher Nation dieser Mann angehörte; hinzu kamen noch der nasale Ton seiner sonst so gepflegten Stimme und seine Gewohnheit, allem Europäischen, das ihm begegnete, auf der Stelle ein gewaltiges Alter zuzuschreiben. Der Besucher war in der Tat kein Geringerer als Mister Grandison Chace aus Boston, der seine Weltreise, auf der er begriffen war, für kürzere Zeit unterbrochen hatte. Aus diesem Grunde hatte er sich das an Flambeaus Besitztum angrenzende Gut gepachtet, das übrigens dem Flambeaus zum Verwechseln ähnlich sah. Mr. Chace hatte eine Riesenfreude an seinem alten Schloß und betrachtete auch seinen Nachbarn als eine Art von örtlicher Sehenswürdigkeit. Flambeau hatte es nämlich, wie wir schon berichtet haben, tatsächlich fertiggebracht, sich richtig zur Ruhe zu setzen; es war, als habe er auf dem Berg bereits Wurzeln geschlagen, als wüchse er schon seit vielen Jahren zusammen mit seinen Rebstöcken und Feigenbäumen aus dieser Erde. Er hatte auch seinen wirklichen Namen Duroc wieder angenommen, denn der Name »Flambeau«, »Fackel«, war nur ein Deckname gewesen, unter dem er seinen Krieg gegen die Gesellschaft geführt hatte. Nun aber war er ein guter Gatte und Familienvater und entfernte sich niemals weiter vom Haus, als ein kleiner Pirschgang es erforderte. In den Augen des Amerikaners war er die Verkörperung jener heiteren bürgerlichen Behaglichkeit, jenes maßvollen Wohllebens, wie sie der Weltenbummler unter den Völkern des Mittelmeers angetroffen hatte, eine Lebenshaltung, die er als kluger Mann sehr bewunderte. Der Mann aus dem Westen, ständig unterwegs, war also recht froh, in dieser altehrwürdigen, von der modernen Hetze noch nicht berührten Gegend für kurze Zeit Ruhe gefunden zu haben.

Mr. Chace hatte auch von Pater Brown schon gehört, und als er sich nun an ihn wandte, trat im Ton seiner Stimme eine leichte Veränderung ein — er sprach, wie man eben mit berühmten Leuten spricht. Taktvoll, aber einfach nicht zurückzuhalten, erwachte in ihm der Fragetrieb. Und ganz vorsichtig begann er, Pater Brown auszuhorchen, nach der unauffälligen, geschickten amerikanischen Methode.

Sie saßen in einer Art halboffenem Vorhof, wie er oft den Eingang zu spanischen Häusern bildet. Die Dämmerung sank schnell herab, und da es in den Bergen nach Sonnenuntergang rasch kühl wird, hatte man einen kleinen Ofen auf die Steinfliesen gestellt, dessen Glut rote Kringel auf den Boden malte und dessen Öffnungen und der Dunkelheit funkelten wie die rotglühenden Augen eines Kobolds. Hin und wieder züngelte der Feuerschein bis an die untersten Steine einer unverputzten braunen Backsteinmauer, die steil in die tiefblaue Nacht emporstieg. Undeutlich sah man im Zwielicht Flambeaus breitschultrige Gestalt und seine langen, wie Kavalleriesäbel gebogenen Schnurrbarthälften. Er zapfte dunklen Wein aus einem großen Faß und reichte ihn herum. Neben ihm wirkte der Priester klein und wie zusammengeschnurrt; er hatte sich ganz an den Ofen hingekauert. Der Amerikaner jedoch hatte sich elegant vorgelehnt und den Ellbogen aufs Knie gestützt; sein feines, scharfgeschnittenes Gesicht war hell beleuchtet, seine Augen waren forschend auf den Priester gerichtet.

»Sie dürfen mir glauben«, begann er, »wir betrachten Ihre Aufklärung des Mondscheinmordes als den größten Triumph, den die Detektivwissenschaft bis zum heutigen Tag zu verzeichnen hat.«

Pater Brown murmelte etwas vor sich hin, ein Gemurmel, das fast wie ein Stöhnen klang.

Aber der Amerikaner ließ sich dadurch nicht aus der Fassung bringen. »Wir alle kennen«, so fuhr er fort, »die angeblichen Leistungen Dupins und anderer Phantasiegestalten der edlen Detektivkunst, wie Lecocq, Sherlock Holmes und Nic Carter. Auffallend ist aber doch, daß Ihre Art, eine Sache aufzugreifen, sehr verschieden ist von den Methoden dieser anderen scharfsinnigen Denker, seien sie nun wirkliche Detektive oder nur Ausgeburten der Phantasie eines Kriminalschriftstellers. Manche Leute gehen sogar so weit, zu behaupten, dieser Unterschied bestehe darin, daß Sie selbst überhaupt keine Methode haben.« Pater Brown schwieg. Dann fuhr er plötzlich auf, fast als wäre er über dem Ofen eingenickt, und sagte: »Entschuldigen Sie, bitte. Jawohl … Keine Methode … Aber leider fehlt es im Augenblick auch ganz an meiner Aufmerksamkeit.«

»Ich meine das Fehlen einer genau festgelegten wissenschaftlichen Methode«, fuhr der wissensdurstige Amerikaner fort. »Edgar Allan Poe hat beispielsweise in einigen kleinen Essays Dupins Methode mit ihren scharf logischen Gedankenverbindungen darzulegen versucht. Doktor Watson wiederum muß den recht exakten Darlegungen der Methode von Sherlock Holmes lauschen, die sich durch subtile Beobachtung kleinster Einzelheiten auszeichnet. Aber niemand scheint es bis heute fertiggebracht zu haben, Ihre Methode, Herr Pater, richtig zu deuten, und ich habe erfahren, daß Sie das Anerbieten, darüber in den Staaten eine Reihe von Vorträgen zu halten, abgelehnt haben.«

»Das stimmt«, antwortete der Priester mit einem unwilligen Blick auf den Ofen, »das habe ich abgelehnt.«

»Nun, Ihre Ablehnung hat eine beträchtliche Anzahl höchst interessanter Diskussionen entfesselt«, bemerkte Chace. »Ich darf Sie vielleicht darauf aufmerksam machen, daß man bei uns verschiedentlich der Auffassung ist, Ihre Methode könne wissenschaftlich gar nicht erklärt werden, weil sie mehr sei als eine auf Naturgesetzen gegründete Wissenschaft. Man glaubt sogar, daß Ihr Geheimnis deshalb nicht erklärt werden könne, weil es im Grunde genommen okkulter Natur sei.«

»Wie, bitte?« fragte Pater Brown scharf.

»Nun, irgendwie esoterischer Natur«, entgegnete der andere. »Sie können mir glauben, Mordfälle wie die an Gallup, Stein, Merton, Gwynne oder der Doppelmord, den der auch in den Staaten nicht unbekannte Dalmon ausgeführt hat, haben die Gemüter reichlich in Wallung gebracht. Man zerbrach sich vergeblich den Kopf, aber plötzlich tauchten Sie auf und erzählten jedem, der es hören wollte, wie der Mord ausgeführt wurde, aber keinem, woher Sie Ihre Kenntnisse hatten. So kam man natürlich auf den Gedanken, daß Sie alles sozusagen mit geschlossenen Augen entdecken. Charlotte Brownson beispielsweise hat einen Vortrag über Hellsehen gehalten, bei dem sie als Beweis für ihre Ausführungen gerade Ihre Fälle angeführt hat. Und die Frauenliga vom Zweiten Gesicht in Indianapolis…«

Pater Brown starrte immer noch in die Ofenglut; dann sagte er, wie zu sich selbst, aber laut und deutlich:

»Guter Gott, so kann das ja nicht weitergehen.«

»Nun, ich wüßte wirklich nicht, wie Sie das verhindern wollen«, meinte Mr. Chace belustigt. »Gegen die Frauenliga vom Zweiten Gesicht werden Sie einen schweren Stand haben. Ich sehe nur einen Weg, diesen ganzen Unfug zu unterbinden: Sie müssen endlich den Schleier Ihres Geheimnisses lüften.«

Pater Brown stöhnte. Er kroch noch mehr in sich zusammen und verbarg sein Gesicht in den Händen. So verharrte er eine ganze Weile, als dächte er angestrengt nach. Schließlich sah er auf und sagte leise: »Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Ich muß das Geheimnis preisgeben.«

Finster glitt sein Blick über den Hof, über den die Nacht hereinsank, von den rotglühenden Augen des kleinen Ofens zu den dräuenden Schatten der alten Mauer und hinauf zu den leuchtenden Sternen des südlichen Himmels, die immer klarer und heller aus der Nacht hervortraten.

»Das Geheimnis besteht darin…« Er hielt inne, als sei es ihm unmöglich, fortzufahren. Doch schließlich gab er sich einen Ruck und begann von neuem: »Nun, sehen Sie, ich selbst habe all diese Leute umgebracht.«

»Wie?« Die Stimme des Amerikaners klang ganz leise, wie aus unendlichen Fernen.

»Ja, ich selber habe sie alle ermordet«, erklärte Pater Brown geduldig, »und so wußte ich natürlich, wie der Mord vor sich gegangen war.«

Langsam wuchs Grandison Chace aus seinem Sessel empor, als würde er durch eine Explosion im Zeitlupentempo zur Decke emporgetrieben. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf den Priester herab und wiederholte fassungslos seine Frage.

»Nun ja, ich habe jedes Verbrechen genau überlegt und geplant«, fuhr Pater Brown fort. »Ich habe mir genau ausgedacht, wie so etwas wohl angepackt werden müßte, in welcher Verfassung ein Mensch sein müßte, der wirklich zu solch einer Tat fähig ist. Und wenn ich ganz sicher war, daß ich mich völlig in den Mörder hineingefühlt hatte, dann wußte ich natürlich auch, wer der Mörder gewesen war.«

Chace, der wie erstarrt dagestanden hatte, atmete erleichtert auf. Es klang wie ein Seufzer.

»Sie haben mir da keinen schlechten Schrecken eingejagt«, gestand er. »Im ersten Augenblick war ich wirklich der Meinung, Sie selbst seien der Mörder gewesen. Schon glaubte ich die Überschriften in allen Zeitungen zu sehen: ›Frommer Heuchler als Mörder entlarvt: Die hundert Verbrechen des Pater Brown.‹ Natürlich, natürlich: Sie haben das lediglich bildlich gemeint und wollten damit nur sagen, daß Sie die psychologischen Hintergründe der Verbrechen rekonstruieren wollten …«

Pater Brown klopfte mit seiner kurzen Pfeife, die er gerade stopfen wollte, heftig an den Ofen. Er regte sich nur selten auf, aber jetzt sah man ihm deutlich an, daß er sich ärgerte. »Nein und abermals nein!« rief er fast wütend. »Was ich gesagt habe, ist nicht nur eine bildliche Redewendung. Aber das kommt dabei heraus, wenn man versucht, über Dinge zu sprechen, die tiefer liegen… Wird man nicht immer mißverstanden, wenn man auch nur den Mund aufmacht? Wenn man einmal über eine rein geistige Wahrheit sprechen will, so glauben die Leute immer, es sei alles nur bildhaft gemeint. Ein leibhaftiger Mann auf zwei Beinen hat einmal zu mir gesagt: ›Ich glaube an den Heiligen Geist nur in geistigem Sinn.‹ Darauf konnte ich ihm selbstverständlich nur erwidern: ›In welch anderem Sinn könnten Sie denn überhaupt an ihn glauben?‹ Und schon meinte er, ich hätte sagen wollen, er brauche nur an die Entwicklungslehre, an die allgemeine Verbrüderung oder an ähnlichen Unsinn zu glauben! … Nein, ich wollte vorhin ausdrücken, daß ich mich höchstpersönlich und mit meinem wirklichen Ich diese Morde begehen sah. Ich habe natürlich diese Menschen nicht in Wirklichkeit ermordet, aber darauf kommt es ja eigentlich auch gar nicht an. Letztlich war es ein Backstein oder irgendein Werkzeug, das ihnen den Tod gebracht hat. Nein, was ich sagen wollte, ist: Ich dachte unablässig nach, wodurch wohl ein Mensch zum Mörder werden könne, bis ich schließlich selbst in einer solchen Verfassung war, daß nur noch der letzte Schritt fehlte. Diese Methode ist mir einst von einem Freund als eine Art religiöse Übung anempfohlen worden. Meines Wissens hat sie dieser Freund von Papst Leo XIII., der schon immer mein Vorbild gewesen ist.«

»Ich fürchte«, sagte der Amerikaner, immer noch etwas zweifelnd und indem er den Priester anstarrte, als habe er ein fremdartiges Tier vor sich, »ich fürchte, Sie werden mir noch vieles erklären müssen, ehe ich verstehe, worauf Sie eigentlich hinauswollen. Die Wissenschaft der Aufklärung von Verbrechen…«

Pater Brown knipste voll lebhaften Unwillens mit den Fingern. »Das ist es ja«, rief er beinahe ungehalten, »das ist ja der Punkt, an dem sich unsere Wege trennen. Wissenschaft ist etwas Großes, wenn sie richtig angewandt wird, ja, einer der größten Begriffe der Welt. Aber was verstehen denn die Menschen heute in neun von zehn Fällen unter diesem Wort? Was meint man denn heute, wenn man die Aufklärung von Verbrechen als eine Wissenschaft bezeichnet, wenn man die Kriminologie eine Wissenschaft nennt? Man versteht darunter, einen Menschen von außen her zu studieren, als wäre er ein riesiges Insekt, und das nennt man dann objektive und unparteiische Betrachtung. Ich möchte das lieber eine mitleidlose Leichensektion nennen! Man versteht darunter, sich möglichst weit von einem Menschen zu entfernen und ihn zu betrachten, als wäre er ein prähistorisches Ungeheuer; seinen ›Verbrecherschädel‹ zu beglotzen, als sei dieser Schädel ein so seltsamer Auswuchs wie das Horn eines Rhinozerosses. Wenn der ›wissenschaftliche‹ Kriminologe non ›Typen‹ spricht, dann meint er natürlich niemals sich selbst, sondern immer seinen Mitmenschen, und meist seinen ärmeren Mitmenschen. Ich leugne nicht, daß eine objektiv, unparteiische Betrachtungsweise manchmal ihr Gutes haben mag, obschon sie in einem gewissen Sinn gerade das Gegenteil von Wissenschaft ist. Nicht nur, daß uns diese Betrachtungsweise keine neuen Erkenntnisse zu vermitteln vermag — nein, oft löscht sie sogar das, was wir bereits wissen, in uns aus. Das bedeutet, daß wir einen Freund wie einen Fremden behandeln, daß wir so tun, als ob etwas uns nahe Vertrautes in Wirklichkeit fern und geheimnisvoll sei. Es ist gerade so, als wolle man bei einem Menschen nicht mehr von einer ›Nase‹, sondern von einem ›Rüssel‹ sprechen, nicht mehr von ›Schlaf‹, sondern von einem alle vierundzwanzig Stunden einmal auftretenden ›Anfall von Empfindungslosigkeit‹. Nun, was Sie als mein ›Geheimnis‹ bezeichnen, ist das genaue Gegenteil einer solchen Betrachtungsweise. Ich versuche nicht, von einem Menschen Abstand zu gewinnen. Ich versuche vielmehr, in die Haut des Mörders hineinzuschlüpfen … Aber das drückt die Sache noch nicht richtig aus. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen können, aber ich krieche wirklich in einen Menschen hinein, ja, ich stecke tatsächlich in seiner Haut, bewege seine Arme und Beine. Und dann warte ich, bis ich weiß, daß ich in einem Mörder stecke. Ich denke seine Gedanken, kämpfe mit seinen Leidenschaften, bis ich mich ganz in seinen geduckt nach dem Opfer ausspähenden Haß hineinversetzt habe, bis ich die Welt mit seinen blutünterlaufenen, schielenden Augen sehe, dieselben Scheuklappen eines verwirrten Geistes trage und nichts mehr zu sehen vermag als den in meinen Augen brennenden kurzen Weg, der in einer Blutlache endet — bis ich wirklich ein Mörder bin.«

»Oh!« rief Mr. Chace aus, und auf seinem Gesicht malte sich das Entsetzen, »und das nennen Sie eine religiöse Übung?«

»Allerdings«, erwiderte Pater Brown, »das nenne ich eine religiöse Übung.«

Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Es ist tatsächlich eine so tiefreligiöse Übung, daß ich besser gar nicht darüber gesprochen hätte. Aber andererseits konnte ich doch auch nicht zulassen, daß Sie heimfahren und Ihren Landsleuten womöglich erzählen, mein ›Geheimnis‹ habe irgend etwas mit Hellseherei zu tun. Vielleicht habe ich mich nicht recht glücklich ausgedrückt, aber was ich gesagt habe, ist wahr. Kein Mensch taugt in Wirklichkeit etwas, ehe er nicht weiß, wie schlecht er ist oder doch sein könnte, ehe er nicht einzusehen vermag, daß es vermessen ist, in dieser hochmütigen und verächtlichen Weise über ›Verbrecher‹ zu sprechen, als wären dies Affen in einem zehntausend Meilen entfernten Urwald. Erst muß er sich von dieser elenden Selbsttäuschung, von ›Verbrechertypen‹ und ›anomalen Schädeln‹ zu sprechen, frei machen, sich frei machen von dem ganzen salbungsvollen Pharisäertum, bis er schließlich erkennt, daß jeder Mensch zum Verbrecher werden kann und daß es seine Aufgabe ist, den in ihm schlummernden Verbrecher niederzuhalten und nicht zum Durchbruch kommen zu lassen.«

Flambeau trat aus dem Schatten hervor und füllte seinem Gast einen großen Becher mit spanischem Wein, wie er vorher seinen nachbarlichen Besucher versorgt hatte. Dann griff er zum erstenmal in die Unterhaltung ein.

»Ich glaube, Pater Brown hat seit unserer letzten Begegnung wieder einige recht merkwürdige Geschichten erlebt. Wir haben uns ja erst kürzlich darüber unterhalten, nicht wahr, Mr. Chace?«

»Ja, diese Geschichten kenne ich mehr oder weniger, zumindest den äußeren Hergang, nicht aber den inneren«, meinte Chace, indem er nachdenklich sein Glas hob. »Könnten Sie nicht Ihre Methode vielleicht an ein paar Beispielen erläutern? … Ich meine, haben Sie die letzten Mordfälle auch mit Ihrer introspektiven Methode gelöst?«

Auch Pater Brown hob sein Glas. Im Widerschein des Feuers erglühte der rote Wein wie das prächtig blutrote Glas eines buntfarbigen Kirchenfensters.

Das tiefrote Glühen schien seinen Blick zu bannen und tiefer und tiefer in sich hineinzuziehen, als umfasse der Becher ein mit dem Blut aller Menschen angefülltes tiefrotes Meer, als tauche seine Seele hinab in den Bodensatz aller Niedrigkeit und aller bösen Gedanken, tiefer noch als die Ungeheuer der Tiefsee und als die ältesten Schlammablagerungen des Meeresgrundes.

Wie in einem roten Spiegel sah Pater Brown in dem Glas das Treiben der Welt.

Die Ereignisse, die er jüngst erlebt hatte, bewegten sich vor ihm in karmesinroten Schatten. All die Geschehnisse, von denen er den beiden hier berichten sollte, tauchten vor ihm auf, und all die Geschichten, die dieses Buch erzählt, zogen vor seinem Blick vorüber. Bald sah er im Leuchten des Weines einen Strand, auf dem sich schwarz die Gestalten von Menschen gegen einen in Abendglut getauchten Himmel abhoben; eine dieser Gestalten war zusammengesunken, eine zweite lief auf sie zu. Dann wieder war es, als löse sich das Glühen in einzelne Flecken auf: Rote Lampions erschienen, die, von Baum zu Baum gespannt, sich in einem Teich widerspiegelten. Und dann ballte sich die ganze Farbenpracht zusammen wie zu einem einzigen Kristall, einem Edelstein, der, einer roten Sonne gleich, die ganze Welt erleuchtete, und dunkel hob sich aus diesem Licht die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes ab, der einen seltsamen Kopfputz trug, wie er in fernen Zeiten vielleicht von den Priestern längst vergangener Kulturen getragen wurde. Schließlich schmolz der Glanz zusammen, bis nur das Flammen eines wilden, roten Bartes übrigblieb, der im Wind über ein gespenstisch graues Moor wehte. All die Geschehnisse, geweckt von der Frage des Amerikaners, standen in Pater Browns Erinnerung auf und begannen, sich zu einem Bericht zu formen.

»Ja«, sagte er, als er den Becher langsam zu seinen Lippen führte, »ich kann mich noch gut erinnern.«

Der Spiegel des Richters

James Bagshaw und Wilfred Underhill waren alte Freunde. Sie hatten die Gewohnheit, gemeinsam zu nächtlicher Stunde umherzustreifen; in endlosen Gesprächen durchwandelten sie die stillen und wie ausgestorben daliegenden Straßen und Gäßchen des Vorstadtviertels, in dem sie wohnten. James Bagshaw, ein großer, brünetter, gutmütiger Mann mit einem Schnurrbärtchen, war von Beruf Kriminalbeamter; Wilfred Underhill, blond, mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen und lebhaftem Blick, spielte gern den Amateurdetektiv. Und ganz im Gegensatz zu dem, was man sonst in Kriminalromanen liest — eifrige Leser von Detektivgeschichten werden es mit Entrüstung vernehmen —, führte der Polizist das Wort, während ihm der Amateur aufmerksam zuhörte.

»Unser Beruf ist der einzige«, meinte Bagshaw gerade, »von dem die öffentliche Meinung behauptet, der Fachmann verstehe sich nicht auf sein Geschäft. Aber zum Kuckuck noch mal, kein Mensch kommt auf den Gedanken, Geschichten zu schreiben, in denen Friseure vorkommen, die nicht Haare schneiden können und es erst von ihren Kunden lernen müssen, oder in denen sich ein Taxifahrer erst von seinem Fahrgast in die Geheimnisse des Autofahrens einweihen lassen muß. Zugegeben, wir neigen oft dazu, uns in ausgefahrenen Geleisen zu bewegen, denn unser Beruf hat all die Nachteile, die das Vorgehen nach einem Schema nun einmal mit sich bringt. Aberdarin tun uns die Romanschreiber unrecht: Sie übersehen ganz, daß methodisches Vorgehen auch sein Gutes hat.«

»Nun«, unterbrach ihn Underhill, »aber auch Sherlock Holmes behauptet doch, daß er nach einer logischen Methode vorgehe.«

»Ganz gewiß«, antwortete Bagshaw, »aber ich verstehe unter Methodik eine kollektive Methodik. Unsere Arbeit gleicht der eines militärischen Stabes: Viele scheinbar unbedeutende Mitteilungen laufen zusammen und werden dann zu einem Gesamtbild vereinigt.«

»Und du glaubst, daß diese Tatsache in den Detektivgeschichten einfach übersehen wird?« fragte sein Freund.

»Nun, denken Wir uns nur einmal einen beliebigen Fall, in dem Sherlock Holmes und Lestrade, der Polizeidetektiv, eine Rolle spielen. Nehmen wir an, Sherlock Holmes könne auf den ersten Blick erkennen, daß ein ihm gänzlich fremder Mensch, der die Straße überquert, ein Ausländer ist, nur weil er sich verkehrt umschaut, weil er gewöhnt ist, daß rechts statt links gefahren wird. Ich will gern zugeben, daß Holmes eine solche Beobachtung durchaus machen kann. Ich bin auch überzeugt, daß Lestrade nichts dergleichen bemerken würde. Aber der Kriminalschriftsteller übersieht ganz dies: Der Polizist vermag wohl den Fremden nicht an seinem Benehmen zu erkennen, aber er kennt ihn vielleicht doch bereits, denn seine Dienststelle hat ja nicht nur auf die Hiesigen aufzupassen, sondern auch die Ausländer zu überwachen. Als Polizist freue ich mich jedenfalls, daß die Polizei soviel weiß, denn schließlich will jeder aus seinem Beruf das Beste machen. Als Bürger allerdings frage ich mich zuweilen, ob die Polizei nicht etwas zuviel weiß.«

»Du willst doch nicht etwa im Ernst behaupten«, meinte Underhill ungläubig, »daß du über einen fremden Menschen in einer fremden Stadt Bescheid weißt? Wenn zum Beispiel da drüben jemand aus dem Haus käme, würdest du ihn tatsächlich kennen?«

»Wenn es der Hausherr wäre, gewiß«, entgegnete Bagshaw.

»Das Haus ist von einem Dichter gemietet, einem Anglo-Rumänen, der gewöhnlich in Paris lebt, sich zur Zeit aber in Engand aufhält, um wegen der Aufführung eines Theaterstückes zu verhandeln. Er heißt Osric: Orm, ist ein moderner Dichter und meines Wissens ziemlich schwer zu lesen.«

»Nun ja, diesen einen kennst du vielleicht. Aber alle Leute, die hier in der Straße wohnen, kennst du bestimmt nicht. Ich dachte gerade, wie fremd, neu und namenlos hier alles aussieht — die hohen, kahlen Mauern, die einsamen Häuser in den großen Gärten. Alle kannst du doch unmöglich kennen.«

»Alle nicht, aber einige kenne ich«, sagte Bagshaw. »Die Gartenmauer, an der wir jetzt entlanggehen, schließt das Besitztum von Sir Humphrey Gwynne ab, besser bekannt unter dem Namen Richter Gwynne; der alte Richter, weißt du, der während des Krieges solch ein Spionenriecher gewesen ist. Das nächste Haus gehört einem reichen Zigarrengroßhändler. Er kommt aus Südamerika und sieht recht braun gebrannt und spanisch aus, obwohl er den gut englischen Namen Bullet führt. Das übernächste Haus…Hast du das gehört?«

Er stand lauschend still. Auch Underhill stutzte.

»Ja, ich habe etwas gehört, habe aber keine Ahnung, was das gewesen sein könnte.«

»Aber ich weiß es«, sagte der Detektiv rasch. »Zwei Schüsse aus einem ziemlich großkalibrigen Revolver und gleich darauf ein Hilferuf. Und der Knall kam aus dem Garten des Richters Gwynne, diesem Paradies des Friedens und der Rechtmäßigkeit.« Gespannt spähte er nach beiden Seiten der Straße, dann fuhr er fort: »Und der einzige Zugang zum Garten ist ein paar hundert Meter entfernt auf der anderen Seite. Wenn bloß die Mauer etwas niedriger oder ich ein bißchen leichter wäre… Na, wir müssen es halt versuchen.«

»Weiter vorn ist sie niedriger«, sagte Underhill, »und da steht auch ein Baum, an dem wir vielleicht hochklettern können.«

Sie liefen rasch an der Mauer entlang und kamen bald an eine Stelle, wo die Mauer plötzlich beträchtlich niedriger war, als sei sie halb in der Erde versunken. Ein Baum, dessen farbige Blüten im Licht einer einsamen Straßenlaterne leuchteten, ragte mit einem niederhängenden Ast aus dem Garten in die Straße hinaus. Bagshaw ergriff den Ast und schwang sich über die Mauer, und im nächsten Augenblick standen sie knietief im dichten Gewächs eines Gartenbeetes.

Der Garten des Richters Gwynne bot zur Nachtzeit einen recht merkwürdigen Anblick. Er war sehr ausgedehnt und lag hier, am Ende der Vorstadt, im Schatten eines großen, dunklen Hauses. Das Haus war in der Tat stockdunkel, alle Fensterläden waren geschlossen, kein Lichtschimmer war zu sehen, wenigstens auf der dem Garten zugekehrten Seite nicht. Die beiden Freunde hatten erwartet, auch den Garten in völliger Dunkelheit vorzufinden. Doch überall verstreut sahen sie Lichter, die aussahen wie die Funken eines niedergehenden Feuerwerks: Es war, als sei eine erlöschende Riesenrakete in die Bäume gefallen. Als sie nun tiefer in den Garten vordrangen, erkannten sie, daß dieses Licht von buntfarbigen Lampen herrührte, die wie Aladins Edelsteinfrüchte in den Bäumen hingen. Mittelpunkt des Lichterkreisés war ein kleiner, runder Teich, dessen Wasser in gedämpften Farben funkelte, als werde es von unten her beleuchtet.

»Vielleicht gibt er ein Gartenfest«, meinte Underhill, »und hat deshalb den Garten illuminiert.«

»O nein«, entgegnete Bagshaw, »diese Illuminierung betreibt er als Liebhaberei und meines Wissens — meist nur dann, wenn er allein ist. In dem kleinen Häuschen da drüben, wo er arbeitet und auch seine ganzen Papiere aufbewahrt, hat er sich eine elektrische Schaltstation eingerichtet. Buller, der gut mit ihm bekannt ist, sagte mir, die farbigen Lampen seien meist ein Zeichen dafür, daß er nicht gestört sein wolle.«

»Sehen eher aus wie Notsignale«, warf Underhill ein.

»Mein Gott! Ich fürchte, es sind wirklich Notsignale!« Und Bagshaw begann zu laufen.

Einen Augenblick später erkannte auch Underhill, was sein Freund gesehen hatte. Der bleiche Lichtring, der wie der Hof des Mondes um die schräg zum Wasser abfallenden Ränder des Teiches lag, wurde von zwei schwarzen Streifen unterbrochen, die sich beim Näherkommen als die langen, schwarzgekleideten Beine eines Mannes erwiesen, der mit dem Kopf im Wasser lag. »Los, komm her!« rief der Detektiv scharf. »Das sieht doch aus, als ob…«

Seine Stimme verlor sich. In großen Sätzen überquerte er den von den Lampen schwach erleuchteten Rasen und eilte auf den Teich und die liegende Gestalt zu. Underhill trabte in derselben Richtung hinter seinem Freund drein, als sich etwas ereignete, das ihn einen Augenblick stutzen ließ. Bagshaw, der wie eine Kugel auf den Teich zugeschossen war, schlug plötzlich einen scharfen Haken und lief mit noch größerer Schnelligkeit auf den dichten Schatten hinter dem Haus zu. Underhill konnte nicht erkennen, was dies bedeuten sollte. Im nächsten Augenblick aber, als der Detektiv im Schatten verschwunden war, hörte er aus der Dunkelheit ein Aufeinanderprallen und einen Fluch, und Bagshaw kehrte in den Garten zurück, einen kleinen, sich heftig sträubenden rothaarigen Mann hinter sich herschleifend. Der Gefangene hatte offenbar versucht, im Schutz der Dunkelheit zu entfliehen, als die scharfen Ohren des Detektivs ihn rascheln hörten wie einen Vogel im Gezweig.

»He, Underhill!« rief Bagshaw, »lauf doch mal zu, und schau schon nach, was unten am Teich los ist. So, und wer sind Sie?« fragte er stehenbleibend. »Wie heißen Sie?«

»Michael Flood«, sagte der Unbekannte kurz angebunden. Er war ein unnatürlich magerer, kleiner Mann mit einer Adlernase, die für sein Gesicht viel zu groß war. Im Verhältnis zu seinem rötlichen Haar wirkte seine Gesichtshaut farblos wie Pergament. »Ich habe mit dieser ganzen Sache nichts zu tun. Ich wollte ihn eigentlich nur für eine Zeitung interviewen, aber als ich hierherkam, fand ich ihn tot daliegen, und darüber bin ich so erschrocken, daß ich weglief.«

»Steigen Sie eigentlich, wenn Sie berühmte Leute interviewen wollen, immer über die Gartenmauer?« fragte Bagshaw ironisch. Und mit grimmiger Miene wies er auf eine Reihe von Fußstapfen hin, die von einem Blumenbeet an der Mauer ausgingen und wieder in dieselbe Richtung zurückführten.

Der Mann, der sich Flood nannte, machte ein ebenso grimmiges Gesicht: »Warum sollte ein Interviewer nicht auch mal über eine Mauer steigen? Ich habe an der Haustür geläutet, aber es hat mir niemand geöffnet. Der Diener war ausgegangen.«

»Woher wissen Sie denn das?« fragte der Detektiv argwöhnisch.

»Weil ich«, entgegnete Flood spöttisch und mit aufreizender Langsamkeit, »nicht der einzige bin, der über Gartenmauern steigt. Wahrscheinlich sind Sie auf dieselbe Weise hier hereingekommen; und den Diener habe ich gerade eben gesehen, wie er auf der anderen Seite des Gartens direkt beim Tor über die Mauer geklettert ist.«

»Warum ging er denn nicht durch das Tor?« fragte der Detektiv.

»Das weiß ich doch nicht«, entgegnete Flood. »Wahrscheinlich ist das Tor geschlossen. Aber fragen Sie ihn doch am besten selbst. Er muß jetzt dicht beim Haus sein.«

Wirklich hob sich im schwachen Licht der bunten Lampen eine schattenhafte Gestalt ab, ein gedrungener Kerl mit einem eckigen Schädel und einer ziemlich schäbigen Livree, deren Hauptbestandteil eine rote Weste bildete. Eilends, doch fast geräuschlos strebte er einem Seiteneingang des Hauses zu, als ihn Bagshaw aufforderte, stehenzubleiben. Sehr zögernd kam er näher, und aus dem Dunkel tauchte sein volles, gelbliches Gesicht auf; es hatte etwas Asiatisches an sich, genauso wie sein glattes, blauschwarzes Haar.

Bagshaw wandte sich wieder dem Mann namens Flood zu. »Ist hier jemand in der Nähe«, fragte er, »der Ihre Identität bezeugen kann?«

»Meine Bekannten sind spärlich gesät«, brummte Flood. »Ich bin erst vor kurzem aus Irland gekommen. Der einzige, den ich kenne, ist der Priester der St.-Dominikus-Kirche, Pater Brown.«

»Das werden wir gleich haben. Sie bleiben mal vorläufig hier«, meinte der Detektiv, und zum Diener gewandt: »Und Sie gehen jetzt ins Haus und rufen die St.-Dominikus-Pfarrei an. Fragen Sie Pater Brown, ob er so gut wäre, sofort hierherzukommen. Aber machen Sie mir bloß keine Dummheiten!«

Während sich der energische Kriminalbeamte mit seinen beiden Gefangenen abgab und mit ihrer Bewachung beschäftigt war, war sein Freund zu der Stelle geeilt, wo sich die Tragödie abgespielt hatte. Ein höchst seltsamer Anblick bot sich ihm dort; wäre das, was passiert war, nicht so tragisch gewesen, hätte die ganze Szene höchst phantastisch gewirkt. Der Tote — denn es erwies sich nach ganz kurzer Untersuchung, daß der Mann wirklich tot war — lag mit dem Kopf im Teich, und das im Wasser sich spiegelnde Licht umgab den Kopf mit einem Strahlenkranz, der wie ein — wenngleich sehr unheiliger — Heiligenschein aussah. Das Gesicht war hager und trug einen ziemlich finsteren Ausdruck, um den kahlen Schädel lagen ein paar spärliche stahlgraue Locken. Trotz der entstellenden Wunde, die die Kugel in die Schläfe geschlagen hatte, erkannte Underhill die ihm von vielen Abbildungen her bekannten Züge von Sir Gwynne. Der Tote war im Abendanzug, seine langen, schwarzen, fast spinnenartig dürren Beine lagen gespreizt am steilen Rand des Teiches, den er herabgefallen war. Mit gespenstischer Langsamkeit sickerte aus der Schläfenwunde das Blut und zog durch das Wasser wie Wolkenstreifen im Rot des Sonnenuntergangs.

Underhill wußte nicht, wie lang er auf den Toten niedergestarrt hatte. Als er aufblickte, sah er eine Gruppe von vier Männern am Teichrand stehen. Bagshaw und den von ihm festgenommenen Iren erkannte er sogleich, ebenso den Diener mit seiner roten Weste. Die vierte Gestalt paßte in ihrer grotesken Feierlichkeit merkwürdigerweise gut zu dieser unheimlichen Szene. Der Neuankömmling war klein und gedrungen; ein Hut umgab sein rundes Gesicht wie ein schwarzer Heiligenschein. Underhill war sich bald darüber klar, daß er einen Geistlichen vor sich hatte; die Gestalt hatte etwas an sich, das an einen jener seltsamen alten Totentanzholzschnitte erinnerte. Dann hörte er, wie Bagshaw zu dem Geistlichen sagte:

»Es freut mich, daß Sie diesen Mann kennen und Auskunft über ihn geben können; ich muß Ihnen allerdings sagen, daß er nicht ganz unverdächtig ist. Natürlich kann er auch unschuldig sein, aber mir fiel auf, daß er den Garten auf etwas ungewöhnlichem Weg betreten hat.«

»Ich bin fast überzeugt, daß er unschuldig ist«, sagte der kleine Priester mit klangloser Stimme. »Aber natürlich kann ich mich auch irren.«

»Warum sind Sie von seiner Unschuld überzeugt?«

»Gerade deshalb, weil er den Garten nicht auf dem gewöhnlichen Weg betreten hat«, entgegnete der Geistliche. »Schauen Sie, ich zum Beispiel habe den Garten auf gewöhnlichem Wege betreten, aber es sieht fast so aus, ob ich der einzige wäre, der auf diese Weise hierhergekommen ist. Alle feinen Leute scheinen heute über Gartenmauern zu steigen.«

»Was verstehen Sie denn überhaupt unter dem gewöhnlichen Weg?« fragte der Detektiv.

Erstaunt blickte Pater Brown ihn an. Dann meinte er mit ernsthafter Miene: »Nun, ich bin durch die Haustür gekommen. Ich pflege Häuser meistens durch die Haustür zu betreten.«

»Entschuldigen Sie«, fragte Bagshaw irritiert, »aber ist es überhaupt von Bedeutung, wie Sie hier hereingekommen sind, wenn Sie nicht gerade sich selbst als den Mörder bezeichnen wollen?«

»Ja, ich denke schon«, sagte der Priester nachsichtig. »Als ich nämlich das Haus betrat, habe ich etwas bemerkt, das wohl niemand von Ihnen gesehen hat, was aber meines Erachtens wohl etwas mit der Sache zu tun hat.«

»Was haben Sie denn gesehen?«

»Auf dem Flur war ein heilloses Durcheinander. Ein großer Spiegel war zerbrochen, ein kleiner Palmbaum umgestoßen, und die Scherben des Blumenkübels waren über den ganzen Boden verstreut. Da hatte ich gleich so ein Gefühl, daß hier etwas passiert sein müsse.«

»Da haben Sie recht«, sagte Bagshaw nach einer Pause. »Wenn Sie wirklich so etwas gesehen haben, dann hat dies sicherlich mit unserem Fall zu tun.«

»Und wenn dem so ist«, bemerkte der Priester liebenswürdig, »dann ist es auch fast sicher, daß einer unter uns nichts mit der Sache zu tun hat. Ich meine Herrn Michael Flood, der den Garten auf dem ungewöhnlichen Weg über die Mauer betreten und dann versucht hat, ihn auf dieselbe Weise wieder zu verlassen. Ebendies läßt mich an seine Unschuld glauben.«

Bagshaw unterbrach ihn. »Jetzt wollen wir uns doch mal das Haus näher ansehen!«

Der Diener ging voran und führte sie zu einer Seitentür, die auf den Garten ging. Bagshaw blieb einige Schritte zurück, um mit seinem Freund ein paar Worte zu wechseln.

»Mit diesem Diener stimmt etwas nicht«, sagte er. »Er nennt sich Green, obschon er gar nicht so grün aussieht. Allerdings scheint er wirklich Gwynnes Diener zu sein, wohl sein einziger ständiger Diener. Aber er streitet glatt ab, daß sein Herr überhaupt tot oder lebend im Garten gewesen ist. Nach seiner Behauptung ist der alte Richter zu einem großen Juristenbankett eingeladen gewesen und hat erst spät heimkommen wollen. Damit entschuldigt er auch sein Weggehen.«

»Hat er eigentlich auch eine ausreichende Erklärung, warum er bei seiner Rückkehr über die Mauer gestiegen ist?« fragte Underhill.

»Nein, wenigstens kann ich mit dem, was er sagt, nichts anfangen«, entgegnete der Detektiv. »Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihm halten soll. Irgend etwas scheint ihm einen mächtigen Schreck eingejagt zu haben.«

Vom Seiteneingang aus kamen sie in den Flur, der sich durch das ganze Haus bis zur Vordertür hinzog. Durch ein halbkreisförmiges, altmodisches Fächérfenster über dieser Tür, das einen recht trostlosen Eindruck machte, sickerte mattes, farbloses Licht; ein trüber Morgen kündigte sich an. Beleuchtet war der Flur von einer gleichfalls altmodischen Schirmlampe, die in einer Ecke auf einer Konsole stand. Im schwachen Schein dieser Lampe konnte Bagshaw die Trümmer erkennen, von denen Pater Brown gesprochen hatte. Eine schlanke Palme mit langen, niederhängenden Blättern lag der ganzen Länge nach auf dem Boden, und der dunkelrote Topf, in den sie eingepflanzt gewesen war, war zerschlagen. Die Scherben und die bleiern schimmernden Bruchstücke eines zertrümmerten Spiegels lagen auf dem Teppich herum; der fast leere Rahmen des Spiegels hing hinter ihnen an der Wand am Ende des Vestibüls. Der Seitentür, durch die sie gekommen waren, direkt gegenüberliegend führte ein ähnlicher Gang im rechten Winkel zu den übrigen Gemächern des Hauses. Ganz am Ende dieses Ganges war das Telefon zu erkennen, das der Diener benützt hatte, um den Priester herbeizurufen. Eine halboffene Tür, durch deren Spalt man die dichtgedrängten Reihen großer, in Leder gebundener Bücher sehen konnte, bildete den Eingang zum Arbeitszimmer des Richters.

Bagshaw betrachtete den zerbrochenen Palmenkübel und die Spiegelscherben. »Sie haben ganz recht«, sagte er dann zu dem Priester, »hier hat ein Kampf stattgefunden, und zwar ein Kampf zwischen Gwynne und seinem Mörder.«

»Ja, ich hatte gleich so den Eindruck«, meinte Pater Brown zurückhaltend, »wie wenn hier etwas passiert wäre.«

»Und mir ist auch völlig klar, wie das Ganze vor sich gegangen ist«, bemerkte der Detektiv. »Der Mörder ist durch die Haustür gekommen und hat Gwynne überrascht. Es ist aber auch durchaus möglich, daß ihn Gwynne selbst hereingelassen hat. Dann begann ein Kampf auf Leben und Tod. Ein vorbeigegangener Schuß hat wahrscheinlich den Spiegel getroffen, aber vielleicht ist dieser auch durch einen Stoß oder sonstwas in Trümmer gegangen. Gwynne ist es dann gelungen, sich loszureißen und in den Garten zu fliehen, doch der Mörder verfolgte ihn und schoß ihn am Teich nieder. So, glaube ich, hat sich das Verbrechen abgespielt aber ich muß erst noch die übrigen Räume besichtigen, ehe ich etwas Endgültiges sagen kann.«

In den anderen Räumen war jedoch nur wenig zu sehen; der einzige Gegenstand von Interesse war ein geladener Revolver, den Bagshaw in einer Schreibtischschublade entdeckte.

»Aha«, sagte er, »das sieht ja ganz so aus, als habe er schon so etwas erwartet. Aber warum hat er dann eigentlich den Revolver nicht mitgenommen, als er auf den Flur ging?«

Schließlich kehrten sie wieder zurück und gingen auf die Haustür zu. Gedankenverloren ließ Pater Brown seinen Blick über den Flur schweifen die grauen, verbliebenen Tapeten, die grüne Patina an der bronzenen Lampe, der mattschimmernde goldene Rahmen des zerbrochenen Spiegels — das war die verstaubte, überladene Pracht der frühviktorianischen Zeit.

»Es soll Unglück bedeuten, wenn ein Spiegel zerbrochen wird«, meinte er. »Hier sieht es wirklich aus wie in einem Unglückshaus. Schon allein die Einrichtung hat etwas an sich…«

Scharf unterbrach ihn die Stimme Bagshaws. »Das ist doch höchst merkwürdig. Ich dachte, die Vordertür sei verschlossen, sie ist aber nur eingeklinkt.«

Niemand erwiderte etwas. Nacheinander traten sie in den Vorgarten, der nicht sehr groß und in Blumenbeete aufgeteilt war. Auf der einen Seite zog sich eine merkwürdig gestutzte Hecke hin mit einer Öffnung, die aussah wie der Eingang zu einer Höhle. Undeutlich konnte man einige morsche Stufen erkennen. Pater Brown ging auf die Öffnung zu, bückte sich und schlüpft hinein. Er war noch nicht lange verschwunden, als die Zurückgebliebenen zu ihrem Erstaunen seine Stimme über ihren Köpfen vernahmen. Es hörte sich so an, als unterhalte er sich mit jemandem, der im Gipfel des Baumes steckte. Nun kroch auch der Kriminalbeamte in die Öffnung, und plötzlich sah er sich einer versteckten Treppe gegenüber, die zu einer erhöhten Plattform führte. Diese zog sich durch den verlassenen, dunklen Teil des Gartens hin bis um die Ecke des Hauses, und von dort aus konnte man die bunt illuminierten Bäume vor und unter sich sehen. Wahrscheinlich hatte Gwynne einmal vorgehabt, eine Terrasse auf Bogenpfeilern durch den Garten zu führen, später aber diese bauliche Spielerei wieder aufgegeben und die angefangenen Teile einfach stehenlassen. Wirklich ein recht merkwürdiger Aufenthaltsort für jemanden, und besonders zu nachtschlafender Zeit, dachte Bagshaw. Aber er sah sich den Baum nicht näher an, sondern faßte den Mann ins Auge, den Pater Brown hier oben aufgestöbert hatte.

Der Unbekannte stand mit dem Rücken zu ihm. Man konnte nur erkennen, daß er klein war und einen hellgrauen Anzug trug. Ein prächtiger Haarschopf bedeckte sein Haupt, so gelb und leuchtend wie die Blüte eines riesigen Löwenzahns. Die Haare bildeten einen regelrechten Strahlenkranz um sein Haupt, und unwillkürlich dachte man sich ein entsprechendes Gesicht dazu. Aber das Gesicht, das er ihnen jetzt langsam und widerwillig zuwandte, entsprach nicht im mindesten der Vorstellung, die man sich von ihm gemacht hatte. Bagshaw hatte erwartet, ein ovales, mildes Engelsgesicht zu sehen; aber was er erblickte, war ein unregelmäßiges, mürrisches, ältliches Gesicht mit mächtigen Kinnbacken und einer kurzen Nase, die an die eingeschlagene Nase eines Boxers erinnerte.

»Herr Orm, der berühmte Dichter, wenn ich mich nicht irre«, sagte Pater Brown mit einer so selbstverständlichen Ruhe, als stelle er zwei Leute einander im Salon vor.

»Wer dieser Herr auch ist«, meinte Bagshaw, »ich möchte ihn dringend bitten, mit mir zu kommen und mir ein paar Fragen zu beantworten.«

Herr Osric Orm, der Dichter, war durchaus kein Meister des Ausdrucks, wenn es galt, Fragen zu beantworten. Im Winkel des alten Gartens, als das graue Zwielicht der Morgendämmerung sich über die dichten Hecken und die seltsame Aussichtsbrücke zu verbreiten begann, ebenso wie später in den langwierigen Verhören, die eine für ihn immer unheilvollere Wendung nahmen, verweigerte er hartnäckig jede Aussage. Er gab lediglich die Erklärung ab, daß er Sir Humphrey Gwynne einen Besuch habe abstatten wollen, dazu aber nicht gekommen sei, weil sich niemand auf sein Läuten gemeldet habe. Hielt man ihm darauf entgegen, daß die Tür ja praktisch offenstand, dann schnaubte er wütend. Machte man eine Andeutung, daß er die Stunde für seinen Besuch reichlich spät gewählt habe, dann knurrte er. Das wenige, was aus ihm herauszubekommen war, gab keinen rechten Sinn, entweder weil er wirklich kaum Englisch konnte oder weil er es für besser hielt, es nicht zu können. Er war offenbar Nihilist, denn er äußerte ziemlich destruktive Ansichten — eine Tendenz, die man ja auch in seinen Gedichten feststellen konnte, sofern man diese überhaupt verstand. Es schien durchaus nicht unmöglich, daß sein Besuch beim Richter und der Streit mit ihm, dessen er verdächtigt wurde, auf anarchistische Motive zurückgingen. Von Richter Gwynne wußte man, daß er überall kommunistische Agenten zu sehen glaubte, wie er zur Zeit des Ersten Weltkrieges in jedem Unbekannten einen deutschen Spion erkennen wollte. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, das sich ereignete, kurz nachdem sie den Garten verlassen hatten, verstärkte Bagshaws Eindruck, daß auf Orm der Hauptverdacht falle. Als sie nämlich durch die Gartentür auf die Straße traten, begegnete ihnen zufällig ein weiterer Nachbar des Richters, der Zigarrenhändler Buller. Er war an seinem braungebrannten, schlauen Gesicht und der kostbaren Orchidee im Knopfloch leicht zu erkennen, denn in der Orchideenzucht hatte er sich einen Namen gemacht. Die anderen waren einigermaßen überrascht, als Buller seinen Nachbarn, den Dichter, mit einer Selbstverständlichkeit begrüßte, als habe er erwartet, ihn hier zu sehen.

»Na, da sind wir ja wieder«, meinte er. »Ziemlich lange mit dem alten Gwynne geschwatzt, wie?«

»Sir Humphrey Gwynne ist ermordet worden«, mischte sich Bagshaw ein. »Ich habe den Fall übernommen und muß Sie bitten, mir zu erklären, was Sie mit dieser Bemerkung meinen.«

Völlig überrumpelt, erstarrte Buller zur Salzsäule. Sein braunes Gesicht lag im Schatten; man konnte nicht erkennen, was darauf vorging. Lediglich das glimmende Ende seiner Zigarre glühte wie im Takt mehrmals auf. Seine Stimme hatte einen völlig veränderten Klang, als er schließlich wieder sprach.

»Ich wollte Herrn Orm nur daran erinnern«, sagte er, »daß er, als ich vor zwei Stunden hier vorbeikam, gerade durch das Tor ging, um Sir Humphrey zu besuchen.«

»Herr Orm behauptet aber, daß er ihn nicht gesehen habe und überhaupt nicht im Haus gewesen sei«, erwiderte Bagshaw.

»So lange pflegt man doch nicht vor einer verschlossenen Türe stehenzubleiben«, bemerkte Bullen.

»So lange pflegt man aber auch nicht auf der Straße herumzustehen«, warf Pater Brown ein.

»Ich bin inzwischen zu Hause gewesen«, entgegnete der Zigarrenhändler. »Ich habe Briefe geschrieben und bin eben unterwegs, sie zum Briefkasten zu bringen.«

»Sie werden später noch Gelegenheit haben, das alles ausführlich zu erzählen«, sagte Bagshaw. »Gute Nacht jetzt, oder besser: guten Morgen.«

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Osric Orm wurde also angeklagt, Sir Humphrey Gwynne ermordet zu haben. Wochenlang füllten die Berichte über die Gerichtsverhandlung die Spalten der Zeitungen. Es ging um das gleiche Rätsel wie bei der kurzen Unterredung, die damals in der grauen Dämmerung der morgendlichen Straße unter der Laterne geführt worden war. Alles drehte sich um die zwei Stunden zwischen dem Zeitpunkt, da Buller den Dichter Orm in das Gartentor hatte treten sehen, und der Minute, als Pater Brown ihn im Garten entdeckte — eine Zeitspanne, für die Orm keinerlei glaubwürdige Aussagen machen konnte. Er hatte sicher Zeit gehabt, sechs Morde zu begehen, und es war eigentlich erstaunlich, daß er sie nicht begangen hatte, denn er mußte sich ja in diesen zwei Stunden schrecklich gelangweilt haben. Einen zusammenhängenden Bericht über sein Tun und Treiben in dieser Zeit konnte der Angeklagte jedenfalls nicht geben. Vom Vertreter der Anklage wurde mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß für ihn die Möglichkeit, Sir Humphrey Gwynne zu ermorden, durchaus gegeben war, da die Haustür nicht verschlossen war und die in den großen Garten führende Seitentüre sogar offenstand. Mit großem Interesse folgte der Gerichtshof sodann den Ausführungen Bagshaws, der in knappen, klaren Sätzen den Kampf im Flur an Hand der Spuren rekonstruierte; konstruierte; die Polizei hatte später auch die Kugel entdeckt, die den Spiegel zertrümmert hatte. Und schließlich war es auch höchst verdächtig, daß die Öffnung in der Hecke, durch die Pater Brown dem Angeklagten gefolgt war, durchaus als Versteck angesehen werden konnte. Sir Matthew Blake jedoch, Orms sehr geschickter Verteidiger, verwandte dieses letzte Argument im umgekehrten Sinne und fragte, ob ein Mensch wohl wirklich so dumm sein könne, sich freiwillig selbst an einem Ort einzusperren, der nur einen einzigen Ausgang hatte, wo es doch offensichtlich viel vernünftiger gewesen wäre, sich über die Straße davonzumachen. Vor allem aber war es dem Gerichtshof nicht möglich gewesen, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, der über dem Motiv des Mordes lag, eine Tatsache, die der Verteidiger klug zugunsten seines Klienten auszunutzen wußte. In der Frage nach dem Motiv nahmen die Rededuelle zwischen Sir Matthew Blake und Sir Arthur Travers, dem ebenso glänzenden Vertreter der Anklage, eine für den Angeklagten günstige Wendung. Die einzigen Argumente, die Sir Arthur vorbringen konnte, waren wenig überzeugende Andeutungen über eine bolschewistische Verschwörung, der Orm angehört haben könnte. Als es aber galt, Orms geheimnisvolles Benehmen in der Mordnacht zu erklären, gewann der Anklagevertreter wieder die Oberhand über den Verteidiger.

Der Angeklagte ließ sich einem Kreuzverhör unterziehen, hauptsächlich deshalb, weil sein kluger Anwalt glaubte, es werde einen schlechten Eindruck machen, wenn er es nicht täte. Aber der Verteidiger brachte fast ebenso wenig aus ihm heraus wie der Staatsanwalt. Sir Arthur Travers legte dieses hartnäckige Schweigen sogleich zugunsten der Anklage aus, aber selbst dadurch gelang es nicht, dem Angeklagten den Mund zu öffnen.

Sir Arthur war ein langer, hagerer Mann mit einem länglichen, leichenblassen Gesicht; ein auffallender Gegensatz zu der stämmigen Gestalt und dem vogelhellen blick von Sir Matthew Blake. Mußte man bei Sir Matthew an einen fröhlich-frechen Spatzen denken, so hätte man Sir Arthur eher mit einem Kranich oder mit einem Storch vergleichen können. Wie er sich nun vorbeugte, um den Dichter mit seinen Fragen auszuquetschen, wirkte seine lange Nase tatsächlich wie ein langer, spitzer Schnabel.

»Sie wollen doch nicht etwa den Herren Geschworenen erzählen«, fragte er in verletzend ungläubigem Ton, »daß Sie das Haus des Ermordeten überhaupt nicht betreten haben?«

»Habe ich nicht!« antwortete Orm kurz.

»Aber Sie hatten doch die Absicht, Sir Humphrey Gwynne zu besuchen, und der Besuch muß Ihnen sehr wichtig gewesen sein, denn schließlich haben Sie ja zwei Stunden vor der Haustür gewartet — oder nicht?«

»Doch«, entgegnete Orm.

»Und dabei wollen Sie nicht einmal bemerkt haben, daß die Tür offenstand?«

»Nein!«

»Aber hören Sie mal, man stellt sich doch nicht einfach zwei geschlagene Stunden vor die Haustür eines anderen Menschen«, drängte der Stäatsanwalt weiter. »In diesen zwei Stunden haben Sie doch bestimmt etwas getan!«

»Allerdings!«

»Und Sie wollen mir nicht sagen, was Sie getan haben?« fragte Sir Arthur mit beißendem Spott.

»Vor Ihnen ist es ein Geheimnis«, antwortete der Dichter.

Auf dieser Andeutung eines Geheimnisses baute Sir Arthur seine Anklage auf. Die Tatsache, daß ein Motiv für den Mord immer noch nicht gefunden worden war — das stärkste Argument der Verteidigung —, beutete er mit einer Kühnheit, die an Gewissenlosigkeit grenzte, zu seinen Gunsten aus. Er stellte die Sache so dar, als werde hier der Schleier über einer höchst gefährlichen und ausgedehnten Verschwörung gelüftet, in deren Polypenarmen ein aufrechter Patriot sein Leben habe lassen müssen.

»Ja«, rief er mit stahlharter Stimme, »der Herr Verteidiger hat vollkommen recht! Wir wissen nicht genau, weshalb dieser ehrenwerte Mensch ermordet worden ist, der dem Staat so große Dienste geleistet hat. Ebensowenig werden wir den Grund wissen, wenn der nächste Repräsentant der Öffentlichkeit von Mörderhänden gemeuchelt werden wird. Und wenn der Herr Verteidiger selbst schließlich wegen seiner hervorragenden Tüchtigkeit dem Haß, den die höllischen Mächte der Zerstörung gegen die Wächter der Ordnung hegen, zum Opfer fallen wird, dann wird auch er niemals erfahren, weshalb er ermordet wurde. Der halbe Gerichtshof hier wird im Bett ermordet werden, ohne daß wir jemals den Grund dafür wissen. Niemals werden wir es erfahren, und das Gemetzel wird nicht aufhören, bis unser Land entvölkert ist, solange es der Verteidigung erlaubt ist, mit der alten, abgedroschenen Frage nach dem Motiv des Mordes den Lauf der Gerechtigkeit aufzuhalten, während doch alles — die Ungereimtheit der Aussagen des Angeklagten und vor allem sein hartnäckiges Schweigen — uns sagt, daß hier ein Kain vor uns steht.«

»Ich habe Sir Arthur noch niemals so erregt gesehen«, meinte Bagshaw später zu einer Gruppe seiner Kollegen. »Es wurde sogar die Meinung laut, daß er mit seiner Rede zu weit gegangen sei und daß ein Staatsanwalt in einem Mordprozeß nicht derart als Rachegott auftreten dürfe. Gewiß — dieser kleine, merkwürdige Orm mit seinem gelben Haar hat etwas Unheimliches an sich, das Sir Arthur recht zu geben scheint. Wenn ich ihn so sehe, muß ich immer an die Beschreibung denken, die De Quincey von Williams gibt, jenem schrecklichen Verbrecher, der in aller Stille zwei ganze Familien abgeschlachtet hat. Auch Williams’ Haar war von einem auffallend unnatürlichenGelb; De Quincey meint, daß es nach einem indischen Rezept gefärbt gewesen sei, denn in Indien färbt man sogar Pferde grün oder blau. Dazu kam sein sonderbares, steinernes Schweigen, so daß ich schließlich dank dieser Gedankenverbindung beinahe das Gefühl hatte, auf der Anklagebank säße wirklich eine Art Ungeheuer. Wenn allerdings nur Sir Arthurs Beredsamkeit bewirkt hat, daß ich — und mit mir sicherlich auch viele andere — den Angeklagten in diesem Licht sehe, dann hat er mit seiner Leidenschaftlichkeit eine schwere Verantwortung auf sich genommen.«

Underhill sah die Sache von einer anderen Seite. »Schließlich ist der arme Gwynne doch der Freund von Sir Arthur gewesen. Ein Bekannter von mir hat sie noch kürzlich nach einem großen Juristenbankett vergnügt zusammen zechen sehen. Deshalb geht ihm der Fall wahrscheinlich so nahe. Eine andere Frage ist es allerdings, ob sich ein Angehöriger des Gerichts so sehr von seinem persönlichen Gefühl hinreißen lassen darf.«

»Wegen eines rein persönlichen Gefühls würde sich Sir Arthur nicht so sehr ins Zeug legen«, meinte Bagshaw. »Wir dürfen nicht vergessen, daß er von seiner beruflichen Stellung sehr eingenommen ist. Er gehört zu den Männern, deren Ehrgeiz auch dann noch nicht befriedigt ist, wenn sie ihre Ziele längst erreicht haben. Ich kenne niemanden, der sich so viel Mühe geben würde wie er, seine Stellung in den Augen der Welt zu festigen. Nein, seine donnernde Anklage hat sicherlich einen ganz anderen Grund, als du annimmst. Meiner Meinung nach verfolgt er mit seinen leidenschaftlichen Ausbrüchen das Ziel, die Leute vom Bestehen einer politischen Verschwörung zu überzeugen, und dann will er eine Bewegung gegen diese Verschwörung gründen, deren Leitung er zu übernehmen beabsichtigt. Sein Wunsch, Orm zu überführen, und seine Überzeugung, daß ihm dies gelingen wird, müssen ihren tiefen Grund haben. Wahrscheinlich glaubt er, daß die Tatsachen ihm recht geben werden. Seine zuversichtliche Haltung läßt für den Angeklagten nicht viel zu hoffen übrig.«

Er unterbrach seine Rede, denn er hatte in der Gruppe einen unscheinbaren Mann entdeckt. »Nun«, meinte er lächelnd, »was halten Sie von dem Gerichtsverfahren, Pater Brown?«

»Na ja«, entgegnete der Priester ziemlich zerstreut, »am meisten fiel mir dabei auf, wie sehr eine Perücke den Menschen verändern kann. Sie sprachen gerade davon, wie schneidig der Staatsanwalt ist. Aber ich habe zufällig gesehen, wie er seine Perücke abnahm, und da erkannte ich ihn kaum wieder. Wußten Sie übrigens, daß er ganz kahl ist?«

»Aber hören Sie mal, deshalb kann er doch ein schneidiger Staatsanwalt sein«, sagte Bagshaw. »Oder wollen Sie etwa die Verteidigung auf der Tatsache aufbauen, daß der Staatsanwalt eine Glatze hat?«

»Das nun auch nicht gerade«, meinte Pater Brown gutgelaunt. »Um die Wahrheit zu sagen, ich dachte gerade darüber nach, wie wenig wir doch über unsere Mitmenschen wissen. Angenommen, ich käme zu einem fremden Volk, das noch niemals etwas über England und seine Sitten gehört hätte. Angenommen, ich würde diesen Leuten erzählen, daß es bei uns einen Mann gibt, der, ehe er Fragen, bei denen es um Leben und Tod geht, behandelt, sich einen aus Pferdehaar verfertigten, hinten mit kleinen Schwänzchen und an der Seite mit Korkenzieherlocken versehenen Aufbau auf den Kopf stülpt, so daß er aussieht wie eine alte Frau aus der Biederrheierzeit. Diese Leute würden bestimmt glauben, daß ein solcher Mann doch ein recht verschrobener Narr sei; aber er ist durchaus nicht verschroben, denn er handelt ja nur getreu einer alten, erstarrten Tradition. Die Fremden würden das glauben, weil sie eben das englische Gerichtsverfahren nicht kennen, weil sie nicht wissen, was ein Staatsanwalt ist. Aber wie es diesen Leuten mit dem Staatsanwalt geht, so geht es dem Staatsanwalt mit dem Dichter: Auch er weiß nicht, was ein Dichter ist. Er begreift nicht, daß die Überspanntheiten eines Dichters anderen Dichtern in keiner Weise überspannt vorkämen. Er hält es für sonderbar, daß Orm zwei Stunden lang in einem schönen Garten spazierengeht, ohne etwas Bestimmtes zu tun. Du meine Güte! Ein Dichter könnte auch zehn Stunden in einem solchen Garten auf und ab gehen, wenn er gerade mit einem Gedicht beschäftigt ist. Aber selbst Orms Verteidiger hat in dieser Hinsicht versagt. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, an Orm eine sehr naheliegende Frage zu richten.«

»Was für eine Frage meinen Sie?« fragte verständnislos der Detektiv.

»Nun, Sir Matthew hätte ihn fragen sollen, welches Gedicht er gerade gemacht hat«, sagte Pater Brown etwas ungeduldig. »Bei welcher Zeile er steckengeblieben ist, welches Beiwort, welche Steigerung er gesucht hat. Wenn nur ein paar einigermaßen gebildete Leute bei Gericht wären, die eine Ahnung von Literatur haben, so hätten sie sofort herausgebracht, ob Orm nicht doch etwas Sinnvolles in jenem Garten zu tun gehabt hat. Wenn er ein Fabrikant wäre, hätten sie ihn gewiß gefragt, wie es mit seiner Produktion steht — aber wie ein Gedicht verfertigt wird, davon hat doch wohl keiner dieser guten Leute auch nur eine Ahnung. Dichten kann man nur in völliger Untätigkeit.«

»Das ist ja alles. recht und gut«, entgegnete der Kriminalbeamte, »aber warum hat er sich dann versteckt? Warum ist er dann jene kleine morsche Treppe hinaufgestiegen, die doch nirgendwo hinführte, warum ist er oben geblieben?«

»Eben weil sie nirgends hinführte«, sagte Pater Brown scharf, unwillig über die Verständnislosigkeit seines Gegenübers. »Jeder, der diese im leeren Raum endigende Treppe sieht, sollte eigentlich wissen, daß sie für jeden Künstler wie für jedes Kind eine große Anziehung haben muß.«

Pater Brown hatte sich sofort wieder gefaßt und sagte entschuldigend: »Verzeihen Sie, aber es scheint mir doch merkwürdig, daß kein Mensch dies zu begreifen vermag. Und dann kommt noch etwas anderes dazu. Wissen Sie nicht, daß es für jeden Künstler stets und bei allem nur einen einzigen Gesichtswinkel gibt, den er gelten läßt? Ein Baum, eine Kuh, eine Wolke bedeuten für sich gar nichts, sie haben einen Sinn nur, wenn sie in Beziehung zu etwas gesetzt werden, wie beispielsweise drei Buchstaben nur in einer ganz bestimmten Anordnung ein Wort ergeben. Nun, für den Dichter konnte der illuminierte Garten nur von der halbzerfallenen Brücke aus richtig gesehen werden. Dieser Gesichtswinkel war für ihn so einzigartig wie etwa die vierte Dimension. Es war eine ganz zauberhafte Perspektive: Es war, als wenn man von oben auf den Himmel niederblickte, die Sterne schienen auf den Bäumen zu wachsen, und der leuchtende Teich sah aus wie ein Märchenmond, der auf die Felder herabgefallen war. Dieses Bild hätte unser Dichter eine Ewigkeit lang betrachten können. Wenn Sie ihm sagen würden, daß der Weg nirgendwo hinführte, so würde er gewiß antworten, daß er ihn ans Ende der Welt geführt habe. Aber erwarten Sie etwa von ihm, daß er diese Aussage vor Gericht macht? Sie können sich ja selbst denken, welche Antwort er hierauf zu erwarten hätte. Man behauptet doch immer, ein jeglicher Mensch dürfe nur durch seinesgleichen gerichtet werden. Warum sitzen dann hier nicht lauter Dichter auf der Geschworenenbank?«

»Sie sprechen ja, als wären Sie selbst ein Dichter«, sagte Bagshaw.

»Danken Sie Ihrem Stern, daß ich keiner bin«, entgegnete Pater Brown. »Danken Sie Ihrem Glücksstern, daß ein Priester barmherziger sein muß als ein Dichter. Großer Gott, wenn Sie wüßten, welch eine zermalmende, grausame Verachtung so ein Dichter für Leute Ihres Schlages hat! Sie würden sich vorkommen, als stünden Sie unter den Niagarafällen.«

»Nun, vielleicht wissen Sie mehr über die Veranlagung eines , Künstlers als ich«, sagte Bagshaw nach kurzer Pause. »Aber so hieb- und stichfest sind Ihre Argumente nun auch wieder nicht. Sie haben nur erklärt, was er hätte tun können, wenn er das Verbrechen nicht begangen hat. Aber ein Beweis dafür, daß er als Täter nicht in Frage kommt, ist das keineswegs. Und wer sollte es denn schließlich sonst gewesen sein?«

»Haben Sie an den Diener Green gedacht?« fragte Pater Brown nachdenklich. »Er hat doch eine recht sonderbare Geschichte erzählt.« »Aha!« rief Bagshaw. »Sie halten also Green für den Täter?«

»Ich bin im Gegenteil fest davon überzeugt, daß er nicht der Täter ist«, entgegnete der Priester. »Ich habe nur gefragt, ob Ihnen an der sonderbaren Geschichte, die er uns erzählt hat, nichts aufgefallen ist. Green ist einer Kleinigkeit wegen ausgegangen; vielleicht hatte er eine Bestellung auszurichten oder wollte schnell ein Glas Bier trinken. Sagte er nicht, daß er den Garten durch das Tor verließ, aber über die Gartenmauer zurückkam? Das bedeutet, daß er das Tor offengelassen hatte, aber als er zurückkehrte, war es geschlossen. Und warum war es geschlossen? Weil inzwischen ein anderer den Garten durch das Tor verlassen hatte.«

»Also der Mörder«, murmelte der Kriminalbeamte, noch nicht sehr überzeugt. »Wissen Sie vielleicht auch, wer der Mörder war?«

»Ich weiß, wie er aussieht«, antwortete Pater Brown ruhig. »Das ist das einzige, was ich mit Sicherheit weiß. Ich sehe ihn fast vor mir, wie er zur Haustür hereinkommt und in den matten Schein der Flurlampe tritt; ich sehe seine Gestalt, seine Kleidung, selbst sein Gesicht!«

»Was soll das heißen?«

»Er sah aus wie Sir Humphrey Gwynne.«

»Zum Teufel noch mal, was wollen Sie damit sagen?« fragte Bagshaw völlig überrascht. »Gwynne lag doch tot im Garten, Sie waren doch dabei, als wir ihn gefunden haben!«

»Ganz richtig«, bemerkte Pater Brown.

Nach einer Weile fuhr er fort: »Kehren wir doch einmal zu Ihrer Theorie zurück, die recht brauchbar war, obschon ich ihr nicht ganz beistimme. Sie nehmen an, daß der Mörder durch die Haustür hereinkam, im Flur auf den Richter stieß, mit ihm kämpfte und dabei den Spiegel zertrümmerte; daß der Richter dann in den Garten floh und dort schließlich erschossen wurde. Ehrlich gesagt, das scheint mir nicht recht plausibel. Wenn Gwynne tatsächlich den langen Hausflur entlang flüchtete, dann stieß er doch am Ende des Flurs auf zwei Türen, die eine zum Garten, die andere ins Zimmer. Warum hat er sich dann nicht in das Zimmer zurückgezogen? Dort hatte er ja seinen Revolver, von dort aus hätte er telefonieren können, und auch seinen Diener mußte er dort vermuten. Selbst seine nächsten Nachbarn wohnen alle in dieser Richtung. Warum sollte er also erst die Gartentür öffnen und in den einsamen, verlassenen Garten fliehen?«

»Aber wir wissen doch, daß er das Haus verlassen hat«, erwiderte Bagshaw verdutzt. »Er wurde doch draußen im Garten gefunden, also muß er das Haus verlassen haben.«

»Wieso denn? Er brauchte das Haus nicht zu verlassen, denn er war gar nicht darin gewesen«, sagte Pater Brown. »Jedenfalls nicht an diesem Abend. Er saß in seinem Gartenhäuschen. Das wußte ich gleich, als ich die bunte Beleuchtung im Garten sah. Die elektrische Schaltanlage befand sich doch in dem Häuschen, und da die Lampen brahnten, muß er dortgewesen sein. Er versuchte also vielmehr, ins Haus und zum Telefon zu gelangen, als ihn sein Mörder am Teich niederschoß.«

»Aber was haben dann die umgeworfene Palme und der zertrümmerte Spiegel zu bedeuten?« rief Bagshaw, der sich darüber ärgerte, daß seine schöne Theorie so widerlegt wurde.

»Sie haben doch schließlich selbst diese Spuren entdeckt und behauptet, daß in dem Flur ein Kampf stattgefunden haben müsse!«

Der Priester dachte angestrengt nach. »Wirklich? Nein, das habe ich bestimmt nicht behauptet; daran habe ich nicht einmal im Schlaf gedacht. Meines Wissens sagte ich nur, daß auf dem Flur etwas passiert sei. Und es ist dort auch etwas passiert. Allerdings war es kein Kampf.«

»Und wie soll dann der Spiegel zerbrochen sein?« fragte Bagshaw etwas pikiert.

»Durch eine Kugel«, antwortete Pater Brown ernst. »Durch eine Kugel, die der Mörder abfeuerte. Und die herabfallenden Scherben haben dann Kübel und Palme umgestürzt.«

»Aber wenn Gwynne nicht im Haus war, auf wen hat dann der Mörder eigentlich geschossen?« fragte der Detektiv.

»Hier ist der Punkt, an dem wir einhaken müssen, um herauszubekommen, wer der Mörder war. Es grenzt beinahe an Metaphysik«, sagte der Priester sehr nachdenklich. »Natürlich schoß der Mörder in einem gewissen Sinn auf Gwynne, obschon Gwynne gar nicht da war. Der Mörder war ganz allein auf dem Flur.«

Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er ruhig fort: »Nun, stellen Sie sich einmal vor, wie es im Flur ausgesehen hat, ehe der Spiegel zertrümmert wurde. Der Spiegel hing ganz am Ende des Flurs, und neben ihm stand die Palme. Die eintönig grauen Wänden wurden vom Spiegel so zurückgeworfen, daß bei dem herrschenden Zwielicht der Eindruck entstehen mußte, als sei der Spiegel nichts anderes als die Rückwand des Flurs. Wenn nun jemand aus einiger Entfernung den Flur entlang in den Spiegel blickte, so sah es aus, als komme jemand aus dem Inneren des Hauses. Und dieser Jemand konnte wie der Herr des Hauses aussehen — wenn nur das Spiegelbild etwas ähnlich war.«

»Moment mal«, unterbrach ihn Bagshaw. »Ich glaube, ich sehe jetzt allmählich…«

»Sie sehen jetzt allmählich«, fuhr Pater Brown fort, »warum alle in diesem Fall verdächtigten Personen unschuldig sein müssen. Nicht ein einziger hätte sein eigenes Spiegelbild für den alten Gwynne halten können. Orm hätte gleich erkennen müssen, daß sein gelber Haarschopf kein Kahlkopf ist. Flood hätte sicherlich seine roten Haare erkannt und Green seine rote Weste. Übrigens sind sie alle von kleiner Statur und reichlich schäbig gekleidet; keiner von ihnen hätte sich einbilden können, er sehe im Spiegel wie ein großer, hagerer, alter Herr im Abendanzug aus. Wir müssen uns schon nach einem anderen Mann umsehen, der ebenso groß und hager ist wie der Richter. Das meinte ich, als ich sagte, ich wisse, wie der Mörder aussieht.«

»Und was folgern Sie daraus?« fragte Bagshaw, ihn fest ansehend.

Der Priester lachte kurz und schneidend auf, ein Lachen, in dem nichts mehr von seiner gewohnten Milde zu hören war.

»Ich folgere daraus eben das, was Sie noch vor wenigen Minuten für so lächerlich und unmöglich gehalten haben.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich werde die Verteidigung auf der Tatsache aufbauen, daß der Staatsanwalt eine Glatze hat!«

»O Gott!« sagte der Detektiv leise. Seine Gestalt straffte sich; er begann zu verstehen.

Pater Brown ließ sich durch das Staunen seines Gegenübers nicht aus der Fassung bringen, und er fuhr in seinem Monolog fort: »Ihr von der Polizei habt in dieser Sache allen möglichen Leuten nachgespürt; ihr habt euch dafür interessiert, was der Dichter, der Diener und der Ire in jener Nacht gemacht haben. Aber über einen habt ihr ganz vergessen, Nachforschungen anzustellen, nämlich über den Ermordeten selbst. Es ist euch gar nicht aufgefallen, daß der Diener ehrlich erstaunt war über die frühe Rückkehr seines Herrn. Der alte Gwynne war zu einem großen Juristenbankett gegangen, hatte es aber plötzlich verlassen und sich heimbegeben. Es kann ihn nicht etwa ein Unwohlsein befallen haben, denn er hat niemanden um Beistand gebeten; es ist also fast sicher, daß er mit irgendeinem anderen Juristen auf dem Bankett eine berufliche Auseinandersetzung gehabt hat. Wir müssen den Mörder demnach unter seinen Kollegen suchen. Sir Humphrey Gwynne kehrte also zurück und schloß sich in sein Gartenhäuschen ein, wo er geheime Papiere und Dokumente mit belastendem Material aufbewahrte. Der Kollege wußte, daß diese Dokumente auch gegen ihn etwas enthielten, und nachdem der Streit ausgebrochen war, mußte er befürchten, daß Richter Gwynne es gegen ihn verwenden würde. So folgte er seinem Feind, auch er im Abendanzug, nur dazu mit einem Revolver in der Tasche. Das ist alles. Kein Mensch hätte dies je erraten können, wenn nicht der Spiegel gewesen wäre.«

Er sah einen Augenblick versonnen vor sich hin, dann fügte er hinzu:

»So ein Spiegel ist doch ein merkwürdiges Ding, ein Rahmen, der Hunderte verschiedener Bilder faßt. Sie leuchten auf und verschwinden dann für immer. Aber mit dem Spiegel, der am Ende des grauen Korridors unter der grünen Palme hing, hatte es eine besondere Bewandtnis. Wie bei einem Zauberspiegel ist das Bild, das er aufgenommen hat, nicht verschwunden; selbst nachdem der Spiegel nicht mehr war hin das Bild noch wie ein Gespenst im Zwielicht des alten Hauses, wie ein geheimes Zeichen. Wir können sogar in dem leeren Rahmen das Bild noch heraufbeschwören, das — Sir Arthur gesehen hat. Übrigens, in einem hatten Sie recht, als Sie vorhin über den Staatsanwalt sprachen.«

»Na also, wenigstens etwas«, sagte Bagshaw, indem er gute Miene zum bösen Spiel machte. »Und womit hatte ich recht?«

»Sie sagten, daß Sir Arthur sicherlich gute Gründe für seinen Wunsch haben müßte, Orm gehängt zu sehen.«

___________

Eine Woche später traf der Priester den Detektiv wieder. Von ihm erfuhr er, das Gericht habe auf Grund der von Pater Brown vorgebrachten Argumente bereits neue Erhebungen angestellt, diese seien aber durch ein aufsehenerregendes Ereignis unterbrochen worden.

»Sir Arthur Travers…« begann Pater Brown.

»Sir Arthur Travers ist tot«, sagte Bagshaw kurz.

»So!« Pater Browns Stimme klang etwas heiser. »Hat er…?«

»Ja«, antwortete Bagshaw, »er hat wieder auf denselben Mann geschossen, aber dieses Mal nicht in den Spiegel.«

Der Mann mit den zwei Bärten

Diese Geschichte erzählte Pater Brown dem berühmten Kriminologen Professor Crake nach Tisch in einem Klub, wo sie einander vorgestellt worden waren, weil sie ja beide das Steckenpferd der Beschäftigung mit Mord und Totschlag ritten. Angeregt wurde Pater Brown zu seiner Erzählung durch eine kleine Kontroverse, bei der der Professor mit seinem ganzen wissenschaftlichen Geschütz auffuhr, während der Priester sich reichlich skeptisch zeigte.

»Aber, mein lieber Herr«, sagte der Professor protestierend, »glauben Sie wirklich nicht, daß die Kriminologie eine Wissenschaft ist?«

»Ich möchte es nicht mit Bestimmtheit behaupten«, erwiderte Pater Brown. »Eine Gegenfrage: Glauben Sie, daß die Hagiologie eine Wissenschaft ist?«

»Was soll denn das heißen?« fragte der Verbrecherspezialist in spitzem Ton.

»Nun, nichts für ungut«, meinte der Geistliche lächelnd. »Man versteht darunter das Studium heiliger Personen und Dinge. Das ›finstere Mittelalter‹ hat nämlich versucht, eine Wissenschaft über gute Menschen zu begründen, während unser ach so humanes und aufgeklärtes Zeitalter sich anscheinend nur für schlechte Menschen interessiert. Wir von der Kirche wollen von einem Menschen beweisen, daß er ein Heiliger gewesen ist. Sie hingegen, fürchte ich, legen es darauf an, zu beweisen, daß ein Mensch ein Mörder ist.«

»Nun, jedenfalls glaube ich, daß sich die Mörder ganz gut klassifizieren lassen«, bemerkte Crake. »Das Schema ist zwar etwas umfangreich und trocken, aber es ist, wie ich glaube, durchaus erschöpfend. Zuerst einmal kann man alles Töten in rationales und irrationales einteilen. Nehmen wir das letzte zuerst, weil es bedeutend seltener vorkommt. Es gibt so etwas wie eine abstrakte Mordlust, einen Trieb zum Töten. Es gibt eine Art irrationaler Antipathie, obschon sie selten zu einem Mord führt. Dann kommen wir zu den eigentlichen Motiven, die teilweise wieder weniger rational sein können, weil sie sich entweder auf längst Vergangenes beziehen oder aus einer — sagen wir — überspannten Veranlagung resultieren. Reine Racheakte sind beispielsweise meist völlig sinnlos. So wird ein Liebhaber etwa seinen Nebenbuhler töten, obwohl er genau weiß, daß er nie an dessen Stelle treten wird.

Meist jedoch liegen solchen Morden ganz vernünftige Erwägungen zugrunde, das heißt, die Mörder hoffen, mit ihrer Tat irgendein Ziel zu erreichen. In die zweite Abteilung — Verbrechen aus vernünftiger Überlegung — gehören die meisten Morde. Auch hier gibt es zwei Kategorien: Entweder mordet jemand, um sich den Besitz eines anderen anzueignen, oder er mordet, um den anderen an einem bestimmten Handeln zu hindern, beispielsweise einen Erpresser oder einen politischen Gegner oder auch einen Ehemann oder eine Ehefrau, deren Weiterleben sich mit anderen Interessen nicht mehr vereinbaren läßt. Ich halte diese Klassifizierung für ziemlich lückenlos und glaube, daß sie, richtig angewandt, alle vorkommenden Fälle umfaßt. Aber wenn man das so erzählt, klingt es etwas sehr farblos. Ich hoffe, daß ich Sie nicht langweile.«

»Nicht im mindesten«, entgegnete Pater Brown. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich nicht ganz bei der Sache zu sein schien. Ich mußte nämlich gerade an einen Mann denken, dem ich vor Jahren einmal begegnet bin. Er war ein Mörder; aber leider ist mir nicht ganz klar, in welcher Abteilung Ihres Mördermuseums er Platz finden könnte. Er war weder verrückt, noch machte ihm das Morden Spaß. Er haßte sein Opfer nicht, er kannte den Mann kaum und hatte sicherlich keinen Anlaß, an ihm Rache zu nehmen. Der Ermordete besaß nichts, was den Mörder irgendwie hätte verlocken können, und er stand ihm auch nicht im geringsten im Wege, er konnte ihm weder schaden noch ihn irgendwie behindern. Es war weder eine Frau im Spiel, noch lag ein politischer Beweggrund vor. Dieser Mann hat einen Mitmenschen getötet, der ihm völlig fremd war, und dazu aus einem sehr sonderbaren Beweggrund, der vielleicht in der menschlichen Geschichte einzigartig ist.«

Und so erzählte er in seinem gemütlichen Plauderton folgende Geschichte, die an einem ziemlich respektablen Ort beginnt, nämlich am Frühstückstisch einer in einem Vorort von London wohnenden achtbaren, obschon reichen Familie namens Bankes. Anstatt wie üblich die neuesten Zeitungsmeldungen zu besprechen, unterhielt man sich dort an diesem Tag über ein Ereignis, das in der unmittelbaren Nachbarschaft vorgefallen war. Man sagt solchen Leuten oft fälschlicherweise nach, sie hätten nichts anderes zu tun, als zu klatschen. Aber in diesem Punkt sind sie erstaunlich unschuldig. Auf dem Dorf erzählen sich die Bauern noch wahre oder falsche Geschichten über ihre Nachbarn, aber die merkwürdigen Kulturmenschen der modernen Großstadt, die zwar alles glauben, was in der Zeitung über die Schlechtigkeit des Papstes oder den Heldentod eines Kannibalenhäuptlings steht, erfahren in der Aufregung über so viele interessante Neuigkeiten gar nicht, was im Nachbarhause vor sich geht. Die Nachricht aber, die an diesem Tag soviel Aufregung brachte, stammte nicht nur aus der Zeitung, sie betraf sogar die Familie unmittelbar, war doch in ihrem Leib- und Magenblatt der Stadtteil erwähnt worden, in dem sie wohnten. Jetzt erst waren auch sie etwas, denn der Name ihres Stadtteils hatte in der Zeitung gestanden! Dadurch waren sie genauso gegenständlich und wirklich geworden wie jener Kannibalenhäuptling.

In der Zeitung wurde berichtet, daß ein ehemals berüchtigter Verbrecher, der unter dem Namen Michael Moonshine und mancherlei anderen Namen, auf die er wahrscheinlich ebensowenig Anspruch hatte, vor einigen Jahren die Welt in Atem gehalten hatte, nach Verbüßung einer langjährigen Strafe aus dem Zuchthaus entlassen worden sei. Seinen derzeitigen Aufenthaltsort wisse man nicht, doch nehme man allgemein an, daß er sich in dem fraglichen Stadtteil — sagen wir Chisham — niedergelassen habe. Im Anschluß an diese Notiz folgte eine Zusammenstellung einiger seiner berühmtesten und tollsten Stückchen und Ausbrüche; denn es ist charakteristisch für die Tageszeitung, daß sie stets annimmt, der Leser habe kein Gedächtnis. Es ist ja in der Tat so. Während die Landbevölkerung das Andenken an einen Strauchdieb wie Robin Hood jahrhundertelang bewahrt, wird der Büromensch der Großstadt sich kaum an den Namen eines Verbrechers erinnern, über den er erst vor zwei Jahren in der Straßenbahn oder Untergrundbahn heftig diskutiert hat. Und doch hatte Michael Moonshine auch etwas von der heroisch-frechen Unbekümmertheit eines Robin Hood an sich, und er hätte es durchaus verdient, in die Legende und nicht nur in die Zeitungsspalten einzugehen. Er war als Einbrecher viel zu geschickt, um je zum Mörder zu werden. Seine Bärenkraft, die ihn einen Polizisten wie einen Kegel umwerfen ließ, mit der er seine Opfer bewußtlos schlug, um sie dann zu fesseln und zu knebeln, und die Tatsache, daß er nie jemanden tötete, legten einen Schleier des Geheimnisses und des Grauens um Michael Moonshine. Man hatte beinahe das Gefühl, er würde menschlicher gehandelt haben, wenn er getötet hätte.

Herr Simon Bankes, das Oberhaupt besagter Familie, war besser belesen und nicht so modern vergeßlich wie die anderen Familienmitglieder. Er war von gedrungener Gestalt, trug einen kurzen, grauen Bart und hatte eine von Falten durchzogene Stirn. Ein Freund von Anekdoten, hing er gern und oft vergangenen Dingen nach; noch ganz deutlich erinnerte er sich der Zeit, da Michael Moonshine ganz London in Atem gehalten hatte. Ihm gegenüber saß seine Frau, hager und schwarz. Sie war von einer Art bissiger Eleganz, denn ihre Familie hatte viel mehr Geld als die ihres Mannes, dafür aber auch bedeutend weniger Bildung. Frau Bankes hatte oben in ihrem Zimmer sogar ein sehr kostbares Smaragdhalsband liegen, weshalb sie bei einer Unterhaltung über Diebe das erste Wort führen zu müssen meinte. Ferner war da Opal, ihre Tochter, ebenfalls schwarz und hager; es hieß von ihr, sie sei hellseherisch veranlagt — zumindest hielt sie sich selbst dafür, schon um ihre geringe Neigung zu haushälterischen Pflichten zu rechtfertigen. (Jungen Mädchen, die gern mit der Geisterwelt verkehren, kann man nur den guten Rat geben, sich nicht als Mitglieder einer großen Familie zu materialisieren.) Neben ihr saß ihr Bruder John, ein dicker, stämmiger Bursche, der seine Gleichgültigkeit gegenüber den spirituellen Fähigkeiten seiner Schwester gerne in lärmenden Ausführungen an den Tag legte und sich außerdem nur durch sein Interesse für Autos auszeichnete. Immer war er offenbar gerade dabei, einen alten Wagen zu verkaufen und dafür einen neuen anzuschaffen; durch ein äußerst merkwürdiges, allen volkswirtschaftlichen Theorien hohnsprechendes Verfahren gelang es ihm auch stets, durch den Verkauf eines beschädigten oder außer Mode gekommenen Wagens ein viel besseres, funkelnagelneues Modell einzuhandeln. Der nächste im trauten Familienkreise war sein Bruder Philipp, ein junger Mann mit schwarzem Lockenhaar, der dadurch hervorstach, daß er großen Wert auf tadellose Kleidung legte — was zweifelsohne zu den Pflichten eines Bankangestellten gehört, aber, wie sein Prinzipal oft undnachdrücklich zu betonen pflegte, sicherlich nicht als einzige Aufgabe eines Bankangestellten angesehen werden kann. Schließlich war noch Philipps Freund Daniel Devine anwesend, ebenfalls schwarzhaarig, ebenfalls tadellos gekleidet; er trug jedoch einen Bart, der ziemlich ausländisch und deshalb für manche Leute etwas verdächtig aussah.

Dieser Devine hatte die Zeitungsmeldung aufs Tapet gebracht, um damit taktvoll einer Auseinandersetzung ein Ende zu machen, die wie der Anfang einer kleinen Familienzwistigkeit aussah; denn die medial veranlagte Tochter hatte gerade begonnen, eine ihrer Visionen zu beschreiben: wie in stockdunkler Nacht bleiche Gesichter vor ihrem Fenster hin und her schwebten. Daraufhin hatte ihr Bruder John versucht, diese Offenbarung eines höheren seelischen Zustandes mit noch größerer Herzlichkeit, als man sonst bei ihm gewöhnt war, niederzubrüllen.

Die Zeitungsnotiz jedoch über den neuen und womöglich gefährlichen Nachbarn bereitete dem Streitfall ein rasches Ende.

»Wie schrecklich!« rief Frau Bankes. »Er ist sicherlich erst vor ganz kurzer Zeit in unserem Viertel zugezogen; aber wer könnte es denn sein?«

»Neu ist hier, soviel ich weiß, nur Sir Leopold Pulman in Beechwood House«, bemerkte Herr Bankes.

»Du scherzest wohl, mein Lieber«, erwiderte die Dame des Hauses spitz. »Wie kann man nur so etwas sagen! Sir Leopold!« Und nach einer kurzen Pause setzte sie hinzu: »Verdächtiger erscheint mir eher sein Sekretär — jener Kerl mit dem Backenbart. Seitdem er die Stelle erhalten hat, die eigentlich unser Philipp hätte bekommen sollen, sage ich immer…«

»Nichts zu machen«, steuerte Philipp lässig seinen einzigen Beitrag zur Unterhaltung bei. »War mir nicht gut genug.«

»Ich kenne nur einen Mann, der neu zugezogen ist«, bemerkte Devine, »nämlich jenen Carver, der auf Smith’ Hof beschäftigt ist. Er lebt sehr zurückgezogen, aber man kann sich trotzdem recht gut mit ihm unterhalten. Meines Wissens hat John auch schon mit ihm zu tun gehabt.«

»Er kennt sich ein bißchen in Autos aus«, gab der autobesessene John zu. »Und er wird noch einiges dazulernen, wenn er erst mal in meinem neuen Wagen gesessen hat.«

Devine verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Alle waren sie von John mit einer Einladung zu einer Fahrt in seinem neuen Wagen bedroht worden. Dann meinte er nachdenklich: »Ich bin mir nicht ganz im klaren über diesen Mann. Er weiß allerhand vom Autofahren, muß viel gereist sein und kennt sich auch im praktischen Leben aus, und doch geht er nie aus und stolpert nur um die Bienenkörbe des alten Smith herum. Er behauptet, er interessiere sich nur für Bienenzucht und bleibe aus diesem Grunde bei Smith. Für einen Mann seiner Art scheint mir dies ein reichlich langweiliges Hobby zu sein. Aber ich bin sicher, daß Johns Wagen ihn ein bißchen aufmuntern wird.«

Als Devine am späten Nachmittag das Haus verließ, zeigte sich auf seinem dunklen Gesicht der Ausdruck angestrengten Nachdenkens. Wir wollen an dieser Stelle seinen sicherlich recht interessanten Gedankengang nicht weiter verfolgen; auf jeden Fall faßte er schließlich den Entschluß, sofort das Gut des Mr. Smith aufzusuchen, um Herrn Carver einen Besuch abzustatten. Auf dem Wege dorthin begegnete er Herrn Barnard, dem Sekretär von Sir Leopold Pulman. Er erkannte ihn sofort an seiner schmächtigen Gestalt und seinem Backenbart, den Frau Bankes als eine persönliche Beleidigung empfand. Devine und Barnard waren nur oberflächlich miteinander bekannt, und so beschränkte sich ihre Unterhaltung auf wenige Worte. »Verzeihen Sie meine Frage«, wandte sich Devine ohne lange Einleitung an Barnard, »stimmt es, daß Lady Pulman sehr wertvolle Juwelen im Haus hat? Nicht, daß ich die Absicht hätte, gelegentlich nachts einzusteigen, aber ich habe gerade erfahren, daß sich in unserer Gegend ein professioneller Dieb herumtreibt.«

»Ich werde Lady Pulman raten, ein wachsames Auge auf ihren Schmuck zu haben«, entgegnete der Sekretär. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich habe mir bereits erlaubt, sie zu warnen, und hoffe, daß sie sich das zu Herzen genommen hat.«

In diesem Augenblick ertönte hinter ihnen das häßliche Aufheulen einer Autohupe. Unmittelbar neben ihnen kam der Wagen zum Stehen, und Johns grinsendes Gesicht tauchte hinter dem Steuerrad auf. Als er hörte, wohin Devine wollte, behauptete er, auch er habe dasselbe Ziel, doch konnte man ihm deutlich anmerken, daß dies nur ein Vorwand war, ein Opfer für seinen Wagen zu finden. Also stieg Devine ein und mußte nun die ganze Fahrt über die überschwenglichen Lobsprüche Johns auf seinen Wagen anhören, der dieses Mal besonders wegen seiner Wetterfestigkeit gerühmt wurde.

»Schließt so dicht ab wie ein Geldschrank und läßt sich so leicht öffnen, wie — wie man den Mund auftut.«

Devines Mund schien jedoch zu dieser Stunde nicht gerade leicht zu öffnen, und John fuhr in seinem Monolog fort, bis sie auf Smith’ Gut ankamen. Als sie das äußere Tor durchfuhren, wurde Devine sofort des Mannes ansichtig, den er aufsuchen wollte, und so brauchte er nicht erst in das Haus zu gehen. Der Gesuchte ging, die Hände in den Taschen, einen großen, weichen Strohhut auf dem Kopf, im Garten spazieren. Sein Gesicht war schmal, sein Kinn kräftig; die breite Hutkrempe warf auf den oberen Teil seines Gesichtes einen Schatten, der fast wie eine Maske aussah. Im Hintergrund beleuchtete die Sonne eine Reihe von Bienenkörben, an denen ein älterer Mann, vermutlich Herr Smith, in Begleitung eines kleinen, dicken, schwarzgekleideten Geistlichen entlangschritt.

»Hallo!« rief der stürmische John, noch ehe Devine Gelegenheit gehabt hatte, sich mit einer höflichen Begrüßung vorzustellen. »Ich habe jetzt meinen Wagen dabei, da können wir mal ein bißchen durch die Gegend brausen. Sagen Sie selbst, ist das nicht ein tolles Modell?«

Herrn Carvers Mund umspielte ein Lächeln, das wohl liebenswürdig sein sollte, aber ziemlich grimmig aussah: »Ich fürchte, ich werde heute abend zuviel zu tun haben, um eine Spazierfahrt machen zu können.«

»Donnerwetter!« bemerkte Devine. »Ihre Bienen müssen aber gewaltig fleißig sein, wenn Sie sogar des Nachts nicht von den Bienenstöcken wegkommen. Es würde mich doch interessieren…«

»Was?« fragte Carver in kühlem, herausforderndem Ton.

»Nun«, sagte Devine, »ein Sprichwort sagt, man soll Heu machen, solange die Sonne scheint. Vielleicht machen Sie Honig, während der Mond scheint.«

Im Schatten des breitkrempigen Hutes blitzte es auf, und man sah das Weiße in den Augen des Geheimnisvollen.

»Vielleicht gehört auch Mondschein zu diesem Geschäft«, meinte er. »Aber ich warne Sie: Meine Bienen liefern nicht nur Honig, sie stechen auch!«

»Wollen Sie nun mitfahren oder nicht?« fragte John ungeduldig. Aber Carver, obwohl er jetzt viel freundlicher war und die dunklen Andeutungen, mit denen er Devines Fragen beantwortet hatte, schon wieder vergessen zu haben—schien, blieb fest bei seiner Ablehnung.

»Ich kann jetzt unmöglich weggehen«, sagte er. »Ich habe noch eine Menge zu schreiben. Vielleicht sind Sie aber so freundlich und laden einen der Herren hier ein, wenn Sie schon unbedingt Gesellschaft haben wollen. Da sind sie schon: Herr Smith und Pater Brown.«

»Selbstverständlichl« rief John. »Steigen Sie nur ein, meine Herren!«

»Haben Sie vielen Dank für Ihre freundliche Einladung«, sagte Pater Brown, »aber leider muß ich ablehnen, denn ich muß jetzt gleich zur Abendandacht.«

»Aber Herr Smith wird sicherlich nicht ablehnen«, meinte Carver fast ungeduldig. »Herr Smith wird sich sicher freuen, wenn er mal Auto fahren kann.«

Smith verzog zwar seinen Mund zu einem breiten Lachen, schien aber nicht die geringste Lust zu dieser oder einer ähnlichen Lustbarkeit zu haben. Er war ein rüstiger, kleiner Herr und trug eine jener ehrbaren Perücken, die genausowenig auf dem Kopf gewachsen erscheinen wie ein Hut. Ihre gelbliche Farbe stach stark gegen sein biasses Gesicht ab. Smith schüttelte den Kopf und sagte liebenswürdig, aber entschlossen:

»O danke, nein; ich kann mich noch ganz gut erinnern, wie ich vor zehn Jahren einmal in einem solchen Karren von Holmgate, wo meine Schwester wohnt, hierher gefahren bin. Seither bringen mich keine zehn Pferde mehr in ein solches Vehikel. Mir langt’s noch, wie ich damals durcheinandergerüttelt worden bin.«

»Na ja, vor zehn Jahren!« rief John Bankes geringschätzig. »Ebensogut können Sie sagen, daß Sie vor zweitausend Jahren in einem Ochsenkarren gefahren sind. Glauben Sie denn, die Autos hätten sich in den zehn Jahren nicht verändert? In meinem Straßenkreuzer merken Sie gar nicht, daß sich die Räder drehen. Da meinen Sie direkt, Sie fliegen.«

»Ich bin davon überzeugt, daß Herr Smith gerne einmal fliegen würde«, sagte Carver drängend. »Es ist der Traum seines Lebens. Los, Smith, fahren Sie doch nach Holmgate hinüber, und machen Sie Ihrer Schwester einen Besuch. Sie haben doch schon lange vor, sie einmal zu besuchen. Fahren Sie mit; Sie können ja vielleicht die Nacht über bei Ihrer Schwester bleiben.«

»Ich gehe gewöhnlich zu Fuß nach Holmgate und bleibe auch meist die Nacht über dort«, bemerkte der alte Smith. »Es ist also nicht im mindesten nötig, ausgerechnet heute den Herrn mit seinem Auto zu inkommodieren.«

»Aber bedenken Sie doch, wie sehr sich Ihre Schwester freuen wird, wenn sie Sie in einem Auto ankommen sieht!« rief Carver. »Machen Sie ihr doch die Freude, und seien Sie kein Egoist!«

»Richtig«, stimmte John zu und strahlte den Alten wohlwollend an. »Seien Sie doch kein Egoist, sondern machen Sie Ihrer Schwester die Freude. Es wird Ihnen bestimmt nichts passieren. Oder haben Sie etwa Angst?«

Smith dachte einige Augenblicke lang nach. Dann meinte er: »Na gut, ich will kein Egoist sein, und Angst habe ich auch keine, das können Sie mir glauben. Wenn Sie die Sache so hinstellen, dann komme ich mit.«

Die beiden fuhren ab. Die Zurückbleibenden winkten ihnen nach — anscheinend so fröhlich, als werde ein vergnügliches Ereignis gefeiert. Während aber Devine und der Priester nur aus Höflichkeit mittaten, sah es aus, als ob Carver dem Alten ein endgültiges Lebewohl zuwinkte. Einen Augenblick lang spürten beide die eigentümliche Kraft, die von der Persönlichkeit dieses Mannes ausging.

Sobald der Wagen außer Sicht war, wandte sich Carver ihnen zu und sagte nur kurz und bündig: »So!«

Es war eine herzliche Aufforderung, die aber das genaue Gegenteil einer Einladung darstellte und etwa besagte: Und nun macht, daß ihr wegkommt!

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Devine. »Wir dürfen den eifrigen Bienenvater nicht stören. Leider verstehe ich von Bienen nur wenig; ich kann eine Biene kaum von einer Wespe unterscheiden.«

»Ich habe auch schon Wespen gehalten«, antwortete der geheimnisvolle Herr Carver.

Kaum waren sie auf der Straße, als Devine plötzlich zu seinem Begleiter meinte: »Eine recht merkwürdige Sache, finden Sie nicht auch?«

»Ja«, entgegnete Pater Brown. »Was halten Sie eigentlich von der Geschichte?«

Devine sah den kleinen Mann im schwarzen Rock an. Etwas im Blick seiner großen, grauen Augen ließ die Sorge, die er heute schon einmal gehabt hatte, neu aufleben. »Ich glaube«, sagte er, »daß es Carver sehr darum zu tun war, das Haus heute nacht für sich allein zu haben. Ist Ihnen das nicht aufgefallen, und haben Sie sich nicht auch schon Gedanken darüber gemacht?«

»Vielleicht habe ich mir meine Gedanken gemacht«, erwiderte der Priester, »aber ich weiß nicht, ob sie sich in derselben Richtung bewegen wie die Ihrigen.«

___________

Als an diesem Abend das letzte Grau der Dämmerung im Garten in der schwarzen Dunkelheit der Nacht versank, wanderte Opal Bankes durch die finsteren, leeren Räume ihres Elternhauses. Noch mehr als sonst waren ihre Gedanken der Wirklichkeit abgekehrt, und ein aufmerksamer Beobachter hätte bemerkt, daß ihr bleiches Gesicht noch blasser war als gewöhnlich. Das Haus war zwar mit gutbürgerlichem Luxus eingerichtet, wirkte als Ganzes gesehen aber doch trostlos: Es strömte jene geradezu greifbare Melancholie aus, die nicht so sehr von alten, wie von veralteten Sachen ausgeht. Die Räume beherbergten ein Sammelsurium aus der Mode gekommener Dinge in längst überholten Stilen. Hier und da brachten bunte Glasvasen aus der frühviktorianischenzeit einen Farbschimmer in das trübe Zwielicht. Durch die hohen Decken wirkten die langen Zimmer schmal, und am Ende des Raumes, durch den Opal Bankes jetzt gerade ging, war ein rundes Fenster, wie man es in Häusern jener Zeit nicht selten findet. In der Mitte des Zimmers angelangt, blieb sie plötzlich stehen — sie schwankte, als hätte ihr eine unsichtbare Hand ins Gesicht geschlagen.

Einen Augenblick später hörte sie durch die geschlossenen Zimmertüren ein gedämpftes Klopfen an der Haustür. Obwohl sie wußte, daß die übrigen Eamilienmitglieder sich in den oberen Räumen des Hauses aufhielten, fühlte sie sich durch eine ihr selbst unerklärliche Macht getrieben, selbst die Haustür zu öffnen. Auf der Schwelle stand — im Dämmer verschwommen — eine kleine Gestalt in Schwarz. Sofort erkannte Opal den katholischen Priester namens Brown. Sie war mit ihm nur ganz oberflächlich bekannt; immerhin war er ihr nicht unsympathisch. Nicht etwa, daß Pater Brown ihren spiritistischen Neigungen Vorschub geleistet hätte — ganz im Gegenteil. Aber er tat sie nicht lediglich mit einer Handbewegungab als etwas Uninteressantes, sondern schenkte ihnen ernste Beachtung. Es war also nicht so, daß er für ihre Ansichten kein Verständnis hatte, aber er war mit ihnen nicht einverstanden. All diese Gedanken fuhren ihr nun blitzschnell durch den Kopf, als sie, ohne Pater Brown zu begrüßen oder zu fragen, was ihn herführe, ihn ansprach:

»Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Ich habe einen Geist gesehen.«

»Darüber brauchen Sie nicht beunruhigt zu sein«, entgegnete Pater Brown. »Das passiert oft. Die meisten Geister sind überhaupt keine Geister, und die paar, die vielleicht echt sind, werden Ihnen sicherlich nichts Böses tun. War es ein besonderer Geist?«

»Nein«, gestand sie mit einem vagen Gefühl der Erleichterung. »Die Erscheinung wirkte eigentlich gar nicht wie ein Geist, sondern eher wie eine Verkörperung scheußlicher Verwesung, wie das unheimliche Phosphoreszieren morscher Baumstämme. Es war ein Gesicht. Ein Geist am Fenster. Es glotzte bleich zum Fenster herein und sah aus wie der leibhaftige Judas.«

»Ja, es gibt Leute, die so aussehen«, meinte der Priester nachdenklich, »und sie blicken auch wohl zuweilen ins Fenster. Darf ich hereinkommen und mir das Zimmer einmal ansehen?«

Als sie jedoch mit dem Besucher in das Zimmer zurückkehrte, hatten sich dort schon andere Mitglieder der Familie versammelt, die mit der Geisterwelt nicht auf so vertrautem Fuß standen, und hatten das Licht angedreht. In Gegenwart der Hausfrau befleißigte sich Pater Brown der ausgesuchtesten Höflichkeit und entschuldigte sich wegen seines Eindringens.

»Seien Sie mir bitte nicht böse, gnädige Frau, wenn ich Sie noch zu so später Abendstunde belästige«, sagte er. »Aber ich denke, Sie werden sofort verstehen, daß das, was mich hierherführt, auch Sie betrifft. Ich war eben bei Pulmans drüben, als ich angerufen und gebeten wurde, sofort hierherzugehen, um hier auf einen Mann zu warten, der Ihnen eine für Sie sicherlich wichtige Mitteilung zu machen hat. Ich hätte sonst gewiß nicht mehr gestört, aber anscheinend wünscht man meine Anwesenheit, weil ich zufällig Zeuge der Vorgänge im Hause Pulman gewesen bin. Ich habe nämlich Alarm geschlagen.«

»Was ist denn passiert?« fragte die Dame des Hadses atemlos.

»Es ist drüben ein Einbruch verübt worden«, sagte Pater Brown ernst, »bei dem, wie ich fürchte, Lady Pulmans Juwelen gestohlen worden sind. Und ihr unglücklicher Sekretär, Herr Barnard, ist tot im Garten aufgefunden worden. Offensichtlich hat ihn der Einbrecher niedergeschossen, als Barnard ihn auf der Flucht aufhalten wollte.«

»Aber ich dachte doch«, rief Frau Bankes erstaunt, »daß gerade der Sekretär…«

Sie begegnete dem ernsten Blick des Priesters, und plötzlich verstummte sie.

»Ich habe mich mit der Polizei und mit noch jemandem, der an diesem Fall interessiert ist, in Verbindung gesetzt«, fuhr Pater Brown in seinem Bericht fort. »Wie man mir mitteilte, hat man schon bei einer oberflächlichen Untersuchung Fußspuren und Fingerabdrücke gefunden, die zusammen mit anderen Kennzeichen auf einen wohlbekannten Verbrecher hinweisen.«

An diesem Punkt wurde sein Bericht durch die Rückkehr John Bankes’ unterbrochen. Die Autofahrt schien kein gutes Ende genommen zu haben. Der alte Smith war doch wohl ein recht unerfreulicher Fahrgast gewesen.

»Der feige Kerl hat es mit der Angst bekommen«, verkündete John mit lauter Entrüstung. »Ist ausgenssen, wahrend ich einen Reifen untersuchte So einen dummen Bauern werde ich noch mal mitnehmen…«

Aber niemand schenkte ihm und seinem Lamento Beachtung. Alles stand um den Priester herum und lauschte gespannt seinem Bericht. Pater Brown fuhr mit der gleichen Zurückhaltung fort: »Es wird gleich jemand kommen, der mich hier ablösen wird. Wenn ich Ihnen diesen Mann vorgestellt habe, werde ich meine Pflicht als Zeuge in dieser traumigen Angelegenheit erfüllt haben. Ich möchte nur noch erwähnen, daß mir ein Dienstmädchen im Hause Pulman gesagt hat, sie habe an einem der Fenster ein Gesicht gesehen…«

»Ich habe auch ein Gesicht gesehen, und zwar hier im Haus vor einem unserer Fenster«, sagte Opal.

»Du siehst ja überall Gesichter«, bemerkte ihr Bruder John grob.

»Es ist immer gut, wenn man Tatsachen zu sehen vermag, auch wenn es sich um Gesichter handelt«, sagte Pater Brown, »und ich glaube, das Gesicht, das Sie gesehen haben…«

Er wurde unterbrochen durch ein Klopfen an der Haustür. Bald darauf wurde die Zimmertür geöffnet, und ein weiterer Besucher trat ein. Devine fuhr erstaunt aus seinem Sessel hoch, als er den Neuankömmling erblickte.

Es war ein großer, straff aufgerichteter Mann mit einem schmalen, leichenblassen Gesicht, das in einem mächtigen Kinn endete. Die hohe Stirn und die strahlend blauen Augen waren früher, als Devine den Mann zuerst gesehen hatte, durch einen breitkrempigen Strohhut verdeckt gewesen.

»Bleiben Sie doch bitte ruhig sitzen«, sagte der Mann, der sich Carver nannte, klar und höflich. Aber für den armen, verwirrten Devine hatte die Höflichkeit eine verdächtige Ähnlichkeit mit der eines Straßenräubers, der eine Menschengruppe mit der Pistole in Schach hält.

»Setzen Sie sich doch bitte, Herr Devine«, sagte Carver, »und wenn Frau Bankes erlaubt, werde ich Ihrem Beispiel folgen. Ich möchte Ihnen erklären, warum ich hier bin. Ich glaube, Sie hatten mich im Verdacht, ein berühmter Einbrecher zu sein.«

»Allerdings«, meinte Devine grimmig.

»Wie Sie selbst zu sagen beliebten«, sagte Carver, »ist es nicht immer leicht, eine Wespe von einer Biene zu unterscheiden.«

Nach einer Pause fuhr er fort: »Ich kann wohl von mir sagen, daß ich zu den nützlicheren, wenngleich ebenso lästigen Insekten gehöre. Ich bin Detektiv und habe mich hier aufgehalten, um nach dem Verbrecher zu fahnden, der den Namen Moonshine führt, denn man hatte uns berichtet, er habe seine Tätigkeit wieder aufgenommen. Juwelendiebstähle waren seine Spezialität, und drüben im Hause Pulman ist gerade ein solcher Diebstahl ausgeführt worden. Alle Spuren weisen auf Moonshine als den Täter hin. Nicht nur stimmen die Fingerabdrücke mit den seinen überein; wir haben noch etwas anderes in Erfahrung gebracht, das einwandfrei auf Moonshine hinweist. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß er sich, als er das letzte Mal festgenommen wurde und wahrscheinlich auch schon bei früheren Anlässen, auf eine ebenso einfache wie wirksame Weise unkenntlich gemachthat, nämlich durch einen roten Bart und eine große Hornbrille.«

Opal Bankes lehnte sich mit brennenden Augen vor.

»Ja, das stimmt genau!« rief sie aufgeregt. »Dieses Gesicht habe ich gesehen, ein Gesicht mit einer großen Brille und einem roten, zerzausten Judasbart. Ich habe gemeint, es sei ein Geist.«

»Denselben Geist hat auch das Dienstmädchen bei Pulmans gesehen«, entgegnete Carver trocken.

Er legte einige Papiere und Päckchen vor sich auf den Tisch und begann, sie sorgfältig auseinanderzufalten. »Wie gesagt«, fuhr er fort, »ich wurde hierhergeschickt, um diesem Moonshine nachzuspüren. Darum habe ich mich für die Bienenzucht interessiert und bin zu Herrn Smith gezogen.«

Keiner sagte etwas. Schließlich fuhr Devine auf: »Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß dieser nette, alte Mann…«

»Hören Sie mal, Herr Devine«, unterbrach ihn Carver lächelnd, »Sie glaubten, der Bienenstand sei nur ein Versteck für mich gewesen. Warum sollte er nicht auch für ihn ein Versteck sein?«

Devine nickte düster vor sich hin, und der Detektiv wandte sich wieder seinen Papieren zu. »Da ich also Smith im Verdacht hatte, wollte ich ihn aus dem Hause haben, um in Ruhe seine Sachen durchsuchen zu können. Dabei kam mir Herrn Bankes’ freundliche Einladung sehr zustatten, und deshalb habe ich Herrn Smith auch so ermuntert, doch mitzufahren. Als ich nun das Haus untersuchte, fand ich einige Sachen, die man bei einem alten, scheinbar nur an Bienenzucht interessierten Landmann nicht hätte vermuten sollen. Unter anderem habe ich dies hier gefunden.« Und er zog aus einem der Päckchen einen langen, fast scharlachroten Gegenstand hervor — einen Bart, wie er auf der Bühne getragen Wird. Und daneben lag eine alte, schwere Hornbrille.

»Ich habe aber außerdem etwas gefunden«, fuhr Carver fort, »das in engerer Beziehung zu diesem Haus steht und deshalb sicherlich mein Eindringen zu so später Stunde rechtfertigt. Ich fand nämlich eine Aufstellung über die in der Nachbarschaft vorhandenen Schmucksachen und ihren mutmaßlichen Wert. Gleich nach Lady Pulmans Diadem wird ein Smaragdhalsband erwähnt, das sich im Besitz von Frau Bankes befindet.«

Frau Bankes, die bis jetzt die beiden späten Besucher mit hochmütigem Staunen betrachtet hatte, wurde plötzlich aufmerksam. Sie sah sofort erheblich älter und intelligenter aus. Aber noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte sich schon der stürmische John wie ein trompetender Elefant zu seiner ganzen Höhe aufgereckt. »Das ist ja gut!« brüllte er. »Das Diadem ist bereits weg. Da muß ich doch gleich nachsehen, ob das Halsband nicht auch schon verschwunden ist!«

»Kein schlechter Gedanke«, sagte Carver, als der junge Mann aus dem Zimmer stürzte. »Natürlich haben wir unsere Augen offengehalten, seit wir hier sind, aber die Entzifferung der chiffrierten Liste hat mich doch etwas aufgehalten. Als Pater Brown mich anrief, war ich gerade damit fertig. Ich bat ihn, sofort hierherzugehen und Sie auf die Gefahr aufmerksam zu machen; ich wollte ihm möglichst schnell folgen, und so…«

Ein schriller Schrei unterbrach seine Erklärungen. Opal war aufgesprungen und zeigte starr auf das runde Fenster.

»Da ist es wieder!« rief sie.

Alle Gesichter flogen herum, und für wenige Sekunden sahen sie wirklich etwas — etwas, das die so oft gegen die junge Dame erhobene Beschuldigung, sie sei eine Lügnerin und ein hysterisches Frauenzimmer, zunichte machte. Vor der schieferblauen Dunkelheit draußen hob sich ein Gesicht ab: leichenblaß. Jedenfalls schien es so, weil es gegen die Scheibe gepreßt war. Die weit aufgerissenen, wie mit Ringen umgebenen Augen ließen an einen Fisch denken, der aus dem dunkelblauen Meereswasser durch das Bullauge eines Schiffes glotzt. Kiemen und Flossen dieses seltsamen Fisches waren kupferrot — die entsetzten Betrachter erkannten den brennendroten Bart. Schon im nächsten Augenblick war das Gesicht verschwunden.

Devine war mit einem einzigen Satz auf das Fenster losgestürzt, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Geschrei das Haus erschütterte. Man konnte zwar keine einzige Silbe verstehen, aber Devine erriet sofort, was geschehen war.

»Der Halsschmuck ist weg!« brüllte John Bankes. Er erschien einen Augenblick groß und mächtig in der Tür und verschwand wieder wie ein jagdhund, der die Fährte aufnimmt.

»Den Dieb haben wir eben am Fenster vorbeikommen sehen!« rief der Detektiv, stürzte auf die Tür zu und hinter John her, der bereits im Garten war.

»Vorsicht!« kreischte Frau Bankes. »Diebe haben meistens Waffen bei sich!«

»Ich auch!« kam die Stimme des furchtlosen John aus der Tiefe des Gartens.

Tatsächlich hatte Devine bemerkt, daß der junge Mann drohend einen Revolver in der Hand schwang, als er hinausstürmte, aber er hoffte, er werde es nicht nötig haben, sich zu verteidigen.

Aber kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als zwei Schüsse aufpeitschten, kurz hintereinander, zuerst der eine, dann der andere. Der stille Vorstadtgarten hallte vom Knall wider, dann wurde es ganz still.

»Ob John… tot ist?« fragte Opal mit leiser, zitternder Stimme. Pater Brown war bereits tiefer in den dunklen Garten vorgedrungen. Hier stand er, den Rücken dem Haus zugekehrt, und sah auf den Boden nieder. Er war es, der schließlich antwortete.

»Nein«, sagte er, »es ist der andere.«

Carver war zu ihm getreten, und die beiden Männer, von denen der eine den anderen weit überragte, entzogen den übrigen den Anblick, den ihnen der bleiche, nur ab und zu hinter den jagenden Wolken hervorbrechende Mond ohnehin schwer genug gewährt hätte. Dann traten sie auf die Seite, und die anderen sahen im Mondlicht eine kleine, hagere Gestalt liegen, im Todeskampf verkrümmt und nun starr. Wie eine Anklage flammte der falsche rote Bart zum Himmel empor, und der Mond spiegelte sich in den großen Brillengläsern des Mannes, der zu Lebzeiten den Namen Moonshine geführt hatte — Mondschein.

»Was für ein Ende«, murmelte der Detektiv Carver. »Nach so vielen Abenteuern fast zufällig von einem Effektenmakler in einem Vorstadtgarten niedergeschossen zu werden!«

Der glorreiche Schütze John jedoch genoß seinen Triumph, stolzgeschwellt, wenngleich er eine gewisse Nervosität nicht verbergen konnte.

»Es blieb mir nichts anderes übrig«, stieß er hervor, noch vor Anstrengung keuchend. »Es tut mir leid, daß ich ihn niederschießen mußte, aber er hat zuerst auf mich geschossen.«

»Es wird natürlich eine gerichtliche Untersuchung geben«, sagte Carver. »Aber ich denke, Sie brauchen sich deswegen nicht zu beunruhigen. Aus dem Revolver, der seiner Hand entfallen ist, ist ein Schuß abgegeben worden, und er hat sicherlich nicht mehr geschossen, nachdem er Ihre Kugel im Leib hatte.«

Währenddessen hatten sie sich schon wieder ins Zimmer zurückbegeben, und der Detektiv packte seine Sachen zusammen. Pater Brown stand ihm gegenüber und blickte, wie in tiefes Nachdenken versunken auf den Tisch. Dann sagte er plötzilich:

»Herr Carver, Sie haben diesen Fall in wirklich überragender Weise geklärt. Ich hatte eigentlich kein allzu großes Vertrauen in Ihr routinemäßiges Vorgehen, aber ich bin erstaunt, wie schnell Sie das alles zu einem einheitlichen Bild zusammengefügt haben — die Bienen, den Bart, die Brille, die chiffrierte Liste, den Halsschmuck und all das andere.«

»Es ist immer befriedigend, wenn man einen Fall richtig abzurunden versteht«, bemerkte Carver.

»Sicher«, meinte Pater Brown, noch immer auf den Tisch sehend. »Ich muß sagen, ich bewundere Sie.« Dann setzte er mit einer Ruhe, die einem auf die Nerven gehen konnte, hinzu: »Aber, ehrlich gesagt, ich glaube kein Wort davon.«

Devine wurde plötzlich aufmerksam. Er lehnte sich vor: »Glauben Sie nicht, daß der Einbrecher Moonshine ist?«

»Ich weiß, daß er der Einbrecher ist, aber ich weiß auch, daß er nicht eingebrochen hat«, entgegnete Pater Brown. »Ich weiß, daß er weder zum Haus Pulman noch hierher gekommen ist, um Juwelen zu stehlen oder sich bei ihrem Fortschaffen erschießen zu lassen. Wo sind denn überhaupt die Juwelen?«

»Wahrscheinlich dort, wo sie gewöhnlich in solchen Fällen sind«, sagte Carver. »Er hat sie entweder versteckt oder einem Komplicen übergeben. An diesem Einbruch waren sicherlich mehrere beteiligt. Meine Leute sind eben damit beschäftigt, den Garten zu durchsuchen und die Nachbarn zu warnen.«

»Vielleicht«, äußerte Frau Bankes, »hat der Komplice den Halsschmuck gestohlen, während Moonshine zum Fenster hereinsah.«

»Warum aber hat Moonshine überhaupt zum Fenster hereingesehen?« fragte Pater Brown ruhig. »Welchen Grund könnte er denn gehabt haben, zum Fenster hereinzuschauen?«

»Was glauben Sie denn?« rief John, der seine gute Laune wiedergefunden zu haben schien.

»Ich glaube«, sagte Pater Brown langsam, »daß er niemals die Absicht gehabt hat, zu diesem Fenster hereinzusehen.«

»Na, hören Sie mal, aber er hat doch hereingesehen«, meinte Carver leicht verärgert. »Was reden Sie denn da zusammen? Wir haben es doch schließlich alle gesehen!«

»Ich habe schon vieles gesehen, an dessen Wirklichkeit ich nicht glaube«, entgegnete der Priester. »Und auch Sie werden schon so manches gesehen haben, das nur Theater war — und nicht nur auf der Bühne!«

»Pater Brown«, sagte Devine respektvoll, »wollen Sie uns bitte sagen, warum Sie in diesem Fall nicht Ihren Augen glauben können?«

»Schön, ich will es versuchen«, antwortete der Priester. Dann fuhr er mit großer Milde fort: »Sie kennen mich und meinesgleichen. Wir mischen uns nicht viel in Ihre Angelegenheiten. Wir versuchen, mit allen unseren Mitmenschen gut auszukommen. Aber Sie dürfen deshalb nicht etwa glauben, daß wir nichts tun und nichts wissen. Wir beschränken uns auf unseren Beruf, auf unsere seelsorgerischen Aufgaben, aber diese kennen wir, und wir kennen auch unsere Leute. Auch den Toten draußen habe ich sehr gut gekannt, denn ich war sein Beichtvater und sein Freund. Soweit es einem Menschen überhaupt möglich ist, kannte ich sein Innerstes, und ich kannte es auch, als er heute seinen Garten verließ. Ich kann Ihnen sagen, sein Inneres war wie ein gläserner Bienenkorb voller goldener Bienen. Wenn man sagen würde, seine Bekehrung war aufrichtig, so hätte man noch viel zuwenig gesagt. Er war einer jener großen Büßer, denen die aufrichtige Reue mehr Segen bringt als anderen ihre Tugend. Ich habe gesagt, ich war sein Beichtvater; in Wirklichkeit aber war ich es, der zu ihm ging, um mir bei ihm Trost und Mut zu holen. Es tat mir gut, in der Nähe eines so gütigen Menschen zu sein. Und als ich ihn nun vorhin tot im Garten liegen sah, da war es mir, als hörte ich eine geheimnisvolle Stimme jene alten Worte sprechen, die wir in der Bibel finden. Ja, wenn jemals ein Mensch direkt in den Himmel kam, dann wohl er…«

»Zum Teufel noch mal«, fuhr John Bankes nervös auf, »schließlich war er doch ein auf frischer Tat ertappter Dieb.«

»Das leugne ich nicht«, entgegnete Pater Brown, »aber denken Sie daran: Nur ein überführter und verurteilter Dieb hat einst als einziger Mensch auf dieser Welt das Versprechen gehört: ›Noch heute wirst du bei mir im Paradies sein!‹«

Verlegen schwiegen alle, bis schließlich Devine die Frage stellte: »Aber wie erklären Sie sich denn die ganze Geschichte?«

Der Priester schüttelte den Kopf. »Im Augenblick habe ich überhaupt noch keine Erklärung«, sagte er zurückhaltend. »Es sind mir zwar einige seltsame Sachen aufgefallen, aber ich kann sie noch nicht in Zusammenhang bringen. Bis jetzt habe ich, um die Unschuld dieses Mannes zu beweisen, nur den Toten selbst. Aber ich bin fest davon überzeugt, daß ich mich nicht irre.«

Er seufzte tief auf und griff nach seinem großen schwarzen Hut. Als er ihn gerade aufheben wollte, blieb er plötzlich wie erstarrt stehen, seinen kugelrunden Kopf mit den kurzgeschnittenen Haaren spähend vorgestreckt, die Augen verblüfft aufgerissen. Auch die anderen blickten verwundert auf den Tisch, konnten aber dort nichts sehen als das, was der Detektiv hingelegt hatte: den alten Theaterbart und die Brille.

»Merkwürdig«, murmelte Pater Brown, »der Tote draußen hat doch Bart und Brille an!« Er ging plötzlich auf Devine zu. »Sie haben mich vorhin nach Anhaltspunkten gefragt. Hier haben Sie etwas, das Sie interessieren dürfte: Warum hatte er wohl zwei Bärte?«

Damit verließ er in seiner unkonventionellen Art das Zimmer. Devine, der vor Neugierde fast platzte, folgte ihm in den Garten. »Ich kann Ihnen jetzt noch nichts sagen«, beruhigte ihn Pater Brown. »Noch bin ich nicht ganz sicher, ob meine Vermutung stimmt, und ich weiß auch nicht, was ich unternehmen soll. Besuchen Sie mich doch morgen, dann kann ich Ihnen wohl die ganze Sache erklären. Für mich ist das Rätsel vielleicht jetzt schon gelöst, und… Was ist denn das?«

»Ach, da fährt nur ein Auto weg«, bemerkte Devine.

»Das Auto des Herrn John Bankes«, sagte der Priester. »Soviel ich weiß, ist das ein sehr schneller Wagen.«

»John wenigstens ist dieser Meinung«, meinte Devine lächelnd. »Es wird heute nacht sehr schnell und sehr weit fahren«, sagte Pater Brown.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der andere.

»Ich will damit sagen, daß John Bankes nicht zurückkehren wird«, antwortete der Priester. »Er hat aus dem, was ich sagte, Verdacht geschöpft. John Bankes ist fort und mit ihm auch die Smaragde und all die anderen Schmucksachen.«

___________

Als Devine am folgenden Tag Pater Brown aufsuchte, fand er ihn vor den Bienenkörben auf und ab gehen. Er trauerte um den Verlust seines Freundes, und doch zeigte sich auf seinen Zügen eine gewisse Heiterkeit.

»Ich habe die Bienen gezählt«, sagte er. »Sie wissen doch, daß man die Bienen zählen muß?« Träumerisch schaute er auf die summenden Bienenkörbe, dann fuhr er fort: »Er wird sich sicher freuen, wenn man nach seinen Bienen sieht.«

»Aber vergessen Sie dabei bitte nicht die Menschen, die schon vor Neugierde brennen«, bemerkte der junge Mann. »Es hat sich herausgestellt, daß Sie ganz recht hatten, als Sie annahmen, John Bankes sei mit den Schmucksachen durchgebrannt. Aber wie haben Sie das herausgebracht, wie sind Sie überhaupt daraufgekommen, daß die Sache nicht stimmte?«

Pater Brown blinzelte wohlgefällig zu den Bienenkörben hin und sagte:

»Man stolpert sozusagen über manche Dinge, und gleich zu Anfang lag so ein Stein des Anstoßes im Wege. Es gab mir zu denken, daß der arme Barnard in Beechwood House getötet worden war. Nun hat aber Michael Moonshine selbst zu einer Zeit, da er der berüchtigte und gefürchtete Meistereinbrecher war, es stets als Ehrensache angesehen, ja, er hat seinen persönlichen Stolz dareingesetzt, seine Einbrüche zu bewerkstelligen, ohne je ein Menschenleben zu gefährden. Es schien mir ganz undenkbar, daß er jetzt, da er doch wirklich ein Heiliger geworden war, plötzlich seine früheren Grundsätze verleugnen und eine Todsünde begehen sollte, die er schon verabscheut hatte, als er noch selbst ein Sünder war. Über alles andere war ich mir bis zuletzt noch nicht im klaren; das einzige, was ich wußte, war, daß die Sache so, wie sie sich zuerst ausnahm, nicht stimmen konnte. Als ich aber den Bart und die Brille auf dem Tisch sah, ging mir schließlich ein Licht auf, denn mir fiel ein, daß der Einbrecher ja auch Bart und Brille getragen hatte, als er tot im Garten lag. Es hätte zwar sein können, daß er die Sachen doppelt besaß; aber es war doch merkwürdig, daß er dann nicht den alten Bart und die alte Brille benutzt hatte, die doch beide noch in gutem Zustand waren. Natürlich wäre es auch denkbar gewesen, daß er die Sachen zu Hause gelassen hatte und so gezwungen war, sich neue zu verschaffen; aber dies schien mir doch recht unwahrscheinlich. Niemand konnte ihn ja zwingen, zu John Bankes ins Auto zu steigen, und selbst dann hätte er leicht seine Ausrüstung in die Tasche stecken können, wenn er wirklich die Absicht gehabt hätte, irgendwo einzubrechen. Und schließlich mußte er sich doch sagen, daß er sich einen solchen Bart und eine solche Brille in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit nicht ohne große Schwierigkeiten hätte beschaffen können. Nein — je mehr ich darüber nachdachte, um so mehr hatte ich das Gefühl, daß hier etwas nicht stimmte. Und dann begann mir die Wahrheit, die ich instinktiv bereits geahnt hatte, auch im Verstand heraufzudämmern. Michael hatte, als er in Bankes’ Wagen stieg, nicht im entferntesten die Absicht, seine alte Verkleidung anzulegen. Und er hat sie auch niemals angelegt. Ein anderer, der sie vorher in aller Ruhe nachgeahmt hat, war es, der sie ihm angelegt hat.«

»Ihm angelegt?« wiederholte Devine erstaunt. »Wie hat er denn das tun können?«

»Lassen Sie uns zurückgehen«, sagte Pater Brown, »und die Sache einmal durch ein anderes Fenster betrachten — das Fenster, durch das die junge Opal Bankes den Geist gesehen hat.«

»Den Geist?« warf Devine fragend ein.

»Sie hat ihn für einen Geist gehalten«, meinte der kleine Mann ruhig, »und vielleicht hatte sie damit gar nicht einmal so unrecht. Daß sie mediale Fähigkeiten hat, stimmt schon. Sie begeht dabei nur immer den Fehler zu glauben, daß diese Fähigkeiten eine besondere Vergeistigung verraten. Es gibt aber sogar Tiere, die medial veranlagt sind. Auf jeden Fall aber ist sie sehr sensibel, und sie hatte durchaus recht, als sie meinte, daß das Gesicht am Fenster von schrecklichem Todesgrauen umwittert war.«

»Wollen Sie sagen…« begann Devine.

»Ich möchte damit sagen, daß eine Leiche zum Fenster hereingeschaut hat«, fuhr Pater Brown fort. »Es war ein Toter, der um die verschiedenen Häuser herumgekrochen ist und in mehr als ein Fenster hineingesehen hat. Gräßlich, nicht wahr? Aber es war eigentlich genau das Gegenteil eines Geistes, denn es war nicht die von den Fesseln des Leibes befreite Seele, sondern die leere Hülle eines Körpers, den die Seele verlassen hatte.«

Er blinzelte wieder zu den Bienenkörben hin und setzte hinzu: »Aber die kürzeste Erklärung läßt sich geben, wenn man vom Täter ausgeht. Sie kennen ihn. Es ist John Bankes.«

»Dem hätte ich es am allerwenigsten zugetraut«, antwortete Devine.

»Er war aber der erste, an den ich gedacht habe«, entgegnete Pater Brown, »soweit man überhaupt ohne feste Anhaltspunkte das Recht hat, jemanden zu verdächtigen. Mein lieber Freund, es gibt keine ›guten‹ oder ›schlechten‹ sozialen Typen oder Berufe. Jeder Mensch kann ein Mörder sein wie John Bankes, und jeder Mensch, sogar derselbe Mensch, kann auch ein Heiliger sein wie der arme Michael. Aber wenn es einen Menschentyp gibt, der in Gefahr gerät, nach der schlimmsten Gottlosigkeit hin zu tendieren, so sind es jene Menschen, die einem brutalen und rücksichtslosen Geschäftsgeist verfallen sind. Sie haben keine sozialen Ideale, von Religion ganz zu schweigen, sie haben weder die Kultur eines Gentleman noch das Klassengefühl eines organisierten Arbeiters. Wenn John Bankes sich rühmte, gute Geschäfte gemacht zu haben, so bedeutete dies bei ihm nur, daß er andere übers Ohr gehauen hatte. Sein Spott über die spiritistischen Neigungen seiner Schwester war abscheulich. Natürlich ist ihr Mystizismus heller Unsinn; er aber haßte diese ganze Geisterseherei nur deshalb, weil sie etwas mit Geist zu tun hatte. Auf jeden Fall besteht kein Zweifel daran, daß er der Schurke in dieser Sache ist; interessant ist nur die gemeine Niederträchtigkeit, mit der er zu Werke ging. Er hat Moonshine ermordet aus einem Motiv heraus, das wirklich neu und einzigartig ist. Er mordete, um den Körper des Toten als Staffage, als eine Art schreckliche Geisterpuppe zu gebrauchen. Zuerst hatte er eigentlich nur den Plan gehabt, Michael im Auto zu töten, um dann den Leichnam mit nach Hause zu nehmen und so zu tun, als habe er ihn als Einbrecher im Garten aufgestöbert und erschossen. Daß dieser anfängliche Plan eine so phantastische Erweiterung fand, folgte fast zwangsläufig aus der Tatsache, daß er nachts in seinem geschlossenen Auto den Leichnam eines bekannten und leicht zu identifizierenden Einbrechers zur Verfügung hatte. Er konnte also überall dessen Fingerabdrücke und Pußspuren hinterlassen und das bekannte Gesicht in den Fenstern auftauchen lassen. Sie werden sich erinnern, daß Moonshine gerade am Fenster erschien und verschwand, kurz nachdem John Bankes das Zimmer verlassen hatte, angeblich um nach dem Halsschmuck zu sehen.

Schließlich brauchte der Mörder nur noch den Leichnam auf den Rasen zu werfen und aus jedem Revolver einen Schuß abzufeuern. Die Wahrheit wäre vielleicht nie herausgekommen, wenn mir die zwei Bärte nicht verdächtig vorgekommen wären.«

»Nun würde es mich aber doch noch interessieren«, meinte Devine nachdenklich, »warum Ihr Freund Michael den alten Bart bei sich bewahrt hat.«

»Nun, ich kannte ihn, und mir erscheint das ganz natürlich«, erwiderte Pater Brown. »Er stand zuletzt seinem ganzen früheren Leben so gegenüber wie dem alten falschen Bart. Nicht daß er etwas Falsches vorspiegeln wollte, nicht daß er die alte Verkleidung noch gebraucht hätte — aber er hatte auch keine Angst vor ihr. Er würde es nicht als recht empfunden haben, wenn er den alten Bart vernichtet hätte. Das wäre ihm sicherlich so vorgekommen, als wolle er sich verstecken; aber er versteckte sich nicht, weder vor Gott noch vor sich selbst. Er scheute das Licht des Tages nicht. Er war von einer inneren Fröhlichkeit, die auch dann nicht hätte zerbrochen werden können, wenn man ihn ins Zuchthaus zurückgebracht hätte. Das Urteil der Menschen konnte ihm nichts mehr anhaben. Es war etwas Seltsames um ihn — fast so seltsam wie der groteske Totentanz, den er noch nach seinem Tod hat aufführen müssen. Schon als er sich noch lächelnd hier unter den Bienenstöcken bewegte, war er in einem gewissen Sinn tot. Er war dem Urteil dieser Welt entzogen.«

Es trat eine kurze Pause ein. Dann zuckte Devine die Schultern und sagte: »Ja, das schlimme ist eben, daß sich die Wespen und Bienen in dieser Welt so ähnlich sehen.«

Das Lied an die fliegenden Fische

Für Herrn Peregrinus Smart gab es nur ein einziges in der Welt, das ihm Lebensinhalt und größte Freude war. An und für sich war es ein harmloses Vergnügen; es bestand darin, alle Leute zu fragen, ob sie schon seine Goldfische gesehen hätten. Freilich Waren diese Goldfische auch ein kostspieliges Vergnügen, doch für Herrn Smart bestand das Vergnügen weniger im materiellen Wert seines Schatzes als in der Freude, all seine Bekannten mit der Frage nach seinen Goldfischen zu beglücken. Wenn er nämlich mit seinen Nachbarn ins Gespräch kam, die die neuen, rings um den alten Dorfanger aufgeschossenen Häuser bewohnten, dann versuchte er stets, so schnell wie nur möglich das Gespräch auf seine Liebhaberei zu bringen. Bei Doktor Burdock, einem jungen Biologen mit energisch vorspringendem Kinn und nach deutscher Art zürückgebürstetem Haar, machte er es sich leicht: »Sie interessieren sich doch für Naturgeschichte; haben Sie meine Goldfische schon gesehen?« Einem so orthodoxen Anhänger der Entwicklungstheorie war zwar alle Natur eins; dennoch war die Verbindung zu den Goldfischen leider gar nicht so leicht herzustellen, da er als Spezialist sich gänzlich auf die paläontologische Vorfahrenreihe der Giraffen verlegt hatte. Sprach er mit Pater Brown, dem Pfarrer an einer Kirche der benachbarten Provinzstadt, so machte er in Blitzesschnelle folgenden gewaltigen Gedankensprung: Rom — St. Peter — Fischer — Fische — Goldfische. Im Gespräch mit Herrn Imlack Smith, dem Bankdirektor, einem schmächtigen, gutgekleideten, bleichen Mann von sehr ruhigen gen Umgangsformen, steuerte er die Unterhaltung mit aller Gewalt auf die Goldwährung hin, von der es dann bis zum Goldfisch natürlich nur noch ein kleiner Schritt war. Dem berühmten Orientreisenden und Gelehrten Graf Yvon de Lara — dessen Titel französisch und dessen Gesicht russisch, um nicht zu sagen: tatarisch war — zeigte der gewandte Causeur ein lebhaftes Interesse für den Ganges und den Indischen Ozean, worauf dann ganz von selbst die Rede auf das mögliche Vorhandensein von Goldfischen in jenen Gewässern kam. Aus Herrn Harry Hartopp, einem ebenso reichen wie schüchternen und schweigsamen jungen Herrn, hatte er schließlich nach langer Fragerei die Mitteilung herausgepreßt, daß besagter verwirrter Jüngling sich nicht fürs Fischen interessierte, und ihn umgehend gefragt: »Da wir gerade vom Fischen sprechen — haben Sie eigentlich meine Goldfische schon gesehen?«

Diese vielzitiefien Goldfische hatten die eigentümliche Eigenschaft, daß sie tatsächlich aus Gold bestanden. Sie waren Teil einer exzentrischen, aber kostspieligen Spielerei, die angeblich der Laune eines orientalischen Fürsten entsprungen sein sollte. Herr Smart hatte sie auf einer Auktion oder in einem Antiquitätengeschäft erstanden, denn er liebte es, sein Haus mit allen möglichen ausgefallenen und nutzlosen Dingen vollzustopfen. Sah man dieses sein Spielzeug aus der Ferne, dann erblickte man ein recht ungewöhnlich großes Gefäß, in dem nicht minder ungewöhnlich große Fische herumschwammen. Bei näherem Zusehen erwies es sich jedoch als ein wunderschön geblasenes venezianisches Glas, das mit einer sehr dünnen und zarten Schicht einer schwach leuchtenden Farbe bedeckt war; im Innern hingen groteske Fische mit großen Rubinaugen. Allein das Material hatte bereits einen recht beträchtlichen Wert, ganz zu schweigen von dem Liebhaberwert, den diese kunstvolle Kuriosität bei Sammlern haben mußte. Herrn Smarts neuer Sekretär, ein junger Mann namens Francis Boyle, war, obschon Irländer und nicht gerade als besonders vorsichtig verschrien, doch etwas überrascht, daß Herr Smart so offenherzig über dieses Prunkstück seiner Sammlung sprach, und das gar zu Leuten, die ihm verhältnismäßig fremd waren und sich mehr oder weniger zufällig in der Nachbarschaft angesiedelt hatten; denn Sammler sind doch sonst sehr wachsam und oft äußerst zurückhaltend. Wie er sich aber allmählich in seinen neuen Aufgabenkreis einlebte, entdeckte Herr Boyle, daß er nicht der einzige war, der sich darüber wunderte; die anderen Angehörigen des Haushalts tadelten bereits mit ernster Miene das Betragen ihres Herrn.

»Es ist beinahe ein Wunder, daß man ihm noch nicht die Kehle durchgeschnitten hat«, meinte Harris, Herr Smarts Diener, und fast klang es, als bedaure er, daß es noch nicht geschehen sei.

»Es ist nicht zu glauben, wie er seine Sachen herumstehen läßt«, sagte Jameson, Herr Smarts Buchhalter, der sein Büro für kurze Zeit verlassen hatte, um den neuen Sekretär in sein Amt einzuführen. »Und dabei legt er nicht einmal Wert darauf, daß die alte, baufällige Tür mit den nicht minder baufälligen Eisenstangen verriegelt wird.«

»Bei Pater Brown und dem Doktor geht’s ja noch halbwegs«, setzte Herrn Smarts Haushälterin mit vielsagender Miene, wie sie meist zu sprechen pflegte, hinzu. »Wenn es sich aber um Ausländer handelt, so nenne ich das die Vorsehung herausfordern. Und übrigens meine ich nicht nur den Grafen; auch der Bankmensch sieht mir für einen Engländer viel zu unenglisch aus.«

»Dafür ist der junge Hartopp ein Engländer bis auf die Knochen«, meinte Boyle scherzend. »Er treibt sein Schweigen so weit, daß er gleich gar nichts sagt.«

»Um so mehr denkt er«, entgegnete die Haushälterin. »Er ist vielleicht kein Ausländer, aber so dumm, wie er aussieht, ist er nicht. Wer sich ausländisch benimmt, ist nun einmal für mich ein Ausländer«, schloß sie etwas sibyllenhaft dunkel.

Vielleicht hätte sie ihrer Mißbilligung in noch schärferen Worten Ausdruck verliehen, wenn sie die Unterhaltung hätte hören können, die noch am selben Nachmittag im Salon ihres Herrn geführt wurde. Wie immer sprach man über die Goldfische, aber allmählich schob sich der abenteuerliche Orientreisende mehr und mehr in den Vordergrund. Nicht, daß er viel gesprochen hätte — aber schon sein Schweigen hatte etwas Beredtes und Bedeutendes an sich. Wie ein dunkel dräuender Berg thronte er auf einem Haufen Kissen und wirkte so noch massiger, als er ohnehin schon war. Aus der aufkommenden Dämmerung trat leuchtend sein mongolisches Gesicht hervor wie ein blasser Vollmond. Vielleicht war es auch der Hintergrund, vor dem er saß, der seinem Gesicht und seiner ganzen Gestalt etwas derartig Asiatisches verlieh: Im ganzen Raum häuften sich nämlich mehr oder weniger kostbare Kuriositäten, darunter zahlreiche asiatische Waffen, Pfeifen und Vasen, Musikinstrumente und bunte Handschriften aus dem Fernen Osten. Boyle jedenfalls hatte, je länger die Unterhaltung dauerte, immer mehr das Gefühl, daß die dunkel gegen die Dämmerung sich abhebende Gestalt auf den Kissen allmählich einem riesigen Buddhabild täuschend ähnlich wurde.

Die Unterhaltung war allgemein, denn der ganze kleine Nachbarnkreis hatte sich zusammengefunden. Die Einwohner der vier oder fünf um den Dorfanger stehenden Häuser hatten die Gewohnheit, sich des öfteren gegenseitig zu besuchen, und allmählich hatte sich so eine Art Klub gebildet. Smarts Haus war unter den Gebäuden bei weitem das älteste, größte und malerischste. Es nahm fast eine ganze Seite des Wiesenvierecks ein und ließ nur Platz für eine kleine Villa, die von einem pensionierten Oberst namens Varney bewohnt wurde, der dem Vernehmen nach krank sein sollte. Noch niemand hatte ihn zu Gesicht bekommen. Im rechten Winkel zu diesen beiden Häusern standen zwei oder drei kleine Kaufläden; daran anstoßend erhob sich an der Ecke der Gasthof »Zum blauen Drachen«, in dem Hartopp, der Fremde aus London, zur Zeit wohnte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes standen drei Häuser, von denen das erste von dem Grafen de Lara, das zweite von Doktor Burdock gemietet war, während das dritte noch leerstand. Auf der vierten Seite schließlich befanden sich die Bank und ein Haus, in dem der Bankdirektor wohnte; den Abschluß bildete ein Stück noch unbebautes Land, das durch einen Bretterzaun abgegrenzt war. Der Rand der Dorfwiese war also nicht übermäßig bevölkert, und da sich auf allen Seiten um den Weiler offenes Land erstreckte, waren die Bewohner mehr und mehr auf gegenseitigen gesellschaftlichen Verkehr angewiesen. An diesem Nachmittag jedoch war ein Fremder in ihren Kreis eingebrochen, ein Mann mit scharfgeschnittenen Zügen und buschigen Augenbrauen und einem ebensolchen Schnurrbart. Er war so schäbig gekleidet, daß er entweder ein Millionär oder ein Herzog sein mußte, wenn er wirklich, wie behauptet wurde, hierhergekommen war, um mit dem alten Sammler ein Geschäft zu machen. Aus seinem Namen konnte man allerdings nichts entnehmen, denn er ließ sich im »Blauen Drachen« als »Herr Harmer« ansprechen.

Er hatte soeben das Loblied auf die goldenen Fische über sich ergehen lassen müssen, und man hatte ihm auch die Bedenken mitgeteilt, die hinsichtlich ihrer Bewachung bestanden.

»Man sagt mir immer, ich solle sorgfältiger auf sie aufpassen und sie wegschließen«, bemerkte Herr Smart, indem er mit einem verschmitzten Blick über die Schulter auf Jameson deutete, der mit einigen Geschäftspapieren in der Hand hinter ihm stand. Smart war ein kleiner, rundlicher älter Herr mit einem ebenso rundlichen Gesicht und erinnerte in manchem an einen gerupften Papagei. »Jameson und Harris und die anderen liegen mir immer in den Ohren, ich solle die Tür doch ja mit eisernen Stangen verriegeln, als wäre das Haus eine Burg. Ich dagegen bin der Meinung, daß die alten, verrosteten Stangen doch gar zu mittelalterlich sind, um einen Verbrecher abhalten zu können. Ich vertraue lieber auf das Glück und auf die Polizei.«

»Der beste Verschluß muß nicht unbedingt auch der sicherste sein«, meinte der Graf. »Es kommt ganz darauf an, wer den Versuch unternimmt, ihn zu durchbrechen. Vielleicht kennen Sie die Geschichte jenes Hindu-Eremiten, der nackt in einer Höhle hauste und dem es gelang, durch die drei Armeen, die den Großmogul bewachten, unbemerkt hindurchzukommen, den großen Rubin aus dem Turban des Herrschers zu nehmen und wie ein Schatten zurückzugleiten, ohne daß ihm etwas geschah. Er hatte dem Mächtigen damit lediglich zeigen wollen, wie klein doch die Gesetze von Raum und Zeit sind.«

»Mag sein. Aber wenn man der Sache auf den Grund geht, entdeckt man, wie derartige Tricks gemacht werden«, sagte Doktor Burdock sarkastisch. »Unsere westliche Wissenschaft hat einen großen Teil der östlichen Magie aufgehellt. Zweifellos spielen Hypnose und Suggestion dabei eine wesentliche Rolle, von einfachen Taschenspielertricks ganz zu schweigen.«

»Aber bedenken Sie, daß sich der Rubin nicht im Zelt des Herrschers befand«, warf der Graf ein. »Der Hindu hat ihn trotzdem aus Hunderten von Zelten herausgefunden.«

»Kann das alles nicht einfach durch Telepathie erklärt werden?« fragte der Doktor spitz.

Die Frage klang um so schärfer, als niemand eine Antwort gab. Tiefes Schweigen breitete sich aus — es war, als sei der berühmte Orientreisende mit nicht ganz vollendeter Höflichkeit eingeschlafen.

»Verzeihen Sie«, sagte er schließlich, indem er mit einem plötzlichen Lächeln auffuhr. »Ich hatte ganz vergessen, daß wir hier uns ja mit Worten zu unterhalten pflegen. Im Osten ist das ganz anders. Da sprechen wir mit Gedanken, und deshalb mißverstehen wir uns auch nie. Es ist doch sonderbar, wie ihr Leute aus dem Westen die Worte hochachtet und an Worten Genüge findet. Kommt man aber einer Sache auch nur um ein Haarbreit näher, wenn man sie, anstatt sie wie früher einfach als Humbug zu bezeichnen, jetzt Telepathie nennt? Wenn ein Mensch auf einem Mangobaum in den Himmel klettert, so nannte man das früher Hokuspokus, jetzt sagt man, es sei eine Überwindung der Schwerkraft; aber was hat sich damit geändert? Wenn mich eine Hexe aus dem Mittelalter mit ihrem Zauberstab in einen PaVian verwandeln würde, so würden Sie sagen, das sei nur ein Atavismus.« Der Doktor blickte einen Augenblick lang drein, als wollte er sagen, daß eine solche Veränderung bei dem Grafen schließlich kaum auffallen würde. Aber noch ehe er seinem Ärger in solchen oder ähnlichen Bemerkungen Luft machen konnte, schaltete sich plötzlich der Mann namens Harmer in das Wortgefecht ein. Er meinte wegwerfend:

»Ich will nicht bestreiten, daß diese indischen Beschwörer manchmal recht sonderbare Dinge zuwege bringen, aber mir fällt doch auf, daß das fast ausschließlich in Indien geschieht. Vielleicht arbeiten sie doch mit Helfershelfern, vielleicht ist es auch bloß Massensuggestion. Ich glaube nicht, daß solche Zauberkunststücke je in einem englischen Dorf funktionieren würden, und so dürften Herrn Smarts Goldfische hier ziemlich sicher sein.«

»Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte de Lara, der noch immer regungslos wie ein Götzenbild dasaß, »eine Geschichte, die sich nicht in Indien zugetragen hat, sondern vor einer englischen Kaserne im modernsten Viertel Kairos. Hinter dem eisernen Gitter, das das Kasernengelände abschloß, stand ein Posten und sah durch die Stäbe auf die Straße. Da erschien vor dem Gitter ein barfüßiger und zerlumpter einheimischer Bettler und verlangte von der Schildwache in auffallend klarem und reinem Englisch ein offizielles Dokument, das aus Sicherheitsgründen in der Kaserne verwahrt wurde. Der Soldat sagte dem Bettler natürlich, daß er nichts in der Kaserne drinnen verloren habe, worauf ihm der Bettler lächelnd antwortete: ›Was ist drinnen, was ist draußen?‹ Der Soldat schaute noch immer verächtlich durch die Gitterstäbe, als ihm langsam zum Bewußtsein kam, daß auf einmal er, obwohl weder er selbst noch das Gittertor sich bewegt hatte, draußen auf der Straße stand und in den Kasernenhof hineinblickte, wo jetzt der Bettler regungslos lächelnd verharrte. Als nun der Bettler sich anschickte, in die Kaserne hineinzugehen, raffte der Soldat das bißchen Verstand, das ihm noch geblieben war, zusammen und alarmierte die Soldaten auf dem Kasernenhof, sie sollten den Bettler festnehmen. Diesem selbst rief er hämisch zu: ›Heraus kommst du jedenfalls nicht mehr!‹ Der Bettler aber antwortete mit einer silberhellen Stimme: ›Was ist draußen, was ist drinnen?‹ Da sah der Soldat, der noch immer durch dieselben Gitterstäbe starrte, daß sich diese wieder zwischen ihm und der Straße befanden, auf der sich der Bettler völlig unbehelligt davonmachte, noch immer lächelnd und das Dokument in den Händen.«

Herr Imlack Smith, der Bankdirektor, starrte gedankenverloren vor sich auf den Teppich. Er hatte seinen schwarzen, glattgekämmten Kopf ein wenig vorgeneigt und mischte sich zum erstenmal an diesem Abend in das Gespräch ein.

»Ist mit dem Dokument irgendwas passiert?«

»Ihr Berufsinstinkt hat Sie auf den rechten Weg gebracht«, sagte der Graf mit grimmiger Verbindlichkeit. »Das Dokument repräsentierte einen Beträchtlichen finanziellen Wert. Die Auswirkungen dieses Diebstahls waren international.«

»Hoffentlich kommen solche Fälle nicht oft vor«, meinte der junge Hartopp melancholisch.

»Ich interessiere mich nicht für die politische Seite dieser Angelegenheit«, sagte der Graf mit heiterer Gelassenheit, »sondern für die philosophische. Der Fall in Kairo zeigt, wie ein weiser Mann hinter Raum und Zeit treten und gleichsam ihre Hebel in Bewegung setzen kann, so daß sich die ganze Welt vor unseren Augen dreht. Aber Menschen wie Sie, meine Herren, vermögen wohl nur schwer zu glauben, daß geistige Kräfte in der Tat mächtiger sind als materielle.«

»Ich erhebe durchaus nicht den Anspruch«, sagte der alte Smart lächelnd, »daß ich eine Autorität auf dem Gebiet geistiger Kräfte sei. Was meinen Sie zu der ganzen Angelegenheit, Pater Brown?«

»Mir fällt nur auf«, antwortete der kleine Priester, »daß all die übernatürlichen Taten, von denen wir gehört haben, Diebstähle zu sein scheinen. Und Diebstahl bleibt Diebstahl, ob er nun mit Hilfe geistiger oder rein materieller Kräfte ausgeführt wird.«

»Pater Brown ist halt doch ein Philister«, bemerkte Smith lächelnd.

»Der Stamm der Philister ist mir gar nicht so unsympathisch«, entgegnete ihm Pater Brown. »Ein Philister ist nichts weiter als ein Mensch, der recht hat, ohne zu wissen, warum.«

»Diese Gespräche gehen über meinen Horizont«, meinte Hartopp aufrichtig.

»Vielleicht«, lächelte Pater Brown, »würden Sie ebenfalls lieber ohne Worte reden, wie der Graf es vorgeschlagen hat. Er würde damit beginnen, bedeutend — nichts zu sagen, und Sie würden ihm mit Schweigsamkeit antworten.«

»Die Musik könnte uns gute Dienste leisten«, murmelte der Graf verträumt vor sich hin. »Sie wäre bestimmt klarer als die vielen Worte, die wir hier machen.«

»Ja, vielleicht würde ich sie auch besser verstehen«, sagte der junge Mann leise.

Boyle hatte die Unterhaltung mit besonderem Interesse verfolgt, denn es war etwas am Benehmen einiger der Anwesenden, das ihm recht eigentümlich erschien. Als jetzt das Gespräch auf Musik kam — eine zarte Aufforderung an den eleganten Bankdirektor, der als Musikdilettant nicht ganz ohne Verdienste war —, erinnerte sich der junge Sekretär plötzlich an seine Pflichten und machte Herrn Smart darauf aufmerksam, daß Jameson noch immer geduldig mit den Papieren in der Hand dastand.

»Ach, das hat Zeit«, sagte Smart leichthin. »Es betrifft nur mein persönliches Konto, ich werde nachher mit Herrn Smith darüber sprechen. Sie sagten doch, Herr Smith, daß das Cello…«

Aber der kalte Hauch geschäftlicher Dinge hatte genügt, den duftigen Schleier transzendentaler Gespräche zu zerreißen, und die Gäste begannen, sich allmählich zu verabschieden. Nur Herr Smith, Bankdirektor und Musikfreund, blieb bis zuletzt als die übrigen gegangen waren, begaben er und Smart sich in das anstoßende Zimmer, in dem die Goldfische aufbewahrt wurden, und machten die Tür hinter sich zu.

Das Haus war langgestreckt und schmal. Im ersten Stockwerk verlief auf der Straßenseite eine gedeckte Veranda. Diesen ersten Stock bewohnte in erster Linie der Hausherr selbst, dort lagen sein Schlaf- und Ankleidezimmer und daran angrenzend ein kleiner Raum, wohin manchmal die besonders wertvollen Stücke seiner Sammlungen, die sonst meist im Erdgeschoß blieben, des Nachts verbracht wurden. Die Veranda bereitete, ebenso wie die unzureichend verschlossene Haustüre, der Haushälterin, dem Buchhalter und den anderen manche bange Stunde und ließ sie über die Sorglosigkeit ihres Herrn jammern. In Wirklichkeit aber war der schlaue alte Herr gar nicht so unvorsichtig, wie es den Anschein hatte. Zwar hielt er nicht viel von den veralteten Sicherungsvorrichtungen, die vor den Augen der nörgelnden Haushälterin dahinrosteten; dafür hatte er sich einen regelrechten strategischen Plan ausgedacht. Er verbrachte nämlich allabendlich seine geliebten Goldfische in das an sein Schlafzimmer angrenzende Gemach, das nur dürch sein Schlafzimmer betreten werden konnte, und bewachte sie so im Schlaf; unter seinem Kopfkissen hatte er außerdem eine Pistole versteckt.

Als Boyle und Jameson, die auf das Ende der Besprechung warteten, schließlich Herrn Smart aus der Tür treten sahen, trug er die große Glasvase so ehrfürchtig, als sei sie eine Reliquie. Während draußen noch der Rand des grünen Dorfplatzes in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne aufleuchtete, hatte man im Haus schon eine Lampe angezündet, und in der eigenartigen Mischung des letzten Tagesscheins mit dem künstlichen Licht erglühte die farbige Glaskugel wie ein gewaltiger Edelstein; die phantastischen Umrisse der feuerroten Fische gaben ihr etwas von der geheimnisvollen Kraft eines Talismans und erinnerten an seltsame Formen, wie sie ein Hellseher vielleicht in seiner Kristallkugel sehen mag. Rätselhaft starr wie das Antlitz einer Sphinx erschien über der Schulter des alten Herrn das Gesicht von Herrn Imlack Smith.

»Ich fahre noch heute abend nach London, Herr Boyle«, sagte der alte Smart mit einem bei ihm ungewöhnlichen Ernst. »Herr Smith und ich nehmen den Zug um sechs Uhr fünfundvierzig. Ich möchte Sie, Jameson, bitten, heute nacht in meinem Zimmer zu schlafen. Wenn Sie die Goldfische wie üblich in das hintere Zimmer stellen, dürften sie wohl in Sicherheit sein. Ich glaube allerdings nicht, daß Sie irgend etwas zu befürchten haben.«

»Es kann immer mal etwas passieren«, meinte Herr Smith mit seinem starren Lächeln. »Soviel ich weiß, nehmen Sie doch gewöhnlich einen Revolver mit ins Bett. Vielleicht ist es ratsam, ihn im Hause zu lassen.«

Peregrinus Smart gab hierauf keine Antwort, und bald darauf verließen die beiden das Haus und wanderten auf dem Weg rund um den Dorfplatz dem Bahnhof zu.

Der Sekretär und Herr Jameson schliefen in der kommenden Nacht wie ausgemacht in Herrn Smarts Schlafzimmer. Genauer gesagt, Jameson hatte sich ein Bett im Ankleidezimmer aufstellen lassen, aber die Tür stand offen, so daß die beiden nach vorn hinausgehenden Zimmer praktisch einen Raum bildeten. Nur hatte das Schlafzimmer eine große, auf die Veranda führende Flügeltür, und eineweitere Tür führte aus diesem Zimmer in den hinteren Raum, in dem die Goldfische untergebracht waren. Boyle schob sein Bett quer vor diese Tür, um den Eingang zu versperren; dann legte er den Revolver unter sein Kopfkissen, zog sich aus und begab sich ins Bett mit dem Gefühl, daß er alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen gegen ein Ereignis getroffen hatte, an das ja doch keiner glaubte oder das doch zumindest als höchst unwahrscheinlich gelten durfte. Warum sollte auch ausgerechnet an diesem Tag ein Diebstahl zu befürchten sein? Wenn er jetzt kurz vor dem Einschlafen an die außergewöhnlichen Diebstähle dachte, von denen der Graf de Lara berichtet hatte, so nur, weil diese Erzählungen selbst wie Träume anmuteten und er allmählich in einen tiefen Schlaf versank, der von bunten Träumen erfüllt war. Der alte Buchhalter war ein bißchen unruhiger als gewöhnlich, aber nachdem er ein wenig länger als sonst herumgefuhrwerkt hatte und, wie es seine Art war, über die schlechte Aufbewahrung der Schätze geklagt und zum soundsovielten Male seine schrecklichen Befürchtungen geäußert hatte, legte auch er sich ins Bett und schlief schließlich ein. Der Mond leuchtete strahlend und verblaßte wieder; der grüne Platz und die grauen Häuser lagen still und einsam und scheinbar völlig unbewohnt da. Erst als die Morgendämmerung mit bleichen Fingern am grauen Osthimmel herumgeisterte — da geschah es.

Boyle als der Jüngere hatte natürlich einen gesünderen und tieferen Schlaf als der alte Jameson. So lebendig er war, wenn er wach war — es dauerte doch reichlich lange, bis er aufwachte. Überdies hatte er Träume, die das auftauchende Bewußtsein wie mit Polypenarmen umschlungen hielten und ihn gar nicht recht wach werden ließen. Seine Träume waren kunterbunt, gemischt aus vielerlei Eindrücken, deren letzter der Blick war, den er von der Veranda aus auf die grauen Straßen und den grünen Platz geworfen hatte. Aber die Traumbilder wechselten in schwindelerregender Folge, und immer begleitete sie ein leise mahlendes Geräusch, das sich anhörte wie ein unterirdischer Fluß — vielleicht war dies nur das Schnarchen des alten Jameson, der im Nebenraum schlief. Im Traum aber verknüpften sich dieses Geräusch und die schnell wechselnden Bilder mit den Reden des Grafen de Lara von übernatürlichen Fähigkeiten, mit denen, es möglich sein sollte, über Raum und Zeit zu herrschen und so die Welt zu verändern. Im Traum war es ihm, als ob tatsächlich eine gewaltige, ächzende Maschinerie im Innern der Erde ganze Landschaften hin und her bewegte, so daß plötzlich der Pol der Erde in irgendeinem Vorgarten auftauchte oder dieser Vorgarten über ferne Meere hinweg fortgeschoben wurde.

Das erste, was er wieder mit Bewußtsein wahrnehmen konnte, waren die Worte eines Liedes, begleitet von einem feinen, metallischen Ton. Die Worte wurden mit ausländischem Akzent gesungen; die Stimme kam ihm zugleich fremd und doch merkwürdig bekannt vor. Doch er war noch so schlaftrunken, daß er erst überlegen mußte, ob er nicht das Ganze träume:

»Über das Land und über das Meer

Ruf’ ich meine fliegenden Fische her.

Sie hören das Lied, sie kommen gern

Geschwind geflogen zu ihrem Herrn.

Das Lied, das sie weckt, das sie mir erhält,

Es stammt nicht aus dieser kleinen Welt…«

Boyle sprang auf und sah, daß sein Mitwächter bereits aus dem Bett war.

Jameson hatte die Verandatür aufgerissen und fuhr scharf jemanden an, der unten auf der Straße stehen mußte.

»Wer sind Sie?« rief er drohend. »Was wollen Sie?«

Aufgeregt wandte er sich zu Boyle um und sagte: »Da unten treibt sich ein Kerl herum. Ich habe ja immer gesagt, daß mal etwas passieren wird! Und wenn der alte Smart hundertmal meint, daß es nichts nützt: Ich gehe runter und lege die Eisenstangen vor die Haustüre.«

Er stürzte zur Tür und eilte nach unten, und alsbald konnte er das Klirren und Rasseln der Stangen hören. Nun trat auch der junge Sekretär auf die Veranda und blickte auf die lange, graue Straße, die zum Haus führte. Er glaubte noch immer zu träumen.

Auf der Straße, die durch das Moor und den kleinen Weiler führte, stand eine Gestalt, die wie aus fernen Zeiten und fremden Zonen hierherversetzt zu sein schien — eine Gestalt, die aussah, als sei sie aus einer der phantastischen Geschichten des Grafen oder aus Tausendundeiner Nacht lebendig geworden. Das gespenstisch graue Zwielicht, das vor Tagesanbruch die Umrisse aller Dinge schärfer hervortreten läßt, aber gleichzeitig alles seltsam farblos macht, hob sich langsam wie ein grauer Gazeschleier: Da stand wirklich eine seltsame Gestalt in orientalischen Gewändern. Ein Schal von eigentümlich meerblauer Farbe war wie ein Turban um den Kopf und um das Kinn gewickelt, und das Gesicht verschwand darunter wie unter einer Maske, denn der Schal verhüllte es wie ein Schleier. Der Kopf war über ein merkwürdiges Musikinstrument gebeugt, das aus Silber oder Stahl zu sein schien und die Form einer seltsam gekrümmten Geige hatte. Gespielt wurde es mit einem gezackten Stab, ähnlich einem silbernen Kamm, und die Töne waren sonderbar dünn und hell. Bevor noch Boyle den Mund öffnen konnte, ertönte unter dem Burnus wieder dieselbe merkwürdige Stimme, und der geheimnisvolle Unbekannte sang weiter:

»Wie die goldenen Vögel zum Zauberbaum

Fliegen meine Fische durch Zeit und Raum

Zurück zu mir…«

»Hören Sie mal, Sie haben hier nichts zu suchen!« rief Boyle wütend, ohne recht zu wissen, was er überhaupt sagte.

»Ich suche hier meine Goldfische!« rief der Fremde zurück — mit einer Würde, die eher zu König Salomon gepaßt hätte als zu einem barfüßigen Beduinen in einem schäbigen blauen Mantel. »Und ich werde sie bekommen. Kommt!«

Er entlockte seiner seltsamen Geige einen schrillen Ton, und ebenso schrill erhob er seine Stimme bei dem letzten Wort. Dieser Ton ging Boyle durch Mark und Knochen. Wie ein Echo folgte ein leiserer Ton, ein schwirrendes Flüstern. Es kam aus dem dunklen Zimmer, in dem die Vase mit den Goldfischen stand.

Boyle fuhr herum. Im gleichen Augenblick schrillte es im hinteren Zimmer auf wie eine elektrische Klingel, und gleich darauf hörte man ein leises Klirren, als fiele Glas zu Boden. Erst wenige Minuten waren vergangen, seit Boyle den Mann vom Balkon aus gesehen und angerufen hatte, da kam auch schon der alte Buchhalter wieder die Treppen heraufgestiegen. Er war dabei etwas außer Atem gekommen, denn sein Herz war solchen Strapazen nicht gewachsen.

»Die Tür habe ich jedenfalls verriegelt«, stieß er hervor..

»Die Stalltür«, erwiderte Boyle finster aus dem Dunkel des kleinen Raumes heraus.

Jameson folgte ihm nun in dieses Zimmer und fand ihn dort, wie er auf den Boden starrte, der mit bunten Glasstückchen bedeckt war, als sei ein Regenbogen in Stücke zerbrochen.

»Die Stalltür? Was wollen Sie damit sagen?« begann Jameson.

»Ich will damit sagen, daß das Roß gestohlen ist«, entgegnete Boyle. »Die fliegenden Rosse oder, besser gesagt, die fliegenden Fische, denen unser arabischer Freund da draußen nur zu pfeifen brauchte. Er hat sie herausgezogen wie Marionetten an der Schnur.«

»Aber wie war denn so etwas möglich?« stieß der alte Buchhalter aufgeregt hervor. Allmählich dämmerte ihm die Tragweite des Geschehens.

»Jedenfalls sind sie fort«, sagte Boyle kurz angebunden. »Da liegt das zerbrochene Glas. Das Glas sachgemäß zu öffnen hätte einige Zeit in Anspruch genommen; aber indem das Glas zertrümmert wurde, hat es nur einige Sekunden gedauert. Auf jeden Fall sind die Fische verschwunden, und ich habe keine Ahnung, wie das passiert sein kann. Darüber könnte uns nur unser arabischer Freund etwas sagen.«

»Wir vertrödeln hier unsere Zeit«, meinte Jameson unruhig.

»Wir müssen ihm sofort nachjagen.«

»Ich glaube, es ist viel zweckmäßiger, wenn wir sofort die Polizei verständigen«, antworfete Boyle. »Die wird ihm mit ihren Streifenwagen und Telefonverbindungen schon das Leben sauer machen und ihn eher erwischen, als wenn wir ihm im Nachthemd durch das Dorf nachhopsen. Es kann allerdings auch Dinge geben, gegen die selbst Streifenwagen und Telefon machtlos sind.«

Während Jameson aufgeregt mit der Polizei telefonierte, trat Boyle wieder auf die Veranda und warf einen schnellen Blick über die im ersten Morgengrauen daliegenden Straßen. Der Mann mit dem Turban war nirgends mehr zu sehen, die Straßen und Häuser lagen wie ausgestorben da, und nur aus dem Gasthaus »Zum blauen Drachen« konnte ein scharfes Ohr vielleicht einige leise Geräusche hören. Boyle jedoch sah jetzt zum erstenmal etwas mit vollem Bewußtsein, was er unbewußt schon die ganze Zeit über bemerkt hatte. Er war noch immer etwas schlaftrunken, doch er wurde hellwach, als ihm klar wurde, was seine Beobachtung bedeutete: Der graue Platz vor ihm war eigentlich überhaupt nie ganz grau gewesen, denn inmitten der bleichen Farblosigkeit leuchtete ein goldener Fleck: das Licht einer Lampe aus einem der gegenüberliegenden Häuser. Plötzlich sagte etwas in ihm, das mit dem Verstand nicht zu fassen war, daß die Lampe schon die ganze Nacht hindurch gebrannt hatte und erst jetzt im Morgengrauen langsam erlosch. Wessen Haus war es? Er zählte die Häuser, und was er herausbekam, mochte eine Vermutung bestätigen, über die er sich selbst allerdings noch nicht völlig klar war. Es war ganz offensichtlich das Haus des Grafen de Lara.

Inzwischen war Inspektor Pinner mit mehreren Polizeibeamten angekommen und hatte schnell und entschlossen mit seinen Erhebungen begonnen, denn er war sich wohl bewußt, daß gerade wegen der Absonderlichkeit der gestohlenen Gegenstände der Fall in den Zeitungen großes Aufsehen erregen würde. Er hatte alles untersucht, alles gemessen, jedermanns Aussage zu Protokoll genommen, sich jedermanns Fingerabdrücke gesichert, hatte alles auf den Kopf gestellt. Schließlich ergaben alle Fakten eine ihn selbst höchst unwahrscheinlich anmutende Geschichte: Ein Wüstenaraber war die Dorfstraße heraufgekommen bis vor das Haus des Herrn Peregrinus Smart, in dessen hinterem Zimmer ein Behälter mit künstlichen Goldfischen aufbewahrt wurde. Dann hatte er ein Gedichtchen gesungen oder rezitiert, worauf der Glasbehälter wie eine Bombe geplatzt war und die Fische sich in Nichts aufgelöst hatten. Dem Inspektor war es kein Trost und erst recht keine Beruhigung, daß ein ausländischer Graf ihm mit leiser, schnurrender Stimme erzählte, die Grenzen menschlicher Erfahrung würden eben immer weiter hinausgeschoben.

Es war übrigens interessant zu beobachten, wie sich die zu dem kleinen Kreis gehörigen Personen verhielten. Der Hauptbetroffene, Peregrinus Smart, hatte die Nachricht von dem Verlust erfahren, als er am frühen Morgen aus London zurückkam. Natürlich zeigte er sich zuerst sehr erschrocken, aber es war typisch für die Unternehmungslust und Tatkraft, die in dem kleinen, alten Herrn steckte und seiner gedrungenen Figur etwas von einem kecken Kampfhahn gab, daß sein Interesse am Verlauf der Nachforschungen größer war als der Kummer über den Verlust.

Dem Herrn, der sich Harmer nannte und der eigens gekommen war, um die Goldfische zu kaufen, hätte man es nicht übelnehmen können, wenn er sich über das Verschwinden der begehrten Vase geärgert hätte. Aber davon war ihm nichts anzumerken; von den gesträubten Haaren seines Schnurrbartes und seiner buschigen Augenbrauen ging etwas ganz anderes aus; dieselbe argwöhnische Wachsamkeit, die auch in seinen Augen blitzte, mit denen er die Gesellschaft musterte.

Das olivfarbene Gesicht des Bankdirektors, der inzwischen ebenfalls aus London zurückgekehrt war, wenn auch mit einem späteren Zug als Smart, schien diese hellen, suchenden Augen immer wieder wie ein Magnet anzuziehen.

Was die beiden anderen Gestalten des kleinen Kreises anbelangte, so schwieg Pater Brown meistens, wenn man ihn nicht ansprach und um seine Meinung fragte, und der völlig verdatterte Hartopp sagte fast überhaupt nichts, auch wenn man ihn fragte.

Der Graf jedoch war nicht der Mann, eine Gelegenheit ungenutzt vorübergehen zu lassen, die seinen Ansichten recht zu geben schien. Mit dem verbindlichsten Lächeln eines Mannes, der es versteht, die Leute durch seine Liebenswürdigkeit zum Rasen zu bringen, wandte er sich an seinen rationalistischen Widersacher, den Doktor Burdock.

»Sie werden doch zugeben«, meinte er, »daß mindestens einige der Geschichten, die Sie gestern noch für so unwahrscheinlich gehalten haben, nach den Ereignissen von heute nacht etwas glaubhafter klingen. Wenn es einem zerlumpten Bettler möglich ist, mit einem Wort ein festes Gefäß zum Zerspringen zu bringen, das innerhalb der vier Wände des Hauses, vor dem er steht, eingeschlossen ist, dann dürfte dies doch ein geradezu prächtiges Beispiel sein für die Macht geistiger Kräfte.«

»Für mich ist es eher ein Beispiel für meine Behauptung«, fuhr ihm der Doktor scharf in die Rede, »daß bereits eine Handvoll wissenschaftlicher Erkenntnisse genügt, um aufzuzeigen, wie derartige Tricks gemacht werden.«

»Wollen Sie damit etwa sagen«, fragte Smart, der diesen Streit mit lebhaftem Interesse verfolgt hatte, »daß Sie imstande sind, diese geheimnisvolle Geschichte wissenschaftlich zu erklären?«

»Allerdings«, entgegnete Doktor Burdock. »Was der Graf eben als Geheimnis bezeichnet hat, läßt sich mühelos erklären, denn es ist durchaus nicht geheimnisvoll. Was die zerbrochene Vase angeht, so ist die Sache ganz einfach die: Ein Ton ist nichts anderes als eine Schwingungswelle, und gewisse Schwingungswellen können Glas zerbrechen, wenn nur Ton und Glas aufeinander abgestimmt sind. Der Mann stand also nicht einfach auf der Straße herum und dachte vor sich hin, was nach Auffassung des Grafen die ideale orientalische Art der Unterhaltung ist. Er sang vielmehr lauthals heraus, was ihn hierhergeführt hatte, und entlockte dabei seinem Instrument einen schrillen Ton. Die Methode, mit bestimmten Tönen Glas von einer besonderen Zusammensetzung zum Zerspringen zu bringen, ist durchaus nichts Neues.«

»Ist das vielleicht auch nichts Neues«, meinte der Graf, »wenn dabei mehrere Klumpen massiven Goldes verschwinden?«

»Da kommt ja Inspektor Pinner«, sagte Boyle. »Unter uns gesagt, ich glaube, daß er des Doktors natürliche Erklärung ebenso als Märchen betrachten würde wie die übernatürliche Erklärung des Grafen. Dieser Herr Pinner scheint mir ein sehr skeptischer Herr zu sein und besonders, soweit es mich angeht. Ich glaube, er hat mich im Verdacht.«

»Wir werden wohl alle mehr oder weniger verdächtig sein«, lächelte der Graf.

Boyle jedoch nahm die Sache nicht ganz so leicht, und deshalb wandte er sich an Pater Brown, um bei ihm Rat und Hilfe zu holen.

Längere Zeit wandelten sie um den grasbewachsenen Dorfplatz herum. Der Priester, der bei Boyles Bericht mit gerunzelter Stirn zu Boden geblickt hatte, blieb plötzlich stehen.

»Sehen Sie das da?« fragte er seinen Begleiter. »Hier ist das Pflaster geschrubbt worden — allerdings nur dieser kleine Streifen, gerade vor Oberst Varneys Haus. Es würde mich doch interessieren, ob das schon gestern passiert ist.«

Pater Brown betrachtete nachdenklich das hohe, schmale Haus, dessen buntgestreifte Jalousien stark verschossen waren. Dadurch erschienen die Ritzen, durch die man einen Blick ins Innere der Zimmer werfen konnte, um so dunkler, ja, sie sahen in der von der Morgensonne golden beleuchteten Fassade aus wie schwarze Mauerritzen.

»Das ist doch Oberst Varneys Haus?« fragte Pater Brown. »Soviel ich weiß, kommt auch er aus dem Osten. Was für ein Mensch ist er eigentlich?«

»Ich habe ihn noch nie zu Gesicht bekommen«, antwortete Boyle. »Ich glaube nicht, daß außer Doktor Burdock ihn überhaupt schon jemand gesehen hat, und anscheinend sucht ihn auch der Doktor nur dann auf, wenn es unumgänglich ist.«

»Nun, dann will ich ihm einmal einen kurzen Besuch abstatten«, sagte Pater Brown.

Die große Haustür öffnete sich und verschlang den kleinen Priester. Das war so schnell geschehen, daß Boyle noch ganz verdutzt dastand, als sich die Tür wenige Minuten später wieder öffnete und Pater Brown lächelnd hervortrat. Als wäre nichts geschehen, setzte er seinen langsamen Marsch um die Dorfwiese fort. Es schien, als habe er überhaupt die ganze Angelegenheit schon wieder vergessen, denn er machte gelegentlich Bemerkungen über historische und soziale Fragen oder über die Entwicklungsaussichten des Landkreises. Über eine neuanzulegende Straße plauderte er, die von der Bank ausgehen sollte und zu der schon der Boden ausgehoben war. Dann blickte er mit einem unbestimmbaren Ausdruck über die alte Dorfwiese hin.

»Gemeindeland. Eigentlich sollten die Leute ihre Schweine und Gänse darauf treiben, wenn sie welche hätten. Aber so wachsen nur Disteln und Nesseln darauf. Wie schade, eigentlich sollte es eine große, schöne Wiese sein, aber es ist nur ein Unkrautparadies. Übrigens, gehört das Haus dort drüben nicht Doktor Burdock?«

»Ja«, stotterte Boyle, der bei dieser unerwarteten direkten Frage erschrocken hochgefahren war.

»Aha«, entgegnete Pater Brown. »Gut. Dann wollen wir mal wieder heimgehen.«

Während sie das Smartsche Haus wieder betraten und die Treppen emporstiegen, berichtete Boyle seinem Begleiter nochmals ausführlich über das Drama, das sich zu Tagesanbruch dort abgespielt hatte.

»Sie sind doch nicht etwa wieder eingeschlafen, während Jameson unten die Tür verriegelte, so daß jemand Zeit hatte, auf die Veranda zu klettern?« fragte Pater Brown.

»Nein, ganz sicher nicht. Ich wachte auf, als Jameson den Fremden von der Veranda aus anrief, dann hörte ich, wie er die Treppen hinunterstürzte und die Stangen vorlegte, und mit zwei Sätzen war ich dann selbst auf der Veranda.«

»Wäre es nicht möglich gewesen, daß sich von einer anderen Seite her jemand zwischen Ihnen beiden hätte hindurchschleichen können? Hat das Haus vielleicht noch einen Nebeneingang?«

»Nicht daß ich wüßte«, entgegnete Boyle bestimmt.

»Es ist doch besser, wenn ich selbst nochmals nachsehe«, meinte Pater Brown, und damit schlurfte er wieder die Treppe hinab. Boyie blieb in dem nach der Straßenseite gelegenen Schlafzimmer und sah ihm kopfschüttelnd nach. Doch schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit kam das breite, ein wenig bäuerische Gesicht wieder auf der Treppe zum Vorschein. Der Pater hatte seinen Mund verzogen, so daß er aussah wie ein behaglich lächelnder Rübengeist.

»Nichts. Ich glaube, die Frage wegen der Tür ist gelöst«, sagte er wohlgemut. »Und jetzt, da wir all unser Material fein säuberlich zusammenhaben, können wir ans Sichten gehen. Es ist wirklich eine recht merkwürdige Geschichte.«

»Glauben Sie«, fragte Boyle, »daß der Graf oder der Oberst oder sonst einer dieser Ostasienreisenden mit der Sache etwas zu tun hat? Halten Sie das, was in diesem Haus vorgegangen ist, für — übernatürlich?«

»Nun, eines kann ich Ihnen sagen«, antwortete der Priester nachdenklich, »wenn der Graf oder der Oberst oder ein anderer der Nachbarn sich als Araber verkleidet hat und in der Dunkelheit zu diesem Haus hergeschlichen ist, dann… dann handelt es sich tatsächlich um etwas Übernatürliches.«

»Aber wieso denn?«

»Weil der Araber keine Fußspuren hinterlassen hat. Die nächsten Nachbarn sind doch der Oberst und der Bankdirektor. Zwischen diesem Haus und der Bank liegt aber ungepflasterter roter Tonboden, in dem sich bloße Füße wie in Gips abdrücken müßten und hinterher auch überall rote Spuren hinterlassen würden. Ich habe mich aber außerdem — selbst auf die Gefahr hin, daß mich der Obersf mit dem Blitz seines Zornes zerschmettert — vergewissert, daß das Pflaster vor seinem Haus gestern und nicht erst heute geschrubbt worden ist. Also war es auch auf dieser Seite so naß, daß auf der ganzen Straße Spuren zu sehen wären, wenn dort heute nacht jemand gegangen wäre. Wäre der nächtliche Besucher allerdings der Graf oder der Doktor gewesen, so hätten die natürlich auch quer über den Platz kommen können. Aber mit bloßen Füßen wäre dies ein reichlich unangenehmes Unternehmen gewesen, denn der Platz ist, wie ich schon gesagt habe, völlig mit Disteln und Brennesseln bedeckt. Da würde sich der rätselhafte angebliche Araber bestimmt die Füße blutig gerissen und so irgendwelche Spuren hinterlassen haben — es sei denn, er ist tatsächlich, wie Sie sagen, ein übernatürliches Wesen.«

Boyle sah dem kleinen Priester unverwandt in das ernste, unergründliche Gesicht.

»Glauben Sie das?« fragte er schließlich.

»Sie dürfen eines nicht vergessen«, sagte Pater Brown. »Es ist eine bekannte Tatsache, daß uns etwas so nahe sein kann, daß wir es selbst gar nicht mehr sehen. So kann man beispielsweise sein eigenes Ohr nicht sehen, obwohl es doch kaum zehn Zentimeter vom Auge entfernt ist. Oder denken Sie an die Geschichte von dem Mann, der eine winzige Fliege im Auge hatte und durchs Fernrohr schaute, weshalb er glaubte, er habe im Mond einen unglaublich großen Drachen entdeckt. Und wenn man seine eigene Stimme genau wiedergegeben hört, soll sie wie die Stimme eines Fremden klingen. Steht so etwas direkt vor uns im Leben, dann sehen wir es gewöhnlich nicht, und könnten wir es sehen, wir würden es höchst merkwürdig finden. Ist es dann aber von uns weg in eine mittlere Entfernung gerückt, dann kommt es uns vor, als sei es aus weiter Ferne auf uns zugekommen. Bitte, kommen Sie doch noch einen Augenblick mit mir vors Haus. Ich möchte Ihnen zeigen, wie die Sache von unten aussieht.«

Pater Brown erhob sich und ging voran, und während sie die Treppen hinuntergingen, setzte er seine Bemerkungen fort, doch es klang so unzusammenhängend, als dächte er laut.

»Der Graf und die ganze asiatische Atmosphäre passen ganz gut dazu, denn bei einer solchen Sache kommt es hauptsächlich darauf an, daß die Phantasie der Leute erregt wird. Man kann auf diese Weise jemanden so weit bringen, daß er fest davon überzeugt ist, ein ihm auf den Kopf fallender Dachziegel sei ein babylonischer Ziegelstein mit eingeritzter Keilschrift, der aus den Hängenden Gärten der Semiramis herabkommt. In diesem Zustand fällt es dem Betroffenen gar nicht ein, sich den Stein genauer anzusehen, um zu entdecken, daß der Stein nicht anders ist als jeder andere Stein. Ähnlich war es ja in Ihrem Falle —«

»Was ist denn hier los?« unterbrach ihn Boyle und starrte überrascht auf die Haustür. »Die Tür ist ja verriegelt!«

Dieselbe Haustür, durch die sie erst vor kurzem eingetreten waren, war nun durch die großen, rostigen Eisenstangen versperrt — durch die gleichen Stangen, die, wie er sich am Morgen ausgedrückt hatte, die Stalltüre zu spät verriegelt hatten. Es war wie eine Ironie des Schicksals, daß die alten Stangen ihnen nun den Weg nach außen versperrten, als seien sie von selbst vor die Tür geglitten.

»Ach ja«, meinte Pater Brown ganz nebenbei, »die Stangen habe ich eben vorgelegt. Haben Sie es denn nicht gehört?«

»Nein«, antwortete Boyle verdutzt, »nicht das geringste.«

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte der andere gleichmütig. »Es ist eigentlich auch gar nicht einzusehen, warum man oben im Haus das Vorlegen dieser Stangen hören sollte, denn der Haken paßt ja säuberlich in diese Öffnungen hier. Wenn man ganz nahe dabeisteht, hört man ein dumpfes Geräusch, sobald der Haken einschnappt, aber das ist auch alles. Das einzige Geräusch, das laut genug ist, um oben gehört zu werden, ist dieses.«

Mit diesen Worten zog er den Haken aus der Vertiefung und ließ die Stange klirrend an der Türe niederfallen.

»Man hört es nur, wenn man die Vorlegestangen abnimmt«, sagte Pater Brown ernst, »selbst wenn dies mit größter Vorsicht geschieht.«

»Wollen Sie behaupten…«

»Ich behaupte«, sagte Pater Brown, »daß Jameson die Tür geöffnet und nicht geschlossen hat. Und jetzt wollen wir selbst einmal die Tür öffnen und nach draußen gehen.«

Als sie dann unter der Veranda standen, fuhr der kleine Priester mit seinen Erklärungen so ungerührt fort, als halte er eine Vorlesung über Chemie.

»Wie ich schon sagte, kann man manchmal in einer Verfassung sein, daß man etwas sehr Entferntes zu sehen glaubt, das in Wirklichkeit doch sehr nahe und uns selbst vielleicht ganz ähnlich ist. Als Sie auf die Straße hinuntersahen, erblickten Sie eine seltsame, ausländisch anmutende Gestalt. Sie haben sich aber wahrscheinlich nicht gefragt, was diese wohl sah, als sie zur Veranda aufsah.«

Boyle starrte zur Veranda hinauf, ohne zu antworten, und der Geistliche fuhr fort:

»Sie hielten es sicherlich für höchst erstaunlich und eigenartig, daß ein Araber mit bloßen Füßen durch unser zivilisiertes England hermarschiert kommt. Dabei haben Sie gar nicht daran gedacht, daß Sie im selben Augenblick ja auch bloße Füße hatten.«

Endlich fand Boyle die Sprache wieder, aber nur, um einen Satz zu wiederholen, den der Priester kurz vorher gesagt hatte:

»Jameson hat die Tür geöffnet«, kam es mechanisch von seinen Lippen.

»Ganz richtig. Jameson hat die Tür geöffnet und ist im Nachthemd auf die Straße getreten, gerade als Sie auf die Veranda kamen. Er hatte unterwegs zwei Dinge zusammengerafft, die Sie wohl schon hundertmal gesehen haben: den alten blauen Vorhang, den er um den Kopf schlang, und eines der orientalischen Musikinstrumente, das Sie sicherlich auch schon in der Sammlung gesehen haben. Alles übrige war Sinnestäuschung und Schauspielerei, denn dieser Verbrecher ist ein ganz gerissener Schauspieler.«

»Jameson… ein Verbrecher!« rief Boyle ungläubig aus. »Er war doch ein solch vertrockneter alter Trottel, daß er mir überhaupt nicht aufgefallen ist.«

»Gerade das war auch seine Absicht. Er war früher Schauspieler. Und wenn er fünf Minuten lang einen Zauberer oder einen fernöstlichen Troubadour so vollendet und mit so primitiven Mitteln spielen konnte, glauben Sie dann nicht, daß er fünf Wochen lang auch einen Buchhalter darstellen kann?«

»Aber ich verstehe nicht ganz, welches Ziel er mit der ganzen Schauspielerei verfolgte«, meinte Boyle hilflos.

»Sein Ziel hat er erreicht oder doch beinahe erreicht«, erwiderte Pater Brown. »Er hätte die Goldfische natürlich am liebsten schon längst gestohlen, denn er hatte ja zwanzigmal Gelegenheit dazu. Aber wenn er sie einfach gestohlen hätte, dann würde jeder sofort gemerkt haben, daß gerade er die beste Gelegenheit dazu gehabt hatte. Dadurch jedoch, daß er vom Ende der Welt einen geheimnisvollen Magier herzauberte, hat er die Gedanken aller Beteiligten von sich weg und nach Asien oder Arabien hin gelenkt. Er hat Ihnen ja so den Kopf durcheinandergebracht, daß Sie selbst kaum mehr glauben können, wie sich die Geschichte hier vor dem Haus abgespielt hat. Sie konnten das alles nicht begreifen, weil es Ihnen zu nahe war.«

»Wenn das stimmt«, sagte Boyle, »dann war es für ihn aber doch eine sehr gewagte Sache, und er mußte es außerordentlich schlau anpacken. Jetzt allerdings fällt mir auf, daß der angebliche Mann auf der Straße kein Wort sagte, solange ihn Jameson von der Veranda aus ansprach, und Jameson hatte auch Zeit genug, das Haus zu verlassen, bis ich endlich ganz wach geworden war und aus dem Bett gesprungen bin. Ja, der Schwindel ist durchaus möglich, denn ich bin ja nicht gleich aufgewacht.«

»Ein Verbrechen kommt immer nur dann zustande, wenn jemand nicht rechtzeitig aufwacht«, entgegnete Pater Brown. »Und leider ist es so, daß die meisten Menschen in jedem Sinn zu spät aufwachen. Auch ich bin beispielsweise viel zu spät wach geworden, und sicherlich ist der Kerl inzwischen längst über alle Berge.«

»Jedenfalls sind Sie eher aufgewacht als alle anderen«, sagte Boyle, »und ich, muß ich gestehen, wäre in dieser Sache wohl niemals wach geworden. Jameson war so korrekt und farblos, daß ich mir überhaupt nie Gedanken über ihn machte.«

»Man hüte sich vor dem Mann, an den man nicht denkt«, entgegnete der Pater, »er ist der einzige, der uns wirklich schaden kann. Aber auch ich habe keinen Verdacht auf ihn gehabt, bis Sie mir schließlich erzählten, wie er die Tür versperrte.«

»Jedenfalls verdanken wir die Klärung des Falles ganz Ihnen«, meinte Boyle warm.

»O nein, Sie verdanken sie Frau Robinson«, sagte Pater Brown lächelnd.

»Frau Robinson?« fragte der Sekretär erstaunt. »Sie meinen doch nicht die Haushälterin?«

»Man hüte sich doppelt vor der Frau, an die man nicht denkt«, antwortete Pater Brown. »Der Mann war ein sehr geschickter Verbrecher und als ausgezeichneter Schauspieler auch ein guter Psychologe. Ein Mann wie der Graf hört immer nur seine eigene Stimme: Jameson aber konnte zuhören, wo keiner an ihn dachte, wo alle seine Anwesenheit vergessen hatten, und so das geeignete Material für seinen nächtlichen Auftritt sammeln. So wußte er genau, wie er es anfangen mußte, um Sie alle in die Irre zu führen. Aber er machte einen ganz bösen Fehler: Er setzte den Charakter der Frau Robinson nicht in Rechnung.«

»Das verstehe ich nicht«, meinte Boyle verwirrt. »Was hat denn die mit der Geschichte zu tun?«

»Jameson hat nicht damit gerechnet, daß die Vorlegestangen vor der Tür waren. Er wußte, daß die meisten Menschen, besonders so sorglose Menschen wie Sie und Ihr Arbeitgeber, tage- und wochenlang sich mit dem Vorsatz begnügen können, es solle, müsse und könne etwas geschehen. Aber wenn man erst einmal einer Frau die Meinung in den Kopf: setzt, daß etwas geschehen müsse, dann besteht immer die Gefahr, daß sie es plötzlich tatsächlich tut.«

Das Alibi der Schauspielerin

Der Theaterdirektor Mundon Mandeville durcheilte mit raschen Schritten den Gang, der hinten unter der Bühne entlangführte. Er war elegant und festlich gekleidet, vielleicht ein wenig zu festlich: Festlich war die Blume in seinem Knopfloch, festlich der Glanz seiner wohlpolierten Schuhe — nur sein Gesicht war alles andere als festlich. Er war groß, stiernackig, schwarz und finster, und in diesem Augenblick sah er noch finsterer drein als gewöhnlich. Natürlich hatte er die hundert Sorgen, die ein Theaterdirektor eben hat, große und kleine, alte und neue. Er ärgerte sich über die alte Pantomimenszenerie, die hier unten aufgestapelt lag; denn er hatte vor langer Zeit seine erfolgreiche Laufbahn an dieser Bühne mit sehr volkstümlichen Pantomimen begonnen, sich aber später dazu verleiten lassen, zu ernsteren Stücken und klassischen Dramen überzugehen, was ihn ein gutes Stück Geld gekostet hatte. Als er daher die blauen Tore von Blaubarts blauem Palast oder die Kulissen des verzauberten Orangenhains wiedersah, die, mit Spinnweben bedeckt und von Mäusen angenagt, an der Wand lehnten, fühlte er in sich keineswegs jene rührende Wehmut, die wir eigentlich empfinden sollten, wenn wir wieder einmal einen Blick auf das Wunderland unserer Kindheit werfen dürfen. Aber an diesem Tag hatte er auch gar keine Zeit, eine Träne dort zu verlieren, wo er schon soviel Geld verloren hatte, oder vom Paradies früherer Zeiten zu träumen, denn er war eiligst gerufen worden, um ein sehr gegenwärtiges Problem zu meistern, das dringend sofortige Lösung verlangte — eines jener Probleme, wie sie manchmal in der wunderlichen Welt hinter den Kulissen auftauchen und durchaus ernst genommen sein wollen.

Fräulein Maroni, eine sehr talentierte Schauspielerin italienischer Herkunft, die in dem an diesem Nachmittag zu probenden und am Abend aufzuführenden Stück eine bedeutende Rolle übernommen hatte, hatte sich im letzten Augenblick mit aller Gewalt geweigert, in dem Stück aufzutreten. Dabei hatte Herr Mandeville die launische Dame überhaupt noch nicht gesehen, und da sie sich in ihrer Garderobe eingeschlossen hatte und der Welt durch die Tür Trotz bot, war es auch unwahrscheinlich, daß ihm dies vorerst gelingen würde. Herr Mundon Mandeville als echter Engländer erklärte sich die ärgerliche Sache unter wütendem Gemurmel damit, daß eben alle Ausländer verrückt seien. Aber der Gedanke, daß ihn ein gütiges Geschick auf die einzige geistig normale Insel der Erde versetzt hatte, vermochte ihn ebensowenig zu besänftigen wie die Erinnerung an den verzauberten Orangenhain. All dies mochte gewiß sehr ärgerlich sein; einem aufmerksamen Beobachter aber hätte der Verdacht kommen können, daß Herr Mandeville sich nicht nur darüber ärgerte, sondern daß überhaupt mit ihm etwas nicht ganz stimmte.

Denn er sah schrecklich mitgenommen und abgezehrt aus, soweit es einem wohlgenährten und ansonsten gesunden Mann überhaupt möglich ist, abgezehrt auszusehen. Sein Gesicht war fleischig und rund, aber seine Augen lagen tief in den Höhlen. Seine Lippen zuckten beständig, als versuche er, auf die Enden seines schwarzen Schnurrbarts zu beißen, der für ein solches Vorhaben freilich zu kurz war. Wenn man ihn so sah, konnte in einem der Gedanke aufsteigen, er sei rauschgiftsüchtig geworden, wofür man andererseits durchaus hätte Verständnis aufbringen können: Man sah ihm an, daß er dazu Grund hätte, daß also nicht das Rauschgift Ursache seiner Verfassung, sondern sein Zustand Ursache des Rauschgifts war. Was aber auch immer sein großes Geheimnis war — es steckte offenbar in dem dunklen Ende des langen Ganges, dort, wo sich der Eingang zu seinem eigenen kleinen Zimmer befand. Und als er nun den öden Korridor entlangschritt, warf er dann und wann einen nervösen Blick zurück. Aber Geschäft ist Geschäft, und so eilte er entschlossenen Schrittes zum entgegengesetzten Ende des Ganges, wo Fräulein Maroni den Weg zu sich mit einer glatten, grüngestrichenn Tür versperrt hatte. Hier hatte sich bereits eine Gruppe von Schauspielern und anderen Theaterleuten zusammengefunden. Die ganze Gesellschaft sah drein, als überlege und berate sie, ob man nicht am besten einen Rammklotz in Tätigkeit treten lassen sollte. In der Gruppe fiel eine bekannte Gestalt auf, deren Foto auf manchem Kaminsims und deren Autogramm in manchem Album stand. Norman Knight war zwar noch jugendlicher Held an diesem etwas provinziellen und altmodischen Theater, wo seine Verdienste nicht gebührend gewürdigt wurden, doch war schon deutlich zu erkennen, daß er größeren Triumphen entgegenging. Er sah recht gut aus mit seinem wohlgeformten Kinn und dem blonden, tief in die Stirn gekämmten Haar, das ihm ein ziemlich neronisches Aussehen gab, wozu seine jähen und schnellen Bewegungen allerdings gar nicht paßten. Neben ihm stand Ralph Randall, der meist ältere Charakterrollen spielte. Sein freundliches, scharfgeschnittenes Gesicht war bleich von. Schminke, nur die Wangen zeigten den bläulichen Schimmer der Rasur. Außerdem befand sich in der Gruppe Mandevilles zweiter jugendlicher Held, ein dunkler, kraushaariger Jüngling mit leicht semitischen Zügen, der den Namen Aubrey Vernon trug. Weiter standen da die Garderobiere von Mandevilles Frau, eine sehr imponierende Person mit dichtem, rotem Haar und einem harten, unbeweglichen Gesicht, und zufällig auch Frau Mandeville, die sich ruhig im Hintergrund hielt. Ihr Gesicht war bleich, sie sah geduldig, fast gleichmütig drein, ihre Gesichtszüge hatten eine klassische Ebenmäßigkeit und Strenge, die in ihren jüngeren Jahren noch stärker ausgeprägt gewesen sein mußten. Sie sah um so bleicher aus, als auch ihre Augen völlig farblos waren und ihr hellblondes Haar in zwei Zöpfen um den Kopf gelegt war, womit sie in etwa an eine sehr archaische Madonna erinnerte. Nicht jeder wußte, daß sie früher sehr erfolgreich Ibsen gespielt hatte. Aber ihr Mann hielt nicht viel von Problemstücken, und in diesem Augenblick konzentrierte sich sein ganzes Interesse ohnehin auf das eine Problem, wie man eine ausländische Schauspielerin aus einem verschlossenen Zimmer herausbringen könne.

»Ist sie noch immer nicht herausgekommen?« fragte er, mehr zu der geschäftigen Garderobiere als zu seiner Frau gewandt.

»Nein«, antwortete Frau Sands düster.

»Allmählich werden wir doch etwas unruhig«, meinte der alte Randall. »Sie schien ganz aufgelöst, und wir fürchten beinahe, sie könnte sich etwas antun.«

»Zum Teufel!« sagte Mandeville in seiner einfachen, ungekünstelten Art. »Reklame ist ja ganz gut, aber für diese Art Reklame haben wir hier keine Verwendung. Ist denn niemand von euch mit ihr befreundet? Gibt es denn niemanden, der einen Einfluß auf sie hat?«

»Jarvis meint, der einzige, der mit ihr fertig werden kann, sei ihr Priester von der Kirche gleich um die Ecke«, entgegnete Randall. »Ich hielt es für das beste, ihn sofort herholen zu lassen, falls sie wirklich die Absicht hat, sich aufzuhängen. Jarvis holt ihn eben, und… Ach, da kommt er ja auch schon!«

Zwei weitere Gestalten täuchten in dem unterirdischen Gang hinter der Bühne auf. Der erste war Ashton Jarvis, ein lustiger Geselle, der gewöhnlich Bösewichter darstellte, gegenwärtig dieses hohe Fach aber an den kraushaarigen Jüngling mit der semitischen Nase abgegeben hatte. Sein Begleiter war klein, kugelrund und ganz in Schwarz gekleidet — es war Pater Brown von der nahe gelegenen Kirche.

Pater Brown schien es für ganz natürlich und selbstverständlich zu halten, daß man ihn herbeigerufen hatte, um sich das seltsame Benehmen eines seiner Schäfchen anzusehen und sich darüber klarzuwerden, ob es sich um ein schwarzes Schaf oder nur um ein verlorenes Lamm handele. Er glaubte allerdings nicht im geringsten daran, daß es zu einem Selbstmord kommen könnte.

»Sie wird wohl einen guten Grund haben, warum sie so wütend ist«, sagte er. »Hat jemand von Ihnen eine Ahnung, worum es sich handeln könnte?«

»Ich glaube, sie ist mit ihrer Rolle unzufrieden«, antwortete der ältere Schauspieler.

»Das sind sie immer«, brummte Herr Mundon Mandeville.

»Ich dachte, meine Frau hätte dafür gesorgt, daß alles klappt.«

»Dazu kann ich nur sagen«, bemerkte Frau Mandeville mit ziemlich müder Stimme, »daß ich ihr die meiner Meinung nach beste Rolle gegeben habe. Schließlich wollen ja solch ehrgeizige junge Scihauspielerinnen immer die schöne junge Heldin spielen, die in einem Blumenregen und unter dem stürmischen Beifall der Galerie den schönen jungen Helden heiratet; und diese Rolle habe ich ihr auch gegeben. Frauen meines Alters müssen sich damit begnügen, ehrenwerte Matronen darzustellen, und ich habe es mir auch gar nicht einfallen lassen, andere Wünsche zu hegen.«

»Es wäre jetzt sowieso praktisch unmöglich, die Rollenverteilung nochmals zu ändern«, sagte Randall.

»Daran ist überhaupt nicht zu denken«, erklärte Norman Knight bestimmt. »Vielleicht könnte ich ja versuchen… Aber nein, jetzt ist es auf jeden Fall zu spät.«

Pater Brown war vorsichtig an die verschlossene Tür getreten und lauschte.

»Ist nichts zu hören?« fragte der Direktor besorgt und setzte dann mit leiserer Stimme hinzu: »Glauben Sie, daß sie sich etwas angetan haben kann?«

»Man hört etwas«, antwortete Pater Brown ruhig. »Nach den Geräuschen zu urteilen, ist sie gerade damit beschäftigt, Fenster oder Spiegel einzuschlagen, wahrscheinlich mit den Füßen. Nein, ich glaube nicht, daß die Gefahr eines Selbstmords besteht. Zumindest wäre das Zerschmettern von Spiegeln eine recht ungewöhnliche Vorbereitung zu einem Selbstmord. Wenn sie eine Deutsche wäre, die sich zurückgezogen hätte, um über Metaphysik und Weltschmerz zu meditieren, dann allerdings wäre ich dafür, die Tür aufzubrechen. Aber Italienerinnen sterben nicht so schnell und haben auch durchaus nicht die Gewohnheit, sich gleich umzubringen, wenn sie mal einen Wutanfall haben. Eher bringen sie dann einen anderen um… Es dürfte ratsam sein, die üblichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wenn sie mit einem Satz aus dem Zimmer herausgestürzt kommt.«

»Sie sind also nicht dafür, daß man die Tür aufbricht?« fragte Mandeville.

»Wenn Sie wollen, daß sie heute abend auftritt, dann lieber nicht«, entgegnete Pater Brown. »Wenn Sie die Tür aufbrechen, wird sie noch mehr rasen und sich weigern, auch nur einen Augenblick länger zu bleiben; wenn Sie sie aber in Ruhe lassen, wird es ihr wahrscheinlich zu langweilig werden, und sie wird schon aus reiner Neugier zum Vorschein kommen. An Ihrer Stelle würde ich lediglich jemanden vor der Tür lassen, der ein wenig aufpaßt, und erst einmal ein oder zwei Stunden abwarten.«

»In diesem Fall«, meinte Mandeville, »können wir nur die Szenen proben, in denen sie nicht auftritt. Meine Frau wird alles Nötige veranlassen. Schließlich ist ja auch der vierte Akt die Hauptsache im Stück. Am besten fangt ihr gleich damit an.«

»Aber keine Kostümprobe«, sagte Frau Mandeville.

»Einverstanden«, bemerkte Knight. »Wozu Kostümprobe? Die Kostüme sind ohnehin lästig genug.«

»Wie heißt denn eigentlich das Stück?« fragte der Priester, der nun doch etwas neugierig wurde.

»›Die Lästerschule‹«, antwortete Mandeville. »Es mag ja ein ganz gutes literarisches Stück sein, aber ich habe doch lieber Stücke, in denen mehr Handlung und mehr Schwung ist. Meine Frau liebt die klassischen Komödien, die aber leider meist mehr klassisch als komisch sind.«

In diesem Augenblick watschelte der alte Pförtner Sam, der einzige Bewohner des Theaters in den Stunden, da nicht gespielt und geprobt wurde, auf Mandeville zu, überreichte ihm eine Karte und bestellte, Lady Miriam Marden wünsche ihn zu sprechen. Mandeville verließ die Gruppe und wandte sich seinem Zimmer zu; Pater Browns Blick blieb jedoch noch ein paar Sekunden auf Mandevilles Frau hängen, und er sah auf ihrem bleichen Gesicht ein schwaches Lächeln — ein durchaus nicht angenehmes Lächeln.

Nun verließ auch Pater Brown die kleine Gruppe, begleitet von dem jungen Mann, der ihn geholt hatte. Dieser hatte, was unter Schauspielern durchaus nicht ungewöhnlich ist, die gleiche Weltanschauung wie der Pater. Im Weggehen hörte er, wie Frau Mandeville der Garderobiere, Frau Sands, mit ruhiger Stimme die Anweisung gab, an der verschlossenen Tür aufzupassen.

»Frau Mandeville scheint eine recht intelligente Frau zu sein«, sagte der Priester zu seinem Begleiter, »wenn sie sich auch ziemlich im Hintergrund hält.«

»Sie ist sogar eine hochintelligente Frau und war früher auch nicht unbekannt«, meinte Jarvis melancholisch. »Aber man sagt wohl nicht zuviel, wenn man behauptet, daß sie durch die Heirat mit diesem Hohlkopf von Mandeville ziemlich abgestiegen ist. Wie Sie schon gehört haben, hat sie hohe künstlerische Ideale, die sie aber bei ihrem Herrn und Meister natürlich nur selten durchsetzen kann. Wissen Sie auch, daß er tatsächlich von einer solchen Frau verlangt hat, bei einer Pantomime in einer Hosenrolle aufzutreten? Er streitet ja durchaus nicht ab, daß sie eine große Schauspielerin ist, aber er meint, daß Pantomimen eine bessere Kasse bringen. Aus dieser Äußerung können Sie sich schon ein Bild machen über sein Einfühlungsvermögen und sein Verständnis für die Künstlernatur seiner Frau. Trotzdem hat sie sich niemals beklagt. Sie sagte einmal zu mir: ›Klagen kommen wie ein Echo vom Ende der Welt zurück, aber Schweigen stärkt uns.‹ Hätte sie doch nur jemanden geheiratet, der sie verstünde — sie wäre vielleicht eine der größten Schauspielerinnen unserer Zeit geworden. Aber auch heute noch wird sie von maßgebenden Kritikern hochgeschätzt. Es ist ewig schade, daß sie mit einer solchen Null verheiratet ist.«

Dabei zeigte Jarvis auf den breiten, schwarzen Rücken Mandevilles. Der Direktor unterhielt sich gerade mit den Damen, die ihn ins Vestibül gebeten hatten. Lady Miriam war eine hochgewachsene, elegante Dame mit einem maßlos gelangweilten Gesichtsausdruck. Sie war nach der neuesten Mode gekleidet, einer Mode, deren Schöpfer sich wohl von ägyptischen Mumien hatten inspirieren lassen. Ihr schwarzes Haar war helmförmig zugestutzt, ihre stark bemalten, aufgeworfenen Lippen gaben ihrem Gesicht einen Ausdruck, als blicke sie ständig verachtungsvoll auf die Welt herab. Ihre Begleiterin war eine sehr lebhafte Dame mit einem trotz seiner Häßlichkeit anziehenden Gesicht und grau gepudertem Haar. Sie nannte sich Miss Theresa Talbot und redete wie ein Wasserfall, während ihre Begleiterin anscheinend zu müde oder zu bequem war, auch nur den Mund aufzutun. Immerhin brachte Lady Miriam, gerade als die beiden Männer vorübergingen, die Energie auf, zu sagen:

»Theaterstücke langweilen mich fürchterlich, aber ich habe noch nie eine Probe in Straßenkleidern gesehen. Das könnte eigentlich ganz lustig sein. Man sieht heutzutage kaum noch etwas Neues, alles hat man schon gesehen.«

»Also, Herr Mandeville«, sagte Fräulein Talbot und tätschelte dem Direktor mit freundschaftlichem Nachdruck den Arm, »Sie lassen uns doch bestimmt bei der Probe zusehen? Wir können heute abend nicht kommen und haben übrigens auch gar keine Lust dazu. Aber wir möchten gerne einmal all diese komischen Leute ohne Kostüme spielen sehen.«

»Ich kann Ihnen gern eine Loge zur Verfügung stellen«, sagte Mandeville eifrig. »Wollen die Damen die Güte haben, mir zu folgen.« Und er führte sie durch einen anderen Gang hinweg.

»Es würde mich doch interessieren«, meinte Jarvis nachdenklich, »ob etwa Mandeville diese Art Frauen vorzieht.«

»Haben Sie einen Grund, das anzunehmen?« fragte sein Begleiter.

Jarvis sah ihm einen Augenblick fest in die Augen, ehe er ernst fortfuhr: »Mandeville ist uns allen ein Geheimnis. Ich weiß wohl, daß er sich äußerlich in nichts von jedem harmlosen Biedermann unterscheidet, der sonntags die Straßen entlangbummelt. Und doch ist wirklich ein Geheimnis um ihn. Es muß ihn irgend etwas bedrücken. Irgendein Schatten liegt auf seinem Leben. Und ich glaube, dies hat mit galanten Abenteuern ebensowenig zu tun wie mit seiner armen, vernachlässigten Frau. Wenn aber doch, dann steckt mehr hinter der Sache, als man auf den ersten Blick vermutet. Durch einen Zufall weiß ich mehr darüber als irgendein anderer. Aber auch ich kann mit dem, was ich weiß, nichts anfangen, es bleibt für mich nach wie vor ein Rätsel.«

Er blickte rasch um sich, um nachzusehen, ob sie allein seien; dann fuhr er leise fort:

»Ihnen kann ich es ja sagen, denn von Ihnen weiß ich, daß Sie ein Geheimnis für sich behalten können. Da habe ich doch neulich eine recht merkwürdige Sache erlebt, und nicht nur einmal, sondern schon wiederholt. Wie Sie wissen, arbeitet Mandeville in dem kleinen Zimmer am Ende des Ganges, unmittelbar unter der Bühne. Zufällig kam ich mal an diesem Zimmer vorüber, als wir alle glaubten, er sei allein, und, was wichtiger ist, als ich mit Sicherheit wußte, daß alle Schauspielerinnen und alle Frauen, die möglicherweise mit ihm zu tun haben konnten, entweder nicht im Haus oder auf ihren üblichen Posten waren.«

»Was heißt hier ›alle Frauen‹?« fragte Pater Brown verwundert.

»Es war nämlich eine Frau bei ihm«, sagte Jarvis fast flüsternd. »Es muß eine Frau geben, die ihn ständig besucht, eine Frau, die keiner von uns kennt. Ich weiß nicht einmal, wie sie zu ihm gelangt, denn sie kommt nie durch den Korridor hier. Ich glaube allerdings, einmal eine verschleierte oder verhüllte Frauengestalt im Zwielicht hinten aus dem Theater wie einen Geist verschwinden gesehen zu haben. Natürlich war das kein Geist. Aber auch um eine gewöhnliche Liebschaft kann es sich nicht handeln. Mit Liebe hat die Sache kaum zu tun. Ich glaube vielmehr, daß Mandeville erpreßt wird.«

»Wie kommen Sie auf diese Vermutung?« fragte Pater Brown.

Jarvis’ Gesicht wurde noch ernster. »Ich habe einmal gehört, wie drinnen heftige Worte gewechselt wurden; es war ein regelrechter Streit. Und dann sagte die fremde Frau mit einer metallischen, drohenden Stimme vier Worte: ›Ich bin deine Frau.‹«

»Glauben Sie, daß er in Bigamie lebt?« fragte Pater Brown nachdenklich. »Bigamie und Erpressung gehen natürlich oft Hand in Hand. Aber vielleicht war die Frau auch bloß hysterisch oder regelrecht verrückt. Theaterleute haben ja oft mit solchen Menschen zu tun. Sie mögen recht haben, aber ich würde doch lieber mit solchen Schlußfolgerungen etwas vorsichtiger sein… Doch da fällt mir gerade ein: Sie gehören ja auch zur Truppe. Hat die Probe nicht schon begonnen?«

»Ich trete in dieser Szene nicht auf«, antwortete Jarvis lächelnd. »Sie proben jetzt nur einen Akt, bis Ihre italienische Freundin wieder zu Verstand gekommen ist.«

»Da Sie gerade von meiner italienischen Freundin sprechen — es würde mich doch interessieren, ob sie sich inzwischen wieder beruhigt hat.«

»Wir können ja zurückgehen und mal nachsehen«, sagte Jarvis. So wandelten sie den langen Korridor wieder zurück, an dessen einem Ende sich das Zimmer des Theaterdirektors, an dessen anderem sich die verschlossene Tür der Signorina Maroni befand. Die Tür war offensichtlich noch immer verschlossen, und Frau Sands saß mit grimmiger Miene davor, bewegungslos wie ein hölzernes Götzenbild.

Sie sahen gerade noch, wie am anderen Ende des Ganges einige Schauspieler die Treppe zur Bühne hinaufstiegen. Vernon und der alte Randall liefen rasch voraus, Frau Mandeville in ihrer ruhigen, würdevollen Art hatte es anscheinend nicht so eilig, und Norman Knight schien etwas zurückzubleiben, um mit ihr zu sprechen. Ein paar Worte drangen zu den Ohren der unfreiwilligen Lauscher.

»Glauben Sie mir doch«, rief Knight aufgeregt, »er hat Frauenbesuch!«

»Pst!« sagte Frau Mandeville mit ihrer silberhellen Stimme, die einen stahlharten Beiklang hatte. »Sie dürfen nicht so reden. Bedenken Sie doch, daß er mein Mann ist.«

»Ich wollte, ich könnte es vergessen«, entgegnete Knight und stürzte davon, die Treppe zur Bühne hinauf.

Frau Mandeville folgte ihm, bleich und unbewegt wie immer.

»Es weiß also doch noch jemand davon«, sagte der Priester ruhig, »aber das kann uns ja eigentlich gleichgültig sein.«

»Nun ja«, murmelte Jarvis, »anscheinend weiß jeder etwas, aber niemand etwas Genaueres.«

Sie schritten den Gang entläng bis zu der verschlossenen Tür, vor der Frau Sands immer noch regungslos saß.

»Nein, sie ist noch nicht zum Vorschein gekommen«, sagte sie in ihrer mürrischen Art. »Tot ist sie nicht, denn ich habe sie umhergehen hören. Ich möchte nur wissen, was sie eigentlich vorhat.«

»Wissen Sie vielleicht«, fragte Pater Brown höflich, aber kurz, »wo sich Herr Mandeville augenblicklich befindet?«

»O ja«, erwiderte sie prompt. »Ich habe ihn eben erst gesehen, wie er in sein kleines Zimmer am anderen Ende des Ganges trat, gerade bevor die Probe begann. Er muß noch drinnen sein, denn ich habe ihn nicht mehr herauskommen sehen.«

»Sein Zimmer hat also keinen zweiten Eingang?« fragte Pater Brown so ganz nebenbei. »Die Probe scheint ja jetzt in vollem Gange zu sein, auch wenn die Signorina schmollt.«

»Ja«, bemerkte Jarvis nach kurzem Schweigen. »Man kann die Stimmen von der Bühne bis hier hören. Der alte Randall hat ein recht kräftiges Organ.«

Sie lauschten eine kleine Weile, und in der Stille konnte man tatsächlich die Stimme des Schauspielers ziemlich deutlich vernehmen. Aber noch bevor einer von ihnen wieder etwas sagen konnte — ehe sie recht zur Besinnung gelangt waren, drang ein anderer Laut an ihre Ohren, ein dumpfer, schwerer Fall. Das Geräusch kam aus Mandevilles Privatzimmer.

Wie ein vom Bogen geschnellter Pfeil sauste Pater Brown den Gang entlang und rüttelte bereits heftig an der Türklinke, noch ehe Jarvis überhaupt klargeworden war, was los war.

»Die Tür ist verschlossen«, rief Pater Brown, dessen Gesicht ein wenig bleich geworden war. »Und diesmal bin ich der Meinung, daß es notwendig ist, die Tür einzudrücken.«

»Meinen Sie«, fragte Jarvis, der inzwischen gefolgt war und in dessen Augen Angst aufstieg, »daß die unbekannte Besucherin wieder bei ihm ist? Glauben Sie, daß es etwas… Ernstliches ist?« Und er fügte hinzu: »Vielleicht kann ich den Riegel von außen zurückstoßen, ich kenne den Mechanismus dieser Schlösser.«

Er kniete nieder, zog ein Taschenmesser mit einer langen Stahlklinke hervor und arbeitete eine Weile an dem Schloß herum, bis die Tür tatsächlich aufsprang. Auf den ersten Blick konnten sie sehen, daß das Zimmer keine zweite Tür hatte, ja nicht einmal ein Fenster; das Licht kam allein von einer großen elektrischen Tischlampe. Aber noch etwas anderes sprang ihnen sofort in die Augen: Mitten im Zimmer lag Mandeville, das Gesicht nach unten gekehrt. Blutfäden, die in dem künstlichen Licht unheimlich aussahen wie Siegellack, sickerten unter seinem Gesicht hervor. Sie wußten nicht, wie lange sie sich gegenseitig angestarrt hatten. Endlich wagte Jarvis aufzuatmen, und nun fand er auch die Worte wieder, um auszusprechen, was er schon die ganze Zeit gedacht hatte: »Wenn die Fremde irgendwie hereingekommen ist, so ist sie jetzt auf jeden Fall wieder verschwunden.«

»Vielleicht denken wir zuviel an die Fremde«, erwiderte Pater Brown. »In diesem seltsamen Theater gibt es so viele merkwürdige und fremde Dinge, daß man leicht einige davon vergißt.«

»Was meinen Sie damit?« fragte der Schauspieler.

»Nun, denken Sie zum Beispiel an die andere Tür, die ebenfalls verschlossen ist.«

»Aber die Tür der Maroni ist doch tatsächlich verschlossen«, rief Jarvis erstaunt.

»Trotzdem haben Sie sie vergessen«, meinte Pater Brown.

Nach einer Weile setzte er nachdenklich hinzu:

»Diese Frau Sands ist doch ein reichlich brummiges, unfreundliches Wesen.«

»Glauben Sie«, fragte sein Begleiter leise, »daß sie uns anlügt und die Italienerin inzwischen doch ihr Zimmer verlassen hat?«

»Keineswegs«, entgegnete der Priester ruhig. »Das war nur so nebenbei gemeint, als Charakterstudie.«

»Sie wollen doch nicht etwa sagen«, rief der Schauspieler erstaunt, »daß Frau Sands als Täterin in Frage kommt?«

»Ich habe nicht gesagt, daß sich die Charakterstudie auf sie bezog.«

Während sie diese kurzen Bemerkungen austauschten, war Pater Brown neben Mandeville niedergekniet und hatte festgestellt, daß jede Spur von Leben aus dem Körper gewichen war. Neben der Leiche lag, von der Tür aus nicht sofort sichtbar, ein Dolch, wie er auf der Bühne verwendet wird; er lag da, als sei er aus der Wunde oder aus der Hand des Mörders gefallen. Jarvis, der den Dolch eingehend in Augenschein nahm, meinte, das Mordwerkzeug könne sicher nicht viel zur Ermittlung des Täters beitragen, falls nicht zufällig Fingerabdrücke darauf seien; es handle sich um einen Requisitendolch, der dem Mörder zufällig in die Hände gekommen sein dürfte. Der Priester stand auf und sah sich nachdenklich im Zimmer um.

»Wir müssen sofort die Polizei verständigen«, sagte er, »und einen Arzt holen lassen, wenn auch der Arzt natürlich zu spät kommt … Übrigens, wenn ich mir das Zimmer so ansehe, dann verstehe ich nicht, wie unsere Italienerin das zuwege bringen konnte.«

»Die Italienerin?« rief der Schauspieler. »Wieso gerade die Italienerin? Wenn einer von uns ein Alibi hat, dann doch wohl sie. Überlegen Sie mal: zwei getrennte Zimmer, beide verschlossen, an den entgegengesetzten Enden eines langen Korridors gelegen, und vor der einen Tür noch dazu eine Aufpasserin.«

»Das Alibi ist durchaus nicht ganz lückenlos«, sagte Pater Brown. »Zwar ist es mir nicht recht klar, wie sie hierhergekommen sein könnte. Aber ich glaube, sie ist aus ihrem Zimmer ausgebrochen.«

»Und warum glauben Sie das?«

»Ich sagte Ihnen doch, daß es sich anhörte, als werde drinnen Glas zerbrochen, ein Spiegel oder das Fenster. Dummerweise vergaß ich dabei eine Tatsache, die mir gut bekannt ist, daß Fräulein Maroni nämlich sehr abergläubisch ist. Es ist also kaum anzunehmen, daß sie einen Spiegel zerbrochen hat, und deshalb dürfte es ein Fenster gewesen sein. Allerdings liegen die Zimmer im Kellergeschoß; es könnte sich also höchstens um einen Lichtschacht handeln. Aber… es scheint hier ja gar keine Lichtschächte zu geben.« Der Pater starrte eine ganze Zeit lang nachdenklich zur Decke empor.

Plötzlich kam er mit einem Ruck wieder in Bewegung. »Wir müssen hinaufgehen, telefonieren und den traurigen Fall bekanntgeben. Es ist wirklich eine traurige Sache… Mein Gott, hören Sie, wie die Schauspieler da oben noch immer deklamieren und herumtoben? Die Probe ist noch im Gange. Etwas Derartiges meint man wohl, wenn man von tragischer Ironie spricht.«

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Als das Theater auf diese Weise in einen Ort der Trauer verwandelt war, hatten die Schauspieler beste Gelegenheit, die echten Tugenden ihres Standes zu zeigen und zu beweisen. Nicht alle unter ihnen hatten Mandeville geschätzt oder ihm Vertrauen geschenkt, aber sie alle wußten nun genau das zu sagen, was die Gelegenheit erforderte. In ihrer Haltung gegenüber der Frau des Ermordeten bewiesen sie nicht nur Sympathie, sondern auch feines Taktgefühl. Sie war in einem neuen und ganz anderen Sinn eine Tragödin geworden; ihr geringstes Wort war Befehl, und während sie traurig umherwandelte, bemühten sich die Schauspieler, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen und ihr Los zu erleichtern, so gut es nur ging.

»Sie ist schon immer ein starker Charakter gewesen«, sagte der alte Randall mit etwas heiserer Stimme. »Keiner von uns war so klug wie sie. Der arme Mandeville konnte es natürlich, was Bildung und ähnliches angeht, nicht mit ihr aufnehmen, aber dennoch hat sie immer voll und ganz ihre Pflicht erfüllt. Es griff einem ans Herz, wenn sie manchmal seufzend den Wunsch äußerte, es möge ihr ein Dasein gegeben sein, das auch dem Geist wenigstens etwas böte; aber Mandeville — nun, nil nisi bonum, wie der Lateiner sagt.« Und der alte Schauspieler schüttelte traurig den Kopf und zog sich zurück.

»Nil nisi bonum, das ist ja gut!« wiederholte Jarvis grimmig. »Randall jedenfalls scheint von der Geschichte mit der fremden Dame noch nichts gehört zu haben. Was ich sagen wollte: Glauben Sie nicht, daß diese fremde Dame vielleicht die Täterin ist?«

»Das kommt ganz darauf an«, meinte der Priester, »wen Sie mit dieser fremden Dame meinen.«

»Natürlich nicht die Italienerin«, beeilte sich Jarvis zu sagen. »Übrigens haben Sie vorhin ganz richtig geraten. Als man die Tür aufbrach, war das Lichtschachtfenster zertrümmert und das Zimmer leer. Aber soviel die Polizei feststellen kann, ist sie ganz einfach heimgegangen. Nein, ich meine die Frau, die ihn bei jener geheimen Unterredung bedroht und sich als seine Frau bezeichnet hat. Glauben Sie, daß sie wirklich seine Frau gewesen ist?«

»Das ist durchaus nicht ausgeschlossen«, sagte Pater Brown, der völlig geistesabwesend ins Leere starrte.

»Dann wäre ja das Motiv zum Mord klar: Eifersucht wegen seiner Wiederverheiratung, denn ein Raubmord liegt nicht vor. Man braucht also keine verbrecherischen Angestellten oder irgendeinen abgebrannten Schauspieler zu verdächtigen. Was die Schauspieler angeht, so ist Ihnen doch sicherlich etwas aufgefallen, was den Fall recht merkwürdig macht.«

»Mir sind verschiedene merkwürdige Sachen aufgefallen. Was meinen Sie mit Ihrer Andeutung?«

»Ich meine, daß alle Personen ein Alibi haben«, entgegnete Jarvis. »Es’ dürfte wohl nicht oft vorkommen, daß praktisch eine ganze Gruppe von Personen ein solches Alibi hat. Die Bühne war hell erleuchtet, und jeder konnte den anderen sehen. Es war auch ein glücklicher Zufall, daß Mandeville diese beiden spleenigen Damen in die Loge gesetzt hat, damit sie der Probe beiwohnen konnten. Sie können bezeugen, daß der ganze Akt in einem Zug durchgespielt worden ist und sich alle Schauspieler auf der Bühne befanden. Die Probe hatte schon begonnen, als wir Mandeville sahen, wie er sein Zimmer betrat. Und sie spielten noch fünf oder zehn Minuten, nachdem wir beide die Leiche gefunden hatten. Es waren also in dem Augenblick, da wir Mandeville fallen hörten, alle auf der Bühne.«

»Das ist sicher sehr wichtig und vereinfacht auch die Untersuchung«, meinte Pater Brown. »Nun wollen wir aber doch nochmals einzeln die Personen durchgehen, auf die sich dieses Alibi erstreckt. Zuerst Randall. Meiner Meinung nach hat Randall den Direktor aufrichtig gehaßt, Wenn er auch jetzt seine Gefühle recht gut verbirgt. Aber er kommt nicht in Frage, denn wir haben ja im entscheidenden Augenblick seine Stimme von der Bühne herabdonnern hören. Dann ist da unser jugendlicher Held, Herr Knight. Ich habe guten Grund anzunehmen, daß er in Mandevilles Frau verliebt ist und dieses Gefühl wahrscheinlich nicht so gut zu verstecken wußte, wie es wohl wünschenswert für ihn geweseh wäre. Aber auch er kommt nicht in Betracht, denn er war ja auf der Bühne als Partner von Randall, ihm galt nämlich die laute Rede des Schauspielers. Auch der liebenswürdige jüdische Jüngling Aubrey Vernon scheidet aus. Es bleibt nur noch Frau Mandeville übrig, die ebenfalls nicht in Frage kommt. Dieses Gesamtalibi hängt allerdings hauptsächlich von der Aussage der Lady Miriam und ihrer Freundin ab; aber man nimmt ja sowieso an, daß der Akt, wie es bei solchen Proben üblich ist, ohne Unterbrechung durchgespielt worden ist. Dennoch werden vor Gericht wahrscheinlich Lady Miriam und ihre Freundin, Miss Talbot, als Zeuginnen auftreten. Gegen sie haben Sie doch sicherlich nichts einzuwenden?«

»Gegen Lady Miriam?« fragte Jarvis überrascht. »O ja, ich weiß wohl, Sie meinen, weil sie ein wenig wie ein Vamp aussieht? Aber Sie haben ja keine Ahnung, wie selbst Damen aus den besten Familien heutzutage herumlaufen. Haben Sie übrigens Anlaß, die Aussagen der beiden Damen anzuzweifeln?«

»Eigentlich nicht, aber damit sind wir beide in einer verzwickten Lage. Wie Sie sehen, werden alle außer uns durch das gemeinsame Alibi gedeckt. Diese vier Personen waren zur fraglichen Zeit die einzigen anwesenden Schauspieler: Personal war kaum da, nur der alte Sam am Haupteingang und die Frau, die vor Fräulein Maronis Tür saß. Bleiben also nur noch wir beide übrig. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß wir beide des Verbrechens angeklagt werden, besonders da wir die Leiche gefunden haben. Die anderen, die ja alle ein Alibi haben, dürften als Verdächtige wohl ausscheiden. Sie haben ihn doch nicht zufällig umgebracht, während ich gerade meine Augen anderswo hatte?«

Erschrocken fuhr Jarvis hoch und starrte ihn entgeistert an, aber gleich zog wieder ein Lächeln über sein gebräuntes Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

»Sie waren es also nicht«, fuhr Pater Brown fort, »und wir wollen einmal annehmen, daß auch ich es nicht gewesen bin. Da die Schauspieler, die mit der Probe beschäftigt waren, nicht in Fräge kommen, bleiben wirklich nur die Signorina hinter der verschlossenen Tür, die Schildwache vor ihrer Tür und der alte Sam übrig. Oder haben Sie etwa die beiden Damen in der Loge im Verdacht? Sie könnten natürlich die Loge auf einen Augenblick unbemerkt verlassen haben.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Jarvis. »Ich denke an die unbekannte Dame, die sich als Mandevilles Frau bezeichnet hat.«

»Vielleicht war sie’s auch«, sagte der Priester, und seine Stimme hatte einen so sonderbaren Klang, daß Jarvis wieder hochfuhr. »Richtig«, bemerkte er leise und aufgeregt, »Wir haben ja schon vorhin darüber gesprochen, daß diese erste Frau auf Mandevilles zweite Frau eifersüchtig gewesen sein könnte.«

»Nein«, sagte der Priester. »Sie hätte vielleicht auf die Italienerin oder auf Lady Miriam Marden eifersüchtig sein können, aber bestimmt nicht auf die zweite Frau.«

»Und warum nicht?«

»Weil es keine zweite Frau gibt. Herr Mandeville scheint mir das genaue Gegenteil eines Bigamisten gewesen zu sein — ein höchst monogam veranlagter Mensch. Seine Frau war sogar fast zu viel um ihn herum, so viel, daß Sie alle barmherzigerweise annehmen, es müsse noch eine zweite Frau im Spiel sein. Aber ich verstehe nicht, wie sie bei ihm sein konnte, als er getötet wurde, denn wir sind uns darüber einig, daß sie die ganze Zeit über oben auf der Bühne war und dazu noch eine wichtige Rolle spielte…«

»Meinen Sie wirklich«, rief Jarvis, »daß die Unbekannte, die zu ihm kam wie ein Geist, niemand anders war als Frau Mandeville, die wir doch alle kennen?« Aber er erhielt keine Antwort, denn Pater Brown starrte völlig geistesabwesend mit einem beinahe idiotischen Ausdruck ins Leere — er sah immer am idiotischsten aus, wenn er die klügsten Gedanken hatte.

Im nächsten Augenblick erhob er sich. Sein Gesichtsausdruck wurde immer gequälter und betrübter. »Scheußlich«, sagte er. »Es sieht fast so aus, als sei dies der unangenehmste Fall, mit dem ich je zu tun gehabt habe. Aber ich muß damit fertig werden. Seien Sie doch bitte so freundlich, und fragen Sie Frau Mandeville, ob ich sie einmal unter vier Augen sprechen könnte.«

»Aber gerne«, antwortete Jarvis und wandte sich zur Tür. »Sagen Sie mal, was ist eigentlich los mit Ihnen?«

»Ich ärgere mich nur, weil ich solch ein Narr bin, eine sehr weit verbreitete Klage in diesem Tal der Tränen. Wie konnte ich auch nur vergessen, daß das gespielte Stück ›Die Lästerschule‹ war!« Unruhig ging er im Zimmer auf und ab, bis Jarvis wieder erschien. Sein Gesichtsausdruck war jetzt ganz anders als vorher; er war sichtlich beunruhigt.

»Ich kann sie nirgendwo finden«, sagte er. »Niemand scheint sie gesehen zu haben.«

»Norman Knight dürfte wohl auch verschwunden sein?« fragte Pater Brown sarkastisch. »Nun, auf diese Weise bleibt mir wenigstens die peinlichste Unterredung meines Lebens erspart. Gott sei mir gnädig, aber ich habe doch beinahe Angst vor dieser Frau gehabt. Doch auch sie hatte Angst vor mir, Angst vor etwas, das ich gesehen oder gesagt hatte. Knight lag ihr schon immer in den Ohren, sie solle mit ihm fliehen. Jetzt hat sie’s getan, und er tut mir wirklich leid.«

»Er?« fragte Jarvis.

»Nun, es ist sicherlich kein besonders angenehmes Gefühl, mit einer Mörderin davonzulaufen«, entgegnete Pater Brown ruhig. »Aber sie ist noch weit schlimmer als eine Mörderin.«

»Und was gibt es Schlimmeres?«

»Sie ist eine Egoistin«, sagte Pater Brown. »Sie gehört zu den Menschen, die immer zuerst in den Spiegel schauen, ehe sie aus dem Fenster sehen, und das ist das schlimmste Unglück, das uns Sterblichen passieren kann. Der Spiegel hat ihr Unglück gebracht, aber eben deshalb, weil er nicht zerbrochen ist.«

»Ich verstehe kein Wort, was das alles bedeuten soll«, meinte Jarvis. »Jeder hielt sie für eine Frau von hohen Idealen, die auf einer höheren geistigen Ebene lebt als wir übrigen…«

»Sie hat sich selbst in diesem Licht gesehen und hat es auch verstanden, allen anderen die gleiche Meinung beizubringen. Ich habe mich wahrscheinlich deshalb nicht von ihr täuschen lassen, weil ich sie noch nicht lange genug kannte. Aber fünf Minuten nachdem ich sie zum erstenmal gesehen hatte, wußte ich, was für ein Mensch sie ist.«

»Seien Sie doch gerecht«, rief Jarvis. »Überlegen Sie, wie rücksichtsvoll sie sich der Italienerin gegenüber benommen hat.«

»Sie hat sich immer tadellos benommen. Jeder hat mir hier berichtet, wie fein und vornehm und geistig überlegen sie Mandeville gegenüber war. Aber wenn man der Sache auf den Grund geht, dann bleibt eigentlich nur eines: Sie war sicher eine Lady, er aber keineswegs ein Gentleman. Ich weiß jedoch nicht, ob Petrus am Himmelstor nur darauf sieht. Und was das übrige angeht«, fuhr er mit steigender Lebhaftigkeit fort, »so erkannte ich schon an ihren ersten Worten, daß sie trotz der zur Schau getragenen kalten Hochherzigkeit der armen Italienerin gegenüber sich durchaus nicht fair verhielt. Und als ich erfuhr, daß es sich bei dem zu spielenden Stück um ›Die Lästerschule‹ handelt, da habe ich sie endgültig durchschaut.«

»Das geht mir viel zu schnell«, stöhnte Jarvis in hilfloser Verwirrung. »Was hat denn das Stück damit zu tun?«

»Sie erinnern sich doch, wie sie sagte, sie habe der Italienerin die Rolle der schönen Heroine gegeben und sich mit der Rolle einer Matrone begnügt. Bei fast jedem anderen Theaterstück wäre dies eine hochherzige Rollenverteilung gewesen, aber gerade bei diesem Stück liegen die Dinge anders. Sie kann nur gemeint haben, daß sie dem Mädchen die Rolle der Maria zugeteilt hat, die kaum eine Rolle zu nennen ist. Und die Rolle der sich angeblich im Hintergrund haltenden verheirateten Frau, von der sie sprach, kann nur die Rolle der Lady Teazle gewesen sein, die einzige, die jede Schauspielerin zu erhalten wünscht. Wenn also die Italienerin tatsächlich eine erstklassige Schauspielerin ist, der man eine erstklassige Rolle versprochen hatte, so war dies durchaus eine Entschuldigung oder doch ein guter Grund für ihre italienische Raserei. Wenn Italiener aus der Ruhe geraten, dann haben sie meistens einen guten Grund, denn sie sind ein recht logisches Volk. Ebendieser scheinbar unbedeutende Umstand sagte mir, wie es um ihre Großherzigkeit bestellt sein muß. Aber da war noch etwas anderes, das mir gleich aufgefallen ist. Sie haben gelacht, als ich sagte, das mürrische Gesicht der Frau Sands sei für mich eine Charakterstudie, aber keine Studie über den Charakter der Frau Sands. Diese meine Bemerkung war mein voller Ernst. Wenn man über eine Frau wirklich Bescheid wissen will, so darf man nicht sie selbst betrachten, denn sie kann einen täuschen. Man darf auch nicht die Männer betrachten, von denen sie umgeben ist, denn diese können in sie vernarrt sein. Aber sehen Sie sich eine Frau an, die immer in ihrer Nähe ist, und besonders eine Frau, die unter ihr steht. In diesem Spiegel werden sie ihr wirkliches Gesicht erblicken; und das Gesicht; das sich in Frau Sands’ Zügen spiegelte, war sehr häßlich.

Und wie steht es mit meinen anderen Eindrücken? Alle sagten, wie wenig der alte Mandeville doch ihrer wert gewesen sei — eine Einschätzung, die meines Erachtens von ihr verbreitet wurde. Das war mir sofort klar, denn da jedermann hier so sprach, mußte sie offensichtlich bei jedem über ihre geistige Vereinsamung gestöhnt haben. Sie selbst haben gesagt, sie beklage sich niemals, und dann haben Sie ihre Worte über die Seelenstärke klaglosen Schweigens zitiert. Das ist unverkennbar der Stil dieser Egoisten. Leute, die klagen, sind liebenswerte, schwache Menschenwesen, die man bedauern kann. Aber Leute, die klagen, daß sie niemals klagen — die sind des Teufels. Sie sind selbst wahrhafte Teufel, denn ist dieser großtuerische Stoizismus nicht der Angelpunkt des Byronschen Satanskults? Ich habe mir all das angehört, aber so weit ich auch meine Ohren aufgesperrt habe, so konnte ich doch nicht entdecken, worüber sie sich eigentlich zu beklagen hatte. Niemand behauptete, daß ihr Mann trank oder sie schlug oder ihr kein Geld gab oder untreu war — wenn man nicht das Gerücht über seine geheimen Zusammenkünfte so auslegen will, und auch dieses Gerücht hat sie selbst durch ihre pathetische Gewohnheit verschuldet, ihm in seinem Arbeitszimmer Gardinenpredigten zu halten. Wenn man sich aber losmacht von dieser vagen Vorstellung eines Märtyrerdaseins, die sie bei allen hervorzurufen versucht hat, wenn man einmal die Tatsachen als solche betrachtet, dann erhält man ein ganz anderes Bild. Mandeville hat seine geldbringenden Pantomimen aufgegeben und sein Geld für die Aufführung klassischer Dramen geopfert, nur um ihr damit einen Gefallen zu erweisen. Sie richtete Stück und Ausstattung ganz nach ihrem Belieben ein. Sie wollte Sheridans Stück aufführen, und sie durfte es auch, sie wollte die Rolle der Lady Teazle spielen, und sie hat sie bekommen, sie wünschte gerade zu dieser Stunde eine Probe ohne Kostüme, und die Probe hat stattgefunden. Und ebendieser merkwürdige Wunsch einer Probe ohne Kostüme verdient besondere Aufmerksamkeit.«

»Aber was soll denn dieser ganze Vortrag?« fragte der Schauspieler, der kaum jemals seinen geistlichen Freund so viel Worte hatte machen hören. »Mit diesen psychologischen Erklärungen kommen wir doch nur immer weiter vom Mord weg. Sie mag mit Knight durchgebrannt sein, sie mag Randall und mich zum Narren gehalten haben, aber ihren Mann kann sie nicht ermordet haben, denn es steht doch fest, daß sie während des ganzen Aktes auf der Bühne gewesen ist. Sie mag schlecht und durchtrieben sein, aber zaubern kann sie doch nicht!«

»Nun, so bestimmt will ich das nicht behaupten«, meinte Pater Brown lächelnd. »Aber abgesehen davon — es bedurfte in diesem Fall gar keiner Zauberei. Ich weiß jetzt, daß sie den Mord ausgeführt hat, und die Ausführung war ganz einfach.«

»Warum sind Sie dessen so sicher?« fragte Jarvis verwundert.

»Weil das geprobte Stück ›Die Lästerschule‹ war«, entgegnete Pater Brown. »Und dann gerade dieser eine Akt der ›Lästerschule‹. Ich möchte Sie daran erinnern, wie ich eben sagte, daß sie bei der Inszenierung völlig freie Hand hatte und die Kulissen und die Einrichtung stellen konnte, wie es ihr paßte. Sie dürfen auch nicht vergessen, daß die Bühne ursprünglich für Pantomimen gebaut und benützt wurde, daß also sicher Falltüren und allerlei Versenkungen vorhanden sind. Und wenn Ihrer Meinung nach die beiden Damen bezeugen können, daß alle Schauspieler sich auf der Bühne befunden haben, so möchte ich Sie daran erinnern, daß in der Hauptszene des Stückes eine der Hauptpersonen nach der Regieanweisung zwar auf der Bühne bleibt, aber für beträchtliche Zeit nicht sichtbar ist. Theoretisch befindet sie sich also auf der Bühne, aber in Wirklichkeit kann sie während dieser Zeit ganz woanders sein. Das ist das Versteck der Lady Teazle und damit zugleich das Alibi von Frau Mandeville.«

Völlig verblüfft stand Jarvis da. Dann meinte er: »Sie glauben also, daß sie, gedeckt durch eine Kulisse, durch eine Falltür ins Zimmer des Direktors gelangt ist?«

»Wahrscheinlich«, sagte Pater Brown. »Das ist mir schon aus dem Grund wahrscheinlich, weil sie eine Probe ohne Kostüme angesetzt hat. Ich vermute, daß sie dies alles bis ins einzelne vorausgeplant hat. Hätte sie nämlich eine Kostümprobe veranstaltet, dann wäre es für sie reichlich schwierig gewesen, im Reifrock des achtzehnten Jahrhunderts durch die Falltür zu kommen. Es ist natürlich noch eine ganze Reihe kleinerer Unklarheiten da, aber ich denke, sie werden im Laufe der Zeit ihre Aufklärung finden.« Jarvis dachte angestrengt nach; stöhnend stützte er den Kopf auf die Hände. »Aber mir ist es immer noch nicht klar, wie eine so starke, ernste Frau derartig ihr inneres Gleichgewicht verlieren und all ihre moralischen Hemmungen über Bord werfen konnte. Gibt es überhaupt ein Motiv, das sie zu einer solchen Tat befähigte? War denn ihre Liebe zu Knight so groß?«

»Ich möchte es wünschen«, entgegnete Pater Brown, »denn das wäre noch die menschlichste Entschuldigung. Aber ich muß leider sagen, daß ich meine Zweifel habe. Sie wollte einfach ihren Mann los sein, der ihr ein zu rückständiger Provinzler war und ihr nicht einmal genug Geld verdiente. Sie wollte als die Frau eines glänzenden und rasch berühmt werdenden Schauspielers Karriere machen. Sie hat ihren Mann nicht aus einer menschlich-leidenschaftlichen Aufwallung heraus ermordet, sondern aus kühler Überlegung, weil sie an seiner Seite nicht die Rolle spielen konnte, die sie erträumt hatte. Sie setzte ihrem Mann ständig im geheimen zu, er solle sich scheiden lassen oder ihr sonstwie den Weg freigeben, und da er sich weigerte, mußte er schließlich seine Weigerung mit dem Tod bezahlen.

Und Sie müssen sich noch etwas anderes vor Augen halten. Sie verehrten diese Frau wegen ihrer philosophischen und literarischen Neigungen. Aber ihre ganze Philosophie drehte sich nur um den Willen zur Macht und das Recht auf Leben und Erlebnisse … Alles verdammter Unsinn und mehr als das — Unsinn, der zur Verdammnis führt.«

Zornig runzelte Pater Brown die Stirn, was bei ihm selten vorkam, und mit finsterem Gesicht setzte er seinen Hut auf und schritt hinaus in die Nacht.

Vaudreys Verschwinden

Sir Arthur Vaudrey, in einem hellgrauen Sommeranzug, den weißen Hut in keckem Schwung auf das Haupt gedrückt, spazierte vergnügt und raschen Schrittes die Straße längs des Flusses daher, die von seinem Haus zu der kleinen Gruppe winziger, fast wie Nebengebäude seiner prächtigen Villa wirkender Häuschen führte, betrat die kleine Siedlung und — war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Dieses plötzliche Verschwinden war um so unerklärlicher, als die Örtlichkeiten aber auch gar nichts Geheimnisvolles an sich hatten und die Begleitumstände alles andere als kompliziert waren. Die Siedlung konnte man beim besten Willen nicht als Dorf bezeichnen; sie bestand eigentlich nur aus einer schmalen Straße mit kleinen Häusern, die einsam und verlassen in der weiten Flur dalagen. Es gab da vier oder fünf Läden, in denen die Bewohner der Gegend, ein paar Bauern und die Insassen des großen Hauses, das Allernotwendigste kaufen konnten. Gleich an der Ecke befand sich ein Metzgerladen, vor dem, wie sich später herausstellte, Sir Arthur zuletzt gesehen worden war, und zwar von zwei jungen Leuten, die in seinem Haus wohnten: von Evan Smith, der als sein Sekretär fungierte, und von John Dalmon, der, wie man allgemein annahm, sich demnächst mit Sir Arthurs Mündel verheiraten sollte. Gleich daneben lag ein kleiner Laden, in dem alles mögliche zu haben war, wie das oft in Dörfern der Fall ist: eine alte Frau verkaufte hier Schokolade und Bonbons, Spazierstöcke und Golfbälle ebenso wie Leim, Schnur und vergilbtes Schreibpapier. Es folgte ein Tabakladen, zu dem sich die beiden jungen Männer gerade begaben, als sie Sir Arthur vor dem Metzgerladen zum letztenmal erblickten. Daneben betrieben in einem armseligen Häuschen zwei unscheinbare Damen ein Konfektionsgeschäft. Den Schluß bildete ein düsterer, schäbiger Laden, in dem man eine wäßrige, grünliche Limonade in großen Gläsern eretehen konnte, denn das einzige richtige Gasthaus stand noch ein gutes Stück weiter an der Landstraße abwärts. Zwischen dem Gasthaus und der Siedlung lag eine Straßenkreuzung, an der ein Polizist und ein uniformierter Angestellter eines Automobilklubs sich die Zeit vertrieben. Beide sagten übereinstimmend aus, daß Sir Arthur diesen Punkt der Straße nicht passiert habe.

Es war ein strahlender Sommermorgen, als der alte Herr, fröhlich ausschreitend, seinen Spazierstock schwingend und seine gelben Handschuhe durch die Luft wirbelnd, die Straße zur Siedlung entlangmarschierte. Er hatte viel von einem Dandy an sich, war aber für sein Alter doch recht kräftig und lebhaft. Sein körperlicher Zustand war bemerkenswert, und wenn man ihn so sah, wußte man nicht recht, war sein Haar wirklich weiß oder war es nur so blond, daß es weiß erschien. Sein glattrasiertes Gesicht war ebenrnäßig und angenehm; er hatte eine Adlernase wie der Herzog von Wellington. Das hervorstechendste Merkmal an ihm waren jedoch seine Augen, und das nicht nur in bildlichem Sinn. Sie wölbten sich geradezu aus ihren Höhlen und waren so das einzige Unregelmäßige in seinen sonst so ebenmäßigen Gesichtszügen. Seine Lippen waren voll, aber eigenwillig fest zusammengepreßt. Der ganze Grund und Boden ringsum gehörte ihm und die Siedlung natürlich auch. In einem solchen Dörfchen kennt nicht nur jeder jeden, sondern jeder weiß meist auch von jedem, wo er sich in jedem Augenblick befindet. Sir Arthurs Spaziergang wäre normalerweise so verlaufen: Er wäre ins Dorf gegangen, hätte dem Metzger oder wen er gerade aufsuchen wollte, gesagt, was er zu sagen hatte, und wäre in einer halben Stunde wieder zu Hause gewesen wie die beiden jungen Männer, die sich im Tabakladen Zigaretten gekauft hatten. Aber als die beiden wieder heimwärts gingen, sahen sie keinen Menschen auf der Straße außer einem weiteren Gast Sir Arthurs, einem gewissen Doktor Abbott, der, seinen breiten Rücken ihnen zugewandt, geduldig am Flußufer saß und angelte.

Als die drei sich zum Frühstück versammelt hatten, machten sie sich kaum Gedanken darüber, daß Sir Arthur noch nicht da war; als der Tag jedoch fortschritt und er auch zum Mittagessen nicht erschienen war, begannen sie sich natürlich allmählich den Kopf zu zerbrechen, und Sybil Rye, die dem Haushalt vorstand, fing an, sich ernsthaft zu ängstigen. Man suchte nach ihm, entdeckte aber keinerlei Spuren des Verschwundenen, und als es schließlich Abend wurde, war alles in heller Aufregung. Sybil hatte Pater Brown, den sie gut kannte, um seinen Beistand gebeten, und da die Sache offensichtlich eine bedenkliche Wendung nahm, hatte er eingewilligt, bis zur Lösung des Rätsels im Haus zu bleiben.

Als nun auch bei Anbruch des kommenden Tages noch keine Nachricht von dem Verschwundenen gekommen war, zog Pater Brown in der ersten Morgendämmerung los, um auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Seine schwarze, untersetzte Gestalt tauchte auf dem Gartenweg dicht am Flußufer auf, und seine kurzsichtigen Augen schweiften unaufhörlich über die Landschaft. Da bemerkte er, daß noch jemand, noch unruhiger als er selbst, am Ufer auf und ab ging: Evan Smith, der Sekretär. Der Pater rief ihn laut an.

Evan Smith, ein großer, blonder junger Mann, war ziemlich verstört und beunruhigt, was bei der Ungewißheit, die alle bedrückte, durchaus nicht verwunderlich war. Aber etwas von dieser Unruhe war immer an ihm. Vielleicht fiel das an ihm besonders auf, weil er die athletische Gestalt, das ruhige Wesen und das hellblonde Löwenhaar hatte, die nun einmal — in Romanen immer und manchmal sogar in Wirklichkeit — zu einem frisch-fröhlichen »englischen Jüngling« gehören. Aber er hatte tiefliegende Augen und einen unruhigen, flackrigen Blick, und dieser Kontrast zu seiner wohlgebauten Gestalt und dem blonden Haar war irgendwie unheimlich. Pater Brown jedoch lächelte ihm freundlich zu und sagte dann, ernster werdend: »Das ist eine recht heikle Sache.«

»Besonders für Fräulein Rye ist es schlimm«, antwortete der junge Mann finster. »Für mich ist dies das Schlimmste an der ganzen Sache, und ich sehe nicht ein, warum ich es verbergen sollte, auch wenn sie mit Dalmon verlobt ist. Nun sind Sie wohl entsetzt, wie?«

Pater Brown sah nicht gerade entsetzt aus, aber bei ihm konnte man oft nicht erkennen, woran man war. Er sagte nur nachsichtig:

»Natürlich geht uns allen ihre Angst und Besorgnis zu Herzen. Sie haben wohl auch nichts Neues erfahren? Haben Sie sich schon eine Ansicht über Sir Arthurs Verschwinden gebildet?«

»Nein, mit Neuigkeiten kann ich nicht aufwarten, ich habe auch nichts weiter gehört. Und meine Meinung über die ganze Angelegenheit…« Er verfiel in nachdenkliches Schweigen.

»Es würde mich sehr interessieren, wie Sie darüber denken«, sagte der kleine Priester freundlich. »Seien Sie mir nicht böse, aber ich glaube, Sie haben etwas auf dem Herzen.«

Der junge Mann öffnete den Mund, schloß ihn aber wieder und sah den Priester mit zusammengezogenen Augenbrauen, die einen dunklen Schatten über seine tiefliegenden Augen warfen, fest an.

»Ja, Sie haben recht«, sagte er schließlich. »Ich glaube, es ist am besten, ich schütte jemandem mein Herz aus. Und bei Ihnen scheinen mir meine Geheimnisse am besten aufgehoben.«

»Wissen Sie, was Sir Arthur zugestoßen ist?« fragte Pater Brown ruhig, als handle es sich um die nebensächlichste Frage der Welt.

»Ja«, sagte der Sekretär mit heiserer Stimme, »ich glaube, ich weiß, was Sir Arthur zugestoßen ist.«

»Ein herrlicher Morgen«, sagte plötzlich eine weiche Stimme ganz in der Nähe. »Ein herrlicher Morgen, der gar nicht zu einem so traurigen Anlaß paßt.«

Wie von einer Schlange gebissen, fuhr der Sekretär herum, als nun der breite Schatten Doktor Abbotts im hellen Schein der bereits hoch stehenden Sonne über den Weg fiel. Doktor Abbott hatte noch seinen Morgenrock an, einen prächtigen orientalischen Morgenrock, der, über und über mit farbigen Blumen und Drachen bedeckt, aussah wie ein in glühender Sonne leuchtendes, üppiges Blumenbeet. Er trug dazu große, flache Pantoffeln, die es ihm wahrscheinlich ermöglicht hatten, sich so ungehört zu nähern. Eigentlich paßte dieses Heranschleichen gar nicht zu ihm, denn er war ein sehr großer, breiter und schwerer Mann mit einem kräftigen, gutmütigen, sonnenverbrannten Gesicht, das von einem altmodischen, grauen Kinn- und Backenbart umrahmt war. Üppig gewachsene, lange graue Locken umrahmten sein ehrfurchtgebietendes Haupt. Seine zusammengekniffenen grauen Augen blickten reichlich schläfrig drein, was bei einem so alten Mann, der sich zu so früher Stunde erhoben hatte, schließlich nicht verwunderlich war. Aber er sah trotz seines Alters sehr robust und abgehärtet aus, wie ein alter Bauer oder Matrose, der bei jedem Wetter im Freien gewesen ist. Von all den Gästen Sir Arthurs war er der einzige Freund und Altersgenosse des Gastgebers.

»Ich kann es wirklich nicht verstehen«, sagte er kopfschüttelnd. »Diese kleinen Häuser sind doch wie Puppenstuben die ganze Zeit über vorn und hinten offen, und wenn man darin jemanden verbergen wollte, so wäre dies bei dem wenigen Platz ja kaum möglich. Abgesehen davon — ich wüßte nicht, warum ihm jemand übelwollte. Dalmon und ich haben gestern alle Bewohner der Siedlung gesprochen; es sind meistens kleine alte Frauen, die keiner Fliege etwas zuleide tun könnten. Die Männer sind fast alle bei der Ernte, außer dem Metzger, und Arthur wurde zum letztenmal gesehen, als er aus dem Metzgerladen herauskam. Auf dem Rückweg längs des Flusses kann ihm auch nichts zugestoßen sein, denn ich habe den ganzen Vormittag am Ufer gesessen und geangelt.«

Dann sah er Smith an, und dabei sahen seine schmalen Augen gar nicht mehr verschlafen aus; für kurze Sekunden blitzte darin etwas Hinterhältiges auf. »Sie und Dalmon werden es ja bezeugen können«, sagte er, »daß Sie mich die ganze Zeit über hier haben sitzen sehen, sowohl als Sie ins Dorf gingen, als auch als Sie zurückkamen.«

»Allerdings«, erwiderte Smith kurz angebunden. Er schien sich über die lange Unterbrechung ziemlich zu ärgern.

»Ich kann mir die Sache nur so vorstellen …« fuhr Doktor Abbott langsam fort, wurde aber nun seinerseits unterbrochen. Eine geschmeidige, aber kräftige Gestalt tauchte zwischen den Blumenbeeten auf und überquerte schnell den Rasen. Es war John Dalmon, der, ein Stück Papier in der Hand, auf sie zueilte. Er war elegant gekleidet, sein markantes, an Napoleon erinnerndes Gesicht war tiefbraun, und seine Augen hatten einen so traurigen Ausdruck, daß sie einem beinahe tot vorkamen. Er stand offenbar in der Blüte der Jahre, doch war sein schwarzes Haar an den Schläfen vorzeitig ergraut.

»Ich habe soeben von der Polizei dieses Telegramm erhalten«, sagte er. »Ich habe gestern abend noch telegrafiert, und jetzt erhielt ich die Nachricht, daß man sofort jemanden hersenden wird. Herr Doktor Abbott, wissen Sie vielleicht noch jemanden, den wir verständigen müssen? Etwaige Verwandte oder Bekannte?«

»Vor allem müssen wir seinen Neffen Vernon Vaudrey benachrichtigen«, sagte Doktor Abbott. »Wenn Sie mit mir kommen wollen, ich glaube, ich kann Ihnen seine Adresse geben … und Ihnen etwas sehr Merkwürdiges über ihn erzählen.«

Doktor Abbott und Dalmon gingen zum Haus zurück, und als sie außer Hörweite waren, sagte Pater Brown, als wären sie in ihrem Gespräch nie unterbrochen worden:

»Ja und?«

»Sie haben einen kühlen Kopf«, sagte der Sekretär erstaunt.

»Das kommt wohl vom Beichtehören. Und mir ist auch zumute, als wollte ich eine Beichte ablegen. Allerdings hat mir dieser alte Elefant, der wie eine Schlange herangeschlichen kam, beinahe die Stimmung, in der man zu Geständnissen aufgelegt ist, wieder genommen. Aber es ist vieileicht besser, wenn ich mich trotzdem nicht abhalten lasse, obschon es in Wirklichkeit gar nicht meine Beichte ist, sondern die eines anderen.« Er steckte einen Augenblick, zog die Bremen zusammen, strich über seinen Schnurrbart und stieß dann plötzlich hervor: »Ich glaube, Sir Arthur ist entflohen, und ich denke, ich weiß auch den Grund.«

Pater Brown sagte kein Wort, und Evan Smith fuhr nach einer kurzen Pause hastig fort: »Ich bin in einer gräßlichen Lage, und viele würden mein Handeln verurteilen. Ich werde in der Rolle eines hinterhältigen Angebers erscheinen, und doch glaube ich, damit nur meine Pflicht zu tun.«

»Das müssen Sie selbst am besten wissen«, entgegnete Pater Brown ernst. »Aber warum halten Sie es für Ihre Pflicht?«

»Ich bin in der ganz scheußlichen Lage, einen Nebenbuhler, und noch dazu einen erfolgreichen Nebenbuhler, anschwärzen zu müssen«, sagte der junge Mann bitter. »Aber ich sehe keinen anderen Weg. Sie haben mich gefragt, ob ich mir Vaudreys Verschwinden erklären könne. Ich bin unbedingt davon überzeugt, daß die Erklärung bei Dalmon liegt.«

»Sie meinen also«, sagte Pater Brown, ohne großes Staunen zu zeigen, »daß Dalmon Sir Arthur ermordet hat?«

»Aber nein!« fuhr Smith verwundert auf. »Nein und hundertmal nein! Was Dalmon auch sonst verbrochen haben mag — das hat er bestimmt nicht getan! Was er auch sonst sein mag — ein Mörder ist er nicht. Er hat das denkbar beste Alibi, die positive Aussage eines Menschen, der ihn haßt. Ich werde sicherlich nicht aus Liebe zu Dalmon einen Meineid leisten, und ich könnte jederzeit beschwören, daß er gestern dem alten Mann nichts angetan haben kann. Dalmon und ich waren den ganzen Tag über — oder doch zumindest in der fraglichen Zeit — ständig beisammen, und er hat im Dorf nichts getan, als Zigaretten zu kaufen. Ich bin zwar davon überzeugt, daß er ein Verbrecher ist, aber ermordet hat er Vaudrey nicht. Ich möchte sogar sagen: Eben weil er ein Verbrecher ist, hat er Vaudrey nicht ermordet.«

»Nun gut«, sagte Pater Brown geduldig, »und was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will sagen«, antwortete der Sekretär, »daß er ein anderes Verbrechen begeht, das nur verübt werden kann, wenn Vaudrey am Leben bleibt.«

»Ich verstehe«, sagte Pater Brown.

»Ich kenne Sybil Rye ziemlich gut, und ihr Charakter spielt in dieser Geschichte eine große Rolle. Sie ist in doppelter Bedeutung des Wortes ein feiner Charakter, das heißt, sie ist von vornehmer, aber auch sehr empfindlicher Art. Sie gehört zu jenen Menschen, die schrecklich gewissenhaft und peinlich genau sind, ohne jedoch den aus Gewohnheit und nüchternem Verstand geschmiedeten Panzer zu besitzen, den sich viele dieser so gewissenhaften Menschen mit der Zeit umlegen. Sie ist fast krankhaft empfindlich und zugleich völlig selbstlos. Ihre Lebensgeschichte ist recht seltsam. Sie war eine Waise, und wie ein Findelkind besaß sie buchstäblich keinen einzigen Pfennig. Sir Arthur hat sie in sein Haus aufgenommen und mit einer Achtung behandelt, die viele Leute in Erstaunen gesetzt hat, denn, ohne ihm etwas Böses nachsagen zu wollen, es lag ihm nicht sehr, andere auf diese Weise zu behandeln. Als sie aber etwa siebzehn Jahre alt war, bekam sie plötzlich eine überraschende Erklärung für Sir Arthurs Verhalten: Ihr Vormund hielt um ihre Hand an. Nun komme ich zum springendem Punkt dieser Geschichte. Zufällig hatte Sybil durch irgend jemanden — wahrscheinlich durch den alten Abbott — erfahren, daß Sir Arthur Vaudrey in seinen wilden Jugendjahren irgendein Verbrechen oder wenigstens ein großes Unrecht begangen hatte — eine Tat, durch die er mit dem Gesetz in ernstlichen Konflikt gekommen war. Was es war, weiß ich nicht. Aber dem jungen, empfindlichen Mädchen erschien die Tat ganz schrecklich; Sir Arthur kam ihr wie ein Ungeheuer vor, und es war ihr einfach unvorstellbar, daß sie mit ihm eine Ehe eingehen sollte. Es ist typisch für sie, wie sie sich in dieser Lage verhielt. In hilflosem Schrecken und mit heroischem Mut sagte sie ihm mit zitternden Lippen die Wahrheit. Sie gestand, daß ihre Abneigung vielleicht krankhaft sei, sie gab sie offen zu wie eine verborgengehaltene Verrücktheit. Zu ihrer Erleichterung und Überraschung nahm Sir Arthur ihr Geständnis ruhig und höflich entgegen und kam niemals wieder auf seinen Antrag zurück. Und sein Verhalten bei einer späteren Gelegenheit verstärkte in ihr noch den Eindruck von seinem Edelmut. In ihr einsames Leben war nämlich ein ebenso einsamer Mann getreten. Wie ein Einsiedler hauste er draußen auf einer der Flußinseln, und wahrscheinlich fühlte sie sich von seinem geheimnisvollen Wesen angezogen, obwohl ich zugeben muß, daß er schon rein äußerlich als Mann gesehen anziehend genug ist. Von besten Umgangsformen, sehr geistreich, aber mit einem melancholischen Einschlag, was wohl den romantischen Eindruck noch verstärkt. Sie werden schon wissen, wen ich meine: Dalmon. Aber ich weiß heute noch nicht, ob sie ihn wirklich liebt; auf jeden Fall hat sie ihm erlaubt, bei ihrem Vormund um ihre Hand zu bitten. Ich kann mir gut vorstellen, daß sie das Ergebnis dieser Aussprache mit Zittern und Beben erwartet und sich gefragt hat, wie der alte Geck wohl das Auftauchen eines Nebenbuhlers aufnehmen würde. Aber auch jetzt mußte sie entdecken, daß sie ihm offenbar unrecht getan und ihn falsch eingeschätzt hatte. Sir Arthur begrüßte den Jüngeren mit großer Herzlichkeit und schien sich über das zukünftige Glück des jungen Paares ehrlich zu freuen. Er ging zusammen mit Dalmon auf die Jagd und zum Fischen, und die beiden waren offensichtlich die besten Freunde. Da erlebte sie eines Tages eine neue Überraschung. Zufällig entschlüpfte Dalmon bei einer Unterhaltung die Bemerkung, daß sich der Alte in den letzten dreißig Jahren nicht sehr verändert habe, und mit einem Schlag verstand sie die Ursache für die merkwürdige Vertrautheit der beiden Männer. Das ganze Kennenlernen und die freundliche Aufnahme waren nur Theater gewesen; die beiden kannten sich offenbar von früher her. Deshalb also war der Jüngere so heimlich in die Gegend gekommen. Deshalb war auch der Ältere so schnell bereit gewesen, zu der Verbindung mit seinem Mündelkind seine Zustimmung zu geben. Nun, was halten Sie davon?«

»Was Sie davon halten, ist mir völlig klar«, sagte Pater Brown lächelnd, »und Ihr Schluß scheint auch ganz logisch zu sein. Auf der einen Seite haben wir Vaudrey mit irgendeinem dunklen Punkt in seiner Vergangenheit, auf der anderen einen geheimnisvollen Fremden, der sich an ihn heranmacht und unter Ausnützung seiner Kenntnis dieses dunklen Punktes von ihm bekommt, was er haben will. Mit anderen Worten: Sie halten Dalmon für einen Erpresser.«

»Allerdings«, entgegnete Smith, »und das ist ein scheußlicher Gedanke.«

Pater Brown überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Ich halte es für das beste, ich gehe jetzt ins Haus und rede mal ein Wörtchen mit Doktor Abbott.«

Als er nach einigen Stunden wieder aus dem Haus trat, konnte er zwar init Doktor Abbott gesprochen haben, er kam jedoch nicht mit ihm, sondern mit Sybil Rye heraus, einem blassen Mädchen mit rötlichem Haar und einem zarten, sehr sensitiven Gesicht. Wenn man sie so sah, konnte man sofort verstehen, was der Sekretär von ihrer mimosenhaften Zartfühligkeit berichtet hatte. Man mußte an die berühmte Lady Godiva und an gewisse Legenden von jungfräulichen Märtyrinnen denken; nur derartig scheue Menschen können um ihres Gewissens willen so schamlos und schonungslos werden. Smith ging ihnen entgegen, und sie blieben eine Weile auf dem Rasen stehen. Die Sonne, die am frühen Morgen strahlend aufgegangen war, brannte jetzt glühend hernieder, aber immer noch trug Pater Brown in der Hand seinen schwarzen Schirm und auf dem Kopf den schwarzen Hut, der mit seinem breiten Rand wie ein aufgespannter Schirm aussah. Es war, als habe er sich für ein Unwetter gerüstet, und — obwohl er sich dessen wahrscheinlich gar nicht bewußt war — auch sein Gesicht sah nach Sturm aus.

»Was ich am meisten hasse, ist das Gerede, das bereits beginnt«, sagte Sybil leise. »Jeder wird verdächtigt. John und Evan können ja füreinander einstehen, aber Doktor Abbott hat mit dem Metzger eine stürmische Auseinandersetzung gehabt. Der Metzger glaubt, daß man ihn verdächtigt, und streut nun seinerseits alle möglichen Verdächtigungen aus.«

Evan Smith war es deutlich anzusehen, daß es ihm in seiner Haut nicht recht wohl war. Er platzte heraus:

»Schau mal, Sybil, ich kann nicht viel sagen, aber wir halten dieses ganze Getue für unnötig. Die Sache ist schlimm genug, aber an eine — Gewalttat glauben wir nicht.«

»Sie haben also schon eine Erklärung für das Verschwinden?« fragte Sybil Rye und richtete ihre Augen sofort auf den Priester.

»Ich habe eine Erklärung gehört«, sagte dieser, »die mir recht plausibel klingt.«

Gedankenverloren sah er zum Fluß hinüber, während das Mädchen und Smith sich leise in schnellen Worten unterhielten. Vor sich hinsinnend, ging der Priester langsam das Ufer entlang und verschwand dann in einem Gebüsch an einer Stelle, wo das Ufer steil zum Fluß hin abfiel. Die glühende Sonne brannte auf dem dünnen Schleier der kleinen, tanzenden Blättchen, so daß diese aussahen wie grüne Flämmchen. Kurze Zeit später hörte Smith, wie aus der grünen Tiefe des Dickichts leise, aber deutlich sein Name gerufen wurde. Rasch eilte er in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war, und sah Pater Brown aus dem Gebüsch wieder auftauchen. Hastig zog ihn der Priester zur Seite und flüsterte ihm zu:

»Sorgen Sie dafür, daß Fräulein Rye nicht hierherkommt. Können Sie sie nicht irgendwie loswerden? Schicken Sie sie weg, sie soll telefonieren oder sonstwas tun, und kommen Sie dann sofort zurück.«

Evan Smith versuchte verzweifelt, sich nichts anmerken zu lassen, als er sich nun wieder Fräulein Rye zuwandte, aber da sie ein Mensch war, der gern für andere etwas besorgte, war sie sehr bald im Haus verschwunden.

Pater Brown war bereits wieder in dem Dickicht untergetaucht, als Smith zurückkehrte. Direkt unterhalb des Gebüsches befand sich eine kleine Bucht; hier zog sich das grasbewachsene Steilufer bis zum Plußsand hinab. Am Rand dieser schmalen Bucht stand Pater Brown und blickte auf den Sand hinunter, und obwohl die Sonne glühend auf seinen Kopf herniederbrannte, hielt er — entweder aus Gedankenlosigkeit oder absichtlich — seinen Hut in der Hand.

»Es ist besser, wenn zwei Zeugen dies sehen«, sagte er todernst. »Aber machen Sie sich auf etwas Schreckliches gefaßt.«

»Auf etwas Schreckliches?« fragte der andere schaudernd.

»Auf den schrecklichsten Anblick, den ich je in meinem Leben gehabt habe«, sagte Pater Brown.

Evan Smith trat an den Rand des grasbewachsenen Ufers. Entsetzt fuhr er zurück, und nur mit Mühe konnte er einen lauten Aufschrei unterdrücken.

Sir Arthur Vaudrey starrte ihm grinsend entgegen. Gräßlich — das Gesicht war so dicht vor ihm, daß er seinen Fuß hätte daraufsetzen können; der Kopf war zurückgeworfen, der Schopf des weißlich-hellen Haares dem Beschauer zugekehrt, so daß man das Gesicht von unten her sah. Das machte den Anblick noch grausiger, denn es sah aus, als sei der Kopf verkehrt herum auf den Körper gesetzt. Was tat er da nur? War es möglich, daß Vaudrey wirklich so herumkroch, sich in dieser kleinen, grasbewachsenen Bucht verbarg Und in dieser unnatürlichen Stellung zu ihnen hinaufsah? Der Körper war eigenartig verkrümmt, wie verkrüppelt oder verstümmelt, und erst bei näherem Zusehen erkannte man, daß dieser Eindruck nur durch den Gesichtswinkel entstand, aus dem man den zusammengesunkenen Körper sah. War Sir Arthur etwa verrückt geworden? Je mehr Smith hinsah, desto steifer und unnatürlicher erschien ihm die ganze Haltung.

»Von dort aus, wo Sie stehen, können Sie es wahrscheinlich nicht erkennen«, sagte Pater Brown. »Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«

Smith schauderte zusammen. »Ich glaube Ihnen gern, daß dies der schrecklichste Anblick ist, den Sie je gehabt haben«, sagte er. »Wahrscheinlich sieht es deshalb so gräßlich aus, weil man das Gesicht verkehrt herum erblickt. Ich habe dieses Gesicht zehn Jahre lang Tag für Tag bei jeder Mahlzeit mir gegenüber gesehen, und immer sah es freundlich und liebenswürdig aus. Man braucht so ein Gesicht nur einmal umgekehrt zu sehen, und schon sieht es aus wie das Gesicht eines bösen Menschen.«

»Das Gesicht lächelt«, sagte Pater Brown trocken, »eine Tatsache, die ich mir nicht erklären kann. Es gibt nicht viele Leute, die lächeln, wenn man ihnen die Kehle durchschneidet, selbst dann nicht, wenn sie es selbst tun. Dieses Lächeln, und dazu seine hervortretenden Augen, die ja schon immer aussahen, als wollten sie aus dem Kopf kommen, dürfte wohl erklären, warum der Anblick so grausig ist. Aber Sie haben recht, es sieht alles anders aus, wenn man es umdreht. Künstler stellen ihre Bilder oft auf den Kopf, um zu prüfen, ob die Zeichnung richtig ist. Manchmal, wenn es Schwierigkeiten macht, den Gegenstand selbst auf den Kopf zu stellen — wie zum Beispiel beim Matterhorn —, pflegen sie sich selbst auf den Kopf zu stellen oder versuchen, zwischen den Beinen durchzusehen.«

Der Priester, der munter drauflosredete, um die Nerven seines Begleiters zu beruhigen, schloß in ernsterem Ton mit den Worten: »Ich verstehe recht gut, daß dieser Anblick Sie erschüttert hat. Unglücklicherweise ist dadurch noch etwas anderes erschüttert worden.«

»Etwas anderes? Wie meinen Sie das?«

»Unsere ganze schöne Theorie, die so überzeugend schien«, antwortete Pater Brown und kletterte das Ufer hinab zu dem schmalen Sandstreifen, der sich am Fluß entlangzog.

»Vielleicht hat er selbst Hand an sich gelegt«, meinte Smith plötzlich. »Vielleicht war es der einzige Ausweg, den er noch vor sich sah; das würde recht gut zu unserer Theorie passen. Er suchte einen abgelegenen Platz, kam hierher und schnitt sich die Kehle durch.«

»Er ist aber nicht hierhergekommen«, sagte Pater Brown, »wenigstens nicht lebend und nicht vom Land her. Hier hat er seinen Tod nicht gefunden, dafür sind nicht genug Blutspuren vorhanden. Die heiße Sonne hat sein Haar und seine Kleidung bereits fast völlig getrocknet; aber am Sand können Sie noch deutlich erkennen, wie hoch das Wasser gestanden hat. Bis hierher etwa kommt die Flut vom Meer herauf und erzeugt einen Strudel, der den Leichnam in diese kleine Bucht hineingeschwemmt hat, wo er dann liegenblieb, als sich der Wasserspiegel bei Ebbe wieder senkte. Zunächst allerdings muß der Körper den Fluß hinuntergespült worden sein, wahrscheinlich von der Siedlung her, denn die Häuschen stehen ja unmittelbar am Fluß; der arme Vaudrey hat sicherlich dort seinen Tod gefunden, aber ich glaube nicht, daß er Selbstmord begangen hat. Die Frage ist nur: Wer in der winzigen Siedlung könnte ihn ermordet haben?«

Und er begann mit der Spitze seines kurzen Regenschirms allerlei merkwürdige Linien in den Sand zu zeichnen.

»Wir wollen einmal sehen. Wie folgen doch die Läden aufeinander? Zuerst kommt der Metzgerladen. Ein Metzger mit einem langen Schlachtmesser wäre natürlich ein geradezu idealer Halsabschneider. Aber Sie haben doch selbst gesehen, wie Vaudrey aus dem Laden gekommen ist, und überdies ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er ruhig im Laden stehenblieb, während der Metzger sagte: ›Guten Morgen. Gestatten Sie bitte, daß ich Ihnen die Kehle durchschneide. So, danke sehr. Der nächste, bitte.‹ Sir Arthur scheint mir durchaus nicht der Mann gewesen zu sein, der so etwas freundlich lächelnd mit sich geschehen ließe. Schließlich war er kräftig genug und hatte ein ziemlich heftiges Temperament. Aber wer außer dem Metzger hätte es mit ihm aufnehmen können? Der nächste Laden gehört einer alten Frau. Dann kommt der Tabakladen. Der Inhaber ist zwar ein Mann, aber, wie ich höre, ein kleines, schüchternes Kerlchen. Das Konfektionsgeschäft gehört zwei alten Damen, die beide unverheiratet sind, und in dem Laden mit den Erfrischungen bedient die Frau des Inhabers, da der Mann gegenwärtig im Krankenhaus liegt. Die zwei oder drei Burschen, die als Gehilfen oder Laufjungen beschäftigt sind, hatten gestern zufällig alle auswärts Besorgungen zu erledigen. Der Erfrischungsladen ist das letzte Haus an der Straße, darüber hinaus liegt nur noch das Gasthaus, aber dazwischen stand ja ein Polizist.«

Er drückte mit der eisernen Spitze seines Regenschirms ein Loch in den Sand, das den Polizisten darstellen sollte, und blickte nachdenklich den Fluß hinauf. Plötzlich fuhr er mit der Hand durch die Luft, trat schnell zu dem Leichnam und beugte sich über ihn.

»Aha!« sagte er, richtete sich auf und holte tief Luft. »Der Tabakladen! Wie konnte ich das nur vergessen!«

»Was ist denn mit Ihnen los?« fragte Smith verblüfft, denn Pater Brown rollte die Augen und murmelte Unverständliches vor sich hin, und das Wort »Tabakladen« hatte einen unheimlichen Beiklang gehabt, als enthielte es einen vernichtenden Urteilsspruch.

»Ist Ihnen an seinem Gesicht nicht etwas sehr Merkwürdiges aufgefallen?« fragte der Priester nach einer Pause.

»Etwas Merkwürdiges? Sie sind ja gut«, sagte Evan, dem noch der Schreck in allen Gliedern steckte. »Schließlich hat man ihm doch die Kehle…«

»Ich sagte: an seinem Gesicht«, bemerkte Pater Brown ruhig. »Sehen Sie übrigens nicht, daß er sich an der Hand verletzt hat und einen kleinen Verband trägt?«

»Oh, das hat mit der Sache nichts zu tun«, sagte Evan Smith schnell. »Diese kleine Wunde hat er sich rein zufällig und noch vor der Ermordung zugefügt. Er hat sich die Hand an einem zerbrochenen Tintenfaß verletzt, als wir zusammen arbeiteten.«

»Und doch hat das etwas mit seinem Tod zu tun«, erwiderte Pater Brown.

Lange Zeit schwiegen beide, und der Priester ging nachdenklich, seinen Regenschirm hinter sich nachziehend, auf dem Sandstreifen auf und ab, ständig vor sich hinmurmelnd. Immer wieder war das Wort »Tabakladen« zu hören, so daß Smith schließlich kalte Furcht überrieselte, so unheimlich wirkte das Wort auf ihn. Dann hob Pater Brown plötzlich den Regenschirm und zeigte auf ein Bootshaus, das zwischen dem Schilf sichtbar war.

»Das Bootshaus gehört doch zum Haus Vaudrey?« fragte er. »Es wäre mir lieb, wenn Sie mich den Fluß hinaufrudern würden. Ich möchte gerne einmal diese Häuser von hinten sehen. Wir haben keine Zeit zuverlieren. Vielleicht wird in der Zwischenzeit der Leichnam hier gefunden, aber darauf müssen wir es ankommen lassen.«

Sie waren schon eine ganze Zeit in dem kleinen Boot unterwegs, das Smith mit kräftigen Ruderschlägen flußaufwärts lenkte, ehe Pater Brown wieder etwas sagte.

»Ich habe übrigens vom alten Abbott erfahren, was der arme Vaudrey sich früher hat zuschulden kommen lassen. Es ist eine höchst merkwürdige Geschichte. Ein ägyptischer Beamter hatte ihm gegenüber die beleidigende Äußerung getan, ein guter Moslem meide Schweinefleisch und Engländer; wenn er aber wählen müsse, so würde er den Schweinen den Vorzug geben. So oder ähnlich war die taktvolle Bemerkung. Dieser Streit lebte anscheinend einige Jahre später, als dieser Ägypter nach England kam, wieder auf, und Vaudrey in seiner leidenschaftlichen Rachsucht schleppte den Mann in einen Schweinestall, der zu seinem Haus gehörte, und warf ihn mit solcher Wucht hinein, daß der sich einen Arm und ein Bein brach. In diesem Zustand ließ er ihn bis zum nächsten Morgen liegen. Die Geschichte erregte seinerzeit natürlich großes Aufsehen; viele Leute waren allerdings der Auffassung, Vaudrey habe in einer verzeihlichen patriotischen Aufwallung gehandelt. Auf keinen Fall aber glaube ich, daß sich ein Mensch wegen einer solchen Tat jahrelang stillschweigend erpressen lassen würde.«

»Dann glauben Sie also nicht, daß diese Geschichte mit unserer Theorie etwas zu schaffen hat?«

»Ich glaube, mit meiner Theorie, die ich jetzt aufgestellt habe, hat sie sogar sehr viel zu schaffen«, entgegnete Pater Brown.

Das Boot zog an der niedrigen Mauer vorüber, die den von der Hinterfront der Häuser steil zum Ufer abfallenden Streifen Gartenland abschloß. Pater Brown zählte die Häuser mit erhobenem Regenschirm, und als er zum dritten kam, sagte er:

»Der Tabakladen! Es würde mich doch interessieren, ob der Inhaber… Aber das werde ich ja leicht erfahren können. Jetzt will ich Ihnen auch sagen, was mir an Sir Arthurs Gesicht aufgefallen ist.«

»Was denn?« fragte sein Begleiter und hielt gespannt im Rudern inne.

»Er hat doch stets so großen Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt. Aber sein Gesicht — war nur halb rasiert… Könnten Sie hier einen Augenblick halten? Am besten binden wir das Boot an den Pfosten hier.«

Ein paar Minuten später waren sie schon über die kleine Mauer gestiegen und kletterten den schmalen, steilen, mit Kieselsteinen belegten Gartenweg hinauf, der von Blumen- und Gemüsebeeten gesäumt war.

»Dachte ich es mir doch gleich«, bemerkte Pater Brown. »Der Tabakhändler zieht also Kartoffeln. Und wo es viele Kartoffeln gibt, gibt es auch bestimmt viele Kartoffelsäcke. Diese kleinen Krämer auf dem Land haben noch nicht alle ländlichen Gewohnheiten aufgegeben: Meist üben sie noch zwei oder drei Berufe gleichzeitig aus. Und in den Tabakläden auf dem Land wird seit eh und je noch ein zweiter wichtiger Beruf ausgeübt, an den ich erst dachte, als ich Vaudreys Kinn sah. Man kann hier nicht nur Tabak kaufen, man kann sich hier auch rasieren lassen. Sir Arthur hatte sich in die Hand geschnitten und konnte sich deshalb nicht selbst rasieren; also ging er hierher. Fällt Ihnen dabei nicht etwas ein?«

»Man kann auf alle möglichen Gedanken kommen«, erwiderte Smith, »aber ich glaube, daß mein Gedankenflug bei weitem nicht so schnell ist wie Ihrer.«

»Mir fällt bei dieser Gelegenheit ein, daß es nur eine einzige Gelegenheit gibt, bei der ein kräftiger und ziemlich temperamentvoller Mann lächeln könnte, wenn ihm die Kehle durchgeschnitten wird.«

Im nächsten Augenblick hatten sie bereits den dunklen Flur des Hinterhauses durchschritten und gelangten in den rückwärtigen Ladenraum; er war nur spärlich durchtrübes Licht erhellt, das matt von draußen hereinsickerte und von einem schmutzigen, von Rissen durchzogenen Spiegel zurückgeworfen wurde. Es war ein Licht, ähnlich dem grünlichen Zwielicht eines Brunnenschachts, aber doch immerhin hell genug, um in Umrissen die Einrichtung einer Barbierstube und das bleiche, schreckverzerrte Gesicht des Barbiers und Tabakhändlers Wicks erkennen zu lassen.

Pater Browns Auge schweifte im Zimmer umher, das anscheinend erst vor kurzem gereinigt und aufgeräumt worden war, bis sein Blick in einer staubigen Ecke unmittelbar hinter der Tür etwas entdeckte. An einem Kleiderhaken dort hing ein Hut — ein weißer Hut, den jedes Kind im Dorf kannte. Auf der Straße hatte ihn jeder schon von weitem erkannt, hier aber war er als unbedeutende Nebensächlichkeit von dem Mann vergessen worden, der offensichtlich so peinlich den Boden geschrubbt und alle Blutspuren aus der Kleidung und vom Boden entfernt hatte.

»Sir Arthur Vaudrey ist hier gestern vormittag rasiert worden«, sagte Pater Brown, ohne die Stimme zu heben.

Der Barbier, ein kleines, unscheinbares, bebrilltes Männlein, war über das plötzliche Auftauchen dieser beiden Gestalten entsetzt, als sehe er zwei Gespenster, die vor seinen Augen aus einem Grab stiegen. Man merkte es ihm auf den ersten Blick an, daß er kein gutes Gewissen haben konnte. Er kroch, er schrumpfte sozusagen in eine Ecke des Raumes zusammen, bis von dem ganzen Männlein nicht viel mehr als nur noch die großen Brillengläser übrig zu sein schienen.

»Sagen Sie mir eines«, sagte der Priester ruhig, »hatten Sie Grund, Sir Arthur zu hassen?«

Das Männlein in der Ecke stammelte etwas, das Smith nicht verstehen konnte, aber der Priester nickte.

»Ich wußte es«, sagte er. »Sie haben ihn gehaßt, und deshalb weiß ich auch, daß Sie ihn nicht ermordet haben. Wollen Sie uns erzählen, wie sich die Sache zugetragen hat, oder soll ich es tun?«

Der Barbier schwieg. Main hörte nichts als das leise Ticken einer Uhr, das aus der Küche drang. Schließlich fuhr Pater Brown fort: »Der Hergang war so: Herr Dalmon kam in Ihren Laden und verlangte eine bestimmte Zigarettenmarke, die im Schaufenster ausgestellt war. Sie gingen einen Augenblick auf die Straße hinaus, um nachzusehen, welche Marke Herr Dalmon genau meinte. In diesem Augenblick sah Dalmon hier im Hinterzimmer das Rasiermesser, das Sie gerade aus der Hand gelegt hatten, und den über die Sessellehne zurückgebeugten weißblonden Haarschopf von Sir Arthur. Wahrscheinlich fiel gerade die Sonne schräg durch jenes Fenster und ließ Messer und Haare hell aufleuchten. Er brauchte nur einen Augenblick, um das Messer zu ergreifen, die Kehle zu durchschneiden und in den Laden zurückzukehren. Weder das Messer noch die Hand, die es führte, schreckten Sir Arthur aus seinem Träumen auf. Er starb, während er über seine Gedanken schmunzelte — und über was für Gedanken! Auch Dalmon, glaube ich, war völlig ruhig. Er hatte die Tat so schnell und geräuschlos vollbracht, daß Sie, Herr Smith, vor Gericht hätten schwören können, die ganze Zeit über mit ihm zusammengewesen zu sein. Ein anderer aber war mit Recht erschreckt und aufgeregt, und das waren Sie, Herr Wicks. Sie hatten mit Sir Arthur wegen rückständiger Pachtzinsen und ähnlicher Dinge Streitereien gehabt. Und nun kamen Sie in Ihre Rasierstube zurück und entdeckten, daß Ihr Feind in Ihrem Sessel und mit Ihrem Rasiermesser ermordet worden war. Es ist durchaus erklärlich, daß Ihnen Zweifel kamen, ob Sie Ihre Unschuld würden beweisen können, und so zogen Sie es vor, die Spuren der Tat zu beseitigen, den Boden zu schrubben und den Leichnam in einem lose zugebundenen Sack nachts in den Fluß zu werfen. Es traf sich glücklich, daß Ihre Barbierstube nur zu bestimmten Zeiten geöffnet ist, denn so hatten Sie Zeit genug dazu. Sie scheinen an alles gedacht zu haben, nur nicht an den Hut… Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde alles vergessen, auch den Hut.«

Und damit ging Pater Brown ruhigen Schrittes durch den Tabakladen hinaus auf die Straße, gefolgt von dem staunenden Smith, während der Barbier ihnen fassungslos nachstarrte.

»Sehen Sie«, sagte der Pater zu seinem Begleiter, »hier haben wir einen der Fälle, wo wir den Mörder nicht ohne weiteres durch die Frage nach dem Motiv überführen können, wo diese Frage aber doch ermöglicht, einen Menschen als unschuldig zu erkennen. Ein kleiner, zappliger Mann wie der Tabakhändler wäre sicherlich der letzte, der einen großen, kräftigen Mann wegen einer Geldstreitigkeit wirklich umbringen würde. Aber als erster hat er Angst, er würde beschuldigt werden, die Tat begangen zu haben… Nein, der Mann, der Sir Arthur umgebracht hat, hatte ein ganz anderes Motiv.« Und er verfiel wieder in tiefes Nachdenken und starrte gedankenverloren ins Leere.

»Es ist einfach gräßlich«, stöhnte Evan Smith. »Ich habe Dalmon zwar schon vor einigen Stunden als Erpresser und Schurken bezeichnet, aber ich bin doch tief erschüttert bei dem Gedanken, daß er wirklich den Mord begangen haben soll.«

Der Priester wandelte immer noch wie ein Träumender, wie in Trance; er machte den Eindruck eines Menschen, der in einen tiefen Abgrund starrt. Schließlich bewegten sich seine Lippen, und er murmelte etwas vor sich hin, das wie ein Stoßseufzer klang: »Barmherziger Gott, was für eine schreckliche Rache!«

Evan Smith, der noch immer verzweifelt versuchte, zu verstehen, was der Priester meinte, sah ihn fragend an. Aber Pater Brown schien ihn gar nicht zu sehen und fuhr wie im Selbstgespräch fort: »Welch entsetzlicher Haß! Wie kann nur ein sterblicher Erdenwurm an einem anderen solch eine gräßliche Rache nehmen! Werden wir jemals die Abgründe eines Menschenherzens erhellen können, in denen solch schreckliche Gedanken reifen konnten! Gott bewahre uns vor Hochmut, aber ich kann mir von einem solchen Haß und einer solchen Rache immer noch keine rechte Vorstellung machen.«

»Mir ergeht es genauso«, sagte Smith. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum Dalmon überhaupt Vaudrey getötet hat. Wenn er ein Erpresser war, dann wäre es doch eher verständlich, wenn Sir Arthur ihn umgebracht hätte. Wie Sie sagen, diese durchgeschnittene Kehle… war entsetzlich, aber…«

Pater Brown fuhr auf und blinzelte wie jemand, der aus tiefem Schlaf erwacht. »Ach, das meinen Sie!« unterbrach er Smith schnell. »Nein, daran habe ich jetzt nicht gedacht. Ich habe nicht den Mord in der Barbierstube gemeint, als ich von der schrecklichen Rache sprach. Dieser Teil der Geschichte ist zwar scheußlich genug, aber ich dachte an etwas noch viel Gräßlicheres. Der Mord an und für sich ist viel begreiflicher; den hätte fast jeder begehen können. Dieser Mord war beinahe ein Akt der Notwehr.«

»Wie?« rief der Sekretär verblüfft aus, und auf seinem Gesicht malte sich ungläubiges Staunen. »Wenn ein Mensch sich von hinten an einen anderen heranschleicht, während dieser in einem Barbierstuhl friedlich zur Decke emporschmunzelt, und ihm den Hals durchschneidet, dann nennen Sie das Notwehr?«

»Ich habe nicht gesagt, daß es gerechte Notwehr gewesen sei«, erwiderte Pater Brown. »Ich sagte nur, daß auch andere zu dieser Tat hätten getrieben werden können, um sich vor einem schrecklichen Unglück zu schützen, das überdies ein furchtbares Verbrechen war. Und an dieses andere Verbrechen habe ich vorhin gedacht. Um mit der Frage zu beginnen, die Sie mir soeben gestellt haben: Warum sollte der Erpresser der Mörder sein? Nun, über eine Frage wie diese herrschen meist ganz falsche Vorstellungen.« Er hielt inne, als müsse er sich nach dem grauenerregenden Blick, den er soeben in den Abgrund des menschlichen Herzens getan hatte, erst wieder sammeln. Dann aber fuhr er in seinem gewöhnlichen Tonfall fort:

»Was haben Sie also an Fakten beobachtet? Zwei Männer, ein älterer und ein jüngerer, stecken viel beisammen und werden sich über ein Heiratsprojekt einig. Ein dunkler Punkt: Der Ursprung ihrer Vertraulichkeit liegt lange zurück und wird geheimgehalten. Der eine ist reich, der andere arm; und deshalb schließen Sie auf Erpressung. Bis hierher haben Sie auch ganz recht. Ihr großer Irrtum liegt darin, daß Sie den Erpresser in der falschen Person suchen: Sie nehmen an, daß der Arme den Reichen erpreßte. In Wirklichkeit aber war es umgekehrt.«

»Aber das ist doch absolut widersinnig«, warf der Sekretär ein.

»Es ist noch viel schlimmer, und dabei ist es etwas, was alles andere als selten ist«, entgegnete Pater Brown. »Heutzutage besteht ja sogar die Politik zur Hälfte aus Erpressungen, die die Reichen am Volk verüben. Ihre Meinung, das sei Unsinn, beruht ruht auf zwei Illusionen, die selbst unsinnig sind. Zum ersten nehmen Sie an, daß reiche Leute niemals noch reicher zu sein wünschen, und zum anderen glauben Sie, daß man nur Geld erpressen könne. Und den zweiten Fall haben wir hier. Sir Arthur Vaudrey handelte nicht aus Habsucht, sondern aus Rachsucht. Und er plante die gräßlichste Rache, von der ich je gehört habe.«

»Aber welchen Grund hatte er denn, an John Dalmon Rache zu nehmen?« fragte Smith.

»Er wollte sich gar nicht an Dalmon rächen«, antwortete der Priester ernst.

Beide schwiegen, und als Pater Brown fortfuhr, schien er von etwas ganz anderem sprechen zu wollen. »Als wir den Leichnam fanden, sahen wir das Gesicht umgedreht, und Sie sagten, es sehe aus wie das Gesicht eines bösen Menschen. Haben Sie daran gedacht, daß der Mörder, als er von hinten an den Barbierstuhl herantrat, das Gesicht ebenso gesehen haben muß?«

»Ach, das habe ich nur so im ersten Schreck dahergesagt«, erwiderte sein Begleiter. »Wenn ich früher das Gesicht jeden Tag sah, konnte ich niemals etwas Ungewöhnliches daran entdecken.«

»Aber vielleicht haben Sie das Gesicht gar nie richtig gesehen«, sagte Pater Brown. »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Maler ein Bild auf den Kopf stellen, wenn sie es richtig sehen wollen. Vielleicht haben Sie sich in den ganzen Jahren an das Gesicht eines bösen Menschen gewöhnt.«

»Worauf wollen Sie denn eigentlich hinaus?« fragte Smith ungeduldig.

»Ich spreche in Gleichnissen«, entgegnete Pater Brown finster. »Natürlich war Sir Arthur kein gewöhnlicher Hasser; sein Charakter wurde durch eine Anlage bestimmt, die ihn auch zum Guten hätte führen können. Schon seine vorstehenden, mißtrauischen Augen, seine zusammengepreßten, nervös zitternden Lippen hätten Ihnen einiges sagen können, wenn Sie daran nicht so sehr gewöhnt gewesen wären. Wie Sie wissen, gibt es körperliche Wunden, die nie mehr heilen. Und so etwas gibt es auch bei der Seele. Es gibt Menschen mit einer Gemütsverfassung, die ein vermeintliches oder wirkliches Unrecht nie vergessen kann. Ein solches Gemüt hatte Sir Arthur — ein Gemüt gleichsam ohne Haut. Seine Eitelkeit lag ständig auf der Lauer. Aus seinen vorstehenden Augen spähte unablässig ein Egoismus, der nicht zuließ, daß sie sich ruhig schließen konnten. Natürlich braucht Empfindsamkeit durchaus nicht immer Selbstsucht zu sein; auch Sybil Rye ist so veranlagt und dennoch fast eine Heilige. Bei Vaudrey jedoch wurde alles zu einem Hochmut voller Gift, einem Hochmut, der ihn nicht einmal seiner selbst sicher sein ließ. Jedes noch so kleine Ritzchen, das seine Seele verwundete, wurde deshalb zum eiternden Geschwür. Erst wenn Sie dies wissen, werden Sie die alte Geschichte von dem Ägypter und dem Schweinestall richtig verstehen können. Hätte er den Ägypter sofort, nachdem ihn dieser beleidigt hatte, in den Schweinestall geworfen, so könnte man das als verzeihlichen Jähzorn verstehen und entschuldigen. Aber es war gerade kein Schweinestall da, und so fehlte die rechte Pointe. Viele Jahre hindurch schleppte Vaudrey diese törichte Beleidigung mit sich herum und wartete auf eine Gelegenheit — und sei sie noch so unwahrscheinlich —, bis er den Ägypter tatsächlich in der Nähe eines Schweinestalls antraf. Und jetzt erst nahm er die Rache, die er als einzig angemessen und sinnreich betrachtete … O Gott, und so wollte er seine Rache immer haben!«

Smith sah ihn voll höchster Spannung an. »Sie denken jetzt nicht an die Geschichte mit dem Schweinestall«, sagte er.

»Nein, ich denke an die andere Geschichte.«

Man merkte seiner Stimme an, wie sehr Pater Brown aufgewühlt war. Aber er hatte sich bald wieder gefaßt und fuhr fort:

»Jahrelang hatte also Vaudrey sein Sinnen und Trachten darauf gerichtet, eine der Beleidigung seiner Meinung nach angemessene Rache zu nehmen. Und nun zu unserem Fall: Kennen Sie vielleicht noch jemanden, der Vaudrey beleidigte oder ihm etwas zugefügt hatte, das in seinen Augen eine tödliche Beleidigung war? Allerdings … Ein weibliches Wesen hatte ihn beleidigt.«

Jetzt begann Evan Smith zu verstehen, und Entsetzen packte ihn. Er lauschte gespannt.

»Ein Mädchen, wenig mehr als ein Kind, weigerte sich, ihn zu heiraten, weil er wegen der dem Ägypter zugefügten Körperverletzung kurze Zeit im Gefängnis gesessen hatte. Und darauf beschloß dieser Wahnsinnige in seinem teuflischen Herzen: ›Sie soll einen Mörder heiraten.‹«

Sie schlugen den Weg zum Haus ein und gingen eine ganze Weile schweigend am Fluß entlang, ehe Pater Brown wieder sprach.

»Vaudrey war also der Erpresser, denn er wußte, daß Dalmon einen Mord auf dem Gewissen hatte. Dalmon dürfte übrigens nicht der einzige der früheren Freunde Vaudreys gewesen sein, der einen Mord begangen hat, denn Vaudreys Freundeskreis damals war eine recht wüste Gesellschaft. Wahrscheinlich hat Dalmon in wilder Leidenschaft gemordet, vielleicht war es gar ein Totschlag, der milde Richter gefunden hätte. Auf jeden Fall war Dalmon durchaus kein Scheusal — er sieht mir aus wie ein Mensch, der weiß, was Reue ist, und der es sogar bereuen wird, daß er Vaudrey gemordet hat. Aber er befand sich in Vaudreys Gewalt und mußte tun, was dieser von ihm forderte. Die beiden lockten das Mädchen sehr geschickt in die Verlobung hinein, Dalmon ohne jeden Hintergedanken, denn er liebte Sybil ehrlich, und der andere tat so, als wolle er großmütig das junge Glück fördern. Die ganze Zeit über wußte Dalmon nicht, was der alte Teufel in Wirklichkeit im Schilde führte.

Aber vor einigen Tagen machte dann Dalmon eine schreckliche Entdeckung. Er hatte Vaudrey gehorcht, und durchaus nicht widerwillig. Doch er war nichts als ein Werkzeug gewesen, und nun mußte er plötzlich entdecken, daß dieses Werkzeug zerbrochen und weggeworfen werden sollte. Er fand in Vaudreys Bibliothek Schriftstücke, die, so vorsichtig sie auch abgefaßt waren, ihm verrieten, daß Vaudrey beabsichtigte, die Polizei auf ihn aufmerksam zu machen. Mit einem Schlag durchschaute er Vaudreys Absicht, und sicherlich war er ebenso erschüttert über diese abgrundtiefe Bosheit, wie ich es gewesen bin, als ich den Plan erstmals erkannt hatte. Vaudrey hatte einen teuflischen Plan ausgeheckt: Sobald das Paar verheiratet war, sollte der Mann verhaftet, abgeurteilt und gehängt werden. Die anspruchsvolle Dame, die einen Mann nicht hatte heiraten wollen, nur weil er einmal im Gefängnis gesessen hatte, sollte nun einen Mann haben, der am Galgen baumelte. Das also war die ›angemessene‹ Rache, die Vaudrey an dem Mädchen nehmen wollte.«

Evan Smith war totenbleich; dieser gräßliche Bericht hatte ihm die Rede verschlagen. In der Ferne sahen sie auf der menschenleeren Straße die breite Gestalt Doktor Abbotts auf sich zukommen. Trotz der großen Entfernung konnten sie erkennen, daß der Mann mit dem großen Hut ziemlich aufgeregt war. Aber sie waren beide selbst noch völlig erschüttert von dem, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatten.

»Sie haben recht, Haß ist etwas Fürchterliches«, sagte Evan Smith schließlich, »und ich atme auf, weil ich fühle, daß mein ganzer Haß gegen den armen Dalmon von mir gewichen ist — jetzt, da ich weiß, daß er ein zweifacher Mörder ist.«

Schweigend gingen sie weiter, bis sie auf Doktor Abbott stießen. Dessen grauer Bart war vom Wind zerzaust, und mit einer verzweifelten Gebärde warf er seine großen, behandschuhten Hände in die Luft.

»Ich bringe Ihnen schreckliche Nachrichten!« rief er. »Man hat Arthurs Leiche gefunden. Er scheint im Garten Selbstmord verübt zu haben.«

»Was Sie nicht sagen!« sagte Pater Brown mechanisch. »Das ist ja schrecklich!«

»Und dann ist noch etwas passiert«, fuhr Doktor Abbott atemlos fort. »John Dalmon ist fortgefahren, um Vernon Vaudrey, Arthurs Neffen, zu benachrichtigen, aber Vernon hat nichts von ihm gehört; Dalmon ist wie vom Erdboden verschwunden!«

»Wirklich?« sagte Pater Brown. »Wie eigenartig!«

Das schlimmste aller Verbrechen

Pater Brown pilgerte durch eine Gemäldegalerie, aber es war ihm deutlich anzumerken, daß er nicht hergekommen war, um sich die Bilder anzusehen. Er hatte wirklich nicht das geringste Verlangen, die Bilder zu betrachten, obschon er sonst ein großer Kunstliebhaber war. Nicht daß er etwa an diesen hochmodernen Gemälden und Zeichnungen etwas Unmoralisches oder Umziemliches festzustellen gehabt hätte — O nein, wer durch diese Darstellungen unterbrochener Spiralen, umgestülpter Kegel und zerfetzter Zylinder, mit denen die Kunst der Zukunft die Menschheit beglückt oder bedroht, sich etwa zu sündhaften Leidenschaften angeregt fühlen würde, müßte in der Tat ein leichtentzündliches Temperament haben. Pater Brown wandelte vielmehr nur deshalb zwischen diesen bildgewordenen Alpträumen umher, weil er eine junge Bekannte suchte, die ihm diesen reichlich ausgefallenen Treffpunkt angegeben hatte, da sie selbst etwas futuristisch veranlagt war. Die junge Dame war zugleich mit ihm verwandt — eine der wenigen Verwandten, die er besaß. Sie hieß Elizabeth Fane, wurde aber meist nur Betty genannt und war die Tochter einer seiner Schwestern, die in eine vornehme, aber verarmte Landadelsfamilie eingeheiratet hatte. Da der Landjunker nunmehr außer der Armut auch den Tod kennengelernt hatte, war Pater Brown nicht nur ihr Onkel und Seelsorger, sondern auch ihr Beschützer und Vormund geworden. In diesem Augenblick betätigte er sich jedoch in keiner dieser vier Rollen, sondern richtete seine kurzsichtigen Augen auf die einzelnen in der Galerie herumstehenden und dahinwandernden Grüppchen, ohne allerdings das vertraute braune Haar und das freundliche Gesicht seiner Nichte zu erblicken. Was er sah, waren ein paar Leute, die er kannte, und viele, die er nicht kannte, und unter diesen wieder so manche, die er aus einer instinktiven Abneigung heraus gar nicht kennenzulernen wünschte.

Unter den Leuten, die er nicht kannte, die aber sein Interesse erweckten, war ein schlanker, behender junger Mann. Er war elegant gekleidet und sah wie ein Ausländer aus, denn sein Bart war viereckig zugestutzt wie bei einem alten Spanier, während sein schwarzes Haar so kurz geschnitten war, daß man es für eine enganliegende kleine Kappe hätte halten können. Unter den Leuten, auf deren Bekanntschaft der Priester keinen großen Wert gelegt haben würde, befand sich eine sehr imponierende, in auffallendes Rot gekleidete Dame, deren blonder Haarschopf zu lang war, um noch als Bubikopf gelten zu können, aber auch zu kurz und ungebändigt, um irgendeine andere Bezeichnung zu verdienen. Sie hatte ein energisches, ziemlich fülliges Gesicht von bleicher, ungesunder Farbe, und wenn sie jemanden ansah, so gab sie sich alle Mühe, den Zauber eines Basiliskenblicks spielen zu lassen. Als ihren gehorsamen Diener zog sie einen kleinen, rundlichen Mann mit einem mächtigen Bart, sehr breitem Gesicht und schläfrig zusammengekniffenen Augen hinter sich her. Sein Gesichtsausdruck war heiter und wohlwollend, und wenn man ihn so sah, hatte man das Gefühl, als sei er gar nicht richtig wach; erblickte man ihn aber von hinten, so wirkte er mit seinem Stiernacken etwas brutal.

Pater Brown betrachtete die Dame mit dem Gefühl, daß das Erscheinen seiner Nichte ein angenehmer Kontrast sein würde. Und doch wandte er seine Augen nicht von ihr ab, bis er schließlich so weit war, daß ihm der Anblick eines jeden beliebigen Menschen ein erfreulicher Gegensatz gewesen wäre. Er drehte sich daher, als er seinen Namen nennen hörte, mit einem Gefühl der Erleichterung wenn auch etwas wie ein aufgescheuchter Träumer, um und fand sich einem bekannten Gesicht gegenüber.

Es war das scharfgeschnittene, aber nicht unfreundliche Gesicht eines Rechtsanwalts namens Granby, dessen graumeliertes Haar man beinahe für eine gepuderte Perücke hätte halten können, so wenig paßte es zu seinen jugendlich energischen Bewegungen. Er war einer jener Citymänner, die in ihren Büros und auf der Straße wie Schuljungen herumlaufen. Ganz so konnte er sich in der Galerie allerdings nicht tummeln, aber er sah aus, als habe er große Lust dazu, und aufgeregt und unruhig schaute er nach links und rechts, offenbar einen Bekannten suchend.

»Ich wußte gar nicht«, sagte Pater Brown lächelnd, »daß Sie ein Freund der neuen Kunst sind.«

»Ebensowenig wußte ich das von Ihnen«, entgegnete der andere. »Ich bin hierhergekommen, um hier jemanden zu treffen.«

»Hoffentlich haben Sie Glück«, meinte der Priester. »Ich warte auch auf jemanden.«

»Sagte mir, er wäre auf der Durchreise nach dem Kontinent«, brummte der Anwalt, »und ich möchte ihn in diesem verrückten Laden hier treffen.« Er überlegte einen Augenblick, dann sagte er plötzlich: »Ich weiß, daß Sie ein Geheimnis für sich behalten können. Kennen Sie Sir John Musgrave?«

»Nein«, antwortete der Priester. »Aber ich kann mir kaum denken, daß er ein Geheimnis sein soll, obgleich man sagt, er vergrabe sich in seinem Schloß. Ist das nicht jener sagenhafte Alte, über den so verrückte Geschichten erzählt werden — er soll in einem Turm hinter einem wirklichen Fallgitter und einer Zugbrücke wohnen und äußerst wenig Neigung zeigen, aus dem dunklen Mittelalter ins helle Licht der Neuzeit zu kommen? Ist er einer Ihrer Klienten?«

»Nein«, erwiderte Granby kurz. »Sein Sohn, Hauptmann Musgrave, hat uns aufgesucht. Aber der Alte spielt in dieser Geschichte eine wichtige Rolle, und dabei habe ich keine Ahnung, wie und wer er ist. Das ist für mich der springende Punkt. Ich sagte Ihnen ja schon, die Sache ist vertraulicher Natur, aber ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« Er dämpfte seine Stimme und zog seinen Freund in eine verhältnismäßig leere Seitengalerie.

»Der junge Musgrave«, sagte er, »will von uns eine große Summe entleihen, die er nach dem Tod seines alten, in Northumberland lebenden Vaters zurückzahlen will. Der alte Musgrave ist schon weit über die Siebzig, es ist also anzunehmen, daß er eines Tages das Zeitliche segnen wird. Die Frage ist nur, ob er auch seinen Sohn segnen wird. Was wird nach seinem Tod mit seinem Barvermögen, mit den Schlössern, Fallgittern und all dem übrigen Zeug geschehen? Es ist ein sehr schönes Besitztum und sicherlich eine ganze Menge wert, aber sonderbarerweise ist es kein Fideikommiß. Sie sehen also, wie wir stehen. Und nun ist die Frage: Wie steht der Alte zu seinem Sohn?«

»Steht er gut mit ihm, so steht es um Sie desto besser«, bemerkte Pater Brown. »Aber ich fürchte, ich kann Ihnen in dieser Sache auch nicht weiterhelfen. Ich habe Sir John Musgrave nie kennengelernt, und wie man hört, ist es heute so gut wie unmöglich, zu ihm vorzudringen. Aber Sie müssen sich natürlich in diesem Punkt Klarheit verschaffen, bevor Sie dem jungen Herrn das Geld Ihrer Firma leihen. Gehört er vielleicht zu jener Sorte von Söhnen, die Aussicht haben, enterbt zu werden?«

»Das weiß ich eben nicht«, antwortete der Rechtsanwalt. »Er ist bekannt und beliebt und überdies ein ausgezeichneter Gesellschafter, aber er ist viel im Ausland, und zu allem ist er auch einmal Journalist gewesen.«

»Nun, das ist doch kein Verbrechen«, schmunzelte Pater Brown, »oder doch nur in den seltensten Fällen.«

»Unsinn!« fuhr Granby dazwischen. »Sie wissen schon, wie ich, das meine. Er ist ein ewig unruhiger Geist, ist Journalist, Vortragskünstler und Schauspieler gewesen und noch anderes mehr. Ich muß genau wissen, wie ich mit ihm dran bin… Na, da ist er ja endlich!«

Und der Anwalt, der ungeduldig in der fast menschenleeren Galerie auf und ab gewandelt war, drehte sich plötzlich zur Tür und eilte in den stärker besuchten Hauptraum. Er lief auf den großen, elegant gekleideten jungen Mann mit dem kurzen Haar und dem spanischen Bart zu, der Pater Brown schon vor einiger Zeit aufgefallen war.

Nach kurzer Begrüßung gingen die beiden in angeregter Unterhaltung fort. Pater Brown sah ihnen mit seinen zusammengekniffenen kurzsichtigen Augen nach. Sein Blick wurde jedoch durch die Ankunft seiner Nichte Betty von ihnen abgelenkt; sie war ganz außer Atem und begrüßte ihn mit einem Schwall von Worten. Zur Überraschung ihres Onkels zog sie ihn sofort in den Nebenraum zurück und drückte ihn auf einen Stuhl nieder.

»Ich muß dir etwas erzählen«, sagte sie. »Es ist so verrückt, daß ein anderer es gar nicht verstehen wird.«

»Du machst mich aber neugierig«, meinte Pater Brown. »Handelt es sich um die Sache, die mir deine Mutter angedeutet hat? Verlobung und dergleichen?«

»Du weißt«, sagte sie, »daß sie mich mit Hauptmann Musgrave verloben will.«

»Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte Pater Brown resigniert, »aber Hauptmann Musgrave scheint heute ein sehr beliebtes Gesprächsthema zu sein.«

»Du weißt ja, daß wir sehr arm sind, und es hat keinen Zweck, vor dieser Tatsache die Augen zu verschließen.«

»Möchtst du ihn eigentlich gern heiraten?« fragte Pater Brown, sie aus halbgeschlossenen Augen ansehend.

Ihre Stirn umwölkte sich, sie sah zu Boden und antwortete leise: »Bis vor kurzem ja. Wenigstens glaube ich es. Aber inzwischen ist etwas passiert, das mir einen gehörigen Schreck eingejagt hat.«

»Was denn?«

»Ich habe ihn lachen hören.«

»Was ist denn da schon dabei?«

»Ach, du verstehst mich nicht. Es war kein gewöhnliches Lachen. Es war für mich direkt unheimlich.«

Sie hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr sie fort:

»Ich bin schon ziemlich früh hierhergekommen. Da sah ich ihn ganz allein in der Galerie vorn sitzen, in der die modernen Bilder hängen. Der Raum war noch ganz leer. Er hatte keine Ahnung, daß noch jemand außer ihm in der Galerie war. Ganz allein saß er da und lachte.«

»Nun, das ist doch kein Wunder«, sagte Pater Brown. »Ich bin zwar kein Kunstsachverständiger, aber wenn man sich die Bilder so ansieht…«

»Oh, du willst mich nicht verstehen«, unterbrach sie ihn fast zornig. »So klang das Lachen nicht. Die Bilder hat er sich gar nicht angesehen. Er starrte zur Decke empor, aber seine Augen schienen nach innen gekehrt, und er lachte, daß es mir kalte Schauder über den Rücken jagte.«

Der Priester hatte sich erhoben und ging, die Hände auf den Rücken gelegt, im Saal auf und ab.

»Du darfst in einem solchen Fall nicht vorschnell urteilen und verurteilen«, begann er. »Es gibt zwei Arten von Menschen … Aber wir können uns jetzt kaum über ihn unterhalten, denn da kommt er selbst.«

Elastischen Schrittes betrat Hauptmann Musgrave den Raum und überflog ihn mit einem Lächeln. Granby, der Rechtsanwalt, folgte ihm auf dem Fuße, sein strenges Juristengesicht trug einen Ausdruck der Erleichterung und Befriedigung.

»Ich nehme alles zurück, was ich über Musgrave erzählt habe«, sagte er zu dem Priester, als sie zusammen der Tür zu gingen. »Er benimmt sich recht vernünftig und versteht meinen Standpunkt durchaus. Er fragte mich selbst, warum ich nicht nach Northumberland führe und mit seinem alten Vater spräche, dann könnte ich ja aus dessen eigenem Mund hören, wie es mit der Erbschaft bestellt sei. Das ist doch ein sehr vernünftiger Vorschlag, nicht wahr? Aber er hat es so eilig, zu Geld zu kommen, daß er mir sogar anbot, mich in seinem eigenen Wagen nach Schloß Musgrave Moss zu fahren. Ich habe ihm vorgeschlagen, daß wir beide vielleicht zusammen fahren könnten. Damit ist er einverstanden, und morgen früh geht es los.«

Während sie so sprachen, erschienen Betty und der Hauptmann in der Türe und gaben in diesem Rahmen ein Bild ab, das so manches empfindsame Gemüt sicherlich den Kegeln und Zylindern vorgezogen hätte. Was die zwei auch sonst gemeinsam haben mochten — sie sahen beide gut aus. Der Rechtsanwalt wollte gerade über diese nicht wegzuleugnende Tatsache eine entsprechende Bemerkung machen, als sich die Szene plötzlich änderte.

Hauptmann Musgrave sah in den Hauptsaal zurück. Und da fielen seine triumphierend lachenden Augen auf etwas, das ihn mit einem Schlag zu verwandeln schien. Auch Pater Brown blickte wie in einer Vorahnung in dieselbe Richtung — und sah das gesenkte Gesicht der in Rot gekleideten Frau, das unter ihrer blonden Löwenmähne jetzt fast totenbleich erschien. Leicht vornübergebeugt stand sie da — wie ein Stier, der seine Hörner zum Angriff senkt —, und der Ausdruck ihres bleichen, teigigen Gesichts war so grausam, so hypnotisierend, daß man neben ihr den kleinen Mann mit dem großen Bart kaum noch bemerkte.

Ganz automatisch, einer aufgezogenen Laufpuppe gleich, glitt Hauptmann Müsgrave auf die Rote zu. Leise sagte er ihr einige Worte ins Ohr, die die übrigen nicht verstehen konnten. Sie antwortete nicht, aber dann wandten sie sich beide um und gingen den langen Saal hinunter. Sie schienen miteinander zu streiten. Der kleine, stiernackige Mann schlich wie ein grotesker, koboldhafter Page hinter ihnen drein.

»Gott sei uns gnädig!« murmelte Pater Brown, der ihnen mit zusammengezogenen Augenbrauen nachsah. »Wer mag diese Frau wohl sein?«

»Meine Freundin ist sie gottlob nicht«, erwiderte Granby mit grimmigem Humor. »Sieht so aus, als ob schon ein kleiner Flirt mit ihr unheilvoll enden könnte, nicht wahr?«

»Ich glaube nicht, daß er mit ihr flirtet«, sagte Pater Brown.

Kaum hatte er dies gesagt, als auch schon die seltsame Gruppe sich am Ende des Saales trennte und Hauptmann Musgrave mit hastigen Schritten zu ihnen zurückkam.

»Es tut mir außerordentlich leid«, sagte er in ganz natürlichem Ton, der aber wenig zu seiner veränderten Gesichtsfarbe paßte, »aber ich kann leider morgen nicht mit Ihnen nach Northumberland fahren, Herr Granby. Sie können natürlich trotzdem meinen Wagen haben. Ich möchte Sie sogar darum bitten, denn ich brauche ihn nicht. Ich — ich muß einige Tage in London bleiben. Wenn Sie Gesellschaft haben wollen, so nehmen Sie doch bitte jemanden mit.«

»Mein Freund, Pater Brown…« begann der Rechtsanwalt.

»Wenn Herr Musgrave nichts dagegen hat, fahre ich gern mit«, sagte Pater Brown ernst. »Ich darf vielleicht bemerken, daß ich meinerseits ein gewisses Interesse an Herrn Granbys Erkundigungen habe, und es würde mir recht gut passen, wenn ich mitfahren könnte.«

So kam es, daß am nächsten Tag ein sehr eleganter Wagen mit einem ebenso eleganten Chauffeur über die weiten Moorflächen Yorkshires nach Nordenschoß, besetzt mit zwei recht ungleichen Fahrgästen, einem Priester, der wie ein schwarzes Stoffbündel aussah, und einem Rechtsanwalt, der es gewohnt war, seine eigenen Füße zu gebrauchen, anstatt auf den Rädern fremder Leute einherzujagen.

Sie unterbrachen ihre Fahrt in einem der großen Flachtäler von West Riding, stärkten sich mit einer ausgezeichneten Mahlzeit und schliefen in einem behaglichen Gasthof. Am nächsten Morgen brachen sie sehr früh auf und fuhren die Küste von Northumberland entlang, bis sie eine Landschaft erreichten, die ein buntes Gemisch von Sanddünen und üppigen Weiden war; im Herzen dieser Landschaft lag das alte Schloß, das als ein einzigartiges Denkmal uralter Grenzkriege übriggeblieben war. Sie folgten einer Straße, die eine tief ins Landesinnere vorstoßende Meeresbucht begleitete, und dann einem halbzerfallenen Kanal, der im Wallgraben des Schlosses endete. Das Schloß war eine richtige, viereckige, zinnenbewehrte Burg, die typische Normannenburg, wie man sie von Palästina bis hinauf nach Schottland findet. Und wahrhaftig — da waren auch ein Fallgitter und eine Zugbrücke, die wie ein Überbleibsel aus dem Mittelalter dräuend emporragte und schuld war, daß ihre Fahrt vor dem Wallgraben vorerst einmal ein unvorhergesehenes Ende fand.

Der Pater und der Anwalt wateten durch langes, hartes Gras und Disteln bis zum Rand des Grabens, dessen morastiges Wasser, von welken Blättern und träg dahinziehenden Blasen bedeckt, wie ein Band aus goldgeschmücktem Ebenholz die Mauern umschloß. Der Wassergraben war fast zwei Meter breit, und auf der anderen Seite, jenseits eines grünen Rasenstreifens, ragten die mächtigen Pfeiler der Toreinfahrt empor. Aber anscheinend stand diese einsame Burg so wenig mit der Außenwelt in Verbindung, daß die auf das ungeduldige Rufen Granbys hinter dem Fallgitter undeutlich sichtbar werdenden Gestalten offenbar die größte Mühe hatten, die rostige Zugbrücke überhaupt in Bewegung zu setzen. Sie ratterte halbwegs herunter, schwankte wie ein gewaltiger fallender Turm über dem Graben und blieb dann stecken.

Granby, der ungeduldig am Grabenrand auf und ab lief, rief seinem Begleiter zu:

»Diese langweilige Wirtschaft geht mir auf die Nerven! Ich denke, es ist einfacher, wenn wir über den Graben springen.«

Und mit jugendlichem Schwung setzte er zum Sprung an und kam trotz leichten Strauchelns sicher am anderen Ufer an. Pater Brown war mit seinen kurzen Beinen weniger zum Springen geschaffen, aber er wollte nicht zurückbleiben und — landete mit einem Plumps in dem reichlich schlammigen Wasser. Nur durch das schnelle Zufassen seines Begleiters entging er einem allzu nassen Bad. Kaum hatte ihn dieser aber das grüne, glitschige Ufer emporgezogen, als der Priester sich auch schon niederbückte und eine ganze Weile auf einen bestimmten Punkt am Abhang starrte.

»Botanisieren Sie etwa?« fragte Granby verärgert. »Nach Ihrem mißglückten Versuch, als Taucher die Wunder der Tiefe zu erforschen, haben wir jetzt keine Zeit mehr, seltene Pflanzen zu sammeln. Kommen Sie, dreckig oder nicht, wir müssen dem Baron unsere Aufwartung machen.«

Sie gingen weiter und kamen in den Schloßhof. Dort wurden sie von einem alten Diener, dem einzigen lebenden Wesen, das zu sehen war, mit geziemender Höflichkeit empfangen und, nachdem sie ihm den Zweck ihres Besuches auseinandergesetzt hatten, in ein großes, eichengetäfeltes Zimmer geführt, dessen mittelalterliche Fenster vergittert waren. Waffen aus verschiedenen Jahrhunderten hingen, symmetrisch angeordnet, an den dunklen Wänden, und eine vollständige Rüstung aus dem vierzehnten Jahrhundert stand wie eine Schildwache neben dem großen Kamin. Durch die halboffene Tür des anstoßenden Raumes konnte man die stark nachgedunkelten Porträts der Ahnengalerie sehen.

»Ich komme mir vor, als sei ich in einen Ritterroman und nicht in ein bewohntes Haus geraten«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich hatte keine Ahnung, daß es heutzutage noch Leute gibt, die in solch einer Umgebung leben.«

»Ja, der alte Herr führt seinen historischen Spleen mit großer Konsequenz durch«, entgegnete Pater Brown. »Und überdies sind all diese Sachen echt. Man sieht, sie sind nicht von jemandem aufgestellt, der glaubt, alle Menschen des Mittelalters hätten zur gleichen Zeit gelebt. Manchmal setzen unerfahrene Sammler solche Rüstungen aus Teilen ganz verschiedenen Alters zusammen, nur um sie komplett zu haben. Und dabei vergessen sie völlig, daß diese Stücke oft nur einzelne Körperteile bedeckt haben. Diese Rüstung hier bedeckte allerdings ihren Träger von Kopf bis Fuß. Es ist eine richtiggehende Turnierrüstung aus dem späten Mittelalter.«

»Apropos spät: Der Baron scheint es gar nicht eilig zu haben, uns zu empfangen«, brummte Granby. »Er läßt uns ja schon eine ganz schöne Zeit warten.«

»An einem solchen Ort muß man darauf gefaßt sein, daß alles etwas langsam vor sich geht«, sagte Pater Brown. »Ich finde, es ist dem alten Herrn schon hoch anzurechnen, daß er uns überhaupt empfängt: zwei Menschen, die ihm gänzlich fremd sind und die ihn über sehr persönliche Dinge ausfragen wollen.«

Und wirklich, als der Herr des Hauses endlich erschien, konnten sie sich über ihren Empfang nicht beklagen. Es war erstaunlich zu sehen, wie er in dieser barbarischen Einsamkeit und nach so vielen Jahren ländlicher Zurückgezogenheit und griesgrämigen Brütens die angeborene und überlieferte Kultur des gesellschaftlichen Umgangs so würdevoll und mühelos pflegen konnte. Der Baron schien über den seltenen und sicherlich unerwarteten Besuch weder überrascht noch verwirrt zu sein. Es mochte sein, daß er ein halbes Menschenalter hindurch keinen Gast mehr im Hause gehabt hatte, und doch war sein Benehmen so, als habe er erst im Augenblick zuvor Herzoginnen zur Tür hinauskomplimentiert. Er war weder verschlossen noch ungehalten, als sie auf den sehr heiklen und sehr privaten Grund ihres Besuches zu sprechen kamen. Nach kurzer, ruhiger Überlegung schien er ihre Neugierde als gerechtfertigt anzuerkennen. Der Baron war ein hagerer, scharfäugiger alter Herr mit dichten, schwarzen Augenbrauen und einem langen Kinn, und wenn auch sein sorgfältig gekräuseltes Haar zweifellos eine Perücke war, so war er doch so verständig, die graue Perücke eines älteren Mannes zu tragen.

»Was die Frage anbetrifft, die Sie unmittelbar angeht«, sagte er, »so ist die Antwort in der Tat sehr einfach. Ich habe die feste Absicht, mein gesamtes Eigentum meinem Sohn zu hinterlassen, wie ich es von meinem Vater geerbt habe, und nichts — ich sage ausdrücklich: nichts — könnte mich veranlassen, meinen Entschluß zu ändern.«

»Ich bin Ihnen für diese Auskunft zu tiefem Dank verpflichtet«, antwortete der Rechtsanwalt. »Aber Ihre Liebenswürdigkeit ermutigt mich, zu bemerken, daß ich es ungewöhnlich finde, wie Sie Ihre Zusage ohne jede Bedingung erteilen. Es liegt mir durchaus fern, als möglich zu unterstellen, daß das Benehmen Ihres Sohnes Sie doch noch veranlassen könnte, Ihren Entschluß zu ändern, weil er Ihnen vielleicht als Erbe nicht würdig erschiene. Aber andererseits könnte er…«

»Ganz richtig«, unterbrach ihn Sir John Musgrave sarkastisch. »Er könnte. Der Potentialis dürfte in diesem Fall sogar eine Unterschätzung vorhandener Möglichkeiten sein. Wollen Sie die Güte haben, mit mir einen Augenblick in das nächste Zimmer zu kommen.«

Und er führte sie in den großen Raum mit der Ahnengalerie, die sie schon flüchtig durch die halboffene Tür gesehen hatten, und blieb mit feierlichem Ernst vor einer Reihe der geschwärzten, rissigen Porträts stehen.

»Dies hier ist Sir Roger Musgrave«, sagte er und zeigte auf einen Mann mit langem Gesicht und schwarzer Perücke. »Er war einer der gemeinsten Lügner und größten Schurken in der doch gewiß schurkischen Zeit Wilhelms von Oranien. Er hat zwei Könige verraten und zwei Frauen ermordet oder doch wenigstens zu Tode befördert. Dies hier ist sein Vater, Sir Robert, ein alter Ritter ohne Furcht und Tadel. Und dieses ist sein Sohn, Sir James, einer der edelsten Streiter, die unter Jakob II. für ihren Glauben das Leben gelassen haben, und einer der ersten, die den Versuch gemacht haben, für die Kirche und die Armen eine Wiedergutmachung des ihnen zugefügten Unrechts durchzusetzen. Sie sehen also, die Tatsache, daß die Macht, die Ehre, das Ansehen des Hauses Musgrave von einem guten Menschen zum anderen durch einen schlechten Menschen weitergegeben worden sind, ist, im großen gesehen, unwesentlich. Eduard I. hat England gut regiert. Eduard III. hat das Land mit Ruhm bedeckt. Und doch stand zwischen diesen beiden der schändliche, unfähige Eduard II., der vor Gaveston kroch und vor Bruce davonlief. Glauben Sie mir, Herr Granby, die Größe eines großen Hauses mit einer großen Geschichte ist mehr als diese vergänglichen Einzelpersonen, die vom Schicksal beauftragt sind, die große Tradition weiterzutragen, auch wenn sie selbst völlig versagen. Unser Besitz ist stets vom Vater auf den Sohn vererbt worden, und so soll es auch bleiben. Sie können versichert sein, meine Herren, und Sie können auch meinem Sohn diese Versicherung geben, daß ich mein Geld nicht in alle vier Winde verstreuen werde. Bis der Himmel einstürzt, soll es jeder Musgrave einem Musgrave hinterlassen.«

»Ja«, sagte Pater Brown nachdenklich, »ich verstehe, was Sie damit sagen wollen.«

»Und es wird uns ein besonderes Vergnügen sein«, fügte der Anwalt hinzu, »diese frohe Botschaft Ihrem Sohn übermitteln zu dürfen.«

»Jawohl, Sie können ihm das ausrichten«, sagte der Baron ernst. »Er wird auf jeden Fall das Schloß, den Titel, das Land und das Geld bekommen. Unter diese Zusage ist nur noch eine kleine Fußnote rein privater Natur zu setzen. Unter keinen Umständen werde ich, solange ich lebe, ihn jemals empfangen oder mit ihm sprechen.«

Der Rechtsanwalt verharrte in derselben respektvollen Haltung, nur in seinen Augen machte sich ein höfliches Erstaunen bemerkbar: »Aber was hat er denn nur…«

»Ich bin nicht nur der Bewahrer einer großen Erbschaft«, unterbrach ihn Musgrave, »sondern ich bin schließlich auch noch ein Mensch und ein Gentleman. Mein Sohn aber hat etwas so Entsetzliches getan, daß er aufgehört hat — das Wort ›Gentleman‹ will ich in diesem Zusammenhang gar nicht in den Mund nehmen —, daß er aufgehört hat, ein menschliches Wesen zu sein. Er hat das schlimmste aller Verbrechen begangen. Erinnern Sie sich, was Douglas sagte, als Marmion ihm die Hand geben wollte?«

»Ja«, antwortete Pater Brown.

»›Meine Schlösser gehören von der Zinne bis zum Grundstein meinem König, aber meine Hand gehört mir‹«, sagte Musgrave.

Er führte seine ziemlich verdutzten Besucher wieder in das andere Zimmer zurück.

»Sie nehmen doch eine Kleinigkeit zu sich?« fragte er in derselben gleichmütigen Art. »Wenn Sie nicht sofort wieder abzureisen gedenken, würde es mir ein Vergnügen sein, Sie für die Nacht im Schloß zu beherbergen.«

»Wir danken Ihnen, Sir John«, sagte der Priester mit klangloser Stimme, »aber ich glaube, wir müssen uns doch wieder auf die Reise machen.«

»Ich werde sofort die Brücke herabsenken lassen«, sagte Sir John, und kurze Zeit später erfüllte das Quietschen dieser mächtigen und lächerlich veralteten Anlage das ganze Schloß. So rostig die Brücke auch War, diesmal funktionierte sie ohne Störung, und bald standen sie wieder auf dem grasbewachsenen Ufer jenseits des Festungsgrabens.

Granby wurde plötzlich von einem Schauder geschüttelt.

»Was kann sein Sohn denn nur getan haben?« rief er.

Pater Brown gab keine Antwort. Als sie aber mit ihrem Wagen in das nahe gelegene Dorf Graystones gekommen und dort im Gasthof »Zu den sieben Sternen« abgestiegen waren, mußte der Anwalt zu seinem nicht geringen Erstaunen feststellen, daß Pater Brown anscheinend nicht die mindeste Absicht hatte, die Reise fortzusetzen, sondern aus einem ganz bestimmten Grund in der Nähe des Schlosses bleiben wollte.

»Ich kann mich mit dieser Auskunft nicht zufriedengeben«, sagte er ernst. »Ich bleibe hier; Sie werden ja wahrscheinlich möglichst schnell mit dem Wagen nach Hause kommen wollen. Ihre Frage ist beantwortet. Bei Ihnen handelt es sich darum, ob Ihre Firma dem jungen Musgrave das Geld leihen kann. Aber meine Frage ist nicht beantwortet, ich weiß immer noch nicht, ob er als Mann für meine Nichte Betty in Frage kommt. Ich muß versuchen herauszubekommen, ob er wirklich ein so schreckliches Verbrechen begangen hat oder ob das Ganze nur die Einbildung eines verrückten Alten ist.«

»Aber«, warf der Rechtsanwalt ein, »wenn Sie etwas über den jungen Musgrave herauszubekommen wünschen, wäre es da nicht besser, Sie suchen seine Nähe auf, als daß Sie hier in diesem öden Nest bleiben, wohin er doch kaum jemals kommen wird?«

»Was für einen Zweck hätte es, wenn ich hinter ihm herlaufen würde?« entgegnete Pater Brown. »Soll ich ihn etwa in Bond Street ansprechen und ihn fragen: ›Verzeihung, haben Sie vielleicht ein so schreckliches Verbrechen begangen, daß man Sie nicht länger als menschliches Wesen betrachten darf?‹ Wenn er tatsächlich zu einem solchen Verbrechen fähig war, dann ist er sicherlich auch fähig, es zu leugnen. Und dabei wissen wir nicht einmal, worum es sich handeln könnte. Nein, es gibt nur einen Menschen, der mir darüber sichere Auskunft zu geben vermag, und vielleicht bringe ich ihn so weit, daß er es mir in einem neuen Ausbruch entrüsteter Beredsamkeit verrät. Auf jeden Fall bleibe ich vorläufig in seiner Nähe.«

Und tatsächlich hielt sich Pater Brown, so gut es ging, in der Nähe des exzentrischen Barons und traf auch gelegentlich mit ihm zusammen, wobei auf beiden Seiten größte Höflichkeit gewahrt wurde. Der Baron war trotz seines Alters sehr rüstig und ging viel spazieren. Man sah ihn oft im Dorf und auf den Feldern. Schon einen Tag nach ihrem Besuch im Schloß bemerkte Pater Brown, als er aus dem Gasthaus hinaus auf den Marktplatz trat, die hohe, vornehme Gestalt des Barons, der mit zügigen Schritten dem Postamt zuging. Er war sehr einfach in Schwarz gekleidet, sein scharfgeschnittenes Gesicht trat im hellen Sonnenlicht markant hervor; mit seinem silbergrauen Haar, den dunklen Augenbrauen und dem langen Kinn erinnerte er an Henry Irving oder einen anderen berühmten Schauspieler. Trotz seines altersgrauen Haares machten Gestalt und Gesicht den Eindruck jugendlicher Kraft; er trug seinen Stock wie einen Knüttel, nicht wie eine Krücke. Der Baron grüßte den Priester freundlich und kam gleich auf den Punkt zurück, bei dem er am Tage zuvor mit seinen Enthüllungen stehengeblieben war.

»Wenn Sie sich noch für meinen Sohn interessieren«, sagte er, das Wort »Sohn« mit eisiger Gleichgültigkeit aussprechend, »so werden Sie nicht viel von ihm zu sehen bekommen. Er hat soeben England verlassen. Unter uns gesagt, er ist aus England geflohen.«

»Was Sie nicht sagen!« erwiderte Pater Brown und sah ihn ernst und durchdringend an.

»Leute, von denen ich niemals gehört habe — Gunow heißen sie —, wollten von mir seinen Aufenthaltsort wissen, und ich bin jetzt gerade dabei, ihnen telegrafisch mitzuteilen, daß er, soviel ich weiß, sich in Riga aufhält und Briefschaften nur postlagernd empfängt. Sie sehen also, ich habe nichts als Ärger mit meinem Herrn Sohn. Ich wollte eigentlich schon gestern depeschieren, bin aber fünf Minuten zu spät auf die Post gekommen. Bleiben Sie länger hier? Ich hoffe, Sie werden mich wieder einmal besuchen.«

Als der Priester dem Rechtsanwalt, der ebenfalls im Dorf geblieben war, von dieser Unterredung mit dem alten Musgrave berichtete, war dieser erstaunt und interessiert zugleich.

»Warum ist der junge Musgrave wohl geflohen? Und was sind das für Leute, die sich so sehr für seinen jetzigen Aufenthaltsort interessieren? Wer sind denn diese Gunows eigentlich?«

»Warum er geflohen ist, weiß ich auch nicht«, antwortete Pater Brown. »Vielleicht ist sein geheimnisvolles Verbrechen inzwischen entdeckt worden. Ich vermute sehr, daß die Leute, die ihn suchen, Erpresser sind. Und wer diese Gunows sind, glaube ich zu wissen. Erinnern Sie sich an die Szene in der Galerie? Die scheußliche fette Frau mit dem gelbblonden Haar dürfte wohl Frau Gunow sein, und der kleine Mann, der sie begleitete, ist wahrscheinlich ihr Mann.«

Am nächsten Tag kam Pater Brown ziemlich erschöpft ins Gasthaus zurück und stellte seinen schwarzen, unförmigen Regenschirm in die Ecke wie ein Pilger seinen Stab. Er sah niedergeschlagen aus. Aber das war oft bei ihm zu beobachten, wenn er ein Verbrechen der Aufklärung näher gebracht hatte. Er war niedergeschlagen, nicht weil ihm die Aufklärung mißlungen, sondern weil sie ihm gelungen war.

»Es ist furchtbar«, sagte er mit matter Stimme, »aber ich hätte es ja gleich merken können. Mir hätte schon ein Licht aufgehen müssen, als ich das Zimmer zum erstenmal betrat und das Ding da stehen sah.«

»Als Sie was sahen?« fragte Granby ungeduldig.

»Als ich sah, daß nur eine Rüstung vorhanden war«, entgegnete Pater Brown.

Der Rechtsanwalt starrte seinen Freund verständnislos mit aufgerissenen Augen an.

Nach einer Weile fuhr Pater Brown fort: »Neulich in der Galerie war ich gerade dabei, meiner Nichte zu erklären, daß es zwei Arten von Menschen gibt, die allein lachen können. Etwas allgemein gefaßt: Ein Mensch, der allein lacht, ist entweder sehr gut oder sehr schlecht. Er vertraut seinen Spaß entweder Gott an oder dem Teufel. Auf jeden Fall aber hat er ein inneres Leben. Es, gibt wirklich Menschen, die ihren Spaß mit dem Teufel teilen. Es macht ihnen nichts aus, daß kein anderer Mensch an diesem Spaß teilhaben kann, ja, daß ein anderer diesen Spaß nicht einmal ahnen darf. Der Spaß selbst genügt ihnen, wenn er nur böse und teuflisch genug ist.«

»Wovon sprechen Sie überhaupt?« fragte Granby. »Wen meinen Sie damit? Wer teilt hier einen unheimlichen Spaß mit Seiner Satanischen Majestät?«

Pater Brown sah ihn mit einem geisterhaften Lächeln an. »Tja«, sagte er, »das ist ja eben der Spaß!«

Und wieder schwiegen beide, aber das Schweigen war erfüllt von einer unheimlichen Spannung und bedrückend wie das Zwielicht. Pater Brown saß unbeweglich da, die Arme auf den Tisch gestützt, und als er schließlich zu sprechen fortfuhr, war in seiner Stimme keine Bewegung zu spüren.

»Ich bin die Reihe der Musgraves durchgegangen«, sagte er. »Sie sind eine kräftige, langlebige Rasse, und ich glaube, selbst bei natürlichem Verlauf müßten Sie ziemlich lange auf Ihr Geld warten.«

»Darauf sind wir gefaßt«, erwiderte der Rechtsanwalt; »aber ewig kann es doch auch wieder nicht dauern. Der Mann ist immerhin schon fast achtzig, obgleich er noch wie ein Junger herumläuft und die Leute hier im Dorf sagen, sie glaubten nicht, daß er jemals sterben werde.«

Pater Brown sprang in einer seiner seltenen überraschenden Aufwallungen empor, ließ jedoch die Hände auf dem Tisch, neigte sich vor und sah dem Rechtsanwalt ins Gesicht.

»Das ist’s!« rief er mit leiser, aber erregter Stimme. »Das ist das ganze Problem. Das ist die einzige wirkliche Schwierigkeit. Wie um Himmels willen soll er bloß sterben?«

»Wie meinen Sie denn das?« fragte der Rechtsanwalt verblüfft.

»Ich glaube«, tönte die Stimme des Priesters durch den inzwischen völlig dunkel gewordenen Raum, »daß ich das von James Musgrave begangene Verbrechen kenne.«

Seine Stimme klang so unheimlich, daß Granby erschauernd zusammenfuhr. Aber er hatte noch immer nicht verstanden.

»Es ist wirklich das schlimmste Verbrechen, das es auf der Welt gibt«, fuhr Pater Brown fort. »Wenigstens haben es viele Völker zu vielen Zeiten für das schlimmste aller Verbrechen gehalten. Seit den frühesten Zeiten wurde es bei den Stämmen und Völkern auf das schrecklichste bestraft. Ja, jetzt weiß ich, was der junge Musgrave getan hat und warum er es tat.«

»Und was hat er getan?« fragte der Rechtsanwalt gespannt.

»Er hat seinen Vater ermordet«, antwortete der Priester.

Nun erhob sich auch der Anwalt und blickte mit zusammengezogenen Brauen über den Tisch.

»Aber sein Vater ist doch im Schloß!« rief er schneidend.

»Nein, sein Vater liegt im Schloßgraben«, entgegnete der Priester, »und ich muß ein Brett vor dem Kopf gehabt haben, daß mir dieser Gedanke nicht gleich gekommen ist, als mir etwas an der Rüstung auffiel. Können Sie sich noch erinnern, wie der Raum aussah? Zwei gekreuzte Schlachtäxte hingen auf der einen Seite des Kamins, zwei auf der anderen. An der einen Wand hing ein runder schottischer Schild, ein zweiter an der anderen. Auf der einen Seite des Kamins stand eine vollständige Rüstung, aber — die andere Seite war leer. Ich kann mir nicht denken, daß ein Mann, der den ganzen Raum mit einer solch beinahe übertriebenen Symmetrie ausgestaltet hat, diesen einen Platz, der dazu noch sehr in die Augen fiel, übersehen haben sollte. Ich bin davon überzeugt, daß früher an dieser Stelle noch eine zweite Rüstung gestanden hat. Und was ist aus ihr geworden?«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann mehr in der sachlichen Art eines Berichterstatters fort:

»Wenn man sich allesüberlegt, so war der Plan recht gut entworfen und löste auch das schwierige Problem, wie die Leiche beseitigt werden sollte. Der Tote konnte stunden-, ja tagelang in der geschlossenen Rüstung stehen, während der Diener ein und aus ging, bis der Mörder in einer dunklen Nacht die Gelegenheit hatte, die Rüstung mit der Leiche hinauszutragen und im Graben zu versenken, wobei er nicht einmal die Zugbrücke zu benutzen brauchte. Und dabei hatte er kaum zu befürchten, daß die Sache je aufkäme! Sobald die Leiche in dem stehenden Wasser verfault war, blieb nichts mehr übrig als ein Skelett in einer Rüstung aus dem vierzehnten Jahrhundert, und ein solcher Fund im Wassergraben einer alten Grenzburg wäre sicherlich niemandem verdächtig vorgekommen. Es war zwar unwahrscheinlich, daß überhaupt jemand dort nach etwas suchen würde, aber auch wenn man suchte, hätte man in kurzer Zeit nur noch das Skelett in der Rüstung gefunden. Mir war auch noch etwas anderes aufgefallen. Wissen Sie noch, wie ich über den Graben sprang und dann auf dem Boden herumsuchte? Sie fragten mich, ob ich botanisiere. Was ich damals gesehen hatte, war keine seltene Pflanze; es waren Eindrücke zweier Füße, so tief in den festen Rasen eingesunken, daß ich überzeugt war, der Mann müsse entweder sehr schwer gewesen sein oder einen sehr schweren Gegenstand getragen haben. Ich habe aus meinem prächtigen, katzengleichen Sprung über den Graben auch noch etwas anderes gelernt.«

»Mir wird schon ganz schwindlig«, sagte Granby, »aber ich beginne allmählich zu verstehen, worauf Sie hinauswollen. Und wie war das mit Ihrem Katzensprung?«

»Als ich heute auf dem Postamt war«, sagte Pater Brown, »habe ich mich so nebenbei erkundigt, wann dort geschlossen wird. Der Baron hat mir nämlich gestern gesagt, er habe an dem Tag, da wir ankamen, gerade ein Telegramm aufgeben wollen, sei aber um einige Minuten zu spät gekommen. Er muß also zur selben Zeit beim Postamt gewesen sein, als wir vor der halb herabgelassenen Zugbrücke standen. Verstehen Sie, was das bedeutet? Es bedeutet, daß er nicht im Schloß war, als wir hier eintrafen, und daß er irgendwie ins Schloß gelangte, während wir vor der Zugbrücke standen. Darum mußten wir auch so lange warten. Und als ich mir hierüber klargeworden war, sah ich plötzlich ein Bild vor mir, das mir die ganze Geschichte enthüllte.«

»Ja und?« fragte der andere ungeduldig. »Was für ein Bild haben Sie gesehen?«

»Ein alter Mann von achtzig Jahren kann spazierengehen«, sagte Pater Brown, »er kann dabei sogar unter Umständen ziemlich weite Strecken zurücklegen. Aber ein alter Mann kann nicht springen. Er würde dabei eine noch viel weniger gute Figur abgeben als ich bei meinem vorgestrigen Sprung. Aber wenn der Baron nun zurückkam, während wir vor dem Tor warteten, muß er auf demselben Weg hineingelangt sein wie wir — durch Überspringen des Wassergrabens —, denn die Brücke wurde ja erst später herabgelassen. Übrigens glaube ich, daß er den Mechanismus selbst in Unordnung gebracht hat, um unbequeme Besucher aufzuhalten, denn sonst hätte sie nicht so schnell repariert werden können. Aber das ist in diesem Zusammenhang unwichtig. Als ich nun dieses Bild vor meinen Augen sah — die schwarzgekleidete Gestalt mit dem grauen Haar, die mit einem Satz über den Graben springt —, da wußte ich sofort, daß der Springer nur ein junger Mann sein konnte, der sich als Greis verkleidet hatte. Da haben Sie die ganze Geschichte.«

»Sie meinen also«, sagte Granby leise, »daß dieser nette, junge Mann seinen Vater ermordete, den Leichnam in der Rüstung verbarg, diese in den Wassergraben versenkte, sich dann verkleidete und die Rolle des Alten spielte?«

»Die beiden waren sich sehr ähnlich«, sagte der Priester. »An den Familienporträts konnte man deutlich sehen, wie stark diese Ähnlichkeit war. Sie sprechen von seiner Verkleidung. Aber in einem gewissen Sinn ist jedermanns Kleidung eine Verkleidung. Der alte Mann verkleidete sich mit einer Perücke, der junge mit einem spanisch zugestutzten Bart. Als er sich nun den Bart abrasierte und die Perücke auf sein kurzgeschorenes Haar stülpte, sah er genauso aus wie sein Vater — wenn er außerdem seine Gesichtszüge mit ein wenig Schminke ins Greisenhafte verzog. Vielleicht wird Ihnen jetzt auch klar, warum er uns so höflich eingeladen hat, die Reise in seinem Wagen zurückzulegen. Er bot Ihnen seinen Wagen an, weil er selbst noch am selben Abend mit dem Zug fahren wollte. So kam er eher hier an als Sie, beging sein Verbrechen, verkleidete sich und war für die Verhandlung wegen der Erbschaft bereit.«

»Ach, die Erbschaft!« sagte Granby nachdenklich. »Sie glauben also, daß der alte Baron sich in dieser Frage ganz anders verhalten haben würde?«

»Er würde Ihnen offen erklärt haben, daß sein Sohn niemals auch nur einen Pfennig von ihm zu erwarten hätte. Der Mord war, so seltsam das klingt, wirklich die einzige Möglichkeit, Ihnen diese Einstellung des alten Musgrave vorzuenthalten. Aber bedenken Sie auch die listige Verschlagenheit, die hinter seiner Erzählung steckte. Diese Russen erpreßten ihn wegen irgendeiner Schurkerei, von der sie Kenntnis hatten; ich vermute, daß Musgrave während des Krieges Landesverrat begangen hat. Mit diesem Streich konnte er ihnen entwischen, und wahrscheinlich suchen sie ihn jetzt in Riga. Aber am raffiniertesten war seine Erklärung, die er uns in der Maske seines Vaters gab, daß er nämlich seinen Sohn zwar als Erben, nicht aber als menschliches Wesen betrachte. Auf diese Weise war die Erbschaft gesichert, und andererseits war dies auch ein Ausweg aus der größten Schwierigkeit, der er sich bald gegenübersehen mußte.«

»Ich sehe da verschiedene Schwierigkeiten«, sagte Granby, »welche meinen Sie?«

»Wenn er seinen Sohn nicht enterbte, so mußte es doch sehr sonderbar erscheinen, daß Vater und Sohn niemals zusammenkamen. Wenn er nun erklärte, er habe eine unüberwindliche persönliche Abscheu vor seinem Sohn, so war diese Schwierigkeit behoben. Es blieb also nur noch ein Problem übrig, das dem sauberen Herrn jetzt wahrscheinlich Kopfzerbrechen macht. Wie um Himmels willen soll der alte Mann bloß sterben?«

»Wer weiß, wie er wohl sterben sollte«, sagte Granby langsam. Pater Brown schien in träumerisches Nachsinnen verloren, dann fuhr er gedankenvoll fort:

»Und doch hat die ganze Sache noch einen tieferen Hintergrund. Dieser Plan gefiel ihm auch aus einem anderen Grund. Es verschaffte ihm ein persönliches perverses Vergnügen, Ihnen in der Rolle des Vaters zu erzählen, daß er als Sohn ein Verbrechen begangen habe — wo er doch wirklich seinen Vater ermordet hat. Das war die höllische Ironie, von der ich sprach, das war der Spaß, den er mit dem Teufel geteilt hat. Vielleicht klingt es paradox, aber manchem macht es teuflisches Vergnügen, die Wahrheit zu sagen — und vor allem sie so zu sagen, daß jedermann sie mißversteht. Darum eben gefiel er sich in seiner Rolle, sich als ein anderer auszugeben und sich selbst dann so schwarz zu malen — so, wie er in Wirklichkeit ist. Darum auch hörte ihn meine Nichte in der Gemäldegalerie vor sich hin lachen.«

Granby fuhr auf wie jemand, der aus seinen Träumen plötzlich wieder in den Alltag zurückversetzt wird.

»Ihre Nichte!« rief er. »Wollte ihre Mutter sie nicht mit Musgrave verheiraten? Sie glaubte wohl, ihre Tochter könne damit eine reiche und vornehme Partie machen?«

»Allerdings«, sagte Pater Brown sarkastisch; »die Mutter wollte unbedingt, daß Betty gut verheiratet sei.«

Der Rote Mond von Meru

Alle waren sich darüber einig, daß der Wohltätigkeitsbasar in Mallowood Abbey, für den Lady Mounteagle liebenswürdigerweise das Protektorat übernommen hatte, eine wohlgelungene Veranstaltung war. Da gab es Karussells, Schaukeln und Buden, auf und in denen sich die Leute prächtig amüsierten. Man könnte auch der Wohltätigkeit Erwähnung tun, die doch angeblich der Hauptzweck der ganzen Veranstaltung war, wenn nur irgendeiner der zahlreichen Anwesenden hätte sagen können, wem diese Wohltätigkeit nun eigentlich zugute kommen sollte.

Wir haben es in unserer Geschichte jedoch nur mit einigen der Festteilnehmer zu tun, und besonders mit dreien von ihnen, einer Dame und zwei Herren, die in angeregter Diskussion zwischen den beiden Hauptzelten einhergingen. Zu ihrer Rechten befand sich das Zelt des »Meisters vom Berge«, des weltbekannten Wahrsagers, Kristallsehers und Handliniendeuters, ein prächtiges purpurrotes Zelt, über und über bedeckt mit den in Schwarz und Gold gemalten bizarren Umrissen asiatischer Götter, die wie Kraken ihre zahlreichen Arme durch die Gegend schwangen. Vielleicht sollten sie versinnbildlichen, wie leicht dort drinnen göttliche Hilfe zu haben sei, vielleicht sollte es auch nur eine diskrete Andeutung sein, daß der Idealbesucher eines Handlesers möglichst viele Hände haben sollte. Auf der anderen Seite stand das einfachere Zeit des Phrenologen Phroso. Als Dekoration trug es nur die geometrisch schematisierten Köpfe von Sokrates und Shakespeare, die beide offensichtlich recht unförmige Schädel gehabt haben müssen. Sie waren bloß in Schwarz und Weiß dargestellt und mit Zahlen und Anmerkungen versehen, wie es der würdevollen Strenge einer rein rationalistischen Wissenschaft geziemt. Das Purpurzelt hatte eine Öffnung, die aussah, als ginge es in eine finstere Höhle, und drinnen war es mäuschenstill, wie es sich gehörte. Phroso, der Phrenologe, indessen, ein magerer, schäbiger Kerl mit sonnenverbranntem Gesicht und einem unwahrscheinlich üppigen, schwarzen Schnurrbart und ebensolchen Koteletten, stand draußen vor seinem Tempel, pries seine Kunst nach Leibeskräften an, selbst wenn niemand da war, der ihn hörte, und versicherte allen Vorbeigehenden, daß sich ihre Köpfe bei genauer Untersuchung als ebenso knorrig erweisen würden wie der Kopf Shakespeares. Als nun die Dame, von der wir eben sprachen, zwischen den Zelten auftauchte, sprang der eifrige Vertreter der Wissenschaft auf sie zu, verbeugte sich und fragte, ob er die Höcker ihres Kopfes befühlen dürfe.

Sie lehnte mit einer höflichen Bestimmtheit ab, die fast verletzend wirkte, doch sei zu ihrer Entschuldigung erwähnt, daß sie gerade in einer hitzigen Diskussion begriffen war. Zu ihrer Entschuldigung sei ferner angeführt, daß sie die Protektorin der Veranstaltung war, Lady Mounteagle selbst. (Womit allerdings nicht gesagt sein soll, daß sie völlig unbedeutend gewesen wäre — keineswegs!) Hübsch, aber verstört aussehend, lag in ihren tiefen dunklen Augen eine flackernde Unruhe, und ihr Lächeln hatte etwas Leidenschaftliches, fast Ungestümes an sich. Ihre bizarre Kleidung erinnerte an das purpurne Zelt: Sie war halb orientalisch und mit geheimnisvollen exotischen Zeichen geschmückt. Aber es war ja eine in der ganzen Gegend bekannte Tatsache, daß die Mounteagles verrückt waren. So jedenfalls drückte das Volk die Tatsache aus, daß Lady Mounteagle und ihr Gatte sich für die Religionen und Kulturen des Fernen Ostens interessierten.

Das etwas ausgefallene Benehmen der Dame stand in krassem Gegensatz zu der bürgerlichen Korrektheit der beiden Herren, die von den Handschuhspitzen bis zu den wohlgebürsteten Zylinderhüten vor Steifheit und Zugeknöpftheit geradezu glänzten. Aber sogar zwischen ihnen war ein Unterschied festzustellen. Denn während James Hardcastle einen durchaus korrekten und seriösen Eindruck machte, sah Tommy Hunter zwar korrekt, aber doch ziemlich gewöhnlich aus. Hardcastle war ein vielversprechender Politiker, der sich in Gesellschaft für alles mögliche außer Politik zu interessieren schien. Ein Spötter könnte auf den Gedanken kommen, hier einzuwerfen, daß alle Politiker im wahrsten Sinne des Wortes vielversprechend seien, aber um Hardcastle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sei erwähnt, daß er schon oft Proben seiner Kunst abgelegt hatte. Bei dem Basar war nun allerdings kein Purpurzelt für ihn aufgeschlagen, in dem er seine Kunst hätte zeigen können.

»Ich meinerseits glaube«, sagte er, indem er das Monokel, den einzigen Lichtpunkt in seinem hartgeschnittenen Juristengesicht, ins Auge klemmte, »daß wir erst alle Möglichkeiten der Hypnose ergründen müssen, ehe wir von Magie reden. Zweifellos gibt es selbst bei anscheinend rückständigen Völkern bemerkenswerte psychische Kräfte. Es ist bekannt, daß manche Fakire wahrhaft wunderbare Dinge vollbracht haben.«

»Das ist doch alles Schwindel«, meinte der andere junge Mann mit der unschuldigsten Miene von der Welt.

»Tommy, schwätz doch nicht so dummes Zeug«, wandte sich Lady Mounteagle an ihn. »Warum mischst du dich denn dauernd in Dinge ein, die du nicht verstehst? Du kommst mir vor wie ein Schuljunge, der sich damit brüstet, daß er weiß, wie ein Taschenspielertrick funktioniert. Wenn du nur wüßtest, wie altmodisch dieser jungenhafte Skeptizismus ist! Was aber die Hypnose angeht, so glaube ich kaum, daß sie zur Erklärung…«

Plötzlich verstummte Lady Mounteagle. Sie schien jemanden erblickt zu haben, den sie suchte, eine schwarze, untersetzte Gestalt, die vor einer Bude stand, wo Kinder mit Reifen nach schrecklich aussehenden Figuren warfen. Sie eilte hinüber und rief: »Pater Brown, ich habe Sie schon überall gesucht. Ich möchte Sie etwas fragen. Glauben Sie an Wahrsagerei?«

Der Angeredete blickte ziemlich verlegen auf den kleinen Reifen nieder, den er in der Hand hielt, und sagte schließlich: »Ich weiß nicht, wie Sie das Wort ›glauben‹ verstehen. Wenn die Sache natürlich auf einen Betrug hinausläuft…«

»O nein, der ›Meister vom Berge‹ ist keineswegs ein Betrüger«, unterbrach ihn die Lady. »Er ist kein gewöhnlicher Zauberer oder Wahrsager. Es ist für mich eine große Ehre, wenn er sich herabläßt, meinen Gästen wahrzusagen, denn in seiner Heimat ist er eine bedeutende Persönlichkeit des religiösen Lebens, ein Prophet und Seiner. Er verspricht den Leuten auch nicht wie ein gewöhnlicher Wahrsager Geld oder Glück. Er offenbart uns große geistige Wahrheiten über uns selbst und unsere Gedanken.«

»Das ist’s ja eben«, erwiderte Pater Brown. »Dagegen nämlich muß ich Einspruch erheben. Ich wollte gerade sagen, daß es mir nicht so schlimm erscheint, wenn das Ganze nur ein gewöhnlicher Schwindel ist. Die meisten Sachen, die einem auf Wohltätigkeitsbasaren angeboten werden, sind ja schließlich mehr oder weniger Schwindel. Wenn es also nur das wäre, so könnte man es gleichsam als ein amüsantes Zauberkunststück nehmen. Wenn sich aber die Wahrsagerei als Religion maskiert und geistige Wahrheiten zu offenbaren vorgibt — dann ist sie Teufelswerk, und ich würde ihr in einem großen Bogen aus dem Weg gehen.«

»Das klingt doch reichlich paradox«, sagte Hardcastle lächelnd.

»Was erscheint Ihnen daran so paradox?« fragte der Priester nachdenklich. »Mir scheint, die Sache ist doch ganz klar. Ich will es Ihnen an einem Beispiel klarmachen: Wenn sich jemand als Spion verkleidet und behauptet, dem Feind alles mögliche dumme Zeug aufgebunden zu haben — das ist doch weiter nicht schlimm. Wenn aber jemand wirklich mit dem Feind verhandelt, dann allerdings sieht die Sache anders aus! Wenn also ein Wahrsager…«

»Sie glauben tatsächlich…« begann Hardcastle grimmig.

»Ja, ich glaube, er verhandelt mit dem Feind.«

Tommy Hunter lachte laut auf. »Nun, wenn Pater Brown die Wahrsager für gut und harmlos hält, solange sie nur Betrüger sind, so dürfte er diesen kupferbraunen Propheten wohl schon gar als einen Heiligen betrachten.«

»Mein Vetter Tom ist unverbesserlich«, sagte Lady Mounteagle. »Er ist regelrecht darauf aus, Adepten hereinzulegen, wie er das nennt. Ich habe ihn im Verdacht, daß er extra im Eiltempo hierhergekommen ist, als er von der Anwesenheit des Meisters hörte. Er würde, wenn es möglich wäre, auch versuchen, Moses oder Buddha hereinzulegen.«

»O nein, ich wollte nur ein wenig auf dich aufpassen«, sagte der junge Mann, und ein breites Grinsen erschien auf seinem runden Gesicht. »Und darum bin ich halt hergekommen. Aber ehrlich gesagt: Es gefällt mir nicht, daß dieser braune Affe hier herumkriecht.«

»Laß doch diese Ausfällel« sagte Lady Mounteagle. »Als ich vor einigen Jahren in Indien war, hatten wir auch alle diese dummen Vorurteile gegen Menschen brauner Hautfarbe. Aber seit ich ihre wunderbaren geistigen Kräfte ein wenig kenne, darf ich sagen, daß ich meine früheren Vorurteile abgelegt habe.«

»Sie scheinen da ganz anders zu denken als ich«, bemerkte Pater Brown. »Sie verzeihen ihm seine braune Farbe, weil er Brahmane ist, und ich verzeihe ihm das Brahmanische, weil er braun ist. Offen gestanden, ich selbst gebe nicht viel auf diese geistigen Kräfte. Geistige Schwäche ist mir viel sympathischer. Ich verstehe übrigens gar nicht, warum man vor ihm Abscheu haben sollte, nur weil er dieselbe schöne Farbe hat wie Kupfer oder Kaffee oder die lieblichen Moorbäche Schottlands. Aber vielleicht«, setzte er schelmisch hinzu, Lady Mounteagle aus freundlich blinzelnden Augen ansehend, »bin ich von vornherein ein wenig voreingenommen für alles, was ›braun‹ heißt.«

»Na also!« rief Lady Mounteagle triumphierend. »Ich habe es ja gleich gewußt, daß Sie nicht im Ernst gesprochen haben.«

»Aber sowie jemand mal etwas Vernünftiges sagt, nennst du es einen schuljungenhaften Skeptizismus«, brummte der gekränkte junge Mann mit dem runden Gesicht. »Wann soll denn das Kristallsehen losgehen?«

»Du kannst jederzeit hineingehen«, sagte Lady Mounteagle. »Übrigens ist es gar kein Kristallsehen; er sagt wahr aus der Hand. Aber das wird dir sicher egal sein, denn deiner Meinung nach ist das ja alles der gleiche Unsinn.«

»Ich glaube, es gibt zwischen diesen so entgegengesetzten Meinungen doch noch einen Mittelweg«, meinte Hardcastle lächelnd. »Es gibt für die erstaunlichsten Vorgänge oft ganz natürliche und durchaus sinnvolle Erklärungen. Kommen Sie doch herein, und sehen Sie sich die Sache einmal an. Ich muß gestehen, ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommen wird.«

»Ach, für diesen Unsinn habe ich einfach nicht die Geduld«, stieß der junge Mann hervor, dessen rundes Gesicht in hitziger Bezeugung seiner Verachtung und Ungläubigkeit ganz rot angelaufen war. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nur bei diesem braunen Schwindler, ich werfe inzwischen lieber nach Kokosnüssen.«

Der Phrenologe, der noch immer in der Nähe herumstrich, ließ sich diesen Anknüpfungspunkt nicht entgehen.

»Köpfe, mein lieber Herr«, sagte er, »Menschenköpfe haben weit sanftere Konturen als Kokosnüsse. Keine Kokosnuß kann den Vergleich mit Ihrem eigenen sehr…«

Hardcastle war bereits im dunklen Eingang des Purpurzeltes verschwunden. Man hörte drinnen ein leises Stimmengemurmel. Tom Hunter hatte gerade den Phrenologen mit einer um geduldigen Antwort abgefertigt, wobei er eine bedauerliche Gleichgültigkeit gegen die Grenzlinie zwischen natürlichen und übernatürlichen Wissenschaften zeigte, während Lady Mounteagle sich eben dem Priester zuwenden wollte, um die Diskussion mit ihm fortzusetzen. Da hielt sie plötzlich überrascht inne und sah verblüfft nach dem Zelt.

James Hardcastle war wieder aus der dunklen Zeltöffnung aufgetaucht. Sein zusammengekniffenes Gesicht und sein blinkendes Monokel drückten größte Überraschung aus.

»Er ist nicht da«, meldete der Politiker kurz. »Er ist weggegangen. Ein alter Neger, der wahrscheinlich sein Reisebegleiter ist, quasselte mir etwas vor, der Meister habe es für besser gehalten, von hier wieder fortzugehen, als heilige Geheimnisse für Geld zu verkaufen.«

Lady Mounteagle wandte sich strahlend ihren Begleitern zu: »Na, was habe ich Ihnen gesagt? Er ist doch erhabener, als Sie sich vorstellen können. Er haßt Gewühl und Gedränge, er hat sich wieder in seine Einsamkeit zurückgezogen.«

»Es tut mir leid«, sagte Pater Brown ernst. »Vielleicht habe ich ihm doch unrecht getan. Wissen Sie, wohin er sich begeben hat?«

»Ich glaube wohl«, antwortete Lady Mounteagle mit demselben Ernst. »Wenn er allein sein will, geht er immer in den Kreuzgang am Ende des linken Flügels, wo mein Mann sein Studierzimmer und sein kleines Privatmuseum hat. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß unser Haus ehemals eine Abtei gewesen ist.«

»Ich habe schon so etwas gehört«, antwortete der Priester mit einem schwachen Lächeln.

»Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch mit uns. Sie sollten sich wirklich einmal die Sammlungen meines Mannes ansehen, auf jeden Fall aber den Roten Mond. Haben Sie schon von dem Roten Mond von Meru gehört?…Ja, es ist ein Edelstein.«

»Auch ich würde mir die Sammlungen gerne einmal ansehen«, sagte Hardcastle langsam, »inbegriffen den ›Meister vom Berge‹, wenn er sich gegenwärtig als Schaustück in Ihrem Haus befindet.« Damit schlugen sie gemeinsam die Richtung auf das Haus Mounteagle ein.

»Jetzt würde es mich doch interessieren«, murmelte der ungläubige Thomas, der den Zug beschloß, vor sich hin, »warum dieser braune Kerl überhaupt hierhergekommen ist, wenn er gar nicht wahrsagen will.«

Als er sich nun zum Gehen wandte, sprang der unerschütterliche Phroso noch einmal hinter ihm drein, und es sah so aus, als wollte er ihn bei den Rockschößen festhalten.

»Ihre Höcker, mein Herr…« begann er.

»Rutsch mir den Buckel runter, und nimm meine Schulden mit; das sind die einzigen Höcker, die ich habe, wenn ich Mounteagle besuche.« Und er machte sich eilends auf die Socken, um den hartnäckigen Bemühungen des Phrenologen zu entgehen.

Auf ihrem Weg zum Kreuzgang kamen die Besucher durch den langen Saal, in dem Lord Mounteagle seine recht umfangreichen asiatischen Sammlungen eingerichtet hatte. Durch eine offene Tür in der gegenüberliegenden Mauer konnten sie die gotischen Bogen und zwischen ihnen das helle Tageslicht des viereckigen offenen Platzes sehen, um dessen überdachten Wandelgang in alter Zeit die Mönche meditierend auf und ab gegangen waren. Aber bevor sie diese Tür erreichten, kamen sie an einer Gestalt vorüber, die auf den ersten Blick weit ungewöhnlicher erschien als der Geist eines alten Mönches.

Es war ein älterer Herr, ganz in Weiß gekleidet, auf dem Kopf einen blaßgrünen Turban. Sein Gesicht war rosig hell, ein echtes Europäergesicht, und der glatte, weiße Schnurrbart verriet den angloindischen Oberst. Der freundliche Herr war in der Tat niemand anders als Lord Mounteagle, der seinen orientalischen Zeitvertreib melancholischer oder wenigstens ernster nahm als seine Frau. Seine einzigen Gesprächsthemen waren orientalische Philosophie und Religion, und er hatte es sogar für nötig gehalten, sich nach der Art eines orientalischen Eremiten zu kleiden. Der Lord freute sich offensichtlich darüber, daß er jemandem seine Schätze zeigen konnte; diese Kostbarkeiten liebte er sicherlich viel mehr, weil seiner Meinung nach in ihnen tiefe Wahrheiten versinnbildlicht waren, als etwa wegen ihres Sammlerwerts, vom Geldwert ganz zu schweigen.

Selbst als er den großen Rubin hervorholte, vielleicht den einzigen Gegenstand seines Privatmuseums, der auch rein in Geld ausgedrückt einen großen Wert repräsentierte, sah man ihm an, daß ihn dessen Name und Bedeutung viel mehr fesselten als seine erstaunliche Größe oder der immerhin beträchtliche Geldwert.

Mit weit aufgerissenen Augen starrten die Besucher auf den erstaunlich großen, roten Stein, in dem die Sonnenstrahlen brannten, als sähe man sie durch einen Regen von Blut. Lord Mounteagle ließ ihn über seine Handfläche rollen, ohne ihn anzusehen; er blickte zur Decke und erzählte eine lange Geschichte von dem legendären Berg Meru, der nach der gnostischen Mythologie der Kampfplatz namenloser urzeitlicher Kräfte gewesen sei.

Gegen Ende seines Vortrags über den Demiurg der Gnostiker, dessen Zusammenhang mit den parallelen Auffassungen des Mani nicht übersehen werden dürfe, hielt sogar der ansonsten sehr zurückhaltende und taktvolle Herr Hardcastle den Augenblick für gekommen, etwas abzulenken. Er bat um die Erlaubnis, den Stein näher ansehen zu dürfen, und da der Abend herannahte und es in dem großen Saal immer dunkler wurde, trat er in den Kreuzgang hinaus, um den Stein bei besserem Licht betrachten zu können. Die anderen folgten ihm. Erst jetzt wurden sie sich langsam und fast unheimlich der lebendigen Gegenwart des »Meisters vom Berge« bewußt.

Der Kreuzgang selbst war zwar noch in seiner ursprünglichen Form erhalten, doch waren die gotischen Pfeiler und Spitzbogen, die das innere offene Viereck begrenzten, durch eine niedrige, etwa einen Meter hohe Mauer miteinander verbunden. Dadurch waren die ursprünglichen Bogenöffnungen in eine Art Fenster verwandelt worden, und die Verbindungsmauern wirkten wie flache Fenstersimse. Diese Veränderung war wohl schon zu einem früheren Zeitpunkt vorgenommen worden; es gab aber noch andere Veränderungen seltsamerer Art, die von den jetzigen Besitzern der alten Abtei herstammten und Zeugnis ablegten für ihre ziemlich ausgefallene Schwärmerei. Zwischen den Pfeilern hingen nämlich dünne, aus Glasperlen und leichtem Rohr verfertigte Vorhänge — beinahe Schleier, wie man sie gelegentlich in südlichen Ländern antrifft; und auf diesen Schleiern konnte man die farbigen Umrisse asiatischer Drachen und Götzen erkennen, die zu dem grauen gotischen Mauerwerk einen höchst seltsamen Kontrast bildeten. Durch diese merkwürdigen Vorhänge fiel das langsam verblassende Tageslicht in bunten Farben; aber so eigenartig dieser Anblick war, so war er doch gar nichts gegen den Anblick, den die Besucher jetzt mit unterschiedlichen Gefühlen wahrnahmen.

Auf dem offenen Platz, den der Kreuzgang umschloß, lief ringsherum ein kreisrunder, mit mattfarbigen Steinen gepflasterter Pfad, der mit einer Art grünem Email eingefaßt war. Genau in der Mitte des Platzes erhob sich das dunkelgrüm Bassin eines Wasserspiels, eines etwas erhöhten Teiches, in dem große, weiße Seerosen schwammen und Goldfische hin und her flitzten. Das Ganze war überragt von einer hohen, grünen Statue, deren Umrisse sich dunkel gegen das verdämmernde Tageslicht abhoben. Die Besucher sahen von der Statue nur den Rücken, das Gesicht war durch die gebückte Haltung des Bildwerks völlig unsichtbar, so daß es schien, als habe sie keinen Kopf. Aber trotz des Zwielichts konnte man schon an der Form des dunklen Umrisses erkennen, daß es sich hier um kein christliches Bildwerk handelte.

Einige Meter abseits, auf dem kreisrunden Pfad, das Gesicht der gewaltigen grünen Gottheit zugewandt, stand der Mann, den man den »Meister vom Berge« nannte. Seine scharfgeschnittenen, gleichsam feinziselierten Gesichtszüge glichen einer von Künstlerhand geformten Maske aus Kupfer. Auf diesem Untergrund wirkte sein dunkelgrauer Bart fast indigoblau. Schmal am Kinn beginnend, breitete sich der Bart wie ein gewaltiger Fächer oder ein Pfauenrad seitwärts aus. Der Meister war in ein pfauengrünes Gewand gehüllt und trug auf seinem kahlen Kopf eine hohe Mütze, einen Kopfputz von ganz ungewöhnlicher, nie zuvor erblickter Form, der jedoch eher ägyptisch als indisch aussah. Die weit geöffneten Fischaugen des Fremden blickten so starr und bewegungslos, daß sie den gemalten Augen der Mumienschreine glichen. Die Gestalt des »Meisters vom Berge« sah wahrlich sonderbar genug aus; dennoch wandten einige aus der Gesellschaft, unter ihnen auch Pater Brown, nicht ihm ihre Aufmerksamkeit zu, sondern betrachteten immer noch das dunkelgrüne Götzenbild, auf das auch der Fremde seine Augen gerichtet hielt.

»Ich finde«, bemerkte Hardcastle mit einem leichten Stirnrunzeln, »diese Figur paßt wirklich nicht in den Kreuzgang einer alten Abtei.«

»Nun seien Sie doch nicht so kindisch«, sagte Lady Mounteagle. »Es war ja gerade unsere Absicht, die großen Religionen des Ostens und des Westens, Buddhismus und Christentum, miteinander in Verbindung zu bringen. Sie begreifen doch sicherlich, daß alle Religionen im Grunde gleich sind.«

»Wenn dem so ist«, sagte Pater Brown mild, »so erscheint es mir ziemlich unnötig, sich eine mitten aus Asien zu holen.«

»Lady Mounteagle will sagen, daß alle Religionen verschiedene Seiten ein und derselben Sache sind, so wie dieser Stein verschiedene Facetten hat«, begann Hardcastle. Interesse an dem neuen Gesprächsthema gewinnend, legte er den großen Rubin auf das Verbindungsmäuerchen zwischen zwei Pfeilern. »Aber daraus folgt noch nicht, daß wir einfach die künstlerischen Stile, die jede Religion hervorgebracht hat, miteinander vermischen dürfen. Man kann Christentum und Islam vermischen, nicht aber den gotischen und den sarazenischen Stil, vom indischen ganz zu schweigen.«

Während er so sprach, schien der »Meister vom Berge«, der wie ein Starrsüchtiger dagestanden hatte, wieder zum Leben zu kommen. Ernst und gewichtig schritt er einen Viertelbogen des Kreises ab, so daß er jetzt direkt vor Lord und Lady Mounteagle und ihren Gästen zu stehen kam. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt und stand wie sie selbst im Rücken des Götzenbildes. Anscheinend bewegte er sich langsam um die Figur, und in jedem Viertel des Kreises blieb er, in Betrachtung versunken, stehen.

»Was hat er denn eigentlich für eine Religion?« fragte Hardcastle mit einem leichten Anflug von Ungeduld.

»Er sagt«, antwortete Lord Mounteagle ehrfürchtig, »daß sie älter ist als der Brahmanismus und reiner als der Buddhismus.«

»So, so«, meinte Hardcastle und starrte weiter durch sein Monokel, die Hände tief in den Rocktaschen vergraben.

»Man sagt«, bemerkte Lord Mounteagle in seinem sanften, aber professorenhaft trockenen Ton, »daß die Gottheit, die den Namen ›Gott der Götter‹ führt, in riesiger Gestalt in die Höhle des Berges Meru aus dem Felsen gemeißelt…«

Sein so interessanter Vortrag wurde jäh durch eine Stimme unterbrochen, die hinter seinem Rücken aufklang. Die Stimme kam aus dem in völliger Dunkelheit daliegenden Museum, aus dem sie kurz zuvor in den Kreuzgang getreten waren. Die beiden jüngeren Männer sahen sich zuerst völlig verblüfft, dann wütend an und brachen schließlich in ein unbändiges Gelächter aus.

»Hoffentlich störe ich nicht«, ließ sich die höfliche, einschmeichelnd Stimme des Professors Phroso vernehmen, dieses unerschütterlichen Wahrheitssuchers, »aber ich dachte mir, vielleicht hätten einige der Herrschaften doch etwas Zeit übrig für die zu Unrecht verachtete Wissenschaft der Phrenologie. Ihre Höcker, meine Herren…«

»Ich habe keine Höcker«, rief Tommy Hunter aufbrausend, »aber Sie werden jetzt gleich ein paar Beulen haben, Sie…«

Hardcastle hielt ihn zurück, als er sich durch die Tür auf Herrn Phroso stürzen wollte. Die ganze Gesellschaft hatte sich umgedreht und blickte in den Saal.

In diesem Augenblick passierte es. Wieder war es der ungestüme Tommy, der zuerst in Bewegung geriet, und diesmal mit besserem Erfolg. Bevor noch irgend jemand etwas gesehen hatte und als es Hardcastle eben mit Schrecken zum Bewußtsein kam, daß er den Edelstein auf der Mauer hatte liegenlassen, war Tommy schon mit einem katzenartigen Sprung an der Umfassungsmauer und brüllte, während er sich weit zwischen zwei Pfeilern hinausbeugte, mit einer triumphierenden, durch den Kreuzgang hällenden Stimme: »Ich habe ihn!«

In diesem Bruchteil einer Sekunde, als sie alle herumgefahren waren, kurz bevor Tommys triumphierender Schrei ertönte, sahen sie mit eigenen Augen, wie es passierte: Eine braune oder vielmehr bronzefarbene Hand, deren matter Goldton ihnen nicht unbekannt war, kam blitzschnell um die Ecke eines der beiden Pfeiler hervor und war ebenso schnell wieder verschwunden. Schnell wie eine zuschnappende Schlange hatte die Hand zugefaßt; sie war so plötzlich hervorgeschnellt wie die lange Zunge eines Ameisenbären, und — der Edelstein war verschwunden. Im bleichen, verlöschenden Licht sah man nur noch die leere Steinplatte des Fenstersimses.

»Ich habe ihn«, keuchte Tommy Hunter, »aber er will sich losreißen. Springt schnell über die Mauer — er muß ihn noch haben.«

Die anderen folgten seinem Ruf. Einige liefen den Gang entlang, andere sprangen über die niedrige Mauer, und schließlich umgab die kleine Schar, bestehend aus Hardcastle, Lord Mounteagle, Pater Brown und dem nicht abzuschüttelnden Phrenologen Phroso, den gefangenen »Meister vom Berge«. Grimmig hatte ihn Hunter mit einer Hand beim Kragen gepackt und schüttelte ihn in einer Weise hin und her, die mit der Würde eines so großen Propheten durchaus nicht zu vereinbaren war.

»Jedenfalls haben wir ihn«, sagte Hunter, indem er tief Luft holte und seinen Gefangenen schließlich losließ. »Wir brauchen ihn nur zu durchsuchen. Der Stein muß dasein.«

Aber eine dreiviertel Stunde später standen sich Hunter und Hardcastle, deren Zylinderhüte, Krawatten, Handschuhe und Fußgamaschen durch ihre gerade beendete anstrengende Tätigkeit arg mitgenommen waren, Aug in Aug gegenüber und sahen sich ziemlich dumm an.

»Nun«, fragte Hardcastle mit verhaltenem Ärger, »können Sie sich das erklären?«

»Eine verteufelte Geschichte«, sagte Hunter. »Wir haben doch alle gesehen, wie er den Stein von der Platte wegnahm.«

»Das schon, aber wir haben nicht gesehen, wo er ihn vielleicht wieder weggeworfen oder versteckt hat. Die Frage ist: Wo kann der Stein sein, so daß wir ihn nicht finden könneh?«

»Irgendwo muß er schließlich sein«, meinte Hunter. »Haben Sie den Brunnen durchsucht und das Fundament, auf dem dieser blöde Götzenkerl steht?«

»Ich habe überall gesucht, nur den kleinen Fischen habe ich noch nicht den Bauch aufgeschlitzt«, entgegnete Hardcastle, indem er sein Monokel ins Auge schob und sein Gegenüber musterte. »Denken Sie etwa an den Ring des Polykrates?«

Aber anscheinend überzeugte ihn die Musterung des runden Gesichtes, daß seinem Begleiter solche Meditationen über die griechische Sagenwelt durchaus fernlagen.

»Zugegeben, wir konnten den Ring nicht bei ihm finden«, sagte Hunter plötzlich. »Aber vielleicht hat er ihn verschluckt.«

»Sollen wir nun auch noch den Propheten aufschlitzen?« fragte der andere lächelnd. »Und was sagt Lord Mounteagle dazu?«

»Eine höchst betrübliche Sache«, meinte der Lord, indem er mit nervöse zitternderHand an seinem weißen Schnurrbart zupfte. »Schrecklich, einen Dieb im Hause zu haben, und noch schrecklicher der Gedanke, der Meister könnte der Dieb sein. Aber ich muß gestehen, daß ich aus seiner Art, wie er über den Diebstahl spricht, nicht recht klug werde. Kommen Sie doch bitte herein, und sagen Sie mir, was Sie darüber denken.«

Hardcastle ging mit ihm hinein, während Hunter zurückblieb und mit Pater Brown ins Gespräch kam, der im Kreuzgang auf und ab wandelte.

»Sie müssen aber sehr stark sein«, bemerkte der Priester in freundlichstem Ton. »Sie brachten es fertig, ihn mit einer Hand zu halten, während wir die größte Mühe hatten, ihn mit unseren acht Händen zu bändigen, als wir uns wie einer dieser indischen Götter achtarmig auf ihn stürzten.«

In angeregtem Gespräch gingen sie einige Male im Kreuzgang auf und ab, dann betraten auch sie den Saal, wo der »Meister vom Berge« als Gefangener auf einer Bank saß, jedoch mit einer Miene, so hoheitsvoll, wie sie kein König hätte aufsetzen können.

Lord Mounteagle hatte ganz recht gehabt, als er sagte, daß diese Miene und sein Tonfall nicht leicht zu verstehen seien. In den Worten des »Meisters« kam ein gelassen, wenn auch nicht offen ausgesprochenes Machtgefühl zum Ausdruck. Über die laut angestellten Vermutungen der Gesellschaft, wo der Edelstein wohl verborgen sein könne, machte er sich offenbaf nur lustig, und er war jedenfalls durchaus nicht beleidigt, daß man ihn als Dieb verdächtigte. Für all die Bemühungen, den Gegenstand wieder ausfindig zu machen, den sie ihn doch alle hatten wegnehmen sehen, hatte er nur ein geheimnisvolles Lachen übrig.

»Sie lernen jetzt ein wenig«, sagte er mit unverschämter Herablassung, »die Gesetze der Zeit und des Raumes kennen, in deren Erforschung Ihre ganze moderne Wissenschaft noch um tausend Jahre hinter unserer ältesten Religion zurückgeblieben ist. Sie wissen nicht einmal, was das eigentlich heißt, ein Ding verstecken. Ja, meine lieben armen Freunde, Sie wissen nicht einmal, was das heißt, einen Gegenstand sehen, sonst würden Sie ihn vielleicht genauso deutlich sehen, wie ich ihn sehe.«

»Wollen Sie damit etwa sagen, daß er hier ist?« fragte Hardcastle barsch.

»›Hier‹ ist ein Wort, das viele Bedeutungen hat«, antwortete der Magier. »Aber ich habe nicht gesagt, daß er hier ist. Ich habe nur gesagt, ich könne ihn sehen.«

Verwirrt schwiegen alle, und er fuhr wie schläfrig fort: »Wenn Sie ganz und gar still wären, würden Sie vielleicht einen Ruf vom anderen Ende der Welt hören, den Ruf eines einsamen Andächtigen aus jenen Bergen, wo das Urbild steht, selbst einem Berge gleich. Man sagt, daß sogar Christen und Mohammedaner dieses Bild verehren könnten, weil es nicht von Menschenhand geschaffen ist. Öffnen Sie Ihre Ohren! Hören Sie den Ruf, mit dem er sein Haupt hebt und in der Steinhöhle, die seit Anbeginn der Zeiten besteht, den Roten Mond, das Auge des Berges, sieht?«

»Wollen Sie wirklich behaupten«, rief Lord Mounteagle, den die geheimnisvollen Worte des Inders ziemlich erschüttert hatten, »daß Sie den Stein von hier auf den Berg Meru magisch übertragen könnten? Ich habe schon immer geglaubt, daß Sie große geistige Kräfte besitzen, aber…«

»Vielleicht besitze ich mehr«, erwiderte der Meister, »als Sie je fassen können.«

Hardcastle erhob sich ungeduldig und begann; die Hände in den Taschen seines Rockes, ungeduldig auf und ab zu gehen. »Ich habe zwar niemals in dem Maße an solche Sachen geglaubt wie Sie, aber ich gebe durchaus zu, daß gewisse Kräfte existieren…Mein Gott!«

Seine kräftige, schneidende Stimme brach plötzlich ab, er blieb stehen und starrte zur Tür hinaus, das Monokel fiel ihm aus dem Auge. Alle Gesichter wandten sich nach derselben Richtung, und auf jedem Gesicht schien dieselbe verhaltene Erregung zu liegen.

Der Rote Mond von Meru lag genau da, wo sie ihn zuletzt gesehen hatten, auf der Mauer. Er sah aus wie ein verwehter Funken, wie ein Rosenblatt, und er lag genau auf demselben Platz, wo Hardcastle ihn so unachtsam niedergelegt hatte.

Hardcastle versuchte gar nicht, den Stein wieder aufzunehmen, sein Verhalten war recht eigentümlich. Langsam drehte er sich herum und begann wieder, den Saal zu durchschreiten, aber in seinen vorher so unruhigen Bewegungen lag jetzt etwas Beherrschtes. Schließlich blieb er vor dem »Meister« stehen und verbeugte sich mit einem etwas gezwungenen Lächeln.

»Meister«, sagte er, »Wir alle müssen Sie um Verzeihung bitten. Aber, was wichtiger ist, Sie haben uns eine Lektion erteilt. Glauben Sie mir, wir werden diese Lektion genauso zu würdigen wissen wie den kleinen Spaß, den Sie uns bereitet haben. Ich werde nie vergessen, welch bemerkenswerte Kräfte Sie in Wirklichkeit besitzen und welchen Gebrauch Sie davon machen. Lady Mounteagle«, fuhr er fort, indem er sich ihr zuwandte, »Sie werden mir verzeihen, daß ich zuerst mit dem Meister gesprochen habe, aber Sie werden sich erinnern, daß ich die Ehre hatte, Ihnen diese Erklärung bereits vorher zu geben. Ich darf vielleicht sagen, daß ich den Vorgang erklärt habe, schon bevor er passiert war. Ich sagte Ihnen schon heute nachmittag, daß die meisten Vorgänge dieser Art durch eine hypnotische Beeinflussung erklärt werden könnten. Auch das bekannte indische Zauberkunststück mit dem Mangobaum und dem Knaben, der an einem in die Luft geworfenen Seil emporklettert, wird mit Massensuggestion erklärt. In Wirklichkeit geschieht nämlich gar nichts, aber die Zuschauer werden so hypnotisiert, daß sie den Vorgang in ihrer Phantasie sehen. So wurden auch wir hypnotisiert, daß wir uns alle einbildeten, der Diebstahl sei wirklich geschehen. Die braune Hand, die hinter dem Pfeiler hervorkam und den Edelstein wegnahm, war nur eine Sinnestäuschung, nicht mehr als ein Wachtraum. Und als wir uns nun einbildeten, der Stein sei verschwunden, kamen wir gar nicht mehr auf den Gedanken, ihn an seinem ursprünglichen Platz zu suchen. Wir durchsuchten den Teich und drehten jedes einzelne Blatt der Wasserrosen um, und es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten den Fischen Brechmittel verabreicht. Dabei hat der Rubin die ganze Zeit über auf dem Steinsims gelegen.«

Er blickte in die schillernden Augen und auf den lächelnden bärtigen Mund des »Meisters« und sah, daß das Lächeln ein ganz klein wenig breiter geworden war als vorher. Etwas in diesem Lächeln bewirkte, daß alle, wie aus einem schlimmen Traum aufwachend, befreit aufatmeten. Man erhob sich.

»Ich freue mich, daß die Sache eine so befriedigende Aufklärung gefunden hat«, sagte Lord Mounteagle mit einem verlegenen Lächeln. »Es ist zweifellos so, wie Sie sagen, Herr Hardcastle. Es war eine sehr peinliche Untersuchung, und ich weiß wirklich nicht, welche Entschuldigung…«

»Ich bin Ihnen deshalb nicht böse«, sagte der »Meister vom Berge«, noch immer lächelnd. »An mich kommt das alles gar nicht heran.«

Während die übrigen mit Hardcastle, der der Held des Tages war, sich über den glücklichen Ausgang der Angelegenheit freuten, schlenderte der kleine Phrenologe zu seinem komischen Zelt zurück. Als er sich umblickte, sah er zu seiner Überraschung, daß Pater Brown ihm folgte.

»Soll ich Ihre Höcker fühlen?« fragte der gelehrte Mann in mild sarkastischem Ton.

»Ich glaube nicht, daß Sie dazu noch Lust haben«, meinte der Priester gutgelaunt. »Sie sind Detektiv, nicht wahr?«

»Richtig geraten«, erwiderte der andere. »Lady Mounteagle bat mich, ein wachsames Auge auf den ›Meister‹ zu haben, denn bei all ihrer Schwärmerei ist sie doch keine Törin. Als nun der ›Meister‹ sein Zelt verließ, konnte ich ihm nur folgen, indem ich mich wie ein Verrückter benahm. Wenn wirklich jemand in mein Zelt gekommen wäre, hätte ich mich erst in einem Lexikon über meine Wissenschaft orientieren müssen.«

»Die Hauptsache ist, daß man gleich weiß, wo man nachzuschlagen hat«, entgegnete Pater Brown. »Sie paßten in diesen Wohltätigkeitsrummel ganz gut hinein.«

»Ein sonderbarer Fall, meinen Sie nicht auch?« fragte der falsche Phrenologe. »Merkwürdig, daß das Ding die ganze Zeit über dagelegen haben soll.«

»Sehr merkwürdig!« meinte der Priester.

In seiner Stimme lag etwas, das den Phrenologen erstaunt aufblicken ließ.

»Was haben Sie denn?« rief er. »Was schauen Sie so komisch drein? Glauben Sie denn etwa nicht, daß der Stein die ganze Zeit über dort lag?«

Pater Brown fuhr zusammen, als habe man ihm einen Stoß versetzt. Dann sagte er langsam und zögernd: »Allerdings nicht … Tatsache ist … Ich kann es wirklich nicht glauben, daß er die ganze Zeit über dagelegen haben soll.«

»Wenn Sie das sagen, dann haben Sie Ihre Gründe«, bemerkte der andere nachdenklich. »Und warum glauben Sie nicht, daß der Stein die ganze Zeit auf der Mauer gelegen hat?«

»Weil ich ihn selbst wieder hingelegt habe«, erwiderte Pater Brown.

Der Detektiv blieb wie vom Donner gerührt stehen, und es fehlte nicht viel, so wären ihm die Haare zu Berge gestanden. Er öffnete den Mund, konnte aber kein Wort hervorbringen.

»Oder vielmehr«, fuhr der Priester ruhig fort, »war es so: Ich habe ihm erzählt, was ich beobachtet hatte, und ihm klargemacht, daß er noch Zeit habe, seine Tat zu bereuen. Da Sie ja sozusagen ein Kollege sind, kann ich Ihnen die Sache vertraulich mitteilen. Übrigens glaube ich nicht, daß die Mounteagles jetzt, da sie den Stein zurückbekommen haben, die Sache zur Anzeige bringen werden, besonders wenn man bedenkt, wer der Dieb war.«

»Meinen Sie den ›Meister‹?« fragte der gewesene Phroso.

»Aber nein«, erwiderte Pater Brown, »der ›Meister‹ hat ihn nicht gestohlen.«

»Das verstehe, wer will«, entgegnete der andere. »Niemand stand doch hinter der Mauer außer ihm, und ich habe selbst gesehen, daß die Hand von außen kam.«

»Die Hand kam von außen, aber der Dieb von innen«, sagte Pater Brown.

»Das klingt mir aber reichlich mysteriös. Schauen Sie, ich bin ein Mann des praktischen Lebens; mir müssen Sie die Sache schon etwas einfacher machen. Ich wollte nur wissen, ob die Geschichte mit dem Rubin stimmt…«

»Ich wußte, daß sie nicht stimmt, noch bevor ich überhaupt von dem Rubin etwas wußte.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Pater Brown nachdenklich fort: »Schon als ich die Diskussion zwischen den Zelten hörte, wußte ich, daß etwas nicht stimmte. Da redet man so daher, daß Theorien nichts bedeuten und daß Logik und Philosophie keinen praktischen Wert haben. Glauben Sie das nicht. Den Verstand hat uns Gott gegeben, und wenn wir uns etwas nicht richtig erklären können, dann stimmt meist etwas nicht. Nun, diese theoretische Diskussion endete etwas komisech. Vielleicht erinnern Sie sich noch, was dabei gesagt wurde. Hardcastle gab sich recht überlegen und meinte, all diese Zauberkunststücke seien durchaus möglich, aber sie kämen wohl in den meisten Fällen durch Hypnose oder Hellsehen zustande — übrigens sogenannte wissenschaftliche Namen für Dinge, die man sich nicht erklären kann, die man aber für erklärt hält, wenn man einen Namen dafür hat. Hunter dagegen hielt alles für glatten Betrug und wollte ihn aufdecken. Nach Lady Mounteagles Zeugnis war es nicht nur eine Gewohnheit von ihm, Wahrsager und ähnliche Leute hereinzulegen, sondern er war eigens gekommen, um den ›Meister‹ zu entlarven. Dabei kam er durchaus nicht oft her. Er vertrug sich mit Mounteagle nicht recht, den er als alter Schuldenmacher stets anzupumpen suchte; aber als er hörte, daß der ›Meister‹ hier sein werde, kam er schleunigst. So weit, so gut. Trotzdem war es Hardcastle, der den Zauberer konsultieren wollte, Hunter aber lehnte es ab, das Zelt zu betreten. Er sagte, er wolle an solch einen Unsinn keine Zeit verschwenden, obschon er doch einen guten Teil seines Lebens darauf verwendet hat zu beweisen, daß es Unsinn sei. Darin liegt doch offensichtlich ein Widerspruch. Er glaubte ursprünglich, es handle sich um Kristallseherei, aber im letzten Augenblick erfuhr er, daß der ›Meister‹ Wahrsagerei aus der Hand betreibt.«

»Meinen Sie, daß er deshalb nicht mitging?« fragte sein Begleiter, dem noch immer kein Licht aufging.

»Das dachte ich auch zuerst«, sagte Pater Brown, »aber jetzt weiß ich, daß er einen ganz bestimmten Grund hatte. Er war durch die Entdeckung, daß es um Handlesen gehe, wirklich betroffen, weil er…«

»Nun?« fragte der Detektiv ungeduldig.

»Weil er den Handschuh nicht abziehen wollte«, sagte der Pater.

»Seinen Handschuh nicht abziehen?« wiederholte der andere.

»Hätte er ihn nämlich abgezogen«, fuhr Pater Brown bedächtig fort, »so hätten wir alle sehen können, daß seine Hand bereits mattbraun gefärbt war… Jawohl, er kam eigens her, weil der ›Meister‹ hier war. Er hatte sich gründlich vorbereitet.«

»Sie wollen also sagen«, rief Phroso, »daß es Hunters braungefärbte Hand war, die hinter dem Pfeiler zum Vorschein kam? Aber er war doch die ganze Zeit bei uns!«

»Versuchen Sie es doch einmal an Ort und Stelle selbst, und Sie werden merken, daß es durchaus möglich ist. Hunter sprang mit einem Satz in den Wandelgang und lehnte sich über die Brüstung; im Nu konnte er seinen Handschuh ausziehen, den Ärmel hochkrempeln und mit der Hand um den Pfeiler herum nach dem Sims fassen, während er mit der anderen Hand den Inder packte und laut rief, er habe den Dieb erwischt. Es fiel mir gleich auf, daß er den Dieb nur mit einer Hand festhielt, wo doch ein vernünftiger Mensch seine beiden Hände gebraucht hätte. Aber mit der gefärbten Hand ließ er den Rubin in seine Hosentasche gleiten.«

Nachdenklich sah der Ex-Phrenologe vor sich hin. Nach einer langen Pause begann er zögernd: »Nun, das nenne ich einen tollen Streich. Aber die Sache will mir noch nicht recht einleuchten. Vor allem bleibt mir das sonderbare Verhalten des alten Zauberers unerklärlich. Wenn er doch völlig unschuldig war, warum, zum Henker, hat er dann seine Unschuld nicht beteuert? Warum war er nicht entrüstet, daß man ihn als Dieb bezeichnete und ihn durchsuchte? Warum saß er lächelnd da und deutete nur geheimnisvoll an, zu welch unerklärlichen und wunderbaren Dingen er fähig sei?«

»Ha!« rief Pater Brown scharf, »jetzt kommen Sie endlich auf den springenden Punkt! Jetzt kommen Sie endlich auf das zu sprechen, was all diese Leute nicht verstehen und nie verstehen werden. ›Alle Religionen sind gleich‹, sagt Lady Mounteagle. O nein, nein, nein! Ich sage Ihnen, einige dieser Religionen sind so verschieden voneinander, daß der beste Mensch der einen dickfellig scheint, wo der schlechteste der anderen empfindlich sein wird. Ich habe heute schon einmal gesagt, daß mir der Begriff ›geistige Macht‹ nicht gefällt, weil der Akzent auf der ›Macht‹ liegt. Ich will durchaus nicht behaupten, daß der ›Meister‹ fähig wäre, einen Rubin zu stehlen; höchstwahrscheinlich würde er das nie tun, sehr wahrscheinlich würde er ihn des Stehlens nicht für wert halten. Für ihn gibt es andere Versuchungen: so wird er versucht sein, sich Wundertaten zuschreiben zu lassen, auf die er ebensowenig Anspruch hat wie auf den Edelstein. Einer solchen Versuchung ist er heute erlegen; diesen Diebstahl hat er heute begangen. Es gefiel ihm, daß wir dachten, er besitze die wunderbaren geistigen Kräfte, einen Gegenstand durch den Raum fliegen lassen zu können; und so ließ er uns in dem Glauben, er habe den Diebstahl begangen, obwohl er völlig unschuldig war. Der Gedanke, daß es sich bei dem Edelstein um fremdes Gut handelt, ist ihm zumindest anfänglich überhaupt nicht gekommen. Er wurde nicht versucht durch die Frage: ›Soll ich diesen Stein stehlen?‹, sondern durch die Frage: ›Könnte ich diesen Stein weghexen und ihn auf einen fernen Berg zaubern?‹ Wessen Stein es war, war ihm dabei völlig gleichgültig. Diese unterschiedliche Geisteshaltung meine ich, wenn ich sage, die Religionen seien verschieden. Er ist sehr stolz auf seine sogenannten geistigen Kräfte. Aber was er geistig nennt, bedeutet nicht dasselbe wie das, was wir sittlich nennen. Er versteht darunter Gehirnkräfte, Herrschaft des Geistes über die Materie, Macht des Magiers über die Elemente. Aber wir Christen sind nicht so wie er, auch wenn wir als Menschen nicht besser, ja selbst wenn wir schlechter sind als er. Wir, deren Väter zumindest Christen waren, die wir unter diesen mittelalterlichen Bogengängen aufgewachsen sind, selbst wenn wir sie geschmacklos mit allen Dämonen Asiens bevölkern, wir sind in unserem Ehrgeiz und in unserem Schamgefühl genau entgegengesetzt ausgerichtet. Wir wären ängstlich darauf bedacht, daß ja niemand von uns annähme, wir hätten den Stein verschwinden lassen. Er aber gab sich alle Mühe, uns glauben zu machen, er habe ihn gestohlen — obwohl er an dem Diebstahl ganz unschuldig war. Er stahl sich das Renommee des Stehlens! Während wir den Tatverdacht von uns abzuschütteln suchen wie eine Viper, lockte er ihn an sich heran wie ein Schlangenbeschwörer. Aber Schlangen sind bei uns keine Haustiere. Bei einem solchen Anlaß kommen sofort die tiefverwurzelten Anschauungen des Christentums zum Vorschein. Sehen Sie sich zum Beispiel den alten Mounteagle an! Man kann noch so sehr für das Orientalische schwärmen und so geheimnisvoll tun, wie man will, man kann einen Turban und wallende Gewänder tragen und nach den Weisungen Mahatmas leben — wenn einem aber so ein Steinchen im Haus gestohlen wird und Freunde und Bekannte in Verdacht kommen, dann wird man sehr bald entdecken, daß man ein ganz gewöhnlicher Engländer ist, der das Zittern bekommt, sobald er nur das Wort Diebstahl hört. Der Mann, der den Diebstahl wirklich beging, möchte auf keinen Fall, daß wir ihn des Diebstahls verdächtigen, denn auch er ist ein echter Engländer. Er war sogar noch etwas Besseres, er war ein christlicher Dieb. Und ich hoffe und glaube, daß er auch ein reuiger Dieb ist.«

»Nach Ihrer Auffassung«, meinte sein Begleiter lachend, »kamen sich der christliche Dieb und der heidnische Betrüger also von zwei verschiedenen Seiten entgegen. Dem einen tat es leid, daß er den Diebstahl begangen hat, dem anderen, daß er ihn nicht begangen hat.«

»Wir dürfen über keinen von beiden zu hart urteilen«, sagte Pater Brown nachsichtig. »Andere Engländer haben schon vor diesem gestohlen, und Gesetz und Politik haben sie dabei noch geschützt. Auch der Westen hat seine eigene Methode, den Diebstahl durch spitzfindige Ausflüchte zu entschuldigen. Schließlich ist dieser Rubin nicht der einzige wertvolle Stein auf dieser Welt, der seinen Besitzer gewechselt hat. Auch andere kostbare Steine, geschnitten wie Kameen und vielfältig und bunt wie Blumen, sind gestohlen worden…«

Der andere sah ihn fragend an, und der Priester deutete mit dem Finger auf die gotischen Umrisse der großen Abtei.

»Ein großer, herrlicher Stein«, sagte er, »und auch er wurde gestohlen…«

Der Marquis von Marne

Ein greller Blitz tauchte die grauen Bäume in fahles Licht und ließ das Blätterdach bis zum letzten gekräuselten Blättchen deutlich hervortreten. Die ganze Szene sah aus wie mit dem Silberstift gemalt, wie in Silber gestochen. Und als nun im Bruchteil einer Sekunde Millionen winziger Einzelheiten aus der Dämmerung auftauchten, konnte man auch die nächste Umgebung erkennen: die unter den weitästigen Bäumen herumliegenden Überreste eines Picknicks, eine fahle Sandstraße, die sich durch den Wald zog, und am Waldrand einen weißen Wagen, der verlassen dastand. Schon vorher hatte das graue Dämmerlicht des Abends in der Ferne undeutlich einen düster aussehenden Herrensitz erkennen lassen, schloßartig, mit vier Türmen; die grauen Wände wirkten wie eine am Horizont aufsteigende, zerfetzte Wolke. Als nun der Blitz aufzuckte, schien das Schloß plötzlich in die Nähe zu rücken hoch ragte es auf mit seinem zinnenbewehrten Dach und den schwarzen, gespenstischen Fenstern. Auf die kleine Gruppe von Menschen, die unter den Bäumen standen, wirkte dies wie eine Enthüllung — es war, als habe der Blitz plötzlich den Schleier vor einem längst vergangenen Ereignis heruntergerissen: Wie ein verblichener Schemen war das Schloß, war die Vergangenheit wieder ins Leben getreten.

Das unwirklich silberhelle Licht des Blitzes enthüllte für einen kurzen Augenblick aber auch eine menschliche Gestalt. Unbeweglich stand sie da wie die Türme des Schlosses, hochgewachsen, auf. einer kleinen Bodenerhebung etwas höher als die übrigen Mitglieder der Picknickgesellschaft; diese saßen im Gras oder suchten das Geschirr zusammen. Ein Mann war es. Er trug einen malerischen kurzen Mantel oder Umhang, der mit einer silbernen Schnalle und einer Kette zusammengehalten wurde. Im Schein des Blitzes funkelte die Schnalle wie ein Stern; die bewegungslose Gestalt schien aus Erz gegossen zu sein, während das dichtgelockte Haar mit seiner brennendgelben Farbe wie Gold leuchtete. Man hätte unter diesem Haar eigentlich ein jüngeres Gesicht erwartet. Dieses Gesicht — mit einer Adlernase und scharfgemeißelten Zügen — war zwar in seiner Art schön zu nennen, sah aber in dem grellen Licht etwas faltig, gleichsam verwittert aus. Wahrscheinlich hatte die Haut des Mannes unter dem vielen Schminken gelitten, denn Hugo Romaine war der größte Schauspieler seiner Zeit. Im Augenblick, da der Blitz aufzuckte, sah er— mit seinem gelockten, goldenen Haar, dem elfenbeinernen Gesicht und der silbernen Schnalle an der Kette — fast wie ein geharnischter Ritter aus; als aber die Landschaft wieder in Dunkel getaucht war, zeichnete sich seine Gestalt schwarz vor dem trüben Grau des gewitterschwülen Abendhimmels ab.

Mit seiner statuenhaften, steinernen Ruhe unterschied sich Romaine von den übrigen Personen der Gruppe. Als der Blitz so unerwartet aufzuckte, waren alle anderen unwillkürlich zusammengefahren. Die einzige anwesende Dame hatte sogar die Augen ganz geschlossen und einen leisen Schrei ausgestoßen. Sie war Amerikanerin, was deutlich daran zu erkennen war, daß sie ihr graues Haar mit außerordentlicher Anmut trug, fast als sei sie stolz darauf. Ihr Mann, der englische General Outram, ein alter, wackerer Angloinder mit kahlem Kopf, schwarzem Schnurrbart und altmodischem Backenbart, blickte nur kurz mit einer steifen Bewegung auf und fuhr dann ruhig mit Aufräumen fort. Ein ebenso schlanker wie schüchterner junger Mann namens Mallow, der die braunen, treuen Augen eines Hundes hatte, ließ einen Teller fallen und stammelte verlegen eine Entschuldigung. Ein dritter, sehr elegant gekleideter Mann, dem die glatt zurückgekämmten grauen Haare das Aussehen eines forschen Terriers gaben, war kein anderer als der große Zeitungskönig Sir John Cockspur; er fluchte munter drauflos, aber es klang nicht eben sehr englisch und durchaus . nicht akzentfrei, denn er kam von Toronto. Einzig die hochgewachsene Gestalt in dem kurzen Umhang stand buchstäblich wie ein Standbild aufrecht in der Dämmerung. Das Adlergesicht hatte im Schein des Blitzes wie die Büste eines römischen Kaisers ausgesehen, und nicht einmal seine Augehlider hatten sich bewegt.

Als bald darauf der Donner die dunkle Himmelswölbung durchkrachte, kam Leben in den Schauspieler. Er wandte den Kopf rückwärts, seinen Gefährten zu, und sagte lässig: »Zwischen Blitz und Donner liegen etwa anderthalb Minuten; ich glaube, das Gewitter kommt näher. Ein Baum soll zwar kein guter Schutz gegen den Blitz sein, aber wir werden ihn bald als Schirm gegen den Regen brauchen.«

Der junge Mann warf einen besorgten Blick auf die Dame und fragte: »Könnten wir nicht irgendwo anders Schutz suchen? Dort drüben scheint doch ein Haus zu sein.«

»Sie haben ganz recht, Herr Mallow, ein Haus ist da«, bemerkte der General ziemlich grimmig, »aber man kann es nicht gerade als ein gastliches Haus bezeichnen.«

»Sonderbar«, seufzte seine Frau gedankenverloren, »daß wir in ein Gewitter geraten sind, und es gibt kein anderes Haus weit und breit als das alte Schloß.«

In ihrem Ton lag etwas, das den sehr taktvollen und feinfühligen jungen Mann veranlaßte, keine weiteren Fragen zu stellen. Der Mann aus Toronto war jedoch weniger rücksichtsvoll. »Was ist denn mit dem Haus?« fragte er. »Sieht mir eher wie eine Ruine aus.«

»Dieses Schloß«, bemerkte der General mit einem Anflug von Sarkasmus, »gehört dem Marquis von Marne.«

»Aha!« rief John Cockspur. »Von diesem komischen Vogel habe ich schon allerhand gehört. Im vergangenen Jahr habe ich ihm sogar im ›Komet‹ eine ganze Fortsetzungsgeschichte gewidmet unter dem Titel ›Der Edelmann, den niemand kennt‹.«

»Ich habe auch schon von ihm gehört«, warf der junge Mallow leise ein. »Es werden die unheimlichsten Geschichten erzählt, warum er so zurückgezogen lebt. Er soll eine Maske tragen, weil er den Aussatz hat. Ein Bekannter hat mir auch allen Ernstes erzählt, auf der Familie liege ein Fluch; man sprach von einem Kind, einer schrecklichen Mißgeburt, das in einem dunklen Zimmer verborgen gehalten wird.«

»Der Marquis von Marne hat drei Köpfe«, sagte Romaine mit unbeweglichem Gesicht. »Alle dreihundert Jahre einmal wird der Familie ein dreiköpfiger Sohn geboren. Kein Mensch wagt sich dem fluchbeladenen Haus zu nähern außer einer schweigenden Prozession von Hutmachern, die eine ungeheuerliche Anzahl von Hüten heranschleppen. Aber…«, und seine Stimme vibrierte in jenem unheimlichen Ton, der bei seinen Auftritten auch dem letzten Theaterbesucher kalte Schauer über den Rücken jagte, »… edle Freunde! Diese Hüte sind nicht für menschliche Häupter gemacht.«

Die Amerikanerin blickte stirnrunzelnd und etwas zweifelnd zu ihm hin, als ginge ihr dieser Stimmaufwand sehr gegen den Strich.

»Ich mag Ihre dämonischen Späße nicht«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie darüber keine Späße machen würden.«

»Ich höre und gehorche«, erwiderte der Schauspieler, »aber darf ich wie ein guter Soldat nicht einmal fragen, warum Sie dies wünschen?«

»Ich wünsche es«, entgegnete sie, »weil der Marquis von Marne durchaus nicht — wie behauptet wird — ein Edelmann ist, den niemand kennt. Ich selbst kenne ihn, oder wenigstens kannte ich ihn sehr gut vor etwa dreißig Jahren, als wir noch alle jung waren. Er war damals Attaché in Washington. Und damals trug er keine Maske, wenigstens nicht in meiner Gegenwart. Er war kein Aussätziger, obschon er vielleicht ebenso einsam war. Und er hatte nur einen Kopf und nur ein Herz, und das war gebrochen.«

»Eine unglückliche Liebesgeschichte natürlich«, sagte Cockspur. »Das könnte ich eigentlich für den ›Komet‹ recht gut gebrauchen.«

»Es soll sicherlich ein Kompliment für uns Frauen sein«, erwiderte die Amerikanerin nachdenklich, »daß Sie immer annehmen, das Herz eines Mannes werde nur durch eine Frau gebrochen. Aber es gibt noch andere Arten der Liebe und des Kummers. Haben Sie niemals ›In Memoriam‹ gelesen? Haben Sie niemals von David und Jonathan gehört? Der arme Marquis zerbrach am Tod seines Bruders. Das heißt, es war eigentlich nicht sein Bruder, sondern ein Vetter, aber er war mit ihm zusammen erzogen worden und stand ihm näher, als das selbst bei Brüdern der Fall ist. James Mair, wie der Marquis zur Zeit unserer Bekanntschaft hieß, war von beiden der ältere, aber er blickte immer wie anbetend zu Maurice Mair auf — wie zu einem Gott. Für ihn war sein Vetter Maurice ein Wunderkind; aus jedem Wort, das er über ihn sprach, konnte man das heraushören. James selbst war durchaus kein Dummkopf und ein sehr guter Politiker; wenn er aber über Maurice sprach, dann gab es für ihn nur eine Meinung: Maurice könne jeden Beruf aufs beste ausfüllen. Er sei ein glänzender Künstler, Schauspieler und Musiker, von allem anderen gar nicht zu reden. James selbst war ein sehr hübscher Mann, hochgewachsen, kraftvoll und energisch, obgleich die jungen Leute von heute ihn mit seinem geteilten Backenbart, wie er damals Mode war, sicherlich sehr komisch finden wurden. Maurice hingegen trug keinen Bart, aber er war nach den Bildern, die ich gesehen habe, ebenfalls sehr schön, wenn er auch einem Tenor ähnlicher sah, als das einem Gentleman eigentlich zusteht. Immer und immer wieder fragte mich James, ob sein Vetter nicht ein wahres Wunder sei, ob sich nicht jede Frau in ihn verlieben müsse und so weiter und so weiter. Und es war schon gar nicht mehr auszuhalten mit seiner Fragerei, bis das alles dann eines Tages plötzlich so tragisch endete. James’ ganzes Leben schien in diesem Vergöttern geradezu aufzugehen, bis eines Tages das Idol von seinem Sockel herunterstürzte und zerbrach wie ein Nippesfigürchen. Eine Erkältung, die sich Maurice an der See zugezogen hatte — und alles war vorüber.«

»Und dann«, fragte der junge Mann, »hat sich der Marquis so ganz und gar von der Welt abgeschlossen?«

»Zuerst ging er auf Reisen«, antwortete sie, »nach Asien, in die Südsee und weiß Gott, wohin. Solche erschütternden Erlebnisse wirken ja auf jeden Menschen verschieden. Der Marquis jedenfalls mied von nun an jede menschliche Gesellschaft und suchte sogar der Erinnerung so weit als möglich zu entfliehen. Man durfte ihm gegenüber nicht einmal mehr die leiseste Andeutung über die alte Freundschaft machen, er konnte kein Bild des Toten mehr sehen, mochte nichts mehr von ihm hören und hielt alles von sich fern, was nur irgendwie mit ihm zusammenhing. Er konnte den Pomp eines großen öffentlichen Begräbnisses nicht ertragen. Er hatte nur einen Wunsch, die Gegend zu verlassen, in der sich das Schreckliche zugetragen hatte. Zehn Jahre blieb er seiner Heimat fern. Es ging das Gerücht, daß er gegen Ende seines freiwilligen Exils wieder etwas aufgelebt sei; aber als er wieder hier war, brach er völlig zusammen. Er verfiel in religiöse Melancholie und ist wohl dem Wahnsinn nahe.«

»Man sagt, die Pfaffen hätten sich seiner bemächtigt«, brummte der alte General. »Ich weiß, er gab Riesensummen für die Gründung eines Klosters her und lebt sogar selbst fast wie ein Mönch oder jedenfalls wie ein Einsiedler. Ich verstehe nicht, wie man so etwas machen kann.«

»Dieser verfluchte Aberglaube!« schnarrte Cockspur. »Das sollte man wirklich an die große Glocke hängen. Machen sich also diese elenden Vampire an einen Mann heran, der dem Staat und der Welt zweifellos noch große Dienste hätte erweisen können, und saugen ihm das Blut aus den Adern. Ich wette, bei ihren unnatürlichen Ansichten über Welt und Leben haben sie ihn nicht einmal heiraten lassen.«

»Da haben Sie recht, verheiratet ist er nicht«, sagte die Amerikanerin. »Er war zwar verlobt, als ich ihn kennenlernte, aber ich glaube nicht, daß diese Liebe für ihn so wichtig war, und sie wurde mitbegraben, als alles andere zusammenstürzte. Wie es bei Hamlet und Ophelia war — die Liebe entglitt ihm, als ihm das Leben entglitt. Ich kannte seine Braut, ich kenne sie auch heute noch. Unter uns, es war Viola Grayson, die Tochter des alten Admirals. Auch sie hat übrigens nie geheiratet.«

»Das ist ja schändlich! Das ist eine Teufelei!« rief Sir John aufspringend. »Es ist nicht nur eine Tragödie, sondern ein Verbrechen! Ich habe der Öffentlichkeit gegenüber eine Pflicht zu erfüllen, und ich werde diesen empörenden Fall in allen meinen Zeitungen brandmarken. Es ist doch kaum zu glauben — so etwas im zwanzigsten Jahrhundert!« Er erstickte fast an seiner Entrüstung.

Der alte Krieger aber sagte nach einer Weile: »Ich will nicht behaupten, daß ich viel von diesen Dingen verstehe, aber ich glaube, diese frommen Leute sollten sich an ein Bibelwort erinnern, das da heißt: ›Lasset die Toten ihre Toten begraben.‹«

»Nur daß unglücklicherweise die Mahnung dieses Textes gerade hier sehr genau befolgt zu werden scheint«, bemerkte seine Frau seufzend. »Es klingt doch fast wie eine unheimliche Sage, in der ein Toter unablässig und für ewig einen anderen Toten begräbt.«

»Das Gewitter ist über uns hinweggezogen«, sagte Romaine mit einem undefinierbaren Lächeln. »Sie werden also diesem ungastlichen Haus keinen Besuch abzustatten brauchen.«

Die Amerikanerin fuhr schaudernd zusammen. »Oh, das werde ich sowieso nie wieder tun!« rief sie.

Mallow sah erstaunt zu ihr hin. »Was heißt ›wieder‹? Haben Sie es denn schon einmal versucht?« fragte er.

»Ja, einmal habe ich den Versuch gemacht«, sagte sie leichthin, nicht ohne einen Anflug von Stolz, »aber es ist besser, wir sprechen jetzt nicht davon. Übrigens, wenn es auch nicht regnet, so dürfte es doch ratsam sein, wenn wir zum Wagen zurückgehen.«

Einzeln und paarweise brachen sie auf. Mallow und der General bildeten den Abschluß der Gruppe, und plötzlich sagte der General mit leiser Stimme:

»Dieser Cockspur braucht es ja nicht zu hören, aber da Sie gefragt haben, ist es wohl besser, wenn Sie die Wahrheit erfahren. Diese Brüskierung meiner Frau ist das einzige, was ich dem Marquis niemals verzeihen werde; aber ich glaube, die Mönche haben ihn derartig zugerichtet, daß er nicht mehr anders kann. Meine Frau, die treueste Freundin, die er in Amerika je gehabt hat, besuchte ihn, als er gerade im Garten spazierenging. Er wandelte umher, die Augen niedergeschlagen wie ein Mönch, und dabei steckte er in einer schwarzen Kapuze, die wirklich aussah wie eine lächerliche Maskierung. Sie hatte ihm ihre Karte hineingeschickt und erwartete ihn nun im Garten auf dem Weg, den er dahergeschritten kam. Und was glauben Sie — ohne ein Wort oder auch nur einen Blick ging er an ihr vorbei, als sei sie nichts als ein Stein am Wegrand. Er war kein menschliches Wesen mehr, er war nur noch eine grauenhafte wandelnd Marionette. Meine Frau hat wirklich recht, wenn sie ihn als einen Toten bezeichnet.«

»Das ist doch alles recht seltsam«, sagte der junge Mann gedankenverloren. »Es ist alles so ganz anders, als… als ich eigentlich erwartet hätte.«

Als der junge Mallow von diesem ziemlich trübselig verlaufenen Picknick nach Hause kam, machte er sich auf die Suche nach einem Freund, mit dem er sich über das Erlebte aussprechen konnte. Er kannte zwar keine Mönche, aber er kannte einen Priester, dem er von diesen seltsamen Berichten, die er am Spätnachmittag gehört hatte, erzählen wollte. Gar zu gerne hätte er gewußt, was es mit den schrecklichen Geschichten über den Marquis auf sich hatte — Geschichten, die über dem geheimnisvollen Schloß hingen wie die dräuend schwarzen Gewitterwolken des Nachmittags.

Nachdem er lange Zeit vergeblich gesucht hatte, traf er Pater Brown schließlich im Hause eines katholischen Freundes, der eine sehr zahlreiche Familie hatte. Mallow fand Pater Brown auf dem Fußboden sitzend und sehr ernsthaft darum bemüht, einen grellbunten Puppenhut auf dem Kopf eines Teddybären zu befestigen.

Mallow fühlte, daß das, was er mitzuteilen hatte, gar nicht zu dieser Szene paßte; aber er war von den ihn bewegenden Fragen zu sehr erfüllt, um die Unterhaltung darüber mehr, als unbedingt nötig, hinauszuschieben. In seinem Unterbewußtsein hatte es schon die ganze Zeit über gearbeitet und rumort, und so erzählte er jetzt die Tragödie des Hauses Marne, wie er sie von der Frau des Generals gehört hatte, und vergaß auch nicht die Bemerkungen des Generals und des Zeitungskönigs. Als der Name Cockspur fiel, horchte Pater Brown plötzlich mit gespanntem Interesse auf.

Es kam Pater Brown weder zum Bewußtsein, noch hätte es ihn sonderlich gekümmert, daß seine Haltung recht komisch und nicht im mindesten salonfähig war. Er blieb weiterhin auf dem Boden sitzen, wo er mit seinem großen Kopf und den kurzen Beinen aussah wie ein spielendes Kind. Aber in seine großen, grauen Augen kam plotzlich ein Ausdruck, der in den vergangenen neunzehnhundert Jahren zu den verschiedensten Zeiten in den Augen vieler Männer aufgeglommen war — nur saßen diese Männer im allgemeinen nicht auf dem Boden, sondern an Konferenztischen oder auf den Thronsesseln von Äbten, Bischöfen und Kardinäien. Es war jener weitschauende, wachsame Spährblick, in dem zugleich die ganze Demut liegt, wie sie ein Amt verlangt, das für einen Menschen allzu schwer ist. Diesen wachsamen Blick in die Weite kann man in den Augen von Seeleuten ebenso beobachten wie bei jenen, die Sankt Peters Schiff durch so viele Stürme und Fährnisse zu steuern hatten und haben.

»Es ist sehr gut, daß Sie mir dies erzählen«, sagte Pater Brown. »Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, denn wir werden in dieser Angelegenheit vielleicht etwas unternehmen müssen. Wenn nur Leute wie Sie und der General dabeigewesen wären, könnte man die Sache eventuell als private Angelegenheit betrachten. Wenn aber Sir John Cockspur in seinen Blättern Lärm schlägt und irgendwelchen Unsinn verbreitet… Er ist ja ein alter Katholikenfresser. Wir werden uns da kaum heraushalten können.«

»Aber was gedenken Sie denn zu tun? Was meinen Sie überhaupt zu der ganzen Geschichte?« fragte Mallow unsicher.

»Nun«, entgegnete Pater Brown, »als erstes fällt mir auf, daß die Geschichte so, wie Sie sie mir erzählt haben, nicht sehr wahr klingt. Nehmen wir doch einmal theoretisch an, wir Geistliche wären wirklich solch lebensfeindliche Vampire, die darauf aus sind, das Glück der Menschen zu zerstören. Nehmen Sie also einmal an, ich sei ein solcher Vampir.« Er rieb seine Nase mit dem Teddybären, aber als es ihm dunkel zum Bewußtsein kam, daß dies wenig zum Ernst der Sache passe, legte er ihn weg. »Nehmen wir an, wir Geistliche wären darauf aus, alle Freundschafts- und Famiiienbande zu zerreißen. Warum sollten wir dann aber umgekehrt ein Interesse daran haben, jemandem solche Familienbande wieder aufzuzwingen, wenn er gerade dabei war, sich davon zu befreien? Es ist doch unsinnig, uns zu beschuldigen, wir zerstörten die Familienbindungen, und uns im selben Atemzug zur Last zu legen, wir drängten sie einem Menschen auf. Ich sehe auch nicht ein, warum ein mit religiösem Wahnsinn geschlagener Mensch einen solchen aberwitzigen Kultus der Vergangenheit betreiben sollte, schon gar nicht aber, wie die Religion diesen Wahnsinn fördern könnte. Wahrscheinlicher wäre es doch, daß echter Glauben ihm ein wenig Hoffnung schenken würde.«

Nach einer Pause setzte er nachdenklich hinzu: »Ich würde mich sehr gern einmal mit Ihrem General unterhalten.«

»Nicht er, sondern seine Frau hat mir das alles erzählt«, sagte Mallow.

»Ich weiß«, erwiderte der Priester. »Aber mich interessiert das, was er verschwieg, mehr als das, was seine Frau erzählt hat.«

»Sie meinen also, daß er mehr weiß als sie?«

»Ich glaube, er weiß mehr, als sie gesagt hat«, antwortete Pater Brown. »Nach Ihrem Bericht hat er gesagt, diese Brüskierung könne er dem Marquis niemals verzeihen. Was hat er sonst noch zu verzeihen?«

Pater Brown erhob sich und ordnete sein weites Gewand. Dann sah er den jungen Mann mit zusammengekniffenen Augen und rätselhaftem Gesichtsausdruck an. Plötzlich wandte er sich um, nahm seinen unförmigen Regenschirm zur Hand, setzte seinen großen, schäbigen Hut auf und stapfte davon.

Er überquerte viele Straßen und Plätze, bis er im Westend an ein schönes, altes Haus kam. Den Diener, der ihm auf sein Läuten hin öffnete, fragte er, ob er den General sprechen könne, und nach einigem Hin und Her wurde er in ein weniger mit Büchern als mit Karten und Globen ausgestattetes Arbeitszimmer geführt, in dem der kahlköpfige, schwarzbärtige General am Tisch saß, eine lange, dünne, schwarze Zigarre rauchte und sich damit vergnügte, Stecknadeln in eine Karte zu bohren.

»Verzeihen Sie bitte die Störung«, sagte der Priester, »besonders deshalb, weil es so aussehen wird, als wollte ich mich mit meinem Besuch in Ihre Privatangelegenheiten mischen. Ich möchte Sie in einer sehr persönlichen Sache sprechen, aber ich denke, daß alles, was wir sprechen werden, unter uns bleiben kann. Leider ist zu befürchten, daß andere die Sache an die Öffentlichkeit bringen wollen. Sir John Cockspur dürfte ja auch für Sie, Herr General, kein Unbekannter sein.«

Der dichte, schwarze Schnurrbart und der Backenbart bedeckten die untere Gesichtshälfte des alten Generals wie eine Maske, und so konnte man nur schwer erkennen, ob er lächelte. Nur seine buschigen, dunklen Augenbrauen zwinkerten hin und wieder.

»Ich glaube, den kennt jeder«, brummte er. »Ich selbst kenne ihn freilich nicht besonders gut.«

»Aber es dürfte Ihnen immerhin bekannt sein, daß jedermann erfahren wird, was er weiß«, sagte Pater Brown lächelnd, »wenn er es für zweckmäßig hält, seine Kenntnisse in Druckerschwärze umzusetzen. Und wie mir mein Freund, Herr Mallow, den Sie ja wohl ebenfalls kennen, berichtete, beabsichtigt Sir John, einige flammende antiklerikale Artikel vom Stapel zu lassen, die er auf das sogenannte Geheimnis des Schlosses Marne aufbauen will. ›Mönche treiben Marquis zum Wahnsinn‹ — so etwa!«

»Na und?« meinte der General. »Wenn Sir John das vorhat, dann verstehe ich nicht, warum Sie in dieser Sache zu mir kommen. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich überzeugter Protestant bin.«

»Überzeugte Protestanten sind mir sehr sympathisch«, erwiderte Pater Brown. »Ich habe Sie aufgesucht, weil ich sicher bin, daß Sie mir die Wahrheit sagen werden. Ich hoffe, es ist nicht ungerecht, wenn man in dieser Hinsicht bei Sir John Cockspur weniger überzeugt ist.«

Wieder zwinkerten die braunen Augen, aber der General sagte kein Wort.

»Herr General«, fuhr Pater Brown fort, »stellen Sie sich einmal vor, Cockspur oder Leute seines Schlages würden in der ganzen Welt Greuelmärchen über Ihr Land oder Ihre Fahne verbreiten. Denken Sie sich, er würde die Behauptung aufstellen, Ihr Regiment sei in der Schlacht davongelaufen oder Ihr Stab stehe im Sold des Feindes. Würden Sie in diesem Fall nicht alles unternehmen, die Unrichtigkeit solcher Behauptungen vor aller Welt zu beweisen? Würden Sie sich durch irgend etwas an der Feststellung der Wahrheit hindern lassen? Nun, auch ich habe ein Regiment, auch ich gehöre einer Armee an. Sie wird verleumdet durch Berichte, die meiner Meinung nach frei erfunden sind; aber ich kann dies noch nicht beweisen, weil ich den wahren Hergang nicht kenne. Können Sie mir einen Vorwurf daraus machen, daß ich mich bemühe, ihn herauszufinden?«

Der General schwieg.

»Ich habe die Geschichte gehört, die man Mallow gestern erzählt hat. Danach soll sich Marne, gebrochen durch den Tod seines Vetters, der ihm mehr bedeutete als ein Bruder, gänzlich von der Welt zurückgezogen haben. Aber ich bin davon überzeugt, daß hinter dieser Sache noch mehr steckt. Und ich bin hergekommen, um zu fragen, ob Sie mehr hierüber wissen.«

»Nein«, sagte der General schroff, »mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«

»Herr General«, meinte Pater Brown mit einem breiten Lächeln, »mich würden Sie einen Jesuiten genannt haben, hätte ich mich so aus der Schlinge gezogen.«

Der General lachte rauh auf und brummte dann mit noch größerer Feindseligkeit: »Gut denn, ich will Ihnen also nichts sagen. Was sagen Sie jetzt?«

»Na schön«, antwortete der Priester sanft, »wenn Sie nicht wollen, dann muß eben ich Ihnen etwas erzählen.«

Die braunen Augen zwinkerten nicht mehr; groß und fest waren sie auf den Priester gerichtet.

Pater Brown fuhr fort: »Sie zwingen mich also dazu, Ihnen auseinanderzusetzen — und vielleicht in weniger sympathischer Weise, als es Ihnen selbst möglich gewesen wäre —, warum ganz offensichtlich mehr hinter der Geschichte steckt, von der Ihre Frau berichtet hat. Ich bin fest davon überzeugt, daß der Marquis sich nicht nur deshalb in seine melancholische Einsamkeit zurückgezogen hat, weil er einen Freund verloren hat. Ich glaube kaum, daß irgendein Priester überhaupt etwas mit dieser Sache zu tun hat, ja ich weiß nicht einmal, ob er ein Konvertit ist oder nur ein Mensch, der sein Gewissen durch Wohltätigkeiten zur Ruhe bringen will. Aber einer Sache bin ich sicher: Die Trauer um einen verlorenen Freund ist bestimmt nicht der einzige Grund, warum sich der Marquis so seltsam benimmt. Da Sie es nicht anders wollen, werde ich Ihnen einige Punkte aufzählen, die mich zu dieser Überzeugung gebracht haben.

Erstens sagte Ihre Frau, James Mair sei verlobt gewesen und habe auch die Absicht gehabt, zu heiraten, nach dem Tod von Maurice Mair aber habe er die Verlobung gelöst. Es ist doch wahrlich nicht einzusehen, warum ein ehrenwerter Mann eine Verlobung lösen sollte, nur weil er über den Tod seines Freundes betrübt ist. Viel wahrscheinlicher wäre es doch, daß er sich, um Trost zu finden, noch fester an den einzigen Menschen anschließt, der ihm verblieben ist. Jedenfalls war der Tod des Freundes durchaus kein Grund, die Verlobung mir nichts, dir nichts aufzulösen und das Mädchen sitzenzulassen.«

Der General kaute auf seinem schwarzen Schnurrbart herum, ’ und in seine Augen trat ein wachsamer, vielleicht sogar etwas besorgter Ausdruck; aber er antwortete nichts.

»Punkt zwei«, sprach Pater Brown weiter, indem er finster auf die Tischplatte starrte. »James Mair fragte seine Freundin unablässig, ob sein Vetter Maurice nicht außergewöhnlich bezaubernd sei und ob nicht jede Frau ihn bewundern müsse. Ich weiß nicht, ob der Dame der Gedanke gekommen ist, daß diese Fragen auch einen anderen Sinn haben konnten.«

Der General hatte sich erhoben und ging mit schweren Schritten im Zimmer auf und ab.

»Ach, diese ganze verdammte Geschichte!« rief er, aber seine feindselige Stimmung schien geschwunden.

»Der dritte Punkt«, fuhr Pater Brown unerbittlich fort, »ist James Mairs sonderbare Art zu trauern — er zerstört alle Andenken, verhüllt alle Bilder und so weiter. Ich gebe zu, so etwas kann vorkommen als Zeichen einer leidenschaftlichen Trauer. Aber es kann auch etwas anderes bedeuten.«

»Zum Henker noch mal!« rief der General. »Wieviel Punkte haben Sie noch auf Vorrat?«

»Der vierte und fünfte Punkt lassen an Beweiskraft nichts zu wünschen übrig, besonders wenn man sie zusammennimmt«, fuhr der Priester ruhig fort. »Maurice Mair, der doch einer großen und bekannten Familie angehörte, scheint gar nicht besonders feierlich begraben worden zu sein. Er wurde in aller Eile bestattet, vielleicht sogar heimlich. Und schließlich ist James Mair unmittelbar danach ins Ausland gegangen — oder besser gesagt, er ist bis ans Ende der Welt geflohen und war lange Jahre verschwunden. Wenn Sie also«, fuhr er noch immer in demselben sanften Ton fort, »meine Religion anschwärzen wollen, um damit die angeblich so reine und vollkommene Liebe der beiden Vettern, wie die Geschichte sie darstellt, in ein helleres Licht zu heben…«

»Halt!« rief Outram wie aus der Pistole geschossen dazwischen. »Ich muß Ihnen wohl doch mehr darüber berichten, sonst vermuten Sie am Ende noch irgend etwas Schlimmes. Lassen Sie mich gleich eines festhalten: Es war ein ehrlicher Kamp.«

»Aha«, sagte Pater Brown und schien erleichtert aufzuatmen.

»Es war ein Duell«, erklärte der General, »wahrscheinlich das letzte, das in England ausgetragen wurde, und seitdem ist eine lange Zeit verflossen.«

»Das hört sich schon besser an«, meinte Pater Brown. »Gott sei Dank, das hört sich schon wesentlich besser an.«

»Besser als die scheußlichen Dinge, an die Sie wahrscheinlich gedacht haben, nicht wahr?« brummte der General. »Aber Sie mögen noch so sehr die reine und vollkommene Liebe anzweifeln, sie bestand trotzdem. James Mair war seinem Vetter, der wie ein jüngerer Bruder mit ihm erzogen worden war, von Herzen zugetan. Man findet es oft, daß sich ältere Brüder oder Schwestern in solcher Weise einem nachgeborenen Kind widmen, besonders wenn es so etwas wie ein Wunderkind ist. Aber James Mair gehörte zu jenen Menschen, in deren einfachem Gemüt selbst der Haß irgendwie selbstlos ist. Selbst wenn sich bei solchen Menschen zärtliche Zuneigung in Wut verwandelt, bleibt sie noch immer objektiv, das heißt auf ein Objekt gerichtet, während diese Menschen dabei an sich selbst gar nicht denken. Der arme Maurice Mair allerdings war gerade das Gegenteil von James. Er war viel umgänglicher und hatte eine Menge Freunde, aber seine Erfolge waren ihm so zugeflogen, daß er wie in einem Glashaus lebte. Stets war er der Erste, im Sport und in allen Künsten; fast immer gewann er, ohne jedoch in seiner freundlichen Art allzu überheblich zu werden. Wenn er aber zufällig einmal verlor, so kam eine weniger schöne Seite seiner Natur zum Vorschein. Er war nämlich eifersüchtig. Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen ausführlich erzählen wollte, wie er auf seinen Vetter eifersüchtig war, als sich dieser verlobte, wie seine ruhelose Eitelkeit ihn dazu trieb, sich in die Herzensangelegenheiten des anderen einzumischen. Es genügt, wenn ich Ihnen sage, daß James Mair, der in den meisten Dingen hinter ihm zurückstand, ein besserer Schütze war als er; und damit endete die Tragödie.«

»Sie meinen, die Tragödie begann«, erwiderte der Priester. »Die Tragödie des Überlebenden. Ich habe mir ja gleich gedacht, daß er keine mönchischen Vampire brauchte, um unglücklich zu sein.«

»Ich bin der Meinung, daß er viel unglücklicher dran ist, als er es eigentlich verdient«, sagte der General. »Es war zwar eine schreckliche Tragödie, aber, wie ich schon sagte, ein ehrlicher Kampf. Und James war herausgefordert worden.«

»Woher wissen Sie das denn so genau?« fragte der Priester.

»Ich weiß es, weil ich alles mitangesehen habe«, antwortete Outram unbewegt. »Ich war James Mairs Sekundant, und mit eigenen Augen sah ich Maurice Mair tot vor mir im Sand liegen.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir das etwas ausführlicher erzählen würden«, meinte Pater Brown nachdenklich. »Wer war Maurice Mairs Sekundant?«

»Er hatte sich einen bekannteren Namen ausgesucht«, erwiderte der General grimmig. »Sein Sekundant war Hugo Romaine, der große Schauspieler. Maurice war aufs Theaterspielen versessen und hatte Romaine, der damals zwar schon im Aufstieg begriffen war, aber noch sehr zu kämpfen hatte, als Lehrer angenommen. Als Gegenleistung für diesen Unterricht finanzierte er den Schauspieler. Romaine, der jetzt reicher ist als irgendein Aristokrat, war damals praktisch völlig von ihm abhängig. Wenn er sich also als Sekundant zur Verfügung gestellt hat, so beweist das noch nicht, wie er über den ganzen Kampf selbst dachte. Jeder der Duellanten hatte nach englischer lischer Sitte nur einen Sekundanten. Ich wollte wenigstens einen Arzt hinzuziehen, aber Maurice lehnte diesen Vorschlag entschieden ab: Je weniger Leute Kenntnis von diesem Duell hätten, desto besser sei es, sagte er, und notfalls könnten wir ja sofort Hilfe bekommen. ›In dem Dorf, das keine halbe Meile entfernt ist, wohnt ein Arzt‹, sagte er. ›Ich kenne ihn, und er besitzt eines der schnellsten Pferde in der ganzen Umgebung. Er könnte also in kürzester Zeit zur Stelle sein, aber er braucht erst geholt zu werden, wenn es wirklich nötig ist.‹ Nun, es war uns allen bekannt, daß Maurice als der schlechtere Schütze die größere Gefahr lief; als er daher die Hinzuziehung eines Arztes ausschlug, hatten wir keinen Anlaß, unsererseits weiter darauf zu bestehen. Das Duell wurde auf einer flachen Sandstrecke an der Ostküste von Schottland ausgetragen. Grasbewachsene Sanddünen schirmten den Platz gegen die landeinwärts gelegenen Dörfer und Weiler ab, so daß von dort aus niemand etwas hören oder sehen konnte. Durch einen tiefen Einschnitt in den Dünen gelangten wir an den Strand. Ich sehe ihn noch deutlich vor mir: zuerst ein breiter Streifen von fahlem Gelb und dahinter ein schmalerer Streifen von dunklem Rot, einem Rot, das bereits wie die Vorahnung einer Bluttat aussah.

Der Zweikampf selbst ging ziemlich rasch vor sich; es war, wie wenn plötzlich ein Wirbelwind über den Sand gefegt wäre. Schon beim ersten Schuß drehte sich Maurice wie ein Kreisel und fiel vornüber aufs Gesicht. Und sonderbar, während ich mich bis zu diesem Augenblick um ihn gesorgt hatte, wandte sich nun, als er tot war, meine ganze Liebe dem Mann zu, der ihn getötet hatte. Ich wußte, daß jetzt, da Maurice tot war, das Pendel der lebenslangen Liebe meines Freundes gewaltig zurückschwingen würde und daß, mochten auch andere noch so viele Gründe finden, ihm zu verzeihen, er selbst sich diese Tat zeitlebens nicht würde vergeben können. Und so ist der Eindruck, der sich mir am tiefsten eingeprägt hat, das Bild, das mir unvergeßlich vor Augen steht, nicht die Katastrophe selbst, der Rauch, das Aufblitzn und die fallende Gestalt. Das schien alles schon längst vorüber zu sein wie ein Geräusch, das einen aufweckt. Was ich sah und was ich immer vor mir sehen werde, ist das Bild, wie der arme James auf den Zusammengesunkenen, der ihm Freund und Feind zugleich war, zulief. Sein brauner Bart sah nun gegen die geisterhafte Blässe seines Gesichtes schwarz aus, sein Profil hob sich scharf gegen das Meer ab. Mit verzweifelten Gebärden winkte er mir, zu dem hinter den Dünen liegenden Dorf zu laufen und den Wundarzt zu holen. Er hatte die Pistole im Laufen fallen lassen, in der anderen Hand hielt er einen Handschuh, dessen lose flatternde Finger der verzweifelten Gebärde, mit der er mich antrieb, ärztliche Hilfe zu holen, einen flehentlichen Nachdruck zu verleihen schienen. Das ist das Bild, das mir immer vor Augen steht: die gelben und dunkelroten Streifen des Sandes, des Meeres und des Himmels, der tote Körper, der bewegungslos wie ein Stein dalag, und die dunkle Gestalt des Sekundanten, die sich starr und regungslos gegen den Horizont abhob.«

»Wie? Romaine stand regungslos da?« fragte der Priester erstaunt. »Ich hätte mir eher vorgestellt, daß er noch schneller auf den Toten zugelaufen wäre als James.«

»Möglich, daß er es tat, als ich fort war«, erwiderte der General. »Im Bruchteil einer Sekunde nahm ich dieses unvergeßliche Bild in mich auf, und im nächsten Augenblick war ich auch schon zwischen den Dünen und hatte die anderen aus den Augen verloren. Der arme Maurice hatte, was den Arzt angeht, eine gute Wahl getroffen. Wenn der Arzt auch zu spät kam, so war er doch schneller am Schauplatz des Duells, als ich für möglich gehalten hätte. Dieser Dorfarzt war ein sehr merkwürdiger Mann, rothaarig und sehr reizbar, aber von außerordentlicher Schnelligkeit und Geistesgegenwart. Allerdings sah ich nicht viel von ihm, denn kaum hatte ich meinen Bericht hervorgestoßen, als er sich auch schon auf sein Pferd schwang und in gestrecktem Galopp an den Strand stürmte, während ich weit zurückblieb. Aber wenn ich auch nur wenige Worte mit ihm wechselte, so machte er doch einen großen Eindruck auf mich, und ich wünschte, wir hätten ihn hinzugezogen, ehe das Duell begonnen hatte, denn ich bin fest davon überzeugt, er hätte es verhindert. Jedenfalls beseitigte er die Spuren mit wunderbarer Schnelligkeit. Ich konnte ihm nur langsam folgen, denn ich war ja zu Fuß, und ehe ich wieder an den Strand gelangt war, hatte er umsichtig schon alles erledigt. Die Leiche war vorläufig in den Dünen beerdigt worden, und den unglücklichen Mörder hatte der Arzt überredet, das einzige zu tun, was ihm übrigblieb — nämlich zu fliehen. James eilte die Küste entlang, bis er einen Hafen erreichte, wo es ihm gelang, außer Landes zu kommen. Den weiteren Verlauf der Geschichte kennen Sie ja. Der arme James blieb viele Jahre im Ausland; später, als über die ganze Sache Gras gewachsen war, kehrte er in sein düsteres Schloß zurück und erbte ohne weiteres Titel und Vermögen. Ich habe ihn seitdem niemals wiedergesehen.«

»Wie ich gehört habe, hat man auch den Versuch gemacht, zu ihm vorzudringen«, sagte Pater Brown.

»Meine Frau hat das schon zu wiederholten Malen versucht«, entgegnete der General. »Sie will nicht zugeben, daß ein Mensch durch eine solche Tat für immer aus der menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen sein soll, und ich gestehe, daß ich derselben Ansicht bin. Noch vor achtzig Jahren hätte man sich über so etwas überhaupt nicht sonderlich aufgeregt; und James hat ja auch wirklich keinen Mord begangen, sondern einen Totschlag. Meine Frau ist mit der unglücklichen Dame, die die Ursache des Streites gewesen war, eng befreundet und meint, wenn James einwillige, Viola Grayson noch einmal wiederzusehen, so werde er dadurch vielleicht wieder zur Vernunft kommen. Ich glaube sogar, daß meine Frau in dieser Angelegenheit für morgen eine Art Kriegsrat einberufen hat. Wenn sie sich nämlich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, dann betreibt sie das sehr energisch.«

Pater Brown spielte mit den Stecknadeln, die neben der Karte lagen; er schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein und nur mit halbem Ohr zuzuhören. In seiner Phantasie sah er alles stets in Bildern; und das Bild, das sich sogar dem prosaischen Gemüt des alten, wahrlich nicht romantisch veranlagten Generals so tief eingeprägt hatte, nahm in der lebhaften Phantasie des Priesters noch buntere und zugleich unheimlichere Farben an. Er sah den verlassenen dunkelroten Strand, sah den Toten, der langgestreckt auf dem Gesicht lag, sah den Mörder, der vorwärtsstürzend auf ihn zurannte und dabei in verzweifelter Reue mit seinem Handschuh gestikulierte; aber immer kehrten seine Gedanken zu einer merkwürdigen Tatsache zurück, die er noch nicht in dieses Bild einfügen konnte: Der Sekundant des Erschossenen stand rätselhaft regungslos wie eine Statue am Ufer des Meeres. Für andere wäre dies nur eine merkwürdige Einzelheit im Rahmen einer merkwürdigen Geschichte gewesen — für Pater Brown war diese starre Gestalt ein großes, geheimnisvolles Fragezeichen.

Warum hatte sich Romaine nicht sofort in Bewegung gesetzt?; Das war doch die selbstverständliche Pflicht eines Sekundanten, selbst wenn er mit dem Duellanten nicht befreundet gewesen wäre. Und selbst wenn irgend etwas anderes mitspielte, irgendein Doppelspiel oder eine noch nicht erkennbare Schurkerei, so hätte er doch zum mindesten irgend etwas unternehmen müssen, um den Schein zu wahren. Auf jeden Fall hätte er sich rühren müssen, nachdem sein Duellant umgesunken war, hätte sich rühren müssen, noch ehe der andere Sekundant zwischen den Dünen verschwunden war.

»Ist dieser Romaine sehr schwerfällig?« fragte Pater Brown.

»Sonderbar, daß Sie das fragen!« antwortete Outram und warf einen schnellen Blick auf den Pater. »Nein, wenn er sich bewegt, dann sind seine Bewegungen sehr schnell. Aber merkwürdigerweise mußte ich gerade eben daran denken, daß ich ihn heute, während des Gewitters am Nachmittag, genauso dastehen sah. In seinem durch eine silberne Schnalle zusammengehaltenen Umhang, eine Hand in die Hüfte gestemmt, stand er da wie damals auf dem Kampfplatz. Wir waren alle vom Blitz geblendet, aber er zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Und als der Wald längst wieder dunkel war, stand er noch immer so da.«

»Aber er wird doch wohl jetzt nicht mehr dort herumstehen?« fragte Pater Brown. »Ich meine, er hat sich doch bald darauf wieder bewegt?«

»Aber sicher, er setzte sich sofort in Bewegung, als der Donner krachte«, erwiderte der General. »Er schien darauf gewartet zu haben, denn er sagte uns genau die Zeit, die zwischen Blitz und Donner lag… Was haben Sie denn?«

»Ach nichts, ich habe mich nur mit einer Ihrer Nadeln gestochen«, sagte Pater Brown. »Ich hoffe, daß der Nadel nichts passiert ist.« Aber sein Mund hatte sich plötzlich krampfhaft geschlossen, während er die Augen weit aufgerissen hatte.

»Was haben Sie? Ist Ihnen nicht wohl?« fragte der General besorgt, ihn verdutzt ansehend.

»Mir fehlt nichts«, antwortete der Priester, »ich bin nur nicht so stoisch wie Ihr Freund Romaine. Ich muß blinzeln, wenn ich Licht sehe.«

Er nahm Hut und Mantel und wandte sich zum Gehen, aber als er schon an der Tür war, schien ihm noch etwas einzufallen, und er kehrte ins Zimmer zurück. Sehr nahe trat er an Outram heran, seine Augen blickten den General hilflos mit dem Ausdruck eines sterbenden Fisches an, und mit der Hand machte er eine Bewegung, als wollte er den alten Offizier bei der Weste packen.

»Herr General«, sagte er fast flüsternd, »halten Sie um Himmels willen Ihre Frau und jene andere Dame davon ab, zu Marne zu gehen. Schlafende Hunde soll man nicht wecken, sonst ist die Hölle los.«

Pater Brown verschwand und ließ den General ziemlich verwirrt allein zurück.

Noch größer war jedoch das Erstaunen, das die Frau des Generals befiel, als sie ihre so wohlgemeinte Verschwörung anzetteln wollte. Sie hatte eine kleine Gruppe Getreuer zusammengerufen, um das Schloß des Menschenfeindes zu stürmen. Die erste Überraschung, die ihr widerfuhr, war die Entdeckung, daß einer der Hauptbeteiligten an der Tragödie von damals ohne Entschuldigung ausgeblieben war. Als man, wie verabredet, in einem ruhigen Gasthof unweit des Schlosses zusammenkam, fehlte Hugo Romaine, und man konnte sich diese Tatsache nicht erklären, bis schließlich ein Telegramm eintraf mit der Nachricht, der große Schauspieler habe England ganz plötzlich verlassen.

Als die Generalin und ihre Getreuen dann den Sturm auf Schloß Marne damit begannen, daß sie den Marquis dringend um eine Unterredung ersuchen ließen, kam die zweite Überraschung in Gestalt eines sonderbaren Männchens, das ihnen aus dem düsteren Schloßtor entgegenkam, um die Deputation im Namen des Schloßherrn zu empfangen. Diese Gestalt paßte nicht im mindesten zu den feierlich dunklen Alleen und schien auch recht ungeeignet für eine solch hochherrschaftliche Veranstaltung wie den Empfang einer Deputation. Es war weder ein betreßter Diener noch ein majestätischer Hausmeister, nicht einmal ein würdevoller Kammerdiener oder ein stattlicher Kutscher in Livree: Aus dem höhlenartigen Schloßtor trat nur die kleine, unansehnliche Gestalt von Pater Brown.

»Aber meine Demen und Herren«, sagte er in seiner einfachen Art, indem er die Förmlichkeit durch einen aus leichtem Ärger und Langeweile gemischten Ton ersetzte, »ich ließ Ihnen doch sagen, Sie täten besser daran, den Besitzer dieses Hauses in Ruhe zu lassen. Er weiß genau, was er tut, und Ihr Besuch könnte nur Unheil anrichten.«

Lady Outram, die von einer hochgewachsenen, schlicht gekleideten und noch sehr hübschen Dame, Fräulein Grayson, begleitet war, sah mit kalter Verachtung auf den kleinen Priester herab.

»Das ist denn doch die Höhe, mein Herr!« sagte sie. »Wir sind in einer privaten Angelegenheit hier, und ich verstehe nicht, warum Sie sich da einmischen wollen.«

»Haben Sie jemals einen Pfaffen gesehen, der sich nicht in fremde Angelegenheiten privatester Art einmischt?« schnarrte Sir John Cockspur. »Wie die Ratten hausen sie hinter der Wand und Wühlen sich in jedermanns Gemächer ein. Sehen Sie, nun hat er auch den armen Marne schon in seine Gewalt bekommen!« Sir John war ohnehin etwas verärgert, denn seine aristokratischen Freunde hatten ihn überredet, die Sache doch nicht an die große Glocke zu hängen. Als Ersätz hierfür durfte er nun aber bei der Aufdeckung eines Gesellschaftsskandals durch höchst persönliche Anwesenheit glänzen, und es fiel ihm nicht im geringsten ein, sich zu fragen, ob nicht auch er vielleicht eine solche lauernde Ratte hinter dem Wandputz sei.

»Machen Sie bitte keine Geschichten«, sagte Pater Brown, und man merkte seinem ungeduldigen Ton an, daß sich eine gewisse Angst dahinter verbarg. »Ich habe mit dem Marquis gesprochen und auch den einzigen Priester zu Rate gezogen, mit dem er jemals zu tun gehabt hat. Übrigens sind seine kirchlichen Neigungen sehr übertrieben worden. Ich sage Ihnen, er weiß genau, was er tut und warum er nicht gestört werden will, und ich flehe Sie an, lassen Sie ihn in Ruhe!«

»Sie meinen also, wir sollen ihn wie einen lebendig Begrabenen seinem qualvollen Brüten und seinem Wahnsinn hier in diesem Gemäuer überlassen!« rief Lady Outram mit zitternder Stimme. »Und das nur deshalb, weil er das Unglück hatte, vor mehr als einem Vierteljahrhundert einen Menschen im Duell zu erschießen? Nennen Sie das vielleicht christliches Erbarmen?«

»Allerdings«, antwortete der Priester ruhig.

»So sieht also das ganze Erbarmen aus, zu dem diese Pfaffen fähig sind«, knurrte Cockspur bissig. »So also verzeihen sie einem armen Kerl eine unbesonnene Tat: Sie mauern ihn bei lebendigem Leibe ein und quälen ihn mit Fasten, Buße und Ausmalen der Höllenqualen, die ihn erwarten, zu Tode. Und all das nur, weil sich einmal eine Kugel verirrt hat.«

»Sagen Sie, Pater Brown«, fragte General Outram dazwischen, »glauben Sie wirklich, daß er solch eine schreckliche Strafe verdient? Ist das Ihr Christentum?«

»Das wahre Christentum ist sicherlich jenes«, sagte seine Frau in sanfterem Ton, »das alles versteht und alles verzeiht; es ist die Liebe, die sich erinnern und — vergessen kann.«

»Pater Brown«, fiel jetzt der junge Mallow mit großem Ernst ein, »ich stimme Ihnen meist bei, aber in diesem Fall kann ich Ihnen nicht folgen. Ein Schuß in einem Duell, der sofort so bitterlich bereut wird, kann doch kein solch furchtbares Verbrechen sein.«

»Ich muß gestehen«, sagte Pater Brown dumpf, »daß ich sein Vergehen ernster beurteile.«

»Gott möge Ihr hartes Herz erweichen«, sprach nun die Fremde, die zum erstenmal den Mund auftat. »Ich werde mich aber nicht abhalten lassen. Ich muß mit meinem alten Freund sprechen.«

Fast als hätte ihre Stimme einen Geist in dem großen, alten Haus aufgescheucht, hörte man Geräusche von innen, und eine Gestalt erschien in dem dunklen Torbogen am oberen Ende der steinernen Treppenflucht. Sie war in das Schwarz des Todes gekleidet, aber wild loderte das weiße Haar um das totenbleiche Gesicht.

Viola Grayson begann ruhig die große Treppe emporzusteigen, und Outram murmelte in seinen dichten, schwarzen Bart: »Er wird sie wohl kaum ebenso ignorieren können wie meine Frau.«

Pater Brown, der resigniert in sich zusammengesunken war, sah plötzlich zu dem General auf.

»Der arme Marne hat genug auf dem Gewissen«, sagte er. »Wir wollen ihn nicht noch mit Dingen belasten, die er nicht getan hat. Ihre Frau wenigstens hat er niemals übersehen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er hat sie überhaupt nie gekannt«, sagte Pater Brown.

Während sie so sprachen, hatte die hochgewachsene Dame in stolzer Haltung die Treppen erstiegen und sah nun dem Marquis von Marne direkt ins Gesicht. Seine Lippen bewegten sich, aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, ereignete sich etwas, das den unten Stehenden das Blut in den Adern erstarren ließ.

Ein Schrei gellte auf und hallte an den düsteren Wänden schauerlich wider. Dieser plötzliche Schrei war wie in Todesnot ausgestoßen worden, derartig wild verzerrt, daß nur ein unartikulierter Laut erklang. Und doch — es war ein Wort, ein Wort, das alle mit erschreckender Deutlichkeit verstanden:

»Maurice!«

»Um Himmels willen, was ist denn?« rief Lady Outram und stürmte die Treppe hinauf, denn die Frau oben schwankte und schien stürzen zu wollen. Aber sie fing sich, wandte sich langsam um und schickte sich an, zitternd und in sich zusammengesunken die Treppe herabzusteigen. »O Gott«, stöhnte sie. »O Gott, es ist gar nicht James… Es ist — Maurice!«

»Ich halte es für ratsam«, sagte der Priester ernst zu Lady Outram, »daß Sie Ihre Freundin möglichst bald von hier fortbringen.«

Als sie sich nun abwandten, erscholl oben auf der steinernen Treppe eine Stimme, eine Stimme wie aus einem offenen Grab. Sie war rauh und heiser und unnatürlich wie die Stimme eines Menschen, der lange Zeit auf einer verlassenen Insel gelebt hat, nur von Vögeln und wilden Tieren umgeben, und das Sprechen schon fast völlig verlernt hat. Es war die Stimme des Marquis von Marne, und sie rief: »Halt!«

»Pater Brown«, fuhr die Stimme fort, »ich ermächtige Sie, ehe Ihre Freunde auseinandergehen, ihnen alles zu sagen, was ich Ihnen gesagt habe. Welche Folgen auch für mich daraus entstehen mögen, ich will und ich werde es nicht länger für mich behalten.«

»Daran tun Sie gut«, antwortete der Priester, »und es soll Ihnen hoch angerechnet werden.«

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»Ja«, sagte Pater Brown später zu der kleinen Gesellschaft, die ihn mit Fragen bestürmte, »er hat mir die Erlaubnis gegeben, zu sprechen. Ich will es aber nicht erzählen, wie er es mir mitgeteilt hat, sondern so, wie ich es selbst entdeckt habe. Ich wußte von Anfang an, daß diese Geschichte seiner Versklavung durch finstere Mönche purer Unsinn sein mußte. So etwas gibt es nur in Schauerromanen. Unsere Leute mögen manchmal vielleicht einem Mann zureden, in ein Kloster einzutreten, aber sie werden niemandem raten, sich in einem mittelalterlichen Schloß zu vergraben. Auch wird es von uns durchaus nicht gern gesehen, daß sich jemand wie ein Mönch kleidet, wenn er keiner ist. Als ich deshalb hörte, daß sich der Marquis mit einer Mönchskapuze zu verhüllen pflegt, kam mir der Gedanke, daß er vielleicht besondere Gründe hierzu haben könnte. Ich hörte, daß er ein Leidtragender, dann, daß er ein Mörder sei; aber in mir war von Anfang an der Verdacht aufgestiegen, daß der Grund seiner Weltflucht nicht darin zu suchen sei, was er war, sondern wer er war. Dann hörte ich des Generals anschauliche Beschreibung des Duells, und am interessantesten war für mich dabei die Gestalt des Herrn Romaine im Hintergrund, am interessantesten deshalb, weil er sich offenbar völlig unbeweglich im Hintergrund gehalten hat. Unbeweglich stand er da, rührte und regte sich nicht, während der General davoneilte, um Hilfe zu holen. Dabei war doch Romaine der Freund des Mannes gewesen, der nun tot im Sand lag. Später hörte ich auch noch von Romaines merkwürdiger Gewohnheit, ganz still zu verharren, wenn er auf etwas wartet. So hat er ja auch im Wald auf den Donner gewartet. Diese scheinbar unbedeutende Einzelheit verriet mir alles. Hugo Romaine hat auch damals am Strand auf etwas gewartet.«

»Aber es war doch schon alles vorüber«, sagte der General.

»Worauf hätte er denn warten sollen?«

»Er hat auf das Duell gewartet.«

»Aber ich habe doch das Duell mit eigenen Augen gesehen!« rief der General verblüfft.

»Und ich sage Ihnen, Sie haben das Duell nicht gesehen«, antwortete der Priester.

»Sind Sie toll?« fragte der andere aufgebracht. »Oder glauben Sie vielleicht, ich sei blind?«

»Sie waren mit Blindheit geschlagen — damit Sie nicht sehen sollten. Weil Sie ein guter Mensch sind und Gott Ihnen das Schreckliche ersparen wollte, hat er Ihre Augen von diesem unnatürlichen Kampf abgewandt. Er setzte eine Mauer von Sand und Stille zwischen Sie und das Geschehen auf dem roten Sand, wo Judas und Kain miteinander im Streit lagen.«

»Erzählen Sie doch bitte den Hergang«, drängte ungeduldig und mit weit aufgerissenen Augen die Frau des Generals.

»Ich werde es Ihnen so erzählen, wie ich es entdeckt habe«, fuhr der Priester fort. »Als nächstes fand ich heraus, daß Maurice bei Hugo Romaine Schauspielunterricht hatte. Auch ich habe einmal einen Freund gehabt, der Schauspieler wurde, und er erzählte mir sehr amüsant, daß er in der ersten Woche nichts anderes habe üben müssen als hinzufallen: Er mußte lernen, wie man der Länge nach hinfällt, als wäre man mausetot!«

»Gott, erbarme dich unser!« rief der General entsetzt und griff nach der Stuhllehne, als wolle er aufspringen.

»Amen!« sagte Pater Brown. »Sie, Herr General, haben mir berichtet, wie schnell anscheinend alles vor sich ging. In Wirklichkeit jedoch fiel Maurice schon, ehe noch der erste Schuß gekracht hatte, und dann lag er vollständig still und wartete. Und sein ruchloser Freund und Lehrer stand im Hintergrund und wartete ebenfalls.«

»Wir warten auch«, sagte Cockspur drängend. »Ich platze schon fast vor Ungeduld, endlich die ganzen Hintergründe zu erfahren.«

»James Mair, den schon die Reue gepackt hatte, lief rasch zu dem Niedergestürzten hin und beugte sich über ihn, um ihn aufzuheben. Schaudernd hatte er unterwegs die Pistole von sich geschleudert. Maurice jedoch hatte seine Pistole, aus der noch kein Schuß abgefeuert worden war, unter der Hand verborgen. Als sich James nun über ihn beugte, stützte er sich auf den linken Arm und schoß James durch die Brust. Er wußte, daß er kein guter Schütze war, aber auf diese Entfernung konnte er das Herz Seines Feindes nicht verfehlen.«

Die Gruppe hatte sich erhoben, und mit bleichen Gesichtern starrte alles den Erzähler an. »Sind Sie sicher, daß sich die Sache wirklich so abgespielt hat?« fragte schließlich Sir John beklommen.

»Ich weiß es genau«, sagte Pater Brown. »Und nun überlasse ich Maurice Mair, den jetzigen Marquis von Marne, Ihrem christlichen Erbarmen. Sie haben mir ja heute bereits einen Vortrag über christliches Erbarmen gehalten. Ich war vorhin der Meinung, daß Ihre Ansichten über das Erbarmen vielleicht etwas zu weitherzig wären, aber welch ein Glück ist es doch für solch arme Sünder wie den Marquis, daß Sie hierin so großzügig sind und sich bereit erklären, alle Menschen brüderlich in die Arme zu schließen.«

»Zum Henker!« platzte der General heraus. »Sie glauben doch nicht etwa, daß ich mit solch einem schmutzigen Lumpen etwas zu tun haben will! Kein Wort würde ich für ihn einlegen, um ihn vor der Hölle zu bewahren. Ich würde ja nichts sagen, wenn es sich um ein regelrechtes, anständiges Duell gehandelt hätte. Aber solch ein Meuchelmörder…«

»…sollte gelyncht werden!« fuhr Cockspur aufgeregt dazwischen. »Man sollte ihn bei lebendigem Leib verbrennen, wie man es früher bei uns in den Staaten mit den Niggern gemacht hat! Und wenn es tatsächlich so etwas gibt wie ewiges Höllenfeuer, dann wird dieser Bursche…«

»Nicht einmal mit einer Feuerzange würde ich den Kerl anfassen«, empörte sich der sonst so sanfte Mallow.

»Es gibt denn doch eine Grenze für menschliches Mitleid«, sagte Lady Outram, am ganzen Körper zitternd.

»Gewiß«, sagte Pater Brown trocken, »und das ist auch der eigentlich Unterschied zwischen menschlichem Mitleid und christlichem Erbarmen. Sie werden mir verzeihen, daß ich heute nicht erdrückt worden bin unter der Last der Verachtung, die Sie für meine angebliche Hartherzigkeit bezeugt haben, daß ich nicht ganz und gar vernichtet wurde durch Ihren Vortrag über Nächstenliebe, den Sie mir gehalten haben. Denn mir will scheinen, daß Sie nur solche Sünden zu vergeben bereit sind, die Sie gar nicht als Sünden betrachten. Sie sind gern bereit, Verbrechern Verzeihung zu gewähren, wenn die Verbrechen in Ihren Augen nicht als solche, sondern eher als Kavaliersdelikte erscheinen.. So würden Sie sicherlich ohne weiteres ein Duell oder einen Ehebruch verzeihen, weil die Gesellschaft so etwas sanktioniert. Sie verzeihen nur dann, wenn nichts zu verzeihen ist.«

»Aber zum Henker!« rief Mallow. »Sie können doch nicht von uns erwarten, daß wir eine so gemeine Tat verzeihen können?«

»Das erwarte ich eigentlich auch gar nicht«, sagte Pater Brown. »Aber wir Priester müssen sie verzeihen können.« Er stand auf und blickte jeden im Kreis fest an. »Wir Priester müssen solche Menschen aufsuchen«, sagte er, »und müssen sie berühren, nicht mit einer Feuerzange, sondern mit unserem Segen. Wir haben das Wort zu sprechen, das sie vor der Hölle bewahrt. Wir sind noch die einzigen, die sie vor der Verzweiflung bewahren können, wenn euer menschliches Mitleid sie aufgegeben hat. Geht ihr nur ruhig euren bequemen Weg weiter, verzeiht euch gegenseitig all eure Lieblingslaster, und übt Großmut gegenüber Verbrechen, welche die Gesellschaft allzu gerne verzeiht. Und überlassen Sie es uns Vampiren der Nacht, in der Dunkelheit jene zu trösten, die wirklich Trost brauchen, jenen zu helfen, die unentschuldbare Dinge tun, Taten, die weder die Welt noch sie selbst sich vergeben können, Taten, die nur ein Priester vergeben kann. Lassen Sie uns mit den Menschen allein, die wirklich gemeine und abstoßende Verbrechen begehen — Gemeinheiten, wie Sie auch der heilige Petrus begangen hat, ehe der Hahn krahte. Und doch kam auch für ihn ein Morgen.«

»Ein Morgen?« wiederholte Mallow zweifelnd. »Glauben Sie, daß es für diesen da noch Hoffnung gibt?«

»Ich glaube es«, erwiderte der Priester. »Darf ich Ihnen allen eine Frage stellen? Sie als Damen und Herren der Gesellschaft sind ja bis ins Mark ehrenhaft und Ihrer völlig sicher. Sie sind fest davon überzeugt, daß Sie sich niemals zu einem so schmutzigen Verrat erniedrigen würden. Aber beantworten Sie mir bitte eines: Wenn tatsächlich jemand von Ihnen eine solche Tat begangen hätte, wer von Ihnen hätte sich durch sein Gewissen oder durch einen Beichtvater dazu bringen lassen, nach Jahren, wenn keine Gefahr der Entdeckung mehr bestand und Reichtum und Ansehen nicht gefährdet waren, ein solches Geständnis abzulegen? Sie sagen, Sie wären nicht imstande, ein so gemeines Verbrechen zu begehen. Aber wären Sie jemals imstande, ein solch gemeines Verbrechen zu gestehen?«

Einer nach dem anderen raffte seine Sachen zusammen und verließ schweigend das Zimmer. Auch Pater Brown erhob sich, und nachdenklich ging er zurück in das düstere Schloß des Marquis von Marne.

Flambeaus Geheimnis

»… an all die Morde, in denen ich die Rolle des Mörders gespielt habe«, sagte Pater Brown und setzte sein Weinglas nieder. Wie ein Film war vor den Augen Pater Browns die Reihe der blutfarbenen Bilder vergangener Tage vorbeigezogen.

»Allerdings«, fuhr er nach kurzer Pause fort, »hatte in all diesen Fällen schon ein anderer vor mir die Rolle des Mörders gespielt und die Tat als solche damit vorweggenommen. Ich war eine Art Ersatzmann und hielt mich sozusagen ständig bereit, die Rolle des Mörders zu übernehmen. Zumindest machte ich es mir immer zur Aufgabe, meine Rolle, wenn sie mir zugespielt wurde, durch und durch zu beherrschen. Ich will damit folgendes sagen: Wenn ich mich in die geistige Verfassung eines Mörders hineinzuleben versuchte, so kam mir jedesmal zum Bewußtsein, daß ich nur in einer ganz bestimmten Geistesverfassung, und nur in dieser — es war nicht immer die, die man am ehesten hätte erwarten sollen —, die Tat selbst hätte begehen können. Und dann wußte ich natürlich auch, wer wirklich der Täter war, und auch da war es durchaus nicht immer die Person, von der man es am ehesten erwartet hätte.

Ein Beispiel: Es war doch naheliegend, den revolutionären Dichter als den Mörder des alten Richters, der mit den Umstürzlern auf Kriegsfuß stand, anzusehen. Aber solche Feindschaft ist für einen revolutionären Dichter durchaus noch kein hinreichender Grund, seinen Feind zu ermorden. Um das einzusehen, brauchen Sie sich nur einmal in die Seele eines solchen Menschen zu versetzen. Also gab ich mir alle Mühe, mit meinem ganzen Empfinden und Denken ein revolutionärer Dichter zu sein, einer jener pessimistischen Anarchisten, die eine Revolution anstreben, nicht um zu reformieren, sondern um zu zerstören. Ich bemühte mich also, alle Elemente gesunden und vernünftigen Denkens, die ich nach Anlage und Erziehung mein eigen nannte, aus meinem Geist zu verbannen. Ich verstopfte, ich verhängte alle Öffnungen, durch die das freundliche Licht des Himmels eindringen kann, und stellte mir einen Geist vor, der nur durch das rote Licht der Tiefe erhellt wird, durch ein Feuer, das Felsen spaltet und Abgründe aufreißt. Aber selbst als ich mich in die schlimmste Geistesverfassung hineingesteigert hatte, konnte ich nicht einsehen, warum solch ein Mensch seinem Leben und seiner Laufbahn durch den Zusammenstoß mit einem ganz gewöhnlichen Polizisten, durch die Ermordung eines reaktionären alten Trottels, wie er diese in Millionen von Exemplaren vertretene Spezies genannt haben würde, ein so ruhmloses Ende setzen sollte. So etwas würde ihm nicht im Traum einfallen, mochten seine Gedichte auch noch so revolutionär sein. Oder, besser gesagt: Er würde es nicht tun, eben weil er revolutionäre Lieder schrieb. Ein Mann, der seine Leidenschaften in revolutionären Rhythmen entladen kann, braucht sie nicht in einem Mord abzureagieren. Jedes Gedicht war für ihn ein Erlebnis, und es war anzunehmen, daß er noch mehr solcher Erlebnisse zu haben wünschte. So wurden meine Gedanken auf eine andere Art von Heiden hingelenkt — Heiden, die die Welt nicht zu zerstören trachten, sondern die ganz von der Welt abhängen, ihrer Ehre und ihrem Ruhm. Ich dachte daran, daß es Menschen gibt, die an kein Jenseits glauben, für die es nichts gibt als dieses Erdendasein mit seinem trügerischen Schein. Solche dem Irdischen verhaftete Menschen, die wirklich nur dieser Welt leben und an keine andere glauben, denen Erfolg und Vergnügen alles bedeuten; das einzige, was sie aus dem Nichts erhaschen können — das sind die Menschen, die tatsächlich zu allem fähig sind, wenn ihnen diese Welt zu entgleiten droht und sie in Gefahr sind, alles zu verlieren. Nicht der revolutionäre, sondern der konventionelle, der ach so ehrbare Mensch ist zu allem fähig, um — seine Stellung und seinen Ruf in der Gesellschaft zu retten. Bedenken Sie doch einmal, was es für einen Menschen wie den Rechtsanwalt bedeuten mußte, bloßgestellt zu werden, und dazu noch wegen eines Verbrechens, vor dem die Gesellschaft seiner Kreise größte Abscheu hat, dem Landesverrat. Wenn ich in seiner Lage gewesen wäre und nichts Besseres gehabt hätte als seine Philosophie — weiß der Himmel, wozu ich dann fähig gewesen wäre. Ebendarum ist diese kleine religiöse Übung so heilsam.«

»Manche Menschen würden sie im Gegenteil für krankhaft halten«, meinte Grandison Chace zweifelnd.

»Manche Menschen«, sagte Pater Brown ernst, »halten zweifellos Mitleid und Demut für Krankheit. Unser Freund, der Dichter, denkt sicherlich so. Aber ich will jetzt auf diese Fragen nicht näher eingehen, ich versuche nur, Ihre Frage zu beantworten, wie ich im allgemeinen zu Werke gehe. Einige Ihrer Landsleute haben mir anscheinend die Ehre erwiesen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie ich ein paar Justizirrtümer habe verhindern können. Sie können also meinethalben diesen Leuten erzählen, ich brächte das durch ein krankhaftes Einfühlen zustande. Aber auf keinen Fall sollen sie etwa glauben, daß ich es mit Hilfe irgendwelcher Zauberkunststücke besorge.«

Chace blickte den Pater noch immer mit nachdenklich gefurchter Stirn an. Er war zu klug, den Grundgedanken Pater Browns nicht zu verstehen, doch wenn er es hätte in Worte fassen sollen, was in ihm vorging, dann hätte er gesagt, er sei zu vernünftig, um mit solcher Geisteshaltung sympathisieren zu können. Er hatte das Gefühl, als spreche er mit einem Menschen und doch mit hundert Mördern. Etwas Unheimliches ging von dieser kleinen Gestalt aus, die wie ein Kobold neben dem koboldhaften Ofen kauerte, und unheimlich war auch der Gedanke, daß dieser runde Kopf ein solches Universum zügellos wilder Phantasien beherbergte. Es war, als sei das grenzenlose Dunkel hinter ihm von einer wogenden Masse schwarzer Gigantengestalten bevölkert, den Geistern großer Verbrecher, die nur durch den magischen Lichtkreis des roten Feuerscheins aus dem kleinen Ofen in Zaum gehalten würden, aber ständig auf dem Sprung waren, ihren Herrn und Meister in Stücke zu reißen.

»Es tut mir leid, aber ich halte Ihr Vorgehen wirklich für krankhaft«, gab Chace deshalb ganz offen zu. »Und ich bin mir nicht ganz darüber im klaren, ob es nicht doch auch etwas mit Zauberei zu tun hat. Aber was man auch darüber sagen mag — eines ist sicher: Es muß sehr interessant sein.« Und nach einigem Überlegen setzte er hinzu: »Ich weiß nicht, ob Sie wirklich einen guten Verbrecher abgeben würden; aber Sie wären sicherlich ein guter Romanschriftsteller.«

»Ich kümmere mich nur um wirkliche Geschehnisse«, sagte Pater Brown. »Aber es ist manchmal schwerer, sich wirkliche Dinge vorzustellen als unwirkliche.«

»Besonders wenn es sich um aufsehenerregende, große Verbrechen handelt.«

»Nicht die großen Verbrechen, sondern die kleinen kann man sich am schwersten vorstellen«, erwiderte Pater Brown.

»Ich verstehe nicht ganz, wie Sie das meinen«, sagte der Amerikaner.

»Ich meine gewöhnliche Verbrechen wie Juwelendiebstähle«, erklärte Pater Brown, »zum Beispiel die Sache mit dem Smaragdhalsband oder dem Rubin von Meru oder den künstlichen Goldfischen. Die Schwierigkeit besteht bei solchen Fällen darin, daß man seinen Geist ganz klein machen muß. Gewaltige Erzzauberer, die mit großen Ideen Gaunerei treiben, geben sich mit solchen Kleinigkeiten nicht ab. Es war mir von vornherein klar, daß weder der Prophet den Rubin noch der Graf die Goldfische gestohlen haben konnte. Einem Menschen wie Bankes war es jedoch zuzutrauen, daß er sich an dem Smaragdhalsband vergreifen würde. Für die anderen ist ein Edelstein nicht mehr als ein Stück Glas. Aber die geistig kleinen, prosaischen Alltagsmenschen schätzen einen Edelstein immer nach seinem Marktwert ein. Deshalb also muß man seinen Geist klein machen. Das ist freilich äußerst schwierig; es ist, als ob man die Linse einer hin und her schwankenden Kamera immer schärfer und genauer einstellen wollte. Aber einige Umstände kamen mir zu Hilfe und warfen dann Licht auf das Geheimnis. Ein Mensch beispielsweise, der sich rühmt, er habe Jahrmarktzauberer und arme Quacksalber ›hereingelegt‹, hat immer einen kleinen Geist. Er pflegt solche Leute zu ›durchschauen‹ und stellt ihnen ein Bein. Wenn man so etwas aus Pflichtbewußtsein tut, um seine Mitmenschen vor Betrug zu bewahren, so mag das noch angehen, und auch dann wäre es noch eine schmerzliche, unangenehme Pflicht. Wenn man es jedoch zu seinem Vergnügen betreibt, so ist das meines Erachtens ein ungewöhnlich gemeines Vergnügen. Nachdem ich jedenfalls erst einmal begriffen hatte, was ein kleiner Geist ist, wußte ich auch, wo ich ihn zu suchen hatte: bei dem Mann beispielsweise, der den Propheten hereinlegen wollte, und prompt war er’s auch, der den Rubin stahl; oder bei dem Mann, der sich über die spiritistischen Phantastereien seiner Schwester lustig machte — genau er war der Dieb, der das Smaragdhalsband verschwinden ließ. Solche Menschen spähen immer nach Edelsteinen aus; nie können sie sich wie die Gauner großen Stils dazu erheben, Juwelen zu verachten. Verbrecher mit solch einem kleinen Geist sind immer konventionell. Vielleicht werden sie gerade deshalb zu Verbrechern, weil sie in den armseligen Grenzen ihres kleinen Lebens gefangen sind.

Es dauert natürlich eine ganze Weile, bis man sich in eine solch kleinliche, spießbürgerliche Geisteshaltung versetzt hat; man muß seine Phantasie reichlich strapazieren, ehe man so konventionell ist wie sie, ehe man fähig ist, einen so kleinen, so herzlich unbedeutenden Gegenstand so heftig zu begehren, wie sie das tun. Aber man kann es fertigbringen… Man kann sich stufenweise in diese Geisteshaltung einfühlen. Stellen Sie sich als erstes einmal vor, Sie seien ein auf Naschwerk erpichtes Kind, Sie gerieten in Versuchung, aus einem Laden ein Bonbon zu stehlen, und zwar ein ganz besonderes Bonbon, das schon lange Ihre Gelüste erweckt hat… Dann müssen Sie die kindliche Phantasie abschalten, das Zauberlicht, in dem das Kind den Zuckerbäckerladen sieht, ausschließen. Stellen Sie sich vor, Sie glaubten tatsächlich, die Welt und den Marktwert von Bonbons zu kennen… Stellen Sie Ihren Geist wie eine Kamera auf diesen einen Punkt ein… Langsam bekommt die Sache Gestalt und immer schärfere Umrisse… und plötzlich haben Sie’s!«

Er sprach, als hätte er eine überirdische Vision gehabt.

Grandison Chace sah ihn noch immer mit gerunzelter Stirn an; er war verblüfft und interessiert zugleich. Einmal schoß sogar unter seinen zusammengezogenen Brauen ein Blick hervor, in dem sich eine gewisse Unruhe spiegelte — als ob das erste Entsetzen über das merkwürdige Geständnis, das der Priester zu Beginn ihrer Unterhaltung abgelegt hatte, noch schwach in ihm nachzittere wie das letzte Rollen eines Donners. Zwar sagte er sich, daß Pater Brown natürlich nicht solch ein Ungeheuer, solch ein Mörder sein konnte, wie er in jenem ersten Augenblick, da ihn das Geständnis völlig überrumpelt und verwirrt hatte, beinahe gefürchtet hatte. Aber etwas konnte doch mit diesem Menschen nicht stimmen, der sich so seelenruhig über Mörder ausließ, der sich selbst als möglichen Mörder bezeichnet hatte. War es denkbar, daß der Priester ein wenig übergeschnappt war?

»Glauben Sie nicht«, sagte er plötzlich, »daß man etwas zu nachsichtig gegen die Verbrecher wird, wenn man wie Sie versucht, sich ganz in Sie hineinzufühlen?«

Pater Brown setzte sich auf und antwortete mit Entschiedenheit: »Ich weiß, daß die Wirkung genau die entgegengesetzte ist. Dieses Sich-hinein-Fühlen löst das ganze Problem unserer sündigen Zeit. Es gibt nämlich jedem die Gewissensbisse im voraus.«

Alle schwiegen. Der Amerikaner sah zu dem hohen, steilen Dach auf, das den Hof zur Hälfte überragte. Der Gastgeber blickte regungslos ins Feuer. Dann nahm der Priester das Gespräch wieder auf. Seine Stimme klang ganz anders, als komme sie aus weiter Ferne.

»Es gibt zwei Gründe, warum Menschen dem Teufel entsagen, und der Unterschied, der diese beiden Beweggründe voneinander trennt, ist vielleicht das tiefste Geheimnis der Religion unserer Zeit: Die einen haben Schauder vor dem Teufel, weil er so weit weg ist, und die anderen, weil er so nahe ist. Und zwischen keiner Tugend und keinem Laster gibt es einen so tiefen Abgrund wie zwischen diesen beiden Tugenden.«

Niemand antwortete ihm, und er fuhr in demselben ernsten Ton fort. Seine Worte schienen niederzufallen wie geschmolzenes Blei.

»Man kann ein Verbrechen für verabscheuungswürdig halten, weil man selbst es niemals begehen könnte. Ich aber halte es für entsetzlich, gerade weil ich in der Lage wäre, es zu begehen. Sie denken an ein Verbrechen so, wie man an einen Ausbruch des Vesuvs denkt: schrecklich, aber doch weit weg. Schrecklich wäre es aber, wenn in diesem Haus plötzlich eine Feuersbrunst ausbräche. Wenn unerwartet ein Verbrecher unter uns erscheinen würde…«

»Wenn tatsächlich ein Verbrecher unter uns erscheinen würde«, bemerkte Chace lächelnd, »würden Sie, glaube ich, zu nachsichtig gegen ihn sein. Sie würden ihm wahrscheinlich gleich sagen, daß Sie selbst ein Verbrecher sind, und ihm erklären, wie völlig natürlich es sei, daß er seinen Vater bestohlen oder seiner Mutter den Hals abgeschnitten habe. Offen gestanden, ich halte ein solches Vorgehen nicht für sonderlich zweckmäßig. Praktisch würde das doch wohl darauf hinauslaufen, daß sich kein Verbrecher jemals bessern würde. Es ist leicht, ins Blaue zu theoretisieren und hypothetische Fälle aufzustellen, wenn wir dabei alle wissen, daß es nur in die Luft geredet ist. Wir sitzen hier vor Herrn Durocs nettem, behaglichem Haus zusammen und sind uns unserer Wohlanständigkeit und Ehrbarkeit bewußt, und es läuft uns angenehm kribbelnd über den Rücken, wenn wir so von Mördern und Dieben und den Geheimnissen ihrer Seelen reden. Aber Leute, die wirklich mit Dieben und Mördern zu tun haben, müssen ganz anders mit ihnen umgehen. Wir sitzen in Sicherheit gemütlich am Feuer und wissen, daß das Haus nicht in Flammen steht. Wir wissen, daß kein Verbrecher da ist.«

Herr Duroc, von dessen ehrbarem Heim der Amerikaner soeben gesprochen hatte, stand langsam neben dem Ofen auf. Es war, als decke sein riesiger Schatten alles zu, als ließe er selbst die Finsternis des dunklen Nachthimmels noch dunkler werden.

»Es ist ein Verbrecher hier«, sagte er langsam. »Ich bin ein Verbrecher. Ich bin Flambeau, und die Polizei beider Hemisphären fahndet noch immer nach mir.«

Der Amerikaner starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, mit Augen, die wie leblose Glasperlen wirkten. Er brachte keinen Ton hervor und saß wie versteinert da.

»Mein Bekenntnis ist ganz wörtlich zu nehmen«, sagte Flambeau. »Mit diesen beiden Händen habe ich zwanzig Jahre lang gestohlen. Auf diesen beiden Füßen bin ich vor der Polizei geflohen. Sie werden also zugeben müssen, daß ich nicht nur theoretisiert, sondern mich praktisch betätigt habe. Sie werden auch zugeben müssen, daß meine Richter und Verfolger wirklich mit Verbrechen zu tun hatten. Glauben Sie etwa, ich kenne nicht die Methoden dieser Herren, mit denen sie sich diejenigen vornehmen, die mit den Gesetzen in Konflikt kamen? O ja: Ich habe die salbungsvollen Reden der Gerechten gehort, ich habe den kalten, hochmütigen Blick der ›ehrbaren Bürger‹ auf mir lasten gefühlt! Hat man mich nicht mit erhabener Miene und in wohlgesetzten Worten gefragt, wie jemand nur so tief fallen könne? Hat man mir nicht gesagt, daß ein anständiger Mensch sich eine solche Verworfenheit auch nicht einmal vorstellen könne? Glauben Sie mir: Ich habe auf all dies stets keine andere Entgegnung gehabt als ein Lachen! Nur ein einziger Mensch, mein Freund hier, sagte mir, er wisse genau, warum ich gestohlen hatte; und seitdem habe ich es nie wieder getan.«

Pater Brown machte eine Bewegung, als wolle er dieses Lob abwehren; und Chace, der in atemloser Spannung dageesessen hatte, stieß endlich die Luft aus, so daß es wie ein Pfeifen klang.

»Ich habe Ihnen die volle Wahrheit gesagt«, sagte Flambeau, »und es steht Ihnen jetzt frei, mich der Polizei zu übergeben.«

Einen Augenblick rührte sich keiner der Männer. Sie waren ganz still. Wie aus der Ferne hörte man schwach, daß Flambeaus Kinder noch spät in ihren Bettchen herumtollten, man hörte, wie die großen grauen Schweine im Stall quietschten und grunzten. Doch plötzlich klang eine helle, vibrierende Stimme auf, eine Stimme, in der ein wenig Entrüstung mitzitterte, fast überraschend für Leute, die nicht wissen, wie feinfühlend ein Amerikaner sein kann und wie nahe seine Haltung trotz aller offensichtlichen Gegensätze manchmal der spanischen Ritterlichkeit zu kommen vermag.

»Monsieur Duroc«, sagte Herr Chace ein wenig indigniert und feierlich zugleich, »ich darf doch annehmen, daß ich mich schon seit längerer Zeit als einen Ihrer Freunde bezeichnen darf. Es wäre mir sehr schmerzlich, wenn ich glauben müßte, Sie hielten mich für fähig, Ihnen einen solchen Streich zu spielen, während ich Ihre Gastfreundschaft genieße und in Ihrem Familienkreise weile, bloß weil Sie es für gut gehalten haben, mir aus freien Stücken etwas von Ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Und Sie haben das ja nur erzählt, um Ihren Freund zu verteidigen… Nein, Monsieur, ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch unter solchen Umständen einen Mitmenschen verraten könnte. Da wäre es ja beinahe noch besser, ein schmutziger Denunziant und Verräter zu sein und anderer Menschen Blut für Geld zu verkaufen. Aber in einem solchen Falle…! Könnten Sie sich vorstellen, daß jemand ein solcher Judas sein könnte?«

»Ich könnte es ja einmal versuchen«, sagte Pater Brown.

Caesars Kopf

Irgendwo in Brompton oder Kensington draußen gibt es eine unendlich lange Straße, auf deren Seiten sich je eine Reihe großer und stattlicher, aber meist unbewohnter Häuser hinzieht, Häuser, die aussehen wie alte Grabkammern. Sogar die Treppen, die zu den dunklen Eingangstüren hinaufführen, gleichen denen, wie man sie an Pyramiden findet; und wenn man schließlich vor einer der Türen steht, zögert man anzuklopfen, denn man hat das dunkle Gefühl, als müsse einem von einer Mumie geöffnet werden. Noch deprimierender an dieser Straße aber sind ihre unendliche Länge und das monotone Aufeinanderfolgen der grauen Fassaden. Wenn man die Straße so durchwandert, hat man den Eindruck, als komme nie eine Unterbrechung in der langen Reihe der Häuser, nie eine Ecke. Und doch — eine einzige Ausnahme gibt es, und der bedrückte Straßenwanderer begrüßt sie mit erleichtertem Aufatmen. Zwischen zweien dieser Häuser gibt es eine kleine Lücke; sie ist im Vergleich zur Länge der Straße nur ein Spalt wie eine Türritze, aber doch groß genug für ein winziges Gasthaus, das die Reichen dieser Straße ihren Stallburschen gerade noch genehmigen. Gewiß, sie ist schmutzig, diese Schenke, aber sie hat etwas Fröhliches an sich, und gerade in ihrer Unscheinbarkeit liegt zugleich etwas zauberhaft Unbekümmertes, das einem im Grau der eintönigen Häuser wirklich wohltut. Zu Füßen der grauen Steinriesen sieht die Schenke wie ein hellerleuchtetes Zwergenhäuschen aus.

An einem schönen Herbstabend nun, der an sich schon etwas Märchenhaftes an sich hatte, wurde der kleinerote Fenstervorhang, der zusammen mit den weißen Buchstaben einer Reklame das Innere der Schenke gegen die Straße zu halb verbarg, von einer Hand beiseite geschoben, und hervor guckte ein Gesicht, das einem freundlichen Kobold hätte gehören können. Es war aber kein Kobold, sondern ein Mensch mit dem Allerweltsnamen Brown, früher Priester von Cobhole in Essex und jetzt in London tätig. Sein Freund Flambeau, ein Detektiv, der gelegentlich auch für die Polizei arbeitete, saß ihm gegenüber, damit beschäftigt, den abschließenden Bericht über einen Fall zu schreiben, den er in der Nachbarschaft aufgeklärt hatte. Die beiden saßen an einem kleinen Tischchen nahe dem Fenster, als der Priester den Vorhang beiseite schob und hinausschaute. Ein Fremder ging gerade auf der Straße vorbei, und gleich darauf ließ Pater Brown den Vorhang wieder zurückfallen. Dann richtete er seine Kugelaugen auf die weiße Aufschrift des Fensters und anschließend zum Nebentisch hinüber, wo ein Matrose bei Bier und Käse saß und ein rothaariges Mädchen bei einem Glas Milch. Als er sah, daß sein Freund das Notizbuch einsteckte, sagte er leise:

»Wenn Sie noch zehn Minuten Zeit haben, möchte ich Sie bitten, dem Mann mit der falschen Nase nachzugehen, der eben an unserem Fenster vorübergegangen ist.«

Überrascht sah Flambeau auf, aber auch das rothaarige Mädchen sah auf, und auf ihrem Gesicht zeigte sich mehr als bloßes Erstaunen. Das Mädchen war einfach, ja sogar etwas nachlässig in ein braunes Leinenkostüm gekleidet; aber sie war doch eine Dame, und, wenn man sie näher betrachtete, sogar eine unnötig hochmütige Dame.

»Ein Mann mit einer falschen Nase?« fragte Flambeau. »Wer soll denn das sein?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Pater Brown. »Das sollen Sie ja eben herausbekommen; ich bitte Sie darum. Er ist dort hinuntergegangen«, und damit deutete der Priester ungezwungen über seine Schulter hin, »und er kann noch keine drei Laternenpfähle weit gekommen sein. Ich möchte nur gerne wissen, in welche Richtung er geht.«

Flambeau starrte seinen Freund eine Weile lang mit einem halb erstaunten, halb belustigten Gesichtsausdruck an; dann stand er vom Tisch auf, schob seine riesige Gestalt durch die kleine Tür der Zwergenherberge und verschwand im Dämmerlicht.

Pater Brown zog ein kleines Büchlein aus der Tasche und begann aufmerksam darin zu lesen; es war nicht im mindesten zu erkennen, ob er überhaupt gemerkt hatte, daß die rothaarige Dame ihren Tisch verlassen und sich ihm gegenüber hingesetzt hatte. Endlich beugte sie sich vor und fragte mit leiser, aber klarer Stimme: »Warum haben Sie das gesagt? Woher wissen Sie daß die Nase falsch ist?«

Pater Brown schlug seine ziemlich dicken Augenlider auf und schien einigermaßen verlegen zu sein. Dann schweiften seine rätselhaften Augen wieder zu der weißen Aufschrift auf dem Fenster. Die Blicke des Mädchens folgten ihm, aber sie konnte dort nichts entdecken und sah ziemlich verständnislos drein.

»Nein«, sagte Pater Brown, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Es heißt nicht REIB, obwohl ich gestehen muß, daß ich es vorhin in meiner Zerstreuung auch erst so gelesen habe. Es heißt nichts anderes als BIER.«

»Ja und?« fragte die Dame, nachdenklich vor sich hinsehend. »Ist das eigentlich nicht gleichgültig?«

Seine umherirrenden Augen fielen auf die Manschetten ihrer Ärmel, die mit einer schmalen, kunstvollen Spitzenkante ihre Handgelenke umschlossen. Dies genügte, um ihm zu zeigen, daß es sich nicht um eine einfache Frau aus dem Volk handelte; eher sah das Gewand nach dem einer Kunstschülerin oder Künstlerin aus. Diese Beobachtung machte den Priester offenbar recht nachdenklich, und er antwortete nur sehr langsam und zögernd: »Ja, sehen Sie, Madame, von draußen sieht das Lokal doch… Nun, es ist sicherlich ein durchaus anständiges Lokal… Aber Damen wie Sie … Damen wie Sie sind gewöhnlich anderer Meinung. Keine Dame geht freiwillig in ein solches Lokal, außer…«

»Nun?« fragte sie.

»Außer einigen wenigen Unglücklichen, die allerdings nicht hineingehen, um Milch zu trinken.«

»Sie sind ein sehr merkwürdiger Mensch«, sagte die junge Dame. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

»Darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen«, erwiderte Pater Brown recht freundlich. »Ich möchte nur ein wenig vorbereitet sein, um Ihnen helfen zu können, falls Sie mich jemals von sich aus bitten sollten, Ihnen behilflich zu sein.«

»Aber warum sollte ich Ihrer Hilfe bedürfen?«

Pater Brown gab hierauf keine Antwort, sondern fuhr gedankenverloren in seinem Monolog fort. »Sie sind sicherlich nicht hereingekommen, um irgendwelche ›Schützlinge‹ zu besuchen, arme Freunde aus niedrigen Gesellschaftsklassen; denn hätten Sie diese Absicht gehabt, wären Sie bestimmt ins Wohnzimmer der Wirtsleute gegangen… Und Sie sind auch bestimmt nicht hereingekommen, weil Ihnen etwa nicht gut gewesen wäre, denn dann hätten Sie sich bestimmt an die Wirtin gewandt, die einen durchaus rechtschaffenen Eindruck macht… Und außerdem sehen Sie gar nicht krank, sondern eher unglücklich aus…Diese Straße ist eine einzige lange Straße ohne jede Nebengasse, und die Häuser zu beiden Seiten sind verschlossen… Ich kann also nur annehmen, daß Sie jemanden haben kommen sehen, dem Sie nicht begegnen wollten, und dieses Wirtshaus war der einzige Zufluchtsort in dieser Steinwüste… Ich glaube, daß es keine ungebührliche Neugierde war, wenn ich mir daraufhin den einzigen Fremden, der kurz nach Ihrem Eintritt vorbeikam, einmal etwas genauer angesehen habe… Und da ich den Eindruck hatte, daß er nicht gerade vertrauenerweckend aussah, während Sie ganz wie ein guter Mensch wirken, so war ich bereit, Ihnen zu helfen, falls er Sie belästigen sollte. Das ist die ganze Geschichte. Nun wird ja auch mein Freund bald wieder hiersein; er wird wohl nichts herausgefunden haben, während er die Straße entlangmarschierte… Aber das habe ich auch gar nicht erwartet.«

»Aber warum haben Sie ihn denn dann fortgeschickt?« fragte sie und beugte sich interessiert vor.

Zum erstenmal sah ihr Pater Brown ruhig und fest in die Augen und sagte: »Weil ich gehofft habe, daß Sie mich ansprechen würden, wenn er weg wäre.«

In ihrem erhitzten Gesicht stieg der Zorn wie ein rötlicher Schimmer auf, und sie sah den Priester eine ganze Zeitlang an. Aber schließlich konnte sie ein Lächeln aus Augen und Mundwinkeln nicht mehr zurückhalten, und sie antwortete beinahe spöttisch: »Nun, wenn Sie auf meine Unterhaltung so erpicht sind, haben Sie vielleicht auch die Freundlichkeit, endlich meine Frage zu beantworten.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Falls Sie es vergessen haben sollten, ich hatte die Ehre, Sie zu fragen, warum Sie die Nase jenes Mannes für falsch halten?«

»Bei solchem Wetter wird Wachs immer ein wenig fleckig«, antwortete Pater Brown einfach.

»Aber es ist doch eine so scheußlich krumme Nase«, wandte das Mädchen ein.

Nun lächelte der Priester. »Ich habe nie behauptet, daß es eine Nase ist, wie man sie zu seinem Vergnügen herumträgt. Meines Erachtens trägt dieser Mann deshalb eine so krumme Nase, weil seine wirkliche Nase sehr viel schöner ist.«

»Aber warum denn?« fragte das Mädchen weiter.

»Wie geht doch das Kinderliedchen?« murmelte Pater Brown zerstreut vor sich hin. »›Es war einmal ein krummer Mann, der ging einen krummen Weg…‹ Ich fürchte, unser Mann hat einen sehr krummen Weg eingeschlagen, indem er seiner krummen Nase nach ging.«

»Wieso? Was hat er getan?« fragte sie ein wenig unsicher.

»Ich habe nicht im mindesten die Absicht, mir Ihr Vertrauen zu erzwingen«, sagte Pater Brown sehr ruhig, »aber ich habe den Eindruck, Sie könnten mir hierüber viel mehr erzählen als ich Ihnen.«

Das Mädchen sprang auf und stand einige Sekunden vollkommen still, aber mit geballten Fäusten da, als wolle sie im nächsten Augenblickaus dem Zimmer stürzen. Dann aber öffneten sich ihre zusammengepreßten Fäuste langsam, und sie setzte sich wieder hin. »Sie sind ein noch größeres Geheimnis als all die anderen«, sagte sie verzweifelt; »aber ich habe das Gefühl, als stecke hinter Ihrem Geheimnis ein Herz.«

»Das Schrecklichste für den Menschen«, sagte der Priester leise, »ist eine Gefahr, von der man nicht weiß, woher sie kommt.«

»Ich will Ihnen alles erzählen«, sagte das rothaarige Mädchen entschlossen, »nur eines kann ich Ihnen nicht sagen, warum ‘ ich es Ihnen erzähle. Das weiß ich selbst nicht.«

Sie zupfte an dem fleckigen Tischtuch herum und fuhr dann fort: »Ich glaube, Sie können unterscheiden, was Snobismus ist und was nicht. Und wenn ich sage, daß ich aus einer angesehenen alten Familie stamme, so werden Sie wohl verstehen, daß dies ein wesentlicher Teil meiner Geschichte ist. Die größte Bedrohung liegt für mich in der hohen und unerschütterlichen Meinung, die mein Bruder von Grundsätzen wie ›noblesse oblige‹ hat. Nun, ich heiße Christabel Carstairs, und von meinem Vater, dem Oberst Carstairs, haben Sie bestimmt schon gehört. Er hat die berühmte Sammlung altrömischer Münzen zusammengestellt, die Carstairs-Sammlung. Es ist für mich unmöglich, meinen Vater zu beschreiben; vielleicht kommt es der Sache am nächsten, wenn ich sage, daß er selbst einer römischen Münze glich. Er war ebenso schön und ursprünglich, ebenso liebenswert und hart und ebenso altmodisch und veratet. Er war auf seine Sammlung stolzer als auf seine Uniform — und das sagt bei einem englischen Oberst doch alles. Am deutliechsten zeigt sich sein außergewöhnlicher Charakter in seinem Testament. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter. Mit dem einen der Söhne, meinem Bruder Giles, hatte er sich verzankt und ihn mit einer kleinen monatlichen Geldzuwendung nach Australien geschickt. Dann machte er sein Testament und hinterließ die Carstairs-Sammlung meinem zweiten Bruder, Arthur, der allerdings nur ganz wenig Bargeld erbte. Arthur bekam die Sammlung als Belohnung und in Anerkennung seiner Ehrlichkeit und der Auszeichnungen, die er auf der Universität Cambridge für sein Studium der Mathematik und der Nationalökonomie errungen hatte. Der Besitz der Sammlung war die höchste Ehre, die mein Vater zu vergeben hatte. Mir hinterließ er sein ganzes Vermögen; ich bin fest davon überzeugt, daß er mir hiermit seine Verachtung zeigen wollte.

Vielleicht sind Sie der Auffassung, daß Arthur Grund gehabt hätte, sich über diese Verteilung des Erbes zu beklagen. Aber nein, Arthur ist ganz wie mein Vater. Obwohl er in früheren Jahren einige Meinungsverschiedenheiten mit ihm gehabt hatte, so wurde er doch, kaum daß er in den Besitz der Sammlung gekommen war, wie ein heidnischer Priester, der sich ganz dem Dienst in seinem Tempel weiht. Diese römischen Münzen waren für ihn ebenso wie für meinen Vater die Ehre und der Stolz der Familie. Er benahm sich ganz so, als müßte das römische Geld von allen römischen Tugenden bewacht werden. Er gönnte sich kein Vergnügen, gab nichts für sich selbst aus, er lebte nur noch für die Sammlung. Oft machte er sich sogar nicht einmal mehr die Mühe, sich für seine einfachen Mahlzeiten umzukleiden, ja, oft verzichtete er ganz auf die Mahlzeiten und kramte statt dessen unter den braunen, verschnürten Päckchen, die kein anderer auch nur berühren durfte, und wandelte im Haus herum in einem alten, braunen Schlafrock mit Kordel und Quaste, so daß er schließlich mit seinem blassen, schmalen, feingeschnittenen Gesicht wie ein alter, asketischer Mönch aussah. Nur von Zeit zu Zeit erschien er in modisch eleganten Kleidern, aber nur, wenn er nach London zu Auktionen und Antiquitätenhändlern ging, um für die Carstairs-Sammlung irgendwelche Neuerwerbungen zu machen.

Nun, wenn Sie jemals junge Menschen gekannt haben, wird es Sie hoffentlich nicht in Erstaunen versetzen, wenn ich Ihnen sage, daß mich diese ganzen Verhältnisse ziemlich mitgenommen haben und ich in eine recht niedergedrückte Gemütsverfassung kam. Ich sagte mir schließlich, daß dieses Gerede über die Tugenden der alten Römer ja recht und gut sei; aber ich bin nicht wie mein Bruder Arthur, ich habe ganz gern einmal ein wenig Abwechslung und Freude. Von meiner Mutter, von der ich auch mein rotes Haar habe, ist eine Menge Romantik und ähnliches Zeug auf mich gekommen. Auch der arme Giles war so veranlagt, und es ist für mich gar nicht erstaunlich, daß er schließlich aus der schrecklichen Atmosphäre, in der die Münzen alles bedeuteten, auszubrechen versuchte und über die Stränge schlug. Allerdings hat er wirklich etwas Ernsthaftes angestellt und wäre auch beinahe dafür ins Gefängnis gekommen. Und doch hat er nichts Schlimmeres getan als ich, wie Sie gleich hören sollen.

Jetzt komme ich nämlich zu dem für mich unangenehmen Teil der Geschichte. Ich glaube, ein so kluger Mann wie Sie kann wohl erraten, was für ein Ereignis das langweilige und monotone Leben eines Mädchens von siebzehn Jahren unterbrochen hat. Aber seither haben mich zahlreiche schreckliche Erlebnisse so durcheinandergebracht, daß ich meine eigenen Gefühle kaum mehr verstehe; und ich weiß nicht, soll ich die ganze Sache heute als einen Flirt verachten oder als das Leid eines gebrochenen Herzens ertragen. Wir wohnten damals in einem kleinen Badeort am Meer im südlichen Wales, und ein pensionierter Kapitän, der einige Häuser weit entfernt wohnte, hatte einen Sohn, der fünf Jahre älter war als ich. Er war mit meinem Bruder Giles befreundet gewesen, ehe dieser nach Australien ging. Sein Name tut eigentlich nichts zur Sache, aber da ich Ihnen nun schon einmal alles sagen will, können Sie auch wissen, daß er Philip Hawker hieß. Wir gingen gemeinsam zum Garnelenfang und sagten und glaubten, daß wir einander liebten; zumindest sagte er es immer wieder, und ich glaubte es auch. Wenn ich Ihnen nun noch erzähle, daß er bronzefarbenes, lockiges Haar und ein scharfgeschnittenes, bronzebraunes Gesicht hatte, so tue ich das, wie Sie mir glauben dürfen, nicht, um ihn in den Himmel zu heben, sondern nur um der Geschichte willen. Denn dieses sein Aussehen war die Ursache für ein merkwürdiges Ereignis.

Eines Nachmittags im Sommer, als ich Philip versprochen hatte, mit ihm zum Strand auf Garnelenfang zu gehen, wartete ich ein wenig ungeduldig im Wohnzimmer, das auf die Straße ging, auf eine Gelegenheit, unbemerkt das Haus verlassen zu können. Dabei sah ich Arthur zu, der mit einigen neuerworbenen Münzenpäckchen herumhantierte und sie dann feierlich, immer zwei oder auch nur eines, in sein dunkles Studierzimmer trug, das Münzenmuseum, das auf der Rückseite des Hauses lag. Sobald ich schließlich die schwere Tür hinter ihm ins Schloß fallen hörte, ergriff ich schnell mein Fischernetz und wollte eben zur Vordertür hinausschlüpfen, als ich sah, daß mein Bruder eine Münze vergessen hatte, die glitzernd auf der langen Fensterbank lag. Es war eine Bronzemünze, und diese Farbe zusammen mit dem scharfgeschnittenen römischen Gesicht und der Haltung des langen, sehnigen Nackens bewirkte, daß der Kopf Cäsars, der auf der Münze abgebildet war, fast wie das Porträt von Philip Hawker aussah. Da fiel mir plötzlich ein, daß Giles einmal zu Philip etwas von einer Münze gesagt hatte, die ihm ähnlich sehe, und damals hatte Philip den brennenden Wunsch geäußert, diese Münze zu besitzen. Vielleicht können Sie sich vorstellen, welch wirre, törichte Gedanken mir zu Kopf stiegen; es kam mir vor, als sei die Münze ein Geschenk des Himmels. Ich glaubte, es müsse mir gelingen, mit der Münze davonzulaufen und sie Philip als eine Art Verlobungsring zu geben, damit ein ewiges Band zwischen ihm und mir geknüpft sei; diese und tausend andere solcher Vorstellungen schossen mir durch den Kopf. Dann aber fuhr ich wieder zurück wie vor einem Abgrund, und es kam mir zum Bewußtsein, was für eine abscheuliche Tat ich da vorhatte. Am unerträglichsten war die Vorstellung, wie wohl Arthur darüber denken würde; kalt und heiß lief es mir dabei den Rücken hinunter: Ein Carstairs ein Dieb, der noch dazu aus dem Carstairs-Schatz stahl! Ich war fest davon überzeugt, daß mein Bruder imstande wäre, mich für einen solchen Diebstahl verbrennen zu lassen wie eine Hexe. Aber gerade der Gedanke an diese fanatische Grausamkeit fachte meinen Haß gegen seine elende, heimliche Antiquitäten-Wichtigtuerei an und stärkte noch meine Sehnsucht nach Jugend und Freiheit, die das Meer mir zuzurufen schien. Draußen wehte der Wind, hell lachte die Sonne, und die gelben Blüten eines Stechginsterzweiges schlugen an die Fensterscheibe. Ich dachte an das lebendige Gold der Blüten, das mich in ferne Länder und Auen lockte — und daneben sah ich das tote, matte Gold, die Bronze und das Kupfer der Münzen meines Bruders, das im Verlauf der Jahre nur immer staubiger wurde und dessen Glanz immer mehr erlosch, wie das Leben meines Bruders zerrann. In mir tobte zum erstenmal ein Kampf zwischen der lebendigen Natur und der alten, festgefügten Tradition der Carstairs-Sammlung.

Der Kampf war schnell entschieden. Die Natur ist älter und stärker als die Carstairs-Sammlung. Als ich die Straße zum Meer hinunterlief, die Münze fest in der geballten Faust, hatte ich das Gefühl, als laste das ganze Römische Reich, als laste der ganze Stammbaum der Carstairs auf meinen Schultern. Nicht nur der alte Silberlöwe unseres Wappens schien mir ins Ohr zu brüllen, sondern es war auch, als verfolgten mich kreischend und flügelschlagend alle Adler Cäsars.

Und doch schlug mein Herz höher und höher, wie ein Papierdrache schwang sich mein Mut empor, bis ich die Dünen mit ihrem weichen, trockenen Sand hinter mir hatte und an den flachen, wellenbespülten Sandstrand gelangt war, wo Philip schon bis über die Knöchel im seichten, glitzernden Wasser einige dreißig Meter weiter draußen im Meer stand. Der ganze Himmel flammte im roten Schein der untergehenden Sonne, und das Wasser vor mir, das auch ein paar hundert Meter weiter draußen noch kaum fußtief war, glich einem See rubinroter Flammen. Ich riß meine Schuhe und Strümpfe herunter und watete zu Philip hinaus, der ziemlich weit vom trockenen Ufer entfernt stand; und erst dann wandte ich mich um und sah zurück. Wir waren ganz allein, nur Wasser und nasser Sand umgaben uns; und da gab ich ihm die Münze mit dem Kopf Cäsars.

Im selben Augenblick durchzuckte mich die Angstvorstellung, daß ein Mann, der weit weg am Ufer auf den Sandhügeln stand, angestrengt nach mir starre. Unmittelbar darauf war mir jedoch klar, daß diese Vorstellung nur auf die Anspannung meiner überreizten Nerven zurückzuführen sein mußte, denn der Mann war nur als ein kleines, dunkles Pünktchen in der Ferne zu erkennen, und es war kaum anzunehmen, daß er mich deutlicher sehen konnte. Er stand, den Kopf leicht zur Seite geneigt, ganz still und blickte in die Ferne. Es gab überhaupt keinen Grund zu der Annahme, daß er nach mir ausschaute; vielleicht betrachtete er ein Schiff oder den Sonnenuntergang oder auch andere Leute, denn am Strand befanden sich noch andere Menschen außer uns. Aber meine schreckhafte Ahnung war prophetisch; denn als ich nun zu dem Mann hinstarrte, fing er plötzlich an, sich in Bewegung zu setzen. Weit ausschreitend kam er in gerader Linie über den nassen Sand auf uns zu. Als er nun immer näher kam, konnte ich erkennen, daß er dunkelhaarig und bärtig war und eine dunkle Brille trug. Er war ärmlich, aber ordentlich ganz in Schwarz gekleidet, angefangen von dem schwarzen, alten Zylinderhut auf dem Kopf bis zu den derben, schwarzen Stiefeln an seinen Füßen. Obwohl er also Stiefel anhatte, ging er geradewegs und ohne einen Augenblick am Strand zu zögern in das Wasser hinein und kam unbeirrbar wie eine abgeschossene Kugel auf mich zu.

Ich kann Ihnen gar nicht erzählen, welche Empfindungen in mir aufstiegen, Entsetzen und Verwunderung, als er so gelassen vom Land ins Meer hinauskam. Ich hatte das Gefühl, als wäre er eben über eine Klippe hinausgeschritten, aber anstatt in der Tiefe zu zerschellen, schritt er immer noch mitten in der Luft weiter. Mir war nicht anders, als wäre ein Haus plötzlich zum Himmel emporgeflogen oder der Kopf eines Menschen ohne ersichtlichen Grund herabgefallen. In Wirklichkeit bestand das Außergewöhnliche der Situation darin, daß der Mann sich nicht scheute, seine Schuhe naß werden zu lassen; aber mir kam er vor wie ein Dämon, der den Naturgesetzen nicht unterworfen ist. Hätte er auch nur einen Augenblick am Rand des Wassers gezögert, dann wäre der Bann gebrochen, wäre das Ganze für mich bedeutungslos gewesen. Aber so hatte ich das Gefühl, als ob er immer nur auf mich starre und auf das Meer gar nicht achte. Philip stand einige Meter entfernt von mir, hatte mir den Rücken zugewandt und beugte sich gerade über sein Netz. Der Fremde kam immer näher auf mich zu. Nun stand er fast unmittelbar neben mir, das Wasser reichte ihm bis in halbe Kniehöhe. Dann sagte er mit klarer, doch etwas gezierter Stimme: ›Würde es Ihnen etwas ausmachen, eine Münze neueren Datums anderweitig zu vergeben?‹

Eigentlich sah der Mann gar nicht außergewöhnlich aus — mit einer einzigen Ausnahme. Die farbigen Brillengläser waren nicht ganz undurchsichtig, sondern aus ganz gewöhnlichem blauem Glas, auch die Augen dahinter waren nicht unruhig flackernd, wie ich es eigentlich erwartet hatte, sondern fest auf mich gerichtet. Sein dunkler Bart war weder besonders lang noch wild; er sah nur etwas ungewöhnlich aus, weil er hoch oben im Gesicht, knapp unter den Backenknochen begann. Seine Gesichtsfarbe war weder bleich noch fahl, sondern im Gegenteil eher frisch und jugendlich, und doch sah die Haut fast wie die einer Wachspuppe aus, und das vermehrte noch das Gefühl der Gefahr und des Grauens, das mich unerklärlicherweise beim Anblick dieses Mannes packte. Das einzige Außergewöhnliche, was mir auffiel, war die Nase, die — im übrigen gut geformt — an der Spitze ein wenig seitwärts gebogen war, als wäre sie gleich nach der Geburt mit einem Hämmerchen ein wenig zur Seite geklopft worden. Man konnte sie nicht gerade verunstaltet nennen, und doch kann ich Ihnen gar nicht sagen, wie diese Nase auf mich wirkte. Als der Mann so in dem von der untergehenden Sonne tiefrot gefärbten Wasser vor mir stand, hatte ich das Gefühl, als stehe ein höllisches Seeungeheuer vor mir, das eben briillend aus einem Meer von Blut aufgetaucht war. Ich weiß nicht, warum mich die kleine Verunstaltung seiner Nase so in Aufregung gebracht hat. Wenn ich mich recht erinnere, so hatte ich die Vorstellung, als könne er seine Nase wie einen Finger bewegen und als habe er sie eben bewegt.

›Eine kleine Zuwendung‹, fuhr er mit demselben merkwürdig affektierten Akzent fort, ›die mich der Notwendigkeit enthebt, mich mit Ihrer Familie in Verbindung zu setzen.‹

Da wurde mir plötzlich klar, daß der Fremde mich wegen der Entwendung der Bronzemünze erpressen wollte; alle meine abergläubischen Befürchtungen und Zweifel wurden mit einem Schlag hinweggefegt durch die eine Frage, die mich plötzlich anfiel: Wie konnte er das herausgebracht haben? Ich hatte die Münze, einem plötzlichen Impuls folgend, an mich genommen, und dabei war ich bestimmt allein gewesen; denn wie immer, wenn ich mit Philip zusammentreffen wollte, hatte ich mich vergewissert, daß niemand mein Hinausschlüpfen beobachten konnte. Ich hatte auch nicht bemerkt, daß mir auf der Straße jemand gefolgt war, und selbst dann hatte ich ja die Münze in der geschlossenen Faust, und einen Menschen mit Röntgenaugen gibt es doch nicht. Und als der Mann auf den Sandhügeln gestanden hatte, war es ihm bestimmt nicht möglich gewesen zu sehen, was ich Philip gab.

›Philip‹, sagte ich hilflos, ›frag doch bitte diesen Menschen hier, was er will.‹

Philip hatte sich die ganze Zeit über damit beschäftigt, sein Netz zu flicken. Als er nun den Kopf hob, sah er ziemlich rot aus; aber vielleicht kam das nur vom Bücken oder vom Widerschein des roten Abendlichts. Wahrscheinlich litt ich immer noch unter den Einbildungen und Wahnvorstellungen, mit denen ich an jenem Tag besonders zu kämpfen hatte. Er ließ sich allerdings auf kein Gespräch mit dem Fremden ein, sondern fuhr ihn nur grob an: ›Schauen Sie, daß Sie hier verschwinden!‹ Dann winkte er mir, ihm zu folgen, und wir wateten dem Ufer zu, ohne dem Mann noch weitere Beachtung zu schenken. Philip ging einen aus Steinen errichteten Wellenbrecher entlang, der bis zu den Dünen hinführte. Vielleicht glaubte er, auf diese Weise unseren Verfolger abschütteln zu können, denn die Steine waren von Seegras und Algen grün und schlüpfrig, und während wir mit unseren jungen Beinen daran gewöhnt waren, hoffte Philip wahrscheinlich, daß der Fremde in seinen derben Schuhen ausgleiten und die Verfolgung aufgeben werde. Aber genauso wohlgesetzt, wie seine Worte gewesen waren, waren nun auch die Schritte des Unheimlichen, der vorsichtig, aber sicher von Stein zu Stein ging. Mit seiner weichen, widerwärtigen Stimme redete er von hinten auf mich ein, bis endlich, sobald wir bei den Dünen angelangt waren, Philips Geduld riß. Er wurde wütend, was bei ihm sonst recht selten ist, drehte sich plötzlich um und rief: ›Verschwinden Sie! Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu reden!‹ Als der Mann zögerte und den Mund zu einer Antwort öffnete, schlug ihm Philip so heftig ins Gesicht, daß er die Düne hinabkollerte. Ich sah, wie er unten, ganz bedeckt mit Sand, auf allen vieren landete.

Dieser Schlag war für mich irgendwie eine Erleichterung, obwohl dadurch natürlich die Gefahr, in der ich schwebte, nur noch vergrößert wurde. Philip aber war auf diese seine Heldentat offensichtlich nicht besonders stolz, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Art. Er war zwar zärtlich wie immer, kam mir aber doch recht niedergeschlagen vor, und noch ehe ich ihn bitten konnte, mir sein geheimnisvolles Benehmen näher zu erklären, verabschiedete er sich vor seiner eigenen Haustür von mir mit zwei Bemerkungen, die mir recht seltsam erschienen. Er sagte, daß ich eigentlich die Münze in die Sammlung zurücktun müsse, er sie aber ›für den Augenblick‹ selbst behalten wolle. Und dann fügte er ganz unvermittelt und wie nebenbei hinzu: ›Du weißt doch, daß Giles aus Australien zurück ist?‹«

An diesem Punkt wurde der Bericht des Mädchens unterbrochen. Die Tür der Schenke öffnete sich, und Flambeaus riesiger Schatten fiel auf den Tisch. Pater Brown stellte ihn der Dame mit einigen knappen, freundlichen Worten vor und erwähnte auch die Geschicklichkeit und die Tatkraft, die sein Freund in ähnlichen Fällen schon gezeigt habe. Seine Worte bewirkten, daß das Mädchen beinahe unbewußt ihre ganze Geschichte nochmals vor den beiden wiederholte. Flambeau aber steckte, nachdem er sich vor der Dame verbeugt und dann niedergesetzt hatte, dem Priester unauffällig einen kleinen Zettel zu. Pater Brown nahm ihn ein wenig erstaunt in Empfang und las die Worte, die daraufgeschrieben waren: »Wagen nach Haus Wagga Wagga, 379 Mafeking Avenue, Putney.« Das Mädchen hatte nichts von alldem bemerkt und fuhr ruhig in ihrer Erzählung fort:

»Während ich die steile Straße zu unserem Haus hinaufging, drehte sich mir alles im Kopf. Meine Gedanken waren immer noch nicht klar, als ich an die Türschwelle kam; dort standen eine Milchkanne und — der Mann mit der krummen Nase. Aus der Tatsache, daß die Milchkanne vor der Tür stand, konnte ich ersehen, daß niemand von der Dienerschaft im Hause war. Zwar war sicherlich mein Bruder Arthur daheim, aber wahrscheinlich saß er in seinem braunen Schlafrock im Arbeitszimmer und beschäftigte sich mit den Münzen, und es war nicht zu erwarten, daß er auf mein Läuten hin öffnen würde, auch wenn er — was kaum anzunehmen war — das Läuten überhaupt hören sollte. So konnte ich von dieser Seite keine Hilfe erwarten. Denn selbst wenn es mir auch gelingen sollte, meinen Bruder herauszuklingeln, so wäre damit die Sache nur verschlimmert. Wie nämlich hätte ich ihm meine Lage erklären können, ohne den Diebstahl einzugestehen? In meiner Verzweiflung warf ich dem abscheulichen Kerl zwei Schilling zu und sagte ihm, er möge in einigen Tagen wiederkommen, wenn ich mir die Sache ein wenig durch den Kopf hätte gehen lassen. Er ging brummend davon, aber doch bereitwilliger, als ich erwartet hatte — vielleicht hatte er durch seinen Fall einen kleinen Schock bekommen —, und ich beobachtete mit einem schrecklich rachsüchtigen Vergnügen den sternförmigen Sandfleck auf dem Rücken seines Rockes, der allmählich kleiner wurde, als er sich die Straße hinabbewegte. Etwa sechs Häuser weiter verschwand er um eine Ecke.

Dann schloß ich die Tür auf, goß mir eine Tasse Tee auf und versuchte, mir die Sache in Ruhe zu überlegen. Ich saß im Wohnzimmer am Fenster und sah in den Garten hinaus, der noch im letzten Schein der Abendsonne glühte. Doch ich war zu aufgeregt, als daß ich mir die Wiesen, die Blumenbeete und Blumentöpfe genauer angesehen hätte. Darum traf mich der Schock um so stärker, weil ich es erst so spät bemerkte.

Der unheimliche Mensch, den ich glaubte weggeschickt zu haben, stand ganz regungslos mitten im Garten. Ich weiß, wir haben alle schon eine Menge über bleichgesichtige Gespenster im Dunkel gelesen — aber diese Erscheinung war viel schrecklicher, weil der Unheimliche noch im letzten Licht der warmen Abendsonne stand und einen langen Schatten warf. Und sein Gesicht war nicht bleich, sondern trug die wachsfarbene Röte einer Friseurpuppe. Ganz regungslos stand er da, sein Gesicht mir zugewandt; und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzlich und grauenerregend er aussah inmitten der Tulpen und all der prunkvoll leuchtenden Blumen, die im letzten Sonnenlicht aufflammten. Es sah fast so aus, als hätten wir an Stelle einer Gartenfigur eine Wachspuppe im Garten aufgestellt.

Doch sobald er sah, daß ich mich am Fenster bewegt hatte, drehte er sich um und rannte durch die hintere Tür aus dem Garten; durch diese Tür war er sicherlich auch hineingelangt. Ich war völlig überrascht über dieses zweite Zeichen seiner Feigheit, die so ganz anders war als die unverschämte Hartnäckigkeit, die er am Strand gezeigt hatte; und zugleich hatte ich ein unbestimmtes Gefühl der Erleichterung. Alle möglichen Gedanken schossen mir durch den Kopf. Vielleicht hatte er doch größere Angst davor, Arthur gegenüberzutreten, als ich wußte. Immerhin beruhigte ich mich schließlich wieder und setzte mich allein zum Abendessen nieder — denn man durfte Arthur nicht stören, wenn er in seinem Münzenmuseum beschäftigt war. Erleichtert dachte ich an Philip, und schließlich verlor ich mich in Träumereien. Gedankenverloren, aber durchaus wohlgemut, starrte ich in Richtung auf ein anderes Fenster. Kein Vorhang war vorgezogen, aber draußen war nichts zu sehen; die Nacht war hereingebrochen, und durch das Fenster sah nur die schwarze Dunkelheit herein. Plötzlich glaubte ich zu erkennen, daß eine Schnecke an der Außenseite des Fensters klebte. Als ich aber genauer hinsah, hatte ich allerdings eher den Eindruck, als ob jemand einen Finger gegen die Scheibe presse; was da war, sah verbogen aus wie ein angedrückter Daumen. Angst und Mut stiegen zugleich in mir auf, ich stürzte zum Fenster, aber dann fuhr ich mit einem unterdrückten Aufschrei wieder zurück, so laut, daß ihn sicherlich jeder im Haus mit Ausnahme meines Bruders gehört haben muß.

Denn es war weder ein Daumen noch eine Schnecke. Es war die Spitze einer krummen Nase, die gegen die Scheibe gepreßt wurde; die Nase war weiß vom Druck, und das dazugehörige Gesicht war zuerst gar nicht zu sehen; aber bei näherem Hinsehen tauchte es grau wie ein Gespenst aus dem Dunkel auf. Mehr tot als lebendig gelang es mir, den Rolladen herunterzulassen; ich stürzte in mein Zimmer hinauf, um mich einzuschließen. Aber als ich völlig verwirrt durch den Hausgang eilte, gewahrte ich ein zweites schwarzes Fenster, und ich hätte schwören können, daß darauf wieder ein Fleck wie eine emporkriechende Schnecke war.

Nun kam mir der Gedanke, daß es vielleicht doch das beste wäre, zu meinem Bruder zu gehen und ihm den Diebstahl zu gestehen. Wenn dieser unheimliche Mensch dauernd wie eine Katze um das Haus schlich, so war es durchaus möglich, daß er noch schlimmere Absichten hatte, als mich zu erpressen. Mein Brüder mochte mich hinauswerfen und für immer verfluchen; aber wenn mir unmittelbare Gefahr drohte, würde er mich sicherlich verteidigen. Ich überlegte hin und her, schließlich gab ich mir einen Ruck und ging hinunter: Aber was ich jetzt sehen mußte, war das schrecklichste an der ganzen Sache.

Der Stuhl meines Bruders war leer, und er selbst war offensichtlich fort. Auf einem anderen Stuhl aber saß der Unheimliche mit der krummen Nase; er hatte unverschämterweise noch immer den Hut auf dem Kopf und las unter der Lampe meines Bruders in den Büchern meines Bruders. Gelassen und ruhig saß er da und schien ganz in seine Lektüre vertieft, die Nasenspitze schien der einzige bewegliche Teil seines Gesichtes zu sein — man konnte fast glauben, er habe sie soeben wie einen Elefantenrüssel von links nach rechts bewegt. Der Mann war für mich schon entsetzlich genug gewesen, als er mich verfolgte und mir nachspionierte; wie er nun aber dasaß und gar nicht merkte, daß ich ins Zimmer getreten war — das war noch viel schlimmer.

Ich glaube, ich habe laut und lange geschrien; aber das tut nichts zur Sache. Aber dann tat ich etwas Folgenschweres: Ich gab ihm alles Geld, das ich hatte, und dazu noch eine Menge Wertpapiere, die ich — obwohl sie mir eigentlich gehörten — gar nicht anzurühren berechtigt war. Endlich ging der Mann fort, und in gewundenen Worten entschuldigte er sich ekelhaft taktvoll wegen der ›Unannehmlichkeiten‹, die er mir habe machen müssen. Ich aber ließ mich mit dem Gefühl, im wahrsten Sinne des Wortes und in jeder Beziehung ruiniert zu sein, in einen Stuhl fallen. Und doch wurde ich noch in derselben Nacht durch einen sonderbaren Zufall gerettet. Arthur war plötzlich, wie er es öfters tat, in Geschäften nach London gereist und kehrte spät, doch strahlend zurück. Es war ihm nämlich gelungen, Verhandlungen wegen einer Neuerwerbung anzuknüpfen, einer Kostbarkeit, die sogar für die an sich sehr wertvolle Sammlung einen bedeutenden Zuwachs darstellte. Dieser Handel war beinahe abgeschlossen, und mein Bruder war so glücklich darüber, daß ich schon all meinen Mut zusammennahme um ihm meinen Diebstahl des weniger wertvollen Stückes zu beichten. Aber er redete andauernd von dem kostbaren Stück, das er erwerben wollte, so daß es unmöglich war, ein anderes Thema anzuschneiden. Da die Möglichkeit bestand, daß sich der Handel in letzter Minute zerschlagen konnte, wollte er unbedingt, daß ich die Koffer packte und mit ihm nach Fulham übersiedelte, wo er bereits Zimmer gemietet hatte, um dem betreffenden Antiquitätengeschäft nahe zu sein. So entfloh ich beinahe mitten in der Nacht ohne mein Zutun, ja fast gegen meinen Willen, meinem schrecklichen Feind — aber auch Philip… Die Sache zog sich hinaus; ich belegte, um mich irgendwie zu beschäftigen, Vorlesungen an der Kunstakademie. Heute abend kam ich eben von dort zurück, als ich in der Ferne dieses schreckliche Scheusal die lange Straße herunterkommen sah. Den Rest haben Sie, Pater Brown, ja schon erraten.

Ich möchte nur noch eines sagen: Ich verdiene keine Hilfe, und ich klage nicht, wenn mich meine gerechte Strafe ereilt, denn einmal muß ich für mein Vergehen ja bezahlen. Aber immer noch zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie all das geschehen konnte. Durch welchen unheimlichen Zauber hatte der Fremde meinen Diebstahl entdeckt? Es konnte doch niemand außer Philip und mir wissen, daß ich ihm fast mitten im Meer diese winzige Münze gegeben habe.«

»Das ist allerdings ein ungewöhnliches Problem«, gab Flambeau zu.

»Nicht so ungewöhnlich wie die Lösung«, bemerkte Pater Brown ziemlich düster. »Werden Sie zu Hause sein, Fräulein Carstairs, wenn wir Sie in etwa anderthalb Stunden in Ihrer Wohnung in Fulham aufsuchen?«

Das Mädchen sah ihn an; dann stand sie auf und streifte die Handschuhe über. »Ja«, sagte sie, »ich werde dort sein.« Und mit diesen Worten verließ sie hastig das Lokal.

Der Detektiv und der Priester besprachen noch immer diesen sonderbaren Fall, als sie am selben Abend dem Haus in Fulham zuwanderten; dieses Haus war auffallend schäbig und armselig, und wenn sich die Geschwister Carstairs auch nur vorübergehend hier aufhielten, so war es doch eigenartig, daß sie eine solche schlechte Unterkunft gewählt hatten.

»Wenn man die Sache nur oberflächlich betrachtet«, meinte Flambeau, »fällt einem als erstes der Bruder aus Australien ein, der ja früher schon einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Vielleicht ist er zurückgekehrt, ja, nach den Worten Philips ist dies sogar sehr wahrscheinlich. Und ihm wäre es sicherlich nicht unmöglich, für ein solch gemeines Geschäft Helfershelfer zu finden, denn er hat damals in reichlich schlechten Kreisen verkehrt. Aber wie ich die Sache auch betrachte, so kann ich doch nicht einsehen, wie er in die ganze Geschichte hineinpassen könnte, wenn nicht etwa…«

»Nun?« fragte sein Begleiter ruhig.

Flambeau senkte die Stimme: »Wenn nicht auch der Freund dieses Mädchens in die Sache verwickelt ist, und dann wäre er der größte Schurke. Der Mann aus Australien wußte, daß Hawker die Münze gerne gehabt hätte. Aber er hätte unmöglich herausbekommen können, daß Hawker diese Münze auch tatsächlich erhalten hat, wenn nicht Hawker ihm oder seinem Komplizen am Strand ein Zeichen gegeben hätte.«

Der Priester nickte zustimmend. »Damit können Sie recht haben.«

»Ist Ihnen nicht noch etwas anderes aufgefallen?« fuhr Flambeau eifrig fort. »Dieser Hawker hört, wie seine Freundin belästigt wird, aber er schlägt erst zu, nachdem er zu den weichen Sanddünen gekommen ist, wo er in einem bloßen Scheinkampf Sieger bleiben kann, ohne dem anderen weh zu tun. Hätte er inmitten der Steine im Meer losgeschlagen, so hätte er seinen Verbündeten leicht verletzen können.«

»Auch das ist richtig«, stimmte der Priester bei.

»Und nun wollen wir die Sache nochmals ganz von Anfang an durchgehen. Es kommen nur einige wenige Beteiligte in Betracht, mindestens aber drei. Zu einem Selbstmord braucht es nur einen einzigen Menschen, an einem Mord sind mindestens zwei beteiligt, bei einer Erpressung wiederum mindestens drei.«

»Warum denn?« fragte der Priester ruhig.

»Nun, das ist doch ganz klar!« rief sein Freund. »Einer muß dasein, der bloßgestellt wird, einer, der die Bloßstellung androht, und schließlich zumindest ein dritter, der über die Bloßstellung entsetzt ist.«

Der Priester dachte kurz nach, dann sagte er: »Sie machen einen logischen Fehler. Theoretisch braucht man zwar drei Personen. Zur praktischen Ausführung genügen allerdings zwei.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Flambeau verblüfft.

»Warum sollte es nicht möglich sein«, fragte Pater Brown leise, »daß ein Erpresser seinem Opfer mit sich selbst droht? Nehmen Sie an, eine Frau wäre erbitterte Abstinenzlerin und würde ihren Mann so weit bringen, daß er aus Angst vor ihr nur noch ganz heimlich ins Wirtshaus schleicht; es wäre doch möglich, daß sie dann hingeht und ihm mit verstellter Schrift Drohbriefe schreibt, in denen sie ankündigt, sie werde seiner Frau die heimlichen Besuche verraten! Warum sollte das nicht gehen? Oder nehmen Sie an, ein Vater verbietet seinem Sohn zu spielen und folgt ihm dann gut verkleidet, um dem Jungen mit seiner eigenen väterlichen Strenge zu drohen! Oder nehmen Sie einmal an… Aber da sind wir auch schon am Ziel!« ’

»Du lieber Gott!« rief Flambeau entsetzt. »Sie wollen doch nicht etwa sagen…«

Ein lebhafter junger Mann kam die Stufen des Hauses herunter und wandte ihnen im Lichtschein der Laterne einen charakteristischen Kopf zu, der unverkennbar der römischen Münze glich. »Fräulein Carstairs wollte das Haus erst betreten, wenn auch Sie hier wären«, sagte er ohne weitere Förmlichkeit.

»Nun«, bemerkte Pater Brown vertraulich, »das war auch das beste, was sie tun konnte, nämlich einfach draußen zu warten, da Sie ja auf sie aufgepaßt haben. Ich glaube, Sie haben schon erraten, was hinter dieser Sache steckt.«

»Allerdings«, sagte der junge Mann leise, »ich habe es schon am Strand vermutet, und jetzt weiß ich es bestimmt; deshalb habe ich ihn absichtlich weich fallen lassen.«

Flambeau nahm einen Schlüssel aus der Hand des Mädchens und eine Münze aus der Hand Hawkers entgegen, öffnete die Tür und betrat mit seinem Freund das Haus. Sie durchschritten den Korridor und gelangten in das Wohnzimmer. Drinnen war nur ein einziger Mensch: der Mann, den Pater Brown an dem kleinen Wirtshaus hatte vorbeigehen sehen. Er stand, als wollte er sich zur Wehr setzen, gegen die Wand gelehnt; er hatte den schwarzen Mantel gegen einen braunen Schlafrock vertauscht, sonst war er unverändert.

»Wir sind gekommen«, sagte Pater Brown höflich, »um diese Münze ihrem Eigentümer zurückzugeben.« Und er reichte sie dem Mann mit der krummen Nase hin.

In Flambeaus Augen blitzte es auf. »Ist dieser Mann ein Münzensammler?« fragte er.

»Dieser Mann ist Herr Arthur Carstairs«, sagte der Priester fest, »und er ist ein Münzensammler von etwas seltsamer Art.«

Der Mann wurde so schrecklich bleich, daß nur die Nase wie ein gar nicht zu seinem Gesicht gehöriger Teil hervorstand; es fiel besonders auf, weil sie trotz seiner totenbleichen Gesichtsfarbe immer noch blaßrosa glänzte. Trotzdem sprach er mit einer gewissen verzweifelten Würde. »Und doch sollen Sie sehen«, sagte er mit gespenstischer Stimme, »daßich nicht alle Eigenschaften unserer Familie verloren habe.« Damit drehte er sich plötzlich um, eilte in ein Nebenzimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Halten Sie ihn!« schrie Pater Brown entsetzt, stürzte vorwärts und fiel über einen Sessel, während Flambeau einen Anlauf nahm und die Tür mit zwei oder drei wuchtigen Schlägen eindrückte. Aber es war zu spät. Schweigend schritt Flambeau zum Telefon hinüber, um die Polizei und einen Arzt zu verständigen.

Eine leere Arzneiflasche lag auf dem Boden. Quer über den Tisch lag der Körper des Mannes im braunen Schlafrock, er lag inmitten seiner aufgeplatzten, mit braunem Packpapier umwickelten Päckchen, aus denen zwar keine römischen, aber ganz moderne englische Münzen hervorquollen.

Der Priester nahm die Bronzemünze mit dem Kopf Cäsars vom Boden auf, wohin sie aus der Hand des Toten geglitten war, und sagte langsam: »Das ist alles, was von der berühmten Carstairs-Sammlung übriggeblieben ist.«

Er schwieg. Nach einer Weile sprach er weiter, und in seiner Stimme lag eine Wehmut und Sanftheit, die ganz außergewöhnlich war. »Das Testament dieses bösen Vaters war eine Grausamkeit, und — wie Sie sehen — der Sohn nahm es nicht gut auf. Er haßte das römische Geld, das er besaß, und sein Verlangen nach wirklichem Geld, das ihm durch das Testament versagt war, wuchs immer mehr und mehr. Nicht nur, daß er die Sammlung Stück um Stück verkaufte, sondern er sank auch immer tiefer und tiefer, wandte immer gemeinere Mittel an, um zu Geld zu kommen — zuletzt versuchte er sogar seine eigene Schwester zu erpressen in der Verkleidung, wie wir ihn hier vor uns sehen. Er erpreßte übrigens auch seinen soeben aus Australien zurückgekehrten Bruder wegen des kleinen Vergehens, um dessentwillen jener nach Australien verbannt worden war. Dieser Verdacht ist mir gekommen, als er den Wagen nach Putney nahm, wo sein Bruder wohnt. Er erpreßte seine Schwester wegen des Diebstahls, den nur er bemerkt haben konnte. Deshalb hatte sie auch ein so komisches Gefühl, als er oben auf der Sanddüne stand. Gestalt und Haltung können uns, selbst aus der Ferne gesehen, eher an eine bestimmte Person erinnern als ein geschickt zurechtgemachtes Gesicht, das wir ganz aus der Nähe sehen.«

Wieder sagte keiner der beiden ein Wort. Schließlich brummte der Detektiv: »So war also dieser große Münzensammler nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Geizhals?«

»Besteht denn da ein so großer Unterschied?« fragte Pater Brown im gleichen, seltsam nachsichtigen Ton. »Hat ein Sammler nicht oft dieselben schlechten Eigenschaften wie ein gewöhnlicher Geizhals? Was ist schlimmes daran, außer… ›Du sollst dir kein Bildnis machen dessen, was oben im Himmel oder unten auf der Erde ist; du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen, denn ich, der Herr…‹ Aber wir wollen jetzt doch mal hinausgehen und nachsehen, wie es den armen jungen Leuten geht.«

»Ich glaube«, meinte Flambeau, »daß es ihnen trotz alledem recht gut geht.«

1Deutsch von Alfred P. Zeller (1985)

2Nox ist lateinisch und bedeutet ›Nacht‹.