Der Mann der Donnerstag war

G. K. Chesterton

1908

1

Eine phantastische Geschichte.

Ein reichlich verschrobeneer junger Dichter, der sich als Vorkämpfer des Anarchismus aufspielt, ein zweiter junger Dichter, der sich im Dienst von Scotland Yard in den »Großrat der Anarchisten Europas« einzuschmuggeln versteht, ein geheimnisvoller Unbekannter, der eine undurchsichtige Doppelrolle spielt und eine bunte Gruppe höchst sonderbarer Gestalten — das sind die Hauptpersonen dieses außergeöhnlichen Buches. Schon von der ersten Seite an wird der Leser hineingezogen in einen phantastichen, skurilen Wachtraum, in ein beinahe gepenstisches Geschehen, das sich von Kapitel zu Kaptiel zu einem wahren Alptraum steigert, um dann eine überraschende Lösung zu erfahren.

Chestertonts eigenwilliger Roman ist aber nicht nur eine Persiflage auf das Treiben geheimbünderischen »Anarchisten«, sondern auch ein Buch voll grotesken Humors und voll tiefer Bedeutung. Das Thema ist heute noch so aktuell wie je, und so wird auch der Leser diesen spannenden, handlungsreichen, phantasievollen Roman nicht so schnell vergessen.

Inhaltsverzeichnis

Die beiden Poeten von Saffron Park

Das Geheimnis des Gabriel Syme

Der Mann der Donnerstag war

Die Geschichte eines Detektivs

Das Festmahl der Furcht

Die Entlarvung

Das Unerklärliche an Professor de Worms

Der Professor gibt Erklärungen

Der Mann mit der Brille

Das Duell

Die Verbrecher jagen die Polizisten

Anarchie über der Erde

Der Präsident wird verfolgt

Die sechs Philosophen

Der Ankläger

Die beiden Poeten von Saffron Park

Der Vorort Saffron Park lag dort, wo über London die Sonne unterzugehen pflegt, und er sah auch so rot und zerfleddert aus wie eine Wolke bei Sonnenuntergang. Durchweg aus knallroten Ziegelsteinen erbaut, mit groteskem Schattenriß und höchst unregelmäßig angelegt, war er der Einfall eines unternehmungslustigen Baumeisters, der seinen Bauten einen schwachen Anstrich von künstlerischem Stil zu geben versucht und ihn das eine Mal nach der Königin Elisabeth, das andere Mal nach der Königin Anna zu nennen beliebt hatte. Er war wohl im Glauben gewesen, die beiden Herrscherinnen wären ein und dieselbe. Mit einigem Recht wurde Saffron Park eine Künstlerkolonie genannt, obwohl dort niemals in irgendeiner greifbaren Weise irgendeine Art von Kunst hervorgebracht wurde. Seine Ansprüche, einen geistigen Mittelpunkt zu bilden, waren ohne Frage reichlich unbestimmt, aber unbestreitbar waren sie, wenn sie sich darauf beschränkten, den Ort als einen angenehmen, aber etwas sonderbaren Aufenthalt gelten zu lassen. Der Fremde, der zum ersten Mal die eigenartig roten Häuser sah, mußte unwillkürlich denken, was für seltsame Käuze doch die Leute sein mochten, die sich in ihnen wohlfühlten. Kam er dann mit den Leuten selber zusammen, so gab es in dieser Beziehung keine Enttäuschung mehr. Der Ort war nicht nur angenehm, er war in der Tat vollkommen, wenn man ihn nicht als Täuschung oder Betrug, sondern als Traum ansah. Mochten die Bewohner auch keine Künstler sein, so war das ganze Drum und Drau immerhin künstlerisch. Jener junge Mann mit dem langen, mehr roten als kastanienbraunen Haar und dem anmaßenden Gesicht war nicht wirklich ein Dichter, aber sicherlich war er ein Gedicht. Jener alte Gentleman mit dem phantastischen weißen Bart und dem phantastischen weißen Hut — jener ehrwürdige Schwindler war nicht wirklich ein Philosoph, aber er gab mindestens anderen Anlaß zum Philosophieren. Jener gelehrte Herr mit dem kahlen, eiförmigen Kopf und dem nackten Vogelhals hatte nicht das geringste Recht, sich wie ein Wissenschaftler aufzuspielen. Er hatte nichts Neues in der Biologie entdeckt, aber hätte man ein seltsameres biologisches Wesen ausfindig machen können als ihn selbst? So, und nur so, mußte der ganze Ort aufgefaßt werden: nicht so sehr als eine Künstlerwerkstatt, vielmehr als ein vollendetes, wenn auch vergängliches Kunstwerk. Wer immer in seinen gesellschafilichen Dunstkreis geriet, konnte glauben, in die Aufführung einer Komödie geraten zu sein.

Besonders stark strahlte Saffron Park diese anziehende Unwirklichkeit aus, wenn es Abend wurde, wenn die extravaganten Dächer sich dunkel gegen das Nachglühen der untergehenden Sonne abheben und der ganze verdrehte Vorort einer einsam dahintreibenden Wolke glich. Noch deutlicher wurde der Eindruck in jenen Nächten, wenn man hier Feste feierte, die kleinen Gärten illuminiert wurden und die großen chinesischen Lampions in den kümmerlichen Bäumen glühten wie wilde, monströse Früchte. Am stärksten aber zeigte sich dieser Eindruck an jenem ganz besonderen Abend — mancher am Ort erinnert sich vielleicht noch seiner —, dessen Held der Poet mit dem roten Haar war. Nicht daß das etwa der einzige Abend gewesen wäre, der ihn als Helden sah. In manchen Nächten konnte man, wenn man an seinem Hintergärtchen vorbeiging, seine lebhafte, lehrhafte Stimme hören, wie sie Männlein und besonders Weiblein das Recht auslegte. Das Verhalten der weiblichen Zuhörerschaft dabei war in der Tat eine der größten Paradoxien des Ortes. Vorwiegend gehörten ihre Vertreterinnen zu jener Art von Frauen, die man schlankweg Emanzipierte nennt und die ein wandelnder Protest gegen die Vorherrschaft des Mannes sind. Und doch erwiesen diese Damen einem Mann das ganz außergewöhnliche Kompliment, zu dem eine sterbliche Frau sonst nicht leicht fähig ist, nämlich ihm still zuzuhören, solange er spricht. Mr. Lucian Gregory, der rothaarige Poet, war nun tatsächlich — in mancher Beziehung — ein Mann, dem zuzuhören sich lohnte, so lächerlich schließlich auch war, was er vorbrachte. Er stimmte die alte Leier von der Anarchie der Kunst und der Kunst der Anarchie mit solch unbekümmerter Keckheit an, daß man für den Augenblick Gefallen daran finden konnte. Dabei kam ihm sein auffallendes Äußeres zustatten, mit dem er sich, wie man so sagt, bewußt ausstaffierte. Sein dunkelrotes, in der Mitte gescheiteltes Haar glich buchstäblich dem einer Frau, und es war so langweilig gelockt wie das einer Jungfrau auf einem präraffaelitischen Bild. Aus diesem fast heiligenhaften Oval allerdings sprang sein Gesicht plötzlich breit und brutal hervor mit einem vorwärts gereckten Kinn und einem Ausdruck voller Geringschätzung und Londoner Großstadtdünkel. Beides zusammen kitzelte natürlich die Nerven eines neurotischen Publikums und stieß sie zugleich ab. Er sah aus wie die verkörperte Gotteslästerung, eine Mischung aus Engel und Affe.

Jener erwähnte außerordentliche Abend wird zum mindesten wegen seines merkwürdigen Sonnenunterganges in der Erinnerung von Saffron Park weiterleben. Es sah nämlich aus, als wollte die Welt untergehen. Der ganze Himmel war wie mit einem leibhaftigen Federkleid bedeckt; man konnte tatsächlich nur sagen, er war voller Federn — Federn, die einem fast das Gesicht streiften. Über einen großen Teil der Himmelskuppel waren sie grau mit absonderlichen Schattierungen von Violett und Malvenfarben und einem unnatürlichen Nelkenrot und Blaßgrün. Gegen Westen zu aber wurde alles über jegliche Beschreibung durchsichtig und feurig, und die letzten rotglühenden Federn bedeckten die Sonne, als solle sie vor zudringlichen Blicken geschützt werden. Das Ganze war der Erde so nahe, als wolle es eine innige Heimlichkeit ausdrücken. Der gesamte Feuerhimmel offenbarte ein Geheimnis, und zwar das jener auftrumpfenden Beschränktheit, die die Seele des Lokalpatriotismus ist. Der ganze Himmel schien zusammenzuschrumpfen.

Ich sagte vorhin, einige Bewohner von Saffron Park mögen sich des Abends erinnern, allein wegen des eindrucksvollen Himmels. Andere vielleicht erinnern sich seiner, weil an ihm zum ersten Mal der zweite Poet von Saffron Park auftrat. Lange hatte der rothaarige Revolutionär konkurrenzlos geherrscht. In der Nacht jenes Sonnenuntergangs nun geschah es, daß seine unumschränkte Herrschaft mit einem Schlage endete. Der neue Dichter, der sich als Gabriel Syme vorstellte, war ein sehr freundlich blickender Sterblicher mit einem blonden, zugestutzten Bart und dünnem, sandfarbenem Haar. Mit der Zeit allerdings verstärkte sich der Eindruck, daß er weniger sanftmütig war, als er dreinschaute. Die Art, wie er seine Ansicht über das Wesen der Dichtkunst dem eingesessenen Boeten Gregory gegenüber betonte, war kennzeichnend für sein erstes Auftreten. Er sagte, er, Syme, sei ein Dichter des Gesetzes, ein Dichter der Ordnung, ja sogar ein Dichter bürgerlicher Wohlanständigkeit. Kein Wunder, daß bei diesen Worten ganz Saffron Park auf ihn sah, als wäre er eben in diesem Augenblick aus jenem unmöglichen Himmel gefallen.

Und Mr. Lucian Gregory, der anarchistische Poet, verband tatsächlich sofort beide Ereignisse miteinander.

»Es mag wohl geschehen«, sagte er, plötzlich lyrisch werdend, »es mag in einer solchen Nacht der Wolken und der grellen Farben wohl geschehen, daß da so ein ahnungsvoller und ansehnlicher Poet auf die Welt kommt. Sie sagen, Sie seien ein Dichter des Gesetzes, ich sage, Sie sind eine ›contradictio in adjecto‹. Ich wundere mich nur, daß nicht auch Kometen fielen und die Erde bebte in der Nacht, da Sie in diesem Garten auftauchten.«

Der Mann mit den sanftblauen Augen und dem hellen Spitzbart ließ dieses Donnerwetter mit einer gewissen feierlichen Demut über sich ergehen. Die dritte Gestalt in der Gruppe, Gregorys Schwester Rosamond, mit Flechten, rot wie das Haar ihres Bruders, aber mit liebenswürdigerem Gesicht, lachte. Es war ein Lachen voller Bewunderung und Mißbilligung zugleich, wie sie es dem Familienorakel gewöhnlich zollte.

Gregory fuhr in rednerischem Schwung und guter Laune fort: »Ein Künstler ist dasselbe wie ein Anarchist. Man kann auch umgekehrt sagen: ein Anarchist ist ein Künstler. Der Mann, der eine Bombe wirft, ist ein Künstler, weil er einen großen Augenblick allem andern vorzieht. Er erkennt, wie viel wertvoller das einmalige Aufflammen, der einmalige Donnerschlag einer wirkungsvollen Explosion ist als die alltäcklichen Körper von ein paar nutzlosen Polizisten. Ein Künstler kümmert sich um keine Regierung, er bricht mit jeglichem Herkommen. Den Dichter erfreut nur das Chaotische. Wäre dem nicht so, dann müßte das poetischste Ding in der Welt die Untergrundbahn sein.«

»Das ist es auch«, bestätigte Mr. Syme.

»Unsinn!« sagte Gregory, der sehr vernünftig sein konnte, sobald ein anderer sich in Paradoxen versuchte. »Warum sehen alle Handlungsgehilfen und Kanalarbeiter, die in den Eisenbahnzügen sitzen, so verdrießlich und müde aus, so niedergeschlagen? Ich will es Ihnen sagen: Weil sie wissen, daß der Zug richtig fährt; weil sie wissen, daß sie jede Station, für die sie eine Fahrkarte gelöst haben, auch erreichen werden; weil sie wissen, daß nach Sloane Square die nächste Station Victoria ist, unter allen Umständen Victoria. Oh, wie würden sie rasen vor Begeisterung, wie würden ihre Augen gleich Sternen leuchten und ihre Seelen im Paradiese schweben, wenn die nächste Station unerklärlicherweise Baker Street wäre!«

»Sie sind es, der unpoetisch ist«, erwiderte der Poet Syme. »Wenn das wahr ist, was Sie von den Handlungsgehilfen sagen, können sie nur ebenso prosaisch sein wie Ihre Poesie. Ein Ziel treffen ist etwas Seltenes und Außergewöhnliches, es verfehlen aber das Durchschnittliche, Alltägliche. Eine Tat ist es, wenn einer mit einem unsicheren Pfeil einen fernen Vogel trifft. Aber ist es nicht ebenso eine Leistung, wenn einer mit einer unsicheren Maschine eine weit entfernte Station erreicht? Das Chaos ist öde, weil im Chaos der Zug tatsächlich irgendwohin gehen würde, nach Baker Street oder nach Bagdad. Der Mensch aber ist ein Zauberer, und seine Zauberei besteht darin, daß er sagt: Victoria, und siehe da, es ist Victoria. Nein, behalten Sie Ihre Bücher mitsamt Ihrer Poesie und Prosa und lassen Sie mich einen Fahrplan lesen mit Tränen des Stolzes. Behalten Sie nur Ihren Byron, der die Niederlagen der Menschheit feiert, und geben Sie mir das Kursbuch, das ihre Siege verherrlicht. Geben Sie mir das Kursbuch, sage ich!«

»Müssen Sie wegfahren?« fragte Gregory spöttisch.

»Ich sage Ihnen«, fuhr Syme voller Eifer fort, »jedes Mal, wenn ein Zug richtig ankommt, habe ich das Gefühl, als ob er Armeen von Belagerern durchbrochen und die Menschheit abermals einen Sieg über das Chaos errungen habe. Sie behaupten voller Verachtung, es sei selbstverständlich, daß einer nach Victoria kommen muß, wenn er Sloane Square verlassen hat. Ich aber behaupte, daß in der Zwischenzeit tausenderlei Dinge geschehen könnten und daß ich jedesmal, wenn ich wirklich mein Ziel erreiche, den Eindruck habe, mit knapper Not davongekommen zu sein. Und wenn ich den Schaffner ›Victoria‹ rufen höre, so klingt das für mich durchaus nicht bedeutungslos, sondern vielmehr wie der Fanfarenstoß eines Herolds, der einen Sieg verkündet. Für mich klingt daraus wirklich Viktoria, Viktoria! — ein Sieg Adams.«

Gregory schüttelte sein schweres, rothaariges Haupt und lächelte etwas düster: »Selbst dann«, hob er an, »stellen wir Poeten die Frage: was ist denn nun mit diesem Victoria, das Sie glücklich erreicht haben? Sie denken, Victoria sei Neu-Jerusalem. Wir aber wissen, daß Neu-Jerusalem nichts anderes als Victoria sein wird. Ja, sogar auf himmlischen Pfaden wird der Poet mißvergnügt sein. Der Dichter ist immer ein Empörer.«

»Da hat man’s wieder!« entgegnete Syme ärgerlich. »Was ist denn da poetisch, wenn man sich auflehnt? Sie könnten ebensogut sagen, es sei poetisch, seekrank zu sein. Krank sein ist ohne Frage eine Auflehnung. Beides zusammen, krank sein und ein Rebell sein, mag in gewissen hoffnungslosen Lebenslagen nützlich sein, aber poetisch? Ich lasse mich hängen, wenn ich einsehe, warum kranksein und Rebell sein poetisch sein sollen. Empörung an sich ist — empörend. Es ist einfach zum Kotzen.«

Das Mädchen zuckte kurz zusammen bei diesem nicht salonfähigen Wort, aber Syme war zu sehr in Hitze geraten, als daß er auf sie Rücksicht genommen hätte.

»Wenn die Dinge in ihrer Ordnung sind«, ereiferte er sich, »das ist das Poetische. Unsere Verdauung zum Beispiel, wenn sie in aller Ziemlichkeit und Stille sich vollzieht, ist die Grundlage aller Poesie. Ja, die poetischste Sache, poetischer als alle Blumen, poetischer als alle Sterne, die poetischste Sache auf der Welt ist: nicht krank zu sein.«

»Wahrhaftig«, sagte Gregory hochmütig, »die Beispiele, die Sie zu wählen belieben …«

»Verzeihung«, unterbrach ihn Syme grimmig, »ich vergaß ganz, daß wir ja alle Konvention abgeschafft hatten.«

Zum ersten Mal brannte auf Gregorys Stirn ein roter Fleck. »Sie glauben also nicht«, sagte er, »daß ich hier auf diesem Rasenplatz die Gesellschaft umwälze?«

Syme sah ihm voll in die Augen und lächelte freundlich. »Nein, das glaube ich nicht, es müßte denn höchstens sein, daß es Ihnen Ernst ist mit Ihrem Anarchismus. Dann allerdings.«

Gregorys Glotzaugen leuchteten plötzlich auf wie die eines zornigen Löwen, und es konnte einem beinahe so vorkommen, als sträube sich seine rote Mähne. »Sie glauben also nicht«, sagte er mit einem gefährlichen Ton in der Stimme, »daß es mit Ernst ist mit meinem Anarchismus?«

»Wie bitte?« fragte Syme.

»Mir nicht Ernst mit meinem Anarchismus?« schrie Gregory und ballte die Fäuste.

»Lieber Freund!« sagte Syme und schlenderte davon. Angenehm überrascht bemerkte er, daß Rosamond Gregory an seiner Seite ging.

»Mr. Syme«, sagte sie. »Meinen die Leute, wenn sie wie Sie und mein Bruder miteinander reden, auch das, was sie sagen? Ist das Ihre wahre Meinung, was Sie jetzt sagen?«

Syme lächelte. »Und Sie selber?« kam seine Gegenfrage.

»Wieso?« Das Mädchen machte ernste Augen.

»Liebes Fräulein Gregory«, sagte Syme gütig. »Es gibt viele Arten von Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit. Wenn Sie ›Danke‹ sagen für das Salz, das man Ihnen reicht, meinen Sie dann das, was Sie sagen? Nein. Wenn Sie sagen, ›Die Welt ist rund‹ — meinen Sie dann das, was Sie sagen? Nein. Es handelt sich um unbestrittene Wahrheiten, aber Sie meinen sie nicht. Andererseits kann ein Mann wie Ihr Bruder eine Sache ausknobeln, die er auch tatsächlich meint. Es kann nur eine halbe Wahrheit, eine Viertel-, eine Zehntelwahrheit sein, aber er sagt dann mehr als er meint, aus lauter Freude, etwas meinen zu müssen.«

Sie sah ihn an, unter waagrecht gestellten Brauen hervor; ihr Gesicht war ernst und offen, überschattet von dem unbewußten Verantwortungsgefühl jener Mütterlichkeit, die im Grunde jede Frau besitzt, auch die oberflächlichste, und die so alt ist wie die Welt.

»Er ist also wirklich ein Anarchist?« fragte sie.

»Nur in jenem Sinne, den ich vorhin bereits einmal andeutete«, erwiderte Syme, »oder wenn Sie lieber wollen, in jenem Unsinn.«

Sie zog ihre dichten Brauen zusammen und sagte unvermittelt: »Er würde sich doch nicht mit — Bomben abgeben oder solchen Sachen?«

Syme brach in ein gemütliches Lachen aus, das zu behäbig schien für seine schlanke und etwas stutzerhafte Erscheinung. »Guter Gott, nein! Das geschieht doch nur anonym.«

Nun zeigte sich auch in den Winkeln ihres Mundes ein Lächeln. Daß ihr ihres Bruders sicheres Auftreten trotz seiner Albernheit gefiel, war deutlich zu spüren.

Syme schlenderte mit ihr zu einer Sitzgelegenheit in einer Ecke des Gartens und fuhr fort, seine Ansichten auszubreiten. Denn er war ein mitteilsamer Mensch und trotz seines gezierten Gebarens im Grunde bescheiden. Und es ist immer der Bescheidene, der zuviel redet; der Hochmütige hat sich viel mehr im Zaum. Syme verteidigte die bürgerliche Achtbarkeit und trug stark dabei auf. Er wurde in seinem Loblied auf Ordnung und Wohlanständigkeit geradezu heftig. Die ganze Zeit umgab ihn ein Duft von Fliederblüten. Einmal hörte er aus einer entfernten Straße sehr schwach die Klänge einer Drehorgel, und es dünkte ihn, als wären seine großen Worte von einer zarten Melodie aus der Unterwelt oder dem Jenseits begleitet.

Während er plauderte, schaute er angelegentlich auf des Mädchens rotes Haar und in ihr heiteres Gesicht — minutenlang. Dann aber ward ihm mit einem Mal bewußt, daß er sich mit einer Dame nicht so lange von den andern fernhalten durfte, und er sprang auf. Zu seinem Erstaunen merkte er, daß der ganze Garten leer geworden war. Sie waren alle längst gegangen, und so verabschiedete er sich auch übereilt mit einer ziemlich lahmen Entschuldigung. Er ging davon mit einem Nebel im Kopf, als hätte er Sekt getrunken, und einem Gefühl, das er sich nicht erklären konnte. In all den tollen Ereignissen, die folgen sollten, spielte das Mädchen überhaupt keine Rolle. Er sah sie erst wieder am Ende seiner seltsamen Geschichte. Und doch — in irgendeiner nicht zu beschreibenden Weise tauchte sie in all seinen kommenden Abenteuern immer wieder wie ein Leitmotiv auf, und der Glanz ihres auffallenden Haares leuchtete wie ein roter Faden durch den dunkel und unheimlich gemusterten Gobelin dieser Nacht. Denn alles, was nun geschah, war so unwahrscheinlich, daß es nur ein Traum sein konnte.

Als Syme in die sternenklare Nacht hinausschritt, fand er sie zunächst menschenleer. Dann nahm er — merkwürdig genug — wahr, daß in der Stille doch Leben war. Unmittelbar neben dem Gartentor stand eine Straßenlaterne, deren Schimmer die Blätter eines Baumes vergoldete, der hinter ihm über den Zaun ragte. Ungefähr einen Fuß vom Laternenpfahl entfernt stand eine Gestalt fast ebenso starr und unbeweglich wie der Laternenpfahl selbst. Der große Hut und der lange Gehrock waren schwarz; das Gesicht, in tiefen Schatten getaucht, war fast ebenso schwarz. Das Laternenlicht beschien nur eine Strähne des Haares. Die brandrote Farbe dieses Haares und die aggressive Haltung dieser Gestalt verrieten, daß es der Dichter Gregory war. Er sah aus wie ein verkleideter Bandit, der mit dem Degen in der Hand auf seinen Feind lauert.

Er machte die Geste eines etwas zweifelhaften Grußes; Syme erwiderte sie, freilich ein wenig formgerechter.

»Ich warte auf Sie«, sagte Gregory. »Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?«

»Gern. Um was handelt es sich denn?« fragte Syme etwas verwundert.

Gregory schlug mit seinem Stock an den Laternenpfahl und dann an den Baum. »Um dies und das«, knurrte er dabei. »Um Ordnung und Anarchie zum Beispiel. Da steht Ihre saubere Ordnung, diese dürftige, eiserne Lampe, und dort grünt die Anarchie, reich, voller Leben, sich selbst schaffend; ja, so ist die Anardnie, strahlend in Grün und Gold.«

»Aber all das«, entgegnete Syme ruhig, »sehen Sie an dem Baum nur, weil das Licht der Lampe auf ihn fällt. Die Lampe können Sie allerdings nie so sehen, weil der Baum sie nicht beleuchten kann.« Und nach einer Pause: »Aber darf ich fragen, ob Sie hier in der Dunkelheit gewartet haben, nur um unsere Unterhaltung fortzuführen?«

»Nein«, stieß Gregory hervor mit einer Stimme, daß es durch die Straße hallte. »Ich habe hier nicht gewartet, um unsere Unterhaltung weiterzuführen, sondern um sie ein für allemal zu beenden.«

Wieder trat Stillschweigen ein. Syme lauschte, obwohl er sich den Zusammenhang nicht erklären konnte, unwillkürlich, als müsse irgend etwas Ernstes sich ereignen.

Gregory hob mit sanfter Stimme und beinahe bestrickenden Lächeln an: »Mr. Syme, heute abend ist Ihnen eine immerhin bemerkenswerte Tat gelungen. Sie haben mir etwas angetan, was noch keinem vom Weibe Geborenen je gelungen ist.«

»Tatsächlich?«

»Ach, ich erinnere mich«, nahm Gregory wieder nachdenklich das Wort, »doch noch an eine Person, der dasselbe gelungen ist. Es war der Kapitän eines Groschendampfers, wenn ich mich nicht irre, in Southend. Sie haben mich zum Zorn gereizt.«

»Das tut mir leid«, entgegnete Syme feierlich.

»Ich fürchte, Ihre Beleidigung hat mich zu schwer getroffen, als daß sie durch eine Ehrenerklärung aus dem Wege geräumt werden könnte«, sagte Gregory ruhig. »Auch ein Duell könnte sie nicht bereinigen. Selbst wenn ich Sie totschlüge, wäre die Beleidigung nicht aus der Welt geschafft. Es gibt nur eine Möglichkeit, wodurch sie ausgelöscht werden kann, und zu dieser Möglichkeit habe ich mich entschlossen. Ich will Ihnen — selbst auf die Gefahr hin, mein Leben und meine Ehre opfern zu müssen —, ich will Ihnen beweisen, daß Sie unrecht hatten mit Ihrer Behauptung.«

»Mit welcher Behauptung?«

»Sie behaupteten, es wäre mir nicht Ernst damit, ein Anarchist zu sein.«

»Es gibt Abstufungen des Ernstes«, entgegnete Syme. »Ich habe niemals gezweifelt, daß Sie ein ehrlicher Mensch sind, daß Sie das, was Sie sagten, auch für sagenswert hielten und daß Sie glaubten, ein Paradoxon könne in einem eine vernachlässigte Wahrheit wachrufen.«

Gregory starrte sein Gegenüber an und ließ ihn nicht aus den Augen. »Und ausgerechnet in diesem Sinne glaubten Sie, daß es mir Ernst sei?« fragte er. »Sie hielten mich also für einen mäßigen Kopf, der gelegentlich platte Wahrheiten von sich gibt. Sie glauben also nicht, daß es mir mit dem Anarchismus in einem tieferen, ich möchte sagen, tödlicheren Sinne Ernst sei?«

Syme schlug mit seinem Stock heftig auf die Bordsteine. »Ernst?« rief er. »Herrgott, was ist denn an dieser Straße ernst? An diesen verdammten chinesischen Lampions? An diesem ganzen Klimbim? Man kommt hierher und redet einen Haufen Blödsinn und vielleicht auch etwas Vernünftiges dabei, aber ich würde sehr wenig von einem Manne halten, der nicht im Grunde seines Herzens etwas zurückbehält, das ernsthafter wäre als all das Gerede — etwas Ernsthafteres, mag es nun um Religion gehen oder um einen anständigen Tropfen.«

»Nun«, sagte Gregory, wobei sich sein Gesicht verfinsterte. »Sie sollen auf Ihre Rechnung kommen, Sie sollen etwas Ernsthafteres erleben als irgendein Getränk oder eine Religion.«

Syme stand da, freundlich lächelnd wie immer, und wartete geduldig, bis Gregory erneut den Mund auftat.

»Sie sprachen eben davon«, sagte dieser, »daß Sie eine Religion hätten. Ist es wirklich wahr, daß Sie eine haben?«

»Aber freilich«, antwortete Syme, und seine Augen strahlten. »Wir sind doch alle gute Katholiken.«

»Dann muß ich Sie bitten, bei allen Göttern und Heiligen Ihrer Religion zu schwören, daß Sie das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, keiner Menschenseele verraten und ganz besonders der Polizei nicht. Wollen Sie das beschwören? Wenn Sie diese große Selbstverleugnung auf sich nehmen wollen, wenn Sie damit einverstanden sind, Ihre Seele mit einem Schwur zu belasten, den Sie niemals abgelegt hätten, und mit einer Eröffnung, von der Sie sich niemals etwas hätten träumen lassen, dann will ich meinerseits versprechen …«

»Sie wollen mir etwas versprechen?« forschte Syme, als der andere innehielt.

»Ja. Einen sehr unterhaltenden Abend verspreche ich Ihnen.«

Syme nahm plötzlich seinen Hut ab. »Ihr Angebot ist wahrhaftig zu verrückt, um abgelehnt zu werden. Sie sagen, daß ein Poet immer auch ein Anarchist ist. Ich bin zwar nicht dieser Ansicht, aber ich hoffe, daß er wenigstens immer so etwas wie Sportgeist hat. Auf der Stelle schwöre ich hier als ein Christenmensch, als guter Kamerad und Kunstgenosse, daß ich nichts von Ihrem Geheimnis, was es auch sein mag, der Polizei verraten werde. Und nun, in drei Teufels Namen, um was handelt es sich denn?«

»Ich denke«, sagte Gregory in betonter Gelassenheit, als ginge es um die belangloseste Sache, »wir nehmen eine Droschke.« Er pfiff zweimal vernehmlich, und schon kam ein Wagen die Straße dahergerattert. Die beiden stiegen schweigend ein. Gregory gab dem Kutscher die Adresse einer obskuren Schenke am Chiswickufer. Der Wagen fuhr dahin, und in ihm verließen die zwei Phantasten ihren phantastischen Vorort.

Das Geheimnis des Gabriel Syme

Der Wagen hielt vor einer ausnehmend düsteren und schmierigen Kneipe; Gregory führte seinen Begleiter rasch hinein. Sie setzten sich in einem engen und dunklen Zimmer an einen schmutzigen, einbeinigen Holztisch neben der Theke. Der Raum war so klein und dunkel, daß von dem herbeigerufenen Kellner nichts als eine verschwommene bärtige Masse zu erkennen war.

»Ein Imbiß gefällig?« fragte Gregory höflich. »Das Pâté de foie gras ist nicht gut hier, aber Wild kann ich Ihnen empfehlen.«

Syme nahm die Bemerkung mit etwas ungläubigem Lächeln hin, da er dachte, es sei ein Spaß. Er ging auf den vermeintlich scherzhaften Ton ein und sagte in wohlerzogener Gleichgültigkeit: »Oh, bringen Sie mir doch eine Hummermayonnaise!«

Zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen sagte der Kellner nur: »Gewiß, mein Herr!« und ging hinaus, offensichtlich, um die Bestellung zu besorgen.

»Was wollen Sie trinken?« fing Gregory wieder an mit derselben gleichgültigen Miene, aber doch so, als wolle er sich entschuldigen: »Ich selber werde nur einen Pfefferminz-likör nehmen; ich habe schon gespeist. Aber zum Champagner hier darf man Zutrauen haben. Wollen Sie nicht wenigstens mit einer halben Flasche Pommery den Reigen eröffnen?«

»Besten Dank«, sagte Syme, ohne mit der Wimper zu zucken. »Zu liebenswürdig von Ihnen.«

Seine weiteren Versuche, die etwas zähe Unterhaltung in Fluß zu bringen, wurden schließlich wie durch einen Blitzstrahl abgeschnitten, als tatsächlich der Hummer aufgetragen wurde. Syme kostete ihn und fand ihn ausgezeichet. So begann er rasch und mit großem Appetit zu essen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich mir’s ohne viel Umstände schmecken lasse«, meinte er und lächelte Gregory an. »Ich habe nicht oft das Glück, einen solchen Traum wie diesen da zu träumen. Es ist neu für mich, daß mir ein Nachtmahr einen Hummer verschafft, gewöhnlich ist es umgekehrt.«

»Ich versichere Ihnen, Sie schlafen nicht«, sagte Gregory. »Sie befinden sich vielmehr im lebhaftesten und erregendsten Augenblick Ihres Daseins. Ah, hier kommt Ihr Sekt! Ich gebe zu, es mag ein leises Mißverhältnis bestehen zwischen — sagen wir einmal — zwischen dem, was dieses vorzügliche Lokal zu bieten hat, und seinem einfachen und anspruchslosen Äußeren. Aber das kommt von unserer Bescheidenheit. Wir sind die bescheidensten Leute von der Welt.«

»Und wer ist das: wir?« fragte Syme, indem er sein Glas leerte.

»Das ist ganz einfach«, erwiderte Gregory. »Wir — wir sind jene wirklich ernsthaften Anarchisten, an die Sie nicht glauben.«

»Oh«, sagte Syme kurz. »Sie legen sogar Wert auf einen guten Tropfen!«

»Ja, wir sind ernsthaft in allem«, antwortete Gregory. Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Wenn in einigen Augenblicken dieser Tisch anfängt, sich ein bißchen um sich selbst zu drehen, setzen Sie das nicht auf Rechnung des getrunkenen Pommery. Ich möchte nicht, daß Sie gegen sich selbst ungerecht sind.«

»Tja, wenn ich also nicht betrunken bin, werde ich wohl verrückt sein«, entgegnete Syme mit vollkommener Ruhe, »aber ich hoffe zuversichtlich, daß ich mich in jeder Lage wie ein Gentleman benehmen kann. Darf ich rauchen?«

»Selbstverständlich«, sagte Gregory und zog eine Zigarrentasche hervor. »Versuchen Sie eine von den meinigen!«

Syme griff nach einer Zigarre, knipste die Spitze mit einem Zigarrenabschneider ab, den er seiner Westentasche entnahm, steckte sie in den Mund, zündete sie gemächlich an und stieß eine Wolke von Rauch aus. Es gereicht ihm nicht wenig zur Ehre, daß er diese feierlichen Bräuche mit solcher Gelassenheit vollzog, denn kaum hatte er damit begonnen, als der Tisch, an dem er saß, sich zu drehen anfing, zuerst langsam, dann immer rascher, wie in einer spiritistischen Sitzung.

»Sie dürfen sich nichts daraus machen«, beruhigte Gregory; »da ist nur eine Art Schraube los.«

»Ganz richtig«, sagte Syme gleichgültig, »nur eine Art Schraube. Furchtbar einfach.«

Im nächsten Augenblick stieg der Rauch seiner Zigarre, der sich in Schlangenwindungen durch den Raum gezogen hatte, plötzlich kerzengerade in die Höhe wie aus einem Fabrikschornstein, und die beiden, mitsamt ihren Stühlen und dem Tisch, schossen durch den Fußboden in die Tiefe, als habe die Erde sie verschluckt. Sie rasselten brausend durch eine Art Röhre hinab, so schnell wie ein abgerissener Fahrstuhl, und kamen plötzlich mit einem dumpfen Schlag auf den Grund. Und als Gregory eine Flügeltür aufriß und rotes unterirdisches Licht hereinflutete, tauchte Syme immer noch behaglich weiter, ein Bein über das andere gelegt, und hatte sich kein Haar dabei gekrümmt.

Gregory führte ihn einen niedrigen, gewölbten Gang hinunter, an dessen Ende das rote Licht brannte. Es war eine riesige, glutrote Laterne, beinahe so groß wie ein ganzer Ofen; befestigt war sie über einer schmalen, aber schweren Eisentür. An der Tür befand sich eine Art Luke. Gregory schlug fünfmal dagegen. Eine schwerfällige Stimme mit einem fremden Akzent fragte, wer da sei. Darauf erfolgte die mehr oder weniger unerwartete Antwort: »Mr. Joseph Chamberlain.« Das war offensichtlich eine Art Losungswort, denn die mächtigen Türangeln begannen sich zu bewegen.

Jenseits der Tür leuchtete der Gang, als sei er mit einem stählernen Netzwerk besetzt. Syme sah schärfer hin und erkannte, daß das glitzernde Muster tatsächlich aus Reihen und Aberreihen von Gewehren und Revolvern gebildet war, die dort eng geschichtet und dicht bei dicht angebracht waren.

»Ich muß Sie um Entschuldigung bitten wegen all dieser Förmlichkeiten«, sagte Gregory, »aber wir müssen hier sehr vorsichtig sein.«

»O bitte«, erwiderte Syme. »Ich kenne ja Ihre Leidenschaft für Gesetz und Ordnung«, und er trat in den Gang, der mit den stählernen Waffen ausgekleidet war. Mit seinem langen blonden Haar und dem recht stutzerhaften Gehrock sah er seltsam gebrechlich und unwirklich aus, als er so diese gleißende Allee des Todes dahinschritt.

Sie durchmaßen mehrere solcher Gänge und gelangten zuletzt in eine merkwürdige Stahlkammer mit gewölbten Wänden von fast kugelförmiger Gestalt. Bankreihen gaben ihr das Aussehen eines Vortragssaales. Gewehre oder Pistolen befanden sich hier nicht, aber rings an den Wänden hingen noch fragwürdigere Gegenstände: Dinge, die wie die Knollen von eisernen Pflanzen aussehen oder wie Eier von eisernen Vögeln. Es waren Bomben, und das Zimmer selbst glich einer Bombe. Syme klopfte seine Zigarre an der Wand ab und trat ein.

»Und nun, mein lieber Mr. Syme«, begann Gregory und ließ sich behaglich auf der Bank unter der größten Bombe nieder. »Nun wollen wir es uns ganz gemütlich machen und richtig miteinander plaudern. Menschliche Worte können Ihnen keine Vorstellung davon geben, warum ich Sie hierher gebracht habe. Es war eine jener ganz spontanen Gemütsbewegungen, so wie sich plötzlich einer von einer Klippe herabstürzt oder sich verliebt. Es genügt, wenn ich Ihnen sage, daß Sie ein unerhört aufreizender Bursche waren und, um Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, noch sind. Ich würde zwanzig geheime Eide brechen, nur um Sie einmal gedemütigt zu sehen. Die Art, wie Sie die Zigarre anzünden, könnte einen Priester veranlassen, das Siegel des Beichtgeheimnisses zu brechen. Na, jedenfalls haben Sie mit absoluter Sicherheit gesagt, daß ich Ihnen nicht wie ein überzeugter Anarchist vorkomme. Erscheint Ihnen wenigstens dieser Ort hier als ernsthaft?«

»Hinter all seinem so freundlichen Aussehen steckt, scheint mir, immerhin eine verborgene Bedeutung«, gab Syme zu. »Aber dürfte ich zwei Fragen an Sie richten? Sie brauchen nichts zu befürchten, wenn Sie mir eine Auskunft erteilen. Denn Sie haben mir ja, wie Sie sich erinnern werden, wohlweislich das Versprechen abgenötigt, nichts der Polizei weiterzugeben, und was ich verspreche, bin ich auch gewohnt zu halten. Aus bloßer Neugier also stellte ich meine Fragen. Zuerst: was bedeutet das alles? Wogegen wenden Sie sich eigentlich? Sie wollen die Regierung abschaffen?«

»Regierung? Pah! Gott wollen wir abschaffen!« sagte Gregory mit den Augen eines Fanatikers. »Wir wollen nicht nur ein paar Despotien und Polizeiberrschaften umstürzen — diese Art Anarchismus gibt es auch, doch ist sie nur ein Zweig des Nonkonformismus. Wir graben tiefer und wir streben höher. Wir leugnen alle diese willkürlichen Unterschiede zwischen Laster und Tugend, Ehre und Verrat, auf die sich immer nur kleine Rebellen stürzen. Die albernen Gefühlsathleten der Französischen Revolution quatschten von Menschenrechten! Wir hassen Rechte, und wir hassen Unrechte. Wir haben Recht und Unrecht abgeschafft.«

»Und Rechts und Links«, bestätigte Syme mit schlichter Selbstverständlichkeit. »Hoffentlich schaffen Sie das auch ab. Es beunruhigt mich unstreitig mehr.«

»Sie sprachen von einer zweiten Frage«, fuhr Gregory barsch dazwischen.

»Mit Vergnügen«, war Symes Antwort. »Alle Ihre augenblicklichen Handlungen und all das hier — das deutet doch auf eine Art wissenschaftlichen Versuchs hin, sich in ein Geheimnis zu hüllen. Ich habe eine Tante, die über einem Kaufladen wohnte, aber hier erlebe ich zum ersten Mal, daß man mit Vorliebe auch unter einer Kneipe hausen kann. Sie haben eine schwere Eisentür, Sie können sie nicht passieren, ohne sich so weit zu dernütigen, daß Sie sich Mr. Chamberlain nennen. Sie umgeben sich mit Mordinstrumenten, die den Platz hier mehr eindrucksvoll, wenn ich so sagen darf, als gemütlich machen. Ich möchte Sie nun fragen, warum Sie sich einerseits mit so viel Mühe in den Eingeweiden der Erde verbarrikadieren, andererseits aber Ihr ganzes Geheimnis offen zur Schau tragen, indem Sie zu jedem einfältigen Frauenzimmer in Saffron Park über Anarchismus reden.«

Gregory lächelte: »Die Antwort ist einfach. Ich habe Ihnen gesagt, ich sei ein ernsthafter Anarchist, und Sie haben es mir nicht geglaubt. Auch die Leute glauben es nicht. Nur wenn ich sie in diesen höllischen Raum mitnähme, würden sie es glauben.«

Syme tauchte gedankenvoll und blickte Gregory aufmerksam an.

Dieser fuhr fort: »Die ganze Geschichte wird Sie interessieren. Anfangs, als ich einer von den Neo-Anarchisten wurde, versuchte ich es mit allen möglichen respekteinflößenden Verkleidungen. Ich putzte mich als Bischof heraus und las in unsern anarchistischen Broschüren, zum Beispiel in ›Vampir Aberglaube‹ und ›Räuberische Pfaffen‹, alles nach, was ich über Bischöfe fand. Ich entnahm den Schriften, daß Bischöfe seltsame, scheußliche alte Männer seien, die der Menschheit ein grausames Geheimnis vorenthielten. Ich war falsch unterrichtet. Als ich zum ersten Mal in bischöflicher Galakleidung in einer Gesellschaft auftrat und mir vernehmlich auszurufen erlaubte: ›Nieder mit der überheblichen menschlichen Vernunft‹, da fand man auf irgendeine Weise heraus, daß ich gar kein Bischof war. Man hatte mich auf der Stelle ertappt. Dann maskierte ich mich als Millionär; aber da ich das Kapital so intelligent verteidigte, konnte auch ein Narr erkennen, daß ich ein armer Tropf sei. Darauf versuchte ich es mit der Rolle eines Majors. Nun bin ich selbst ein Menschenfreund, habe indes — hoffentlich — Weitblick genug, um den Standpunkt derer zu erfassen, die, wie Nietzsche, die Gewalt bewundern, den stolzen und wilden Kampf ums Dasein in der Natur und all das, was damit zusammenhängt — Sie verstehen. Ich stürzte mich also in die Majorsrolle. Ich zückte meinen Degen und schwang ihn beständig. ›Blut‹, rief ich, ›Blut!‹ — wie einer, der ein Glas Wein bestellt. Oft sagte ich: ›Laßt die Schwachen zugrunde gehen, das Gesetz verlangt es.‹ Schön — aber anscheinend führen sich Majore nicht so auf. Abermals wurde ich entlarvt. Zuletzt begab ich mich aus Verzweiflung zum Präsidenten des Zentralen Anarchistenrates, der der größte Mann Europas ist.«

»Sein Name?« fragte Syme.

»Man kennt ihn nicht«, antwortete Gregory. »Das ist seine Größe. Cäsar und Napoleon setzten ihren Ehrgeiz darein, von sich reden zu machen, und man redete von ihnen. Er setzt seinen Ehrgeiz darein, nicht von sich reden zu lassen, und man redet nicht von ihm. Jedoch kann man keine fünf Minuten in einem Raum mit ihm zusammensein, ohne sofort zu merken, daß Cäsar und Napoleon in seinen Händen Kinder gewesen wären.« Er schwieg und wurde sogar einen Augenblick lang ganz blaß. Dann fuhr er fort: »Ein Rat, den er gibt, ist stets so überraschend wie ein Epigramm und zugleich so praktisch wie die Bank von England. Ich sagte zu ihm: ›Welche Maske wird mich vor der Welt verbergen? Kann es etwas Imponierenderes geben als Bischöfe und Majore?‹ Er blickte mich an mit seinem großzügigen, aber unentzifferbaren Gesicht: ›Sie wünschen eine zuverlässige Maske? Sie möchten ein Kostüm, das Sie als völlig harmlos erscheinen läßt, eine Maske, hinter der man von Ihnen keine Bombe erwartet?‹ Ich nickte. Da erhob er plötzlich seine Löwenstimme. ›Zum Kuckuck, dann verkleiden Sie sich als Anarchist, Sie Tor!‹ donnerte er, daß das Zimmer bebte. ›Kein Mensch erwartet dann von Ihnen, daß Sie etwas Gefährliches im Schilde führen.‹ Und er kehrte mir seinen breiten Rücken zu, ohne ein Wort weiter zu verlieren. Ich nahm seinen Rat an und habe es niemals bedauert. Ich predigte Tag und Nacht jenen Weibern Blut und Mord, und — bei Gott — sie würden mich ihren Kinderwagen schieben lassen.«

Syme saß da und betrachtete Gregory mit seinen großen blauen Augen nicht ohne Respekt. »Sie haben mich mit hierher genommen«, sagte er. »Ein gerissener Trick jedenfalls!« Und nach einer kurzen Pause: »Wie heißt denn Ihr furchtbarer Präsident?«

»Wir nennen ihn gewöhnlich Sonntag«, erwiderte Gregory in aller Schlichtheit. »Es gibt nämlich sieben Mitglieder des Zentralen Anarchistenrates, und sie werden nach den Wochentagen benannt. Er wird Sonntag genannt; einige seiner Bewunderer nennen ihn auch ›Blutiger Sonntag‹. Übrigens ist es merkwürdig und tatsächlich des Erwähnens wert, daß ausgerechnet heute abend, da Sie — wenn ich so sagen darf — zu uns hereinplatzen, unsere Londoner Gruppe, die sich hier in diesem Raum versammelt, einen eigenen Bevollmächtigten für eine frei gewordene Stelle im Rat wählen muß. Der Herr, der bisher mit Geschick und zu allgemeiner Zufriedenheit die Rolle des Donnerstag gespielt hat, ist ganz plötzlich gestorben. Infolgedessen haben wir für heute abend eine Zusammenkunft einberufen, um einen Nachfolger zu wählen.«

Er erhob sich, durchquerte den Raum und lächelte etwas verlegen. »Ich habe irgendwie das Gefühl, als ob Sie meine Mutter wären, Syme«, fuhr er beiläufig fort. »Ich habe das Gefühl, daß ich Ihnen in jeder Weise Vertrauen schenken kann, da Sie versprochen haben, gegen jedermann zu schweigen. Ich will Ihnen nun tatsächlich etwas anvertrauen, das ich den Anarchisten nicht öffentlich sagen möchte, die in ungefähr zehn Minuten hierherkommen werden. Selbstverständlich werden wir eine Wahl vornehmen, wenigstens der Form nach. Aber ich kann Ihnen jetzt schon verraten, daß das Ergebnis praktisch bereits feststeht.« Bescheiden sah er einen Augenblick zu Boden. »Es ist: so gut wie entschieden, daß ich als Donnerstag gewählt werde.«

»Mein lieber Junge«, sagte Syme herzlich, »ich beglückwünsche Sie. Eine große Laufbahn!«

Gregory lächelte abwehrend, ging im Zimmer auf und ab, wobei er hastig redete: »Tatsache ist, daß alles für mich vorbereitet ist an diesem Tisch, und die Zeremonie wird wahrscheinlich denkbar kurz sein.«

Syme ging ebenfalls zu dem Tisch hin und sah auf ihm liegen: einen Spazierstock, der sich bei näherer Untersuchung als ein Stoßdegen entpuppte, einen großen Coltrevolver, eine Schale mit Sandwichs und eine riesige Bramtweinflasche. Über den Stuhl neben dem Tisch war ein düster aussehender Mantel geworfen.

»Ich warte nur das Ende der Wahl ab«, fuhr Gregory lebhaft weiter, »dann greife ich mir diesen Mantel und Stock, stopfe die andern Sachen in meine Taschen und schlüpfe aus der Tür dieser Höhle, die sich auf den Fluß zu öffnet. Dort wartet schon ein Schleppdampfer auf mich. Oh, und dann — und dann: die Freude, die unbändige Freude, Donnerstag zu sein!« Er faltete die Hände ineinander.

Syme, der sich in seiner üblichen betonten Gleichgültigkeit wieder gesetzt hatte, stand auf, sein Gesicht drückte eine an ihm ungewohnte Unschlüssigkeit aus: »Woher kommt es eigentlich«, fragte er wie von ungefähr, »daß ich Sie für einen netten Kerl halte? Warum habe ich Sie ausgesprochen gern, Gregory?« Er hielt einen Augenblick inne und setzte dann mit herzerfrischender Offnheit hinzu: »Ob es wohl deswegen ist, weil Sie ein so ausgemachter Esel sind?« Wieder gedankenvolles Stillschweigen, und dann rief er: »Verdammt nochmal, das ist die spaßigste Situation in meinem Leben, und ich bin im Begriff, demgemäß zu handeln. Gregory, ich habe Ihnen ein Versprechen gegeben, bevor ich hierherkam. Das Versprechen würde ich auch halten unter glühend heißen Beißzangen. Möchten Sie nun Ihrerseits mir auch zu meiner Sicherheit ein kleines Versprechen ähnlicher Art geben?«

»Ein Versprechen?« fragte Gregory verwundert.

»Ja«, sagte Syme sehr ernst, »ein Versprechen. Ich habe vor Gott geschworen, daß ich Ihr Geheimnis nicht der Polizei melden werde. Wollen Sie nun Ihrerseits schwören bei der Menschlichkeit oder bei sonst irgend etwas Schönem, an das Sie glauben, daß Sie mein Geheimnis nicht den Anarchisten verraten?«

»Ihr Geheimnis?« fragte Gregory und starrte ihn an. »Haben Sie denn auch ein Geheimnis?«

»Ja«, antwortete Syme‘ »ich habe ein Geheimnis.« Und nach einer Pause: »Wollen Sie schwören?«

Es war, als wollte Gregory ihn ein paar Sekunden lang mit ernst bedeutsamem Blick durdabohren; dann sagte er unvermittelt: »Sie scheinen mich behext zu haben, ich habe ein brennendes Interesse an Ihnen. Ja, ich will schwören, nichts von dem, was Sie mir mitteilen, den Anarchisten zu verraten. Aber machen Sie schnell, in wenigen Minuten werden sie hier sein.«

Syme erhob sich langsam und steckte seine langen blassen Hände in die langen Taschen seiner grauen Hose. Fast zu gleicher Zeit klopfte es fünfmal an die Luke außen, ein Zeichen, daß die ersten Verschwörer da waren.

»Also«, sagte Syme gemächlich, »die Sache ist kurz die, daß Ihr Trick, sich als verrückter Dichter aufzuspielen, nicht nur von Ihnen oder Ihrem Präsidenten angewandt wird. Schon seit einiger Zeit kennen wir den Trick — wir in Scotland Yard.«

Gregory versuchte dreimal aufzustehen, bis er ins Gleichgewicht gekommen war. »Was sagen Sie?« fragte er mit tonloser Stimme.

»Ja«, erwiderte Syme kurz und bündig. »Ich bin Detektiv. Aber ich glaube, Ihre Freunde kommen.«

Vom Eingang her hörte man: »Mr. Joseph Chamberlain« murmeln. Man hörte es zweimal, dreimal, dreißigmal, und dann vernahm man, wie die Schar der Joseph Chamberlains — ein feierlicher Gedanke! — den Korridor entlang kam.

Der Mann der Donnerstag war

Bevor einer der Neuankömmlinge am Eingang auftauchte, hatte sich Gregory von der Betäubung erholt, in die ihn die überraschende Kunde vorübergehend versetzt hatte. Mit einem Sprung war er neben dem Tisch, und aus seiner Kehle drang ein Laut wie der eines wilden Tieres. Er griff nach dem Coltrevolver und ziehe auf Syme. Der schreckte nicht zurück, erhob nur seine blasse, gepflegte Hand.

»Seien Sie doch nicht so albern«, sagte er mit der sanften Würde eines Pfarramtskandidaten. »Sehen Sie nicht, daß das ganz überflüssig ist? Sehen Sie denn nicht, daß wir in ein und demselben Boot treiben, und zwar beide ganz hübsch seekrank?«

Gregory konnte nicht sprechen, er konnte aber auch nicht schießen; der ganze Gregory war eine einzige Frage.

»Sehen Sie denn nicht«, schrie Syme, »daß wir einander mattgesetzt haben? Ich darf der Polizei nicht sagen, daß Sie ein Anarchist sind; Sie dürfen den Anarchisten nicht sagen, daß ich ein Polizist bin. Ich kann Sie nur beobachten, da ich weiß, wer Sie sind, und Sie können mich nur beobachten, da Sie wissen, wer ich bin. Kurz, es handelt sich um einen lautlosen geistigen Zweikampf zwischen uns beiden, mein Kopf gegen den Ihrigen. Ich bin ein Polizist, aber ohne jede Hilfe der Polizei. Sie armer Teufel sind ein Anarchist, beraubt der Hilfe jenes Gesetzes und jener Organisation, die so wesentlich für die Anarchie ist. Der einzige und alleinige Unterschied spricht zu Ihren Gunsten. Sie sind nicht von nachspürenden Polizisten umgeben, ich aber von nachspürenden Anarchisten. Ich kann Sie nicht verraten, außer ich verrate mich selbst. Kommen Sie, kommen Sie! Wir wollen abwarten und zusehen, wie ich mich verrate. Ich werde es möglichst nett machen.«

Gregory legte den Revolver langsam nieder und sah dabei Syme an, als wäre dieser ein Meerwunder. Schließlich sagte er: »Ich glaube nicht an die Unsterblichkeit, aber sollten Sie nach alldem Ihr Wort brechen, dann sollte Gott eine Hölle für Sie ganz allein schaffen, in der Sie heulen müßten für alle Ewigkeit.«

»Ich werde mein Wort nicht brechen«, erklärte Syme ernst, »und auch Sie werden das Ihrige nicht brechen.«

Fast alle Anarchisten betraten jetzt langsam den Raum, mit sehleppendem und etwas müdem Gang. Nur ein Männchen mit schwarzem Bart und schwarzer Brille — ein Mann vom Schlage des Mr. Tim Healy — hatte sich von ihnen abgesondert und eilte geschäftig mit etlichen Papieren in der Hand auf den Präsidentenstuhl zu.

»Genosse Gregory«, sagte er, »ich nehme an, dieser Mann hier ist ein Delegierter.«

Gregory, etwas überrumpelt von der Frage, sah zu Boden und murmelte den Namen Syme.

Aber Syme antwortete fast vorlaut: »Ich freue mich, daß Ihr Tor gut genug bewacht ist, um jedem das Eindringen zu erschweren, der kein Delegierter ist.«

Die Brauen des kleinen Mannes mit dem schwarzen Bart waren indessen immer noch zusammengezogen; so leicht war sein Verdacht nicht beseitigt. »Welche Zweigstelle vertreten Sie?« fragte er scharf.

»Ich möchte es kaum einen Zweig nennen«, antwortete Syme lachend, »vielmehr eine Wurzel.«

»Wie meinen Sie?«

»Die ungeschminkte Wahrheit ist«, erklärte Syme ruhig, »daß ich Sabbatarier bin. Hi bin speziell hierher gesandt, um zu prüfen, ob Sie auch den Sonntag gebührend feiern.«

Der kleine Mann ließ eines der Papiere fallen, und ein Flackern der Furcht huschte über die Gesichter der Anwesenden. Offensichtlich entsandte der schreckliche Präsident, der Sonntag hieß, gelegentlich solche unerwarteten Botschafter in derartige Zweigversammlungen.

Nach einer Pause sagte der Mann mit den Papieren: »Ich denke, es ist das beste, wir geben Ihnen einen Sitz in der Versammlung.«

»Ich bin derselben Meinung, wenn Ihnen an einem freundschaftlichen Rat gelegen ist«, stimmte Syme mit grimmigem Wohlwollen zu.

Als Gregory merkte, daß das peinliche Zwiegespräch ohne augenblickliche Gefahr für seinen Gegner endete, wandte er sich unvermittelt ab und durchmaß den Raum in grübelnden Gedanken. Er befand sich tatsächlich in einer schrecklichen Zwickmühle. Es war klar, daß Symes geistesgegenwärtige Unverschämtheit ihn aus allen Schwierigkeiten dieses Zufalls herausriß. Wenigstens für den Augenblick; denn sich ihnen ganz zu entwinden, bestand wenig Aussicht. Er selber konnte Syme nicht verraten, teils aus Ehrgefühl, teils aber auch aus einem andern Grund. Wenn er ihn verriet, und. es glückte ihm nicht, ihn zu vernichten, dann war ein entschlüpfter Syme zugleich ein Syme, der sich an keine Verpflichtung des Geheimnisses mehr halten und stracks zur nächsten Polizeiwache gehen würde. Schließlich drehte es sich ja nur um eine Unterredung in einer einzigen Nacht und auch nur um einen einzigen Detektiv, der davon erfuhr. Er wollte schon dafür sorgen, daß so wenig wie möglich von ihren Plänen aufgedeckt wurde; darauf wollte er Syme laufen lassen und es eben riskieren.

Er schritt zur Gruppe der Anarchisten, die sich bereits auf die Bänke verteilte.

»Ich denke, es ist Zeit, daß wir anfangen«, sagte er, »der Schleppdampfer wartet schon auf dem Fluß. Ich schlage vor, daß Genosse Buttons den Vorsitz übernimmt.«

Nachdem das durch Handaufheben gebilligt war, glitt der kleine Mann mit den Papieren in den Präsidentenstuhl.

»Genossen«, begann er, wie aus der Pistole geschossen, »unsere Versammlung heute abend ist wichtig, doch braucht sie nicht lange zu dauern. Diese unsere Untergruppe hat immer die Ehre gehabt, die Donnerstage für den europäischen Zentralrat zu wählen. Schon viele und glänzende Donnerstage haben wir gewählt. Wir betrauern alle das betrübliche Hinscheiden des heldenhaften Mitstreiters, der den Posten bis zur vergangenen Woche innehatte. We Sie wissen, waren seine Dienste für unsere Sache beträchtlich. Er organisierte den großen Dynamitanschlag auf Brighton, der unter glücklicheren Umständen jedermann auf dem Pier hätte töten müssen. Wie Sie ebenfalls wissen, war sein Tod eine Tat gleicher Selbstverleugnung wie sein Leben; er starb nämlich durch seinen Glauben an eine hygienische Mischung von Kalk mit Wasser als Ersatz für Milch; denn Milch hielt er für ein barbarisches Getränk, da es mit einer grausamen Handlung an der Kuh verbunden sei. Grausamkeit wie alles, was ihr nahekam, empörte ihn immer. Aber wir haben uns nicht versammelt, um seinen Tugenden Beifall zu spenden, sondern um einer schwereren Aufgabe willen. Es ist nicht leicht, seine Eigenschaften in rechter Weise zu rühmen, aber noch viel schwieriger ist es, sie zu ersetzen. Euch, Genossen, fällt es heute abend zu, aus der anwesenden Gesellschaft den Mann zu wählen, der Donnerstag sein soll. Wenn ein Genosse einen Namen vorschlägt, werde ich über ihn abstimmen lassen. Wird kein Name vorgeschlagen, kann ich nur erklären, daß jener teuere Dynamitheld, der von uns gegangen ist, das letzte Geheimnis seiner Tugend und seiner Schuldlosigkeit in die unerkennbaren Abgründe mit sich genommen hat.«

Eine Bewegung fast unhörbaren Beifalls, wie man sie manchmal in der Kirche hört, folgte. Dann stand ein großer, alter Mann mit einem langen und ehrwürdigen weißen Bart, vielleicht der einzige wirkliche Arbeiter unter den Anwesenden, schwerfällig auf und sagte: »Ich beantrage, daß Genosse Gregory als Donnerstag gewählt wird.« Ebenso schwerfällig setzte er sich wieder.

»Unterstützt jemand den Antrag?« fragte der Vorsitzende.

Ein kleiner Mann im Samtrock und mit Spitzbart sekundierte.

»Bevor ich über den Antrag abstimmen lasse«, sagte der Vorsitzende, »möchte ich den Genossen Gregory ersuchen, eine Erklärung abzugeben.«

Gregory erhob sieh unter dröhnendem Beifall. Sein Gesicht war totenblaß, so daß sein seltsam rotes Haar im Gegensatz hierzu fast scharlachfarben aussah. Aber er lächelte und fühlte sich durchaus behaglich. Er hatte einen Entschluß gefaßt und sah seinen Weg ganz klar vor sich wie eine hell erleuehtete Straße. Das Beste, was er tun konnte, war, eine besänftigende und doppeldeutige Rede zu halten, die in dem Detektiv den Eindruck hervorrufen mußte, als sei die anarchistische Bruderschaft im Grunde genommen eine sehr harmlose Angelegenheit. Er glaubte an seine dichterischen Fähigkeiten, seine Gabe, Licht und Schatten geschickt zu verteilen und vollendete Worte zu finden. Er dachte, es müsse ihm bei der nötigen Sorgfalt glücken, trotz all der Leute um ihn herum, von der Institution ein Bild zu entwerfen, das geheimnisvoll und unmerklioh falsch war. Hatte nicht Syme einmal gemeint, daß die Anarchisten unter dem Mantel prahlerischer Drohungen nur alberne Narreteien trieben? Konnte er nicht jetzt, in der Stunde der Gefahr, Syme in diesem Glauben bestärken?

»Genossen«, hob Gregory mit gedämpfter, aber durchdringender Stimme an, »es erübrigt sich für mich, Ihnen den Inhalt meiner Politik auseinanderzusetzen, denn sie ist ja auch die Ihrige. Unser Glaube ist verunglimpft, er ist verzerrt, er ist bis zum äußersten entstellt werden, aber niemals hat er sich geändert. Diejenigen, die über den Anarchismus und seine Gefahren reden, beziehen ihre Informationen von überall und nirgend her, nur nicht von uns, nur nicht aus der Hauptquelle. Sie erfahren etwas über die Anarchisten; aus Groschenromanen, sie erfahren etwas über die Anarchisten aus Wochenend-Zeitungen und Sportblättern. Aber von Anarchisten selber erfahren sie nie etwas über Anarchisten. Wr haben keine Möglichkeit, all die Berge von Verleumdungen abzuwälzen, die auf unsere Köpfe gehäuft werden von einem Ende Europas zum andern. Derjenige, der gehört hat, daß wir die Pest verbreiten, hat niemals unsere Antwort gehört. Ich weiß, er wird sie heute nacht gleichfalls nicht hören, wenn ich auch vor Ingrimm das Dach abdeckte. Denn nur tief, tief unter der Erde ist es den Verfolgten erlaubt, sich zu treffen, so wie die Christen in den Katakomben zusammenkamen. Aber wenn durch irgendeinen unglaublichen Zufall heute nacht ein Mann unter uns weilte, der sein ganzes Leben lang uns derart mißverstanden hätte, würde ich die Frage an ihn richten: Als jene Christen sich in den Katakomben trafen, welches Ansehen unter den Menschen genossen sie auf den Straßen über sich? Welche Geschdichten wurden über ihre Abscheulichkeiten verbreitet von einem gebildeten Römer zum andern? Angenommen — würde ich zu ihm sagen —, wir sind nur eine Wiederholung jenes geheimnisvollen Widerspruchs der Geschichte, angenommen, wir erscheinen ebenso anstößig wie die Christen, weil wir in Wirklichkeit so harmlos sind wie sie, angenommen, wir erscheinen ebenso verrückt wie die Christen, weil wir in Wirklichkeit ebenso sanftmütig sind …«

Der Beifall, der die Eröfinungsworte begrüßt hatte, war allmählich abgeflaut und hatte beim letzten Wort plötzlich aufgehört. Mitten in dem unvermittelt eintretenden Stillschweigen sagte der Mann im Samtjadsett mit hoher, quiekender Stimme: »Ich bin nicht sanftmütig.«

Gregory griff den Einwurf sofort auf: »Genosse Witherspoon sagt, er sei nicht sanftmütig. Ach, wie wenig kennt er sich selbst. Seine Worte sind in der Tat ausschweifend, seine Erscheinung grimmig und. sogar — für den normalen Geschmack — wenig anziehend. Aber nur das Auge der Freundschaft, so eindringlich und zartfühlend wie das meinige, kann den verborgenen Grund einer wahrhaftigen Sanftmut erfassen, die in seinem Innersten schlummert, zu tief, als daß er sie selbst erkennen könnte. Ich wiederhole, wir sind in Wahrheit wie die ersten Christen, nur daß wir zu spät kommen. Wir sind so einfach wie sie — man sehe auf den Genossen Witherspoon. Wir sind so bescheiden wie sie — man sehe auf mich. Wir sind so gütig …«

»Nein, nein!« rief Mr. Witherspoon im Samtjackett dazwischen.

»Ich sage, wir sind so barmherzig wie die ersten Christen«, wiederholte Gregory gereizt. »Und doch klagte man sie an, Menschenfleisch zu essen. Wir essen kein Menschenfleisch …«

»Das ist eine Schande!« schrie Witherspoon. »Warum nicht?«

»Genosse Witherspoon«, sagte Gregory mit hektischer Fröhlichkeit, »Genosse Witherspoon möchte gern wissen, warum ihn niemand aufißt. (Gelächter.) In unserer Gemeinschaft jedenfalls, die ihn aufrichtig liebt, die auf Liebe gegründet ist…«

»Nein, nein«, unterbrach Witherspoon, »nieder mit der Liebe!«

»Die auf Liebe gegründet ist«, wiederholte Gregory, mit den Zähnen knirschend. »In unserer Gemeinschaft gibt es keine Schwierigkeit hinsichtlich der Ziele, die wir als Körperschaft verfolgen sollen oder die ich verfolgen würde, wählte man mich zum Vertreter dieser Körperschaft. Ohne uns im geringsten um die Verleumdungen zu kümmern, die uns als Meuchelmörder verschreien und als Feinde der menschlichen Gesellschaft, werden wir mit sittlichem Mut und geistigem Nachdruck und in aller Ruhe die unvergänglichen Ideale der Brüderlichkeit und Einfachheit verfolgen.«

Gregory nahm seinen Platz wieder ein und strich sich mit der Hand über die Stirn. Jähes, peinliches Schweigen war eingetreten, aber der Vorsitzende erhob sich wie ein Automat und sagte mit farbloser Stimme: »Erhebt jemand Einspruch gegen die Wahl des Genossen Gregory?«

Die Versammlung schien unsicher und, ohne es sich recht bewußt zu werden, enttäuscht geworden; Genosse Witherspoon rutschte nervös auf seinem Sitz umher und murmelte in seinen dichten Bart. Bei dem hier üblichen raschen Gang der Geschäftsordnung jedoch wäre die Wahl beschlossen und gültig geworden. Aber gerade als der Vorsitzende seinen Mund öffnen wollte, um sie zu bestätigen, sprang Syme auf und sagte sanft und ruhig: »Ja, Herr Vorsitzender, ich.«

Ein wirkungsvolles Mittel in der Kunst der Rede ist ein unerwafteter Wechsel im Stimmfall. Mr. Gabriel Syme verstand sich offenbar auf Redekunst. Er hatte die ersten förmlichen Worte in gemäßigtem Ton und kurzer Schlichtheit gesprochen, jetzt aber schmetterte er die nächsten Sätze hinaus, daß sie in dem Gewölbe dröhnten, als wäre eine von den Bomben an der Wand losgegangen.

»Genossen«, schrie er mit einer Stimme, die jeden emporschnellen ließ, »sind wir zu dem Zweck hierhergekommen? Leben wir unter der Erde wie Ratten, um uns solches Gerede anzuhören? Solches Gewäsch kann man sich meinetwegen bieten lassen, wenn man Kuchen ißt bei einem Sonntagsschul-Schmaus. Hat man diese Wände mit Waffen vollgestellt und diese Tür mit Tod verriegelt, damit nur ja kein Unberufener käme und hörte, wie Genosse Gregory uns zuruft: Seid gut und ihr werdet glücklich sein …, mit Rechtschaffenheit kommt man am weitesten …, Tugend belohnt sich selbst? Kein einziges Wort war in Genosse Gregorys Ansprache, dem nicht ein Pfarramtskandidat mit Vergnügen hätte zuhören können. (Bravo, bravo!) Aber ich bin kein Pfarramtskandidat (Lauter Beifalll), und ich habe ihr nicht mit Vergnügen zugehört. (Erneuter Beifall!) Der Mann, der einen guten Kaplan abgibt, eignet sich keineswegs zu einem entschlossenen, tatkräftigen und leistungsfähigen Donnerstag. (Hört, hört!) Genosse Gregory hat uns in einem viel zu übertriebenen Ton der Rechtfertigung gesagt, wir seien keine Feinde der Gesellschaft. Ihm gegenüber muß ich betonen, daß wir ausgesprochene Feinde der Gesellschaft sind, wie es keine ärgeren geben kann. Wir sind die Feinde der Gesellschaft, denn die Gesellschaft ist der Feind der Menschheit, sein ältester und sein schonungslosester Feind. (Bravo, bravol) Genosse Gregory hat Ihnen erzählt — wieder apologetisch natürlich —, daß wir keine Mörder seien. Dem stimme ich zu. Wir sind keine Mörder, wir sind Scharfrichter!« (Beifall!)

Seit Syme sich erhoben hatte, saß Gregory da, die Augen starr auf ihn gerichtet, mit einem leeren Ausdruck der Verblüffung. Jetzt, in der Pause, öffneten sich seine zusammengekniffenen Lippen, und er sagte gleicham automatisch und wie leblos: »Sie verdammter Heuchler!«

Syme richtete seine eignen himmelblauen Augen scharf auf die entsetzten des anderen und sagte würdevoll: »Genosse Gregory beschuldigt mich der Heuchelei. Er weiß so gut wie ich, daß ich meinen Verbindlichkeiten nachkomme und nichts anderes als meine Pflicht erfülle. Ich beschönige nichts. Ich gebe mich nicht für etwas aus. Ich sage nur, daß sich Genosse Gregory nicht zum Donnerstag eignet, trotz seiner liebenswerten Eigenschaften. Er eignet sich nicht zum Donnerstag gerade wegen seiner liebenswerten Eigenschaften. Wir wollen nicht, daß der Oberste Anarchistenrat von sentimentalem Mitleid angesteckt wird. (Bravo, bravo!) Es ist nicht Zeit zu feierlicher Höflichkeit, es ist auch nicht Zeit zu feierlicher Bescheidenheit. Ich wende mich gegen den Genossen Gregory, wie ich mich gegen alle Regierungen Europas wenden würde, weil der Anarchist, der sich der Anarchie ergeben hat, die Bescheidenheit ebenso vergessen hat wie den Stolz. (Beifall!) Im übrigen bin ich überhaupt kein Mensch, ich bin eine Sache. (Erneuter Beifall!) Ich wende mich gegen den Genossen Gregory ebenso unpersönlich und ebenso ruhig, wie ich die eine oder andere Pistole aus dem Gestell an der Wand wählen würde. Und ich sage: Gregory mit seiner Wassersuppen-Methode in den Obersten Rat entsenden?! Lieber lasse ich mich selber wählen …«

Dieser Ausspruch ging unter in einem betäubenden, wolkenbruchartigen Beifall. Die Gesichter, die immer leidenschaftlicher ihre Zustimmung ausgedrückt hatten, je unnachgiebiger sich Symes Worte gesteigert hatten, verzerrten sich jetzt teils in erwartungsvollem Grinsen, teils in verzücktem Geheul. In dem Augenblick, da er sich selbst für den Posten des Donnerstag zur Verfügung stellte, brach ein Gebrüll begeisterter Zustimmung los und wurde unwiderstehlich. Da sprang Gregory auf, Schaum vor dem Mund, und schrie den Sehreiern entgegen:

»Halt, ihr verfluchten Narren!« Er schrie so laut, daß fast seine Stimmbänder rissen: »Halt, ihr …«

Aber lauter noch als Gregorys Schrei und lauter als das Dröhnen im Zimmer erscholl die Stimme Symes, die das donnergleiche Getöse durchdrang: »Ich gehe nicht in den Rat, um die Verleumdung, die uns Mörder nennt, zurückzuweisen, ich gehe hin, um ihrer würdig zu sein. (Lauter und wiederholter Beifall.) Zu dem Priester, der da behauptet,"wir seien Feinde der Religion, zu dem Richter, der da behauptet, wir seien Feinde des Gesetzes, zu dem feisten Parlamentarier, der da behauptet, wir seien Feinde der Ordnung und aller guten Sitten, zu denen allen sage ich: Ihr seid falsche Könige, aber wahre Propheten. Ich aber bin gekommen, euch zu vernichten und eure Prophezeiungen wahrzumachen.«

Der gewaltige Lärm ebbte allmählich ab, aber bevor er völlig erstarb, schoß Witherspoon hoch, mit gesträubtem Haar und Bart, und sagte: »Ich stelle den weitergehenden Antrag, den Genossen Syme für den Posten zu berufen.«

»Schluß mit all dem«, rief Gregory mit zuckendem Gesicht und zitternden Händen.

»Schluß …! Es ist alles …«

Die Stimme des Vorsitzenden hieb in seine Rede mit kaltem Nachdruck: »Unterstützt jemand diesen weitergehenden Antrag?« Da sah man, wie auf der hintersten Bank ein großer, müder Mann mit melancholischen Augen und amerikanischem Kinnbart sich langsam aufrichtete. Gregory hatte bisher schrill geschrien: jetzt änderte sich sein Tonfall, und das war aufregender als jegliches Schreien. »Ich mache Schluß damit«, sagte er mit einer Stimme, wie Stein so schwer. »Dieser Mann da kann nicht gewählt werden. Er ist ein …«

»Nun«, fragte Syme in aller Ruhe, »was ist er?«

Gregorys Mund bewegte sich zweimal, ohne einen Ton von sich zu geben; dann begann das Blut wieder in sein totenblasses Gesicht zurückzufließen. »Er ist ein Mann, der ganz und gar unerfahren ist in unserer Sache«, sagte er und setzte sich unvermittelt.

Inzwischen war jedoch der hochgewachsene, hagere Mann mit dem amerikanischen Bart endgültig aufgestanden und sagte ruhig in seinem hohen eintönigen Amerikanisch: »Erlaube mir, die Wahl des Genossen Syme zu unterstützen.«

»Der weitergehende Antrag wird, wie üblich, zuerst behandelt«, sagte Mr. Buttons, der Vorsitzende, mit mechanischer Schnelligkeit. »Der Antrag lautet, daß Genosse Syme …«

Gregory schnellte in die Höhe, keuchend vor Erregung. »Genossen«, stieß er hervor, »ich bin nicht verrückt.«

»Oho!« sagte Mr. Witherspoon.

»Ich bin nicht verrückt«, wiederholte Gregory mit erschreckender Aufrichtigkeit, die einen Augenblick lang die Versammlung verblüffte. »Aber ich gebe euch einen Rat, den ihr meinetwegen verrückt nennen könnt. Nein, keinen Rat, denn ich kann euch keinen Grund dafür anführen, sondern einen Befehl. Nennt es einen verrückten Befehl, aber handelt danach! Wundert euch, aber hört mich! Tötet mich, aber gehorcht mir! Wählt diesen Mann da nicht!«

Wahrheit überwältigt immer, selbst wenn sie in Fesseln auftritt. Für einen Augenblick hing Symes schwacher Überrumpelungssieg an einem seidenen Faden. Der besonnene Blick seiner blauen Augen freilich verriet nichts. Er sagte nur: »Genosse Gregory befiehlt …«

Da aber war der Zauber gebrochen, und ein Anarchist wandte sich herausfordernd an Gregory: »Wer sind Sie denn? Sie sind nicht Sonntag!« Und ein anderer Anarchist fügte in noch gewichtigerem Ton hinzu: »Und Sie sind nicht Donnerstag.«

»Genossen«, rief Gregory mit der Stimme eines Märtyrers, der in der Verzüdsung der Qual bereits über alle Qual hinaus ist, »mir macht es nichts aus, ob Sie mich verachten als einen Tyrannen oder verachten als einen Sklaven. Wenn Sie meinen Befehl nicht annehmen wollen, nehmen Sie wenigstens meine Erniedrigung an. Ich knie vor Sie hin. Ich werfe mich zu Ihren Füßen nieder. Ich flehe Sie an. Wählen Sie nicht diesen Mann da.«

»Genosse Gregory«, sagte der Vorsitzende nach einer peinlichen Pause, »das ist wirklich nicht ganz würdig.«

Zum ersten Mal während dieser Vorgänge trat für einige Sekunden völlige Stille ein. Dann brach Gregory auf seinem Sitz zusammen, ein bleiches Menschenwrack, und der Vorsitzende wiederholte wie eine Uhr, die plötzlich zu schlagen anfängt: »Der Antrag lautet, daß Genosse Syme auf den Posten des Donnerstag im Großen Rat gewählt werden soll.«

Der Lärm wagte wie die See, die Hände reckten sich hoch wie ein Wald, und drei Minuten später war Mr. Gabriel Syme von der Geheimpolizei zum Donnerstag im Großen Rat der europäischen Anarchisten gewählt.

Jedermann im Zimmer war voll Unruhe; man wußte, daß der Schlepper auf dem Fluß wartete, daß der Stockdegen und der Revolver auf dem Tisch warteten. In dem Augenblick, da die Wahl unwiderruflich vollzogen war und Syme die Urkunde über seine Wahl erhalten hatte, sprangen alle auf, schoben und drängten sich, es bildeten sich bewegte Gruppen. Syme fand sich plötzlich, er wußte nicht wie, Auge in Auge Gregory gegenüber, der ihn stillschweigend und mit stumpfem Haß anstarrte. Ein paar Minuten dauerte das Schweigen.

Schließlich würgte Gregory hervor: »Sie sind ein Teufel!«

»Und Sie ein Gentleman«, gab Syme würdevoll zurück.

»Sie haben mich reingelegt«, fuhr Gregory fort, bebend vom Kopf bis zu den Füßen. »Sie haben mich in die Falle gelockt …«

»Reden Sie keinen Unsinn«, unterbrach ihn Syme. »In was für ein Teufelsparlament, wenn schon einmal davon die Rede sein soll, haben Sie mich gelockt? Sie ließen mich zuerst schwören. Vielleicht tun wir beide das, was wir für recht halten. Aber das, was wir für recht halten, ist so verdammt verschieden von einander, daß es keine Art von Entgegenkommen zwischen uns geben kann. Für uns sind nur noch zwei Möglichkeiten vorhanden: Ehre und Tod.« Dabei zog er den großen Mantel über die Schultern und nahm die Flasche vom Tisch.

»Das Boot ist zur Abfahrt bereit«, sagte Mr. Buttons geschäftig. »Gehen Sie bitte diesen Weg!«

Mit einer Geste, die den Aufseher in einem Kaufhaus verriet, führte er Syme einen kurzen, eisenbeschlagenen Gang entlang. Der immer noch verwirrte Gregory folgte ihnen in einer Art Fieberzustand auf den Fersen. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür, die Buttons mit einem Ruck öffnete. Man sah plötzlich das silberblaue Bild des mondbeglänzten Flusses vor sich wie eine Theaterkulisse. Unmittelbar vor dem Ausgang lag dunkel eine winzige Dampfbarkasse wie ein kleiner Drache mit einem roten Auge.

Als sie an Bord stiegen, wandte sich Gabriel Syme an den verdutzten Gregory. »Sie haben Ihr Wort gehalten«, meinte er freundlich, mit seinem Gesicht im Schatten. »Sie sind ein Mann von Ehre, und ich danke Ihnen. Sie haben Ihr Wort gehalten bis auf die kleinste Einzelheit, bis auf das, was Sie mir bei Beginn der Angelegenheit versprochen hatten; auch das haben Sie bis zum Schluß gehalten.«

»Was meinen Sie damit?« rief der völlig in Verwirrung geratene Gregory. »Was habe ich versprochen?«

»Einen sehr interessanten Abend«, sagte Syme und salutierte militärisch mit dem Stockdegen, als das Dampfboot davonglitt.

Die Geschichte eines Detektivs

Gabriel Syme war nicht bloß ein Detektiv, der vergab, ein Poet zu sein; er war tatsächlich ein Dichter, der ein Detektiv geworden war. Auch war sein Haß gegen den Anarchismus nicht vorgetäuscht. Er war einer von denen, die durch die Narretei der meisten Revolutionäre frühzeitig in eine konservative Haltung gedrängt werden. Er war konservativ nicht aus geistloser, sinnentleerter Tradition. Sein Konservativismus war ganz von selbst und plötzlich gekommen, gewissermaßen als eine Empörung gegen eine Empörung. Er stammte aus einer Familie von verschrobenen Käuzen, in der die ältesten Leute noch die kindlichsten Kindereien trieben. Einer seiner Onkel ging stets ohne Hut spazieren, und ein anderer hatte den erfolglosen Versuch gemacht, spazierenzugehen, mit einem Hut angetan und sonst nichts. Sein Vater beschäftigte sich mit Kunst und Selbstbeobachtung, seine Mutter befaßte sich mit einfacher, hygienischer Lebensführung. Als Kind, während seiner zarteren Jahre, hatte er weder Absinth noch Kakao kennengelernt, gegen welche Extreme er eine gesunde Abneigung beibehielt. Je dringlicher seine Mutter eine mehr als puritanische Enthaltsamkeit predigte, desto mehr entfaltete sein Vater eine mehr als heidnische Freiheit. Mit der Zeit hatte jene den Vegetarianismus durchgesetzt, und dieser war glücklich so weit gekommen, den Kannibalismus zu verteidigen.

Dermaßen von Kindheit an von jeder erdenklichen Art der Auflehnung umgeben, mußte er sich notwendigerweise gegen etwas auflehnen und lehnte sich tatsächlich gegen das einzige auf, was übriggeblieben war — gegen den gesunden Menschenverstand. Und da noch genug Blut seiner fanatischen Vorfahren in ihm floß, wurde sein Protest gegen den gesunden Menschenverstand ein bißchen zu ungestüm, um noch vernünftig zu sein. Sein Haß gegen die moderne Gesetzlosigkeit war zudem durch ein Erlebnis auf die Spitze getrieben werden. Es ereignete sich, als er in einer Seitenstraße dahinschlenderte, gerade im Augenblick eines Dynamitanschlags. Er war vorübergehend blind und taub gewesen und hatte dann, als sich der Rauch verzog, die zerbrochenen Fenster und blutigen Gesichter gesehen. Danach ging er umher wie sonst — ruhig, höflich, ziemlich zahm; aber in seinem Gemüt war etwas nicht in Ordnung. Er erblickte in den Anarchisten nicht, wie das die meisten von uns tun, eine Handvoll krankhafter Menschen, die Ignoranz mit Intellektualismus verbinden. Er erblickte in ihnen eine riesenhafte, unbarmherzige Gefahr, gleich jener »Gelben Gefahr«.

Er ließ beständig in die Zeitungen — und in ihre Papierkörbe — einen Sturzbach von Geschichten, Versen und heftigen Artikeln strömen, die die Menschheit warnten vor dieser Sintflut barbarischer Negation. Aber sein Feind und auch, was noch schlimmer war, ein auskömmlicher Lebensunterhalt schienen ihm immer mehr zu entschwinden. Wenn er am Themsekai dahinschritt, voll Bitterkeit an einer billigen Zigarre kauend, und über den Fortschritt der Anarchie nachgrübelte, gab es keinen Anarchisten mit einer Bombe in der Tasche, der so wild und verlassen war wie er. Wahrhaftig, er fühlte lebhaft, wie allein und verzweifelt die Regierung dastand, mit dem Rücken gegen die Wand. Er war zudem so verrannt wie Don Quichotte, daß er sie sich anders gar nicht hätte vorstellen können.

Einmal schlenderte er am Kai entlang, als die Sonne dunkelrot unterging. Im roten Fluß spiegelte sich der rote Himmel, und in beiden spiegelte sich sein Verdruß. Der Himmel war tatsächlich so dunkelfarbig, das Licht auf dem Fluß glomm so düster, daß das Wasser in fast geisterhafter Beleuchtung dahinströmte. Es sah buchstäblich aus wie ein Feuerstrom, der sich in den nächtlichen Höhlungen einer unterirdischen Landschaft dahinwand.

Syme war recht heruntergekommen in jener Zeit. Er trug einen altmodischen schwarzen Zylinderhut und war in einen noch altmodischeren schwarzen, abgerissenen Mantel gehüllt. Diese Zusammenstellung gab ihm das Aussehen eines der jugendlichen Bösewichter bei Dickens und Bulwer Lytton. Sein gelblicher Bart und sein Haupthaar waren weit verwilderter und löwenhafter als später in Saffron Park, wo sie gut geschnitten und gestutzt waren. Eine lange, armselige schwarze Zigarre, in Soho für zwei Pfennige gekauft, steckte zwischen seinen zusammengepreßten Zähnen, und so gab er ein echtes Musterbeispiel eines jener Anarchisten ab, denen er einen heiligen Krieg geschworen hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihn am Kai ein Schutzmann ansprach und »Guten Abend!« sagte.

Syme, in einem entscheidenden Augenblick seiner krankhaften Besorgnisse um die Menschheit, war gekränkt durch die aufdringliche Stumpfheit des automatenhaften Beamten, der im Zwielicht wie eine bloße Masse aus Blau aussah.

»Einen guten Abend bieten Sie mir?« belferte er los. »Ihr Burschen würdet noch den Untergang der Welt einen guten Abend nennen. Blicken Sie einmal auf diese blutigrote Sonne und diesen blutigen Fluß! Ich glaube wahrhaftig, Sie würden, wenn das hier tatsächlich mutwillig verspritztes Menschenblut wäre, immer noch gewichtig dastehen und würden Ausschau halten nach einem armen, harmlosen Landstreicher, um ihn festzunehmen. Ihr Schutzleute seid brutal gegen die Armen, aber ich könnte euch sogar vergeben, daß ihr brutal seid, wenn ihr es nicht um eurer Ruhe willen wäret.« Der Schutzmann antwortete: »Unsere Ruhe? Sie ist nur die Ruhe des organisierten Widerstandes.«

»He?« sagte Syme und machte große Augen.

»Der Soldat muß die Ruhe bewahren im größten Kampfgetümmel«, fuhr der Schutzmann fort. »Die ruhige Haltung einer Armee reizt ein Volk immer.«

»Guter Gott, die öffentlichen Elementarschulen!« sagte Syme. »Das stammt sicher von dieser paritätischen Erziehung!«

»Nein«, widersprach der Schutzmann betrübt, »leider habe ich niemals ihre Vorzüge genossen. Die öffentlichen Elementarschulen kamen erst nach meiner Zeit auf. Meine Erziehung war sehr rauh und altmodisch, befürchte ich.«

»Wo wurde sie Ihnen zuteil?« fragte Syme verwundert.

»Oh, in Harrow«, versetzte der Schutzmann.

Die Sympathien unter Kameraden der gleichen Schule, die, mögen sie noch so falsch sein, doch für manche Menschen das einzig Wahre sind, kamen in Syme zum Durchbruch, noch ehe er sie kontrollieren konnte. »Aber, allmächtiger Gott«, sagte er, »Mann, Sie sollten dann doch aber kein Schutzmann sein.«

Der Angeredete seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß«, bekannte er feierlich, »ich weiß, ich bin es nicht wert.«

»Aber warum gingen Sie denn dann zur Polizei?« fragte Syme voll ungestümer Neugier.

»Ziemlich aus demselben Grund, weshalb Sie auf die Polizei schimpfen. Ich fand, daß der Dienst einen besonderen Ausweg bot für die, deren Besorgnisse um die Menschheit sich mehr mit den Verirrungen des wissenschaftlichen Intellekts befassen als mit den normalen und entschuldbaren, wenn auch außergewöhnlichen Ausbrüchen des menschlichen Willens. Ich hoffe, ich habe mich verständlich gemacht.«

»Wenn Sie darunter Ihre vorgetragene Ansicht verstehen«, sagte Syme, »dann stimmt es. Aber Ihre eigene Situation ist mit noch nicht klar. We kommt ein Mann wie Sie dazu, in einem blauen Helm am Themseufer über Philosophie zu palavern?«

»Sie haben offenbar noch nichts von der letzten Entwicklung im Aufbau unserer Polizei gehört«, entgegnete der andere. »Ich bin nicht überrascht davon. Wir halten nicht viel von den Gebildeten, weil diese Klasse unsere meisten Feinde stellt. Aber Sie scheinen sich so ziemlich in der rechten Geistesverfassung zu befinden. Wie wär’s? Wollen Sie sich nicht uns anschließen?«

»Worin anschließen?« fragte Syme.

»Passen Sie auf! Die Sache ist die: Der Chef einer unserer Abteilungen, einer der berühmtesten Kriminalisten in Europa, ist seit langem der Meinung, daß eine rein intellektuelle Verschwörung bald den Bestand der Kultur selber bedrohen wird. Er ist überzeugt, daß Wissenschaft und Kunst sich stillschweigend zu einem Kreuzzug gegen Familie und Staat verbunden haben. Er hat deshalb eine Sonderabteilung von Polizisten zusammengestellt, von Polizisten, die zugleich Philosophen sind. Ihre Aufgabe ist, den Beginn dieser Verschwörung zu beobachten, nicht nur im kriminellen, sondern auch im polemischen Sinn. Ich selbst bin Demokrat, ich kenne den Wert des einfachen Mannes, seine unverbildete Tapferkeit und Tüchtigkeit. Jedoch würde es nicht zu empfehlen sein, einen gewöhnlichen Polizisten bei einer Fahndung zu verwenden, die einer Ketzerverfolgung gleicht.«

Symes Augen wurden lebhaft vor Neugier: »Worin besteht denn dann eigentlich Ihre Tätigkeit?«

»Die Arbeit des philosophischen Polizisten ist verwegener und subtiler zugleich als die des gewöhnlichen Detektivs. Dieser geht in die Kneipen, um Diebe festzunehmen; wir gehen in künstlerische Teegesellschaften, um Pessimisten herauszufinden. Der normale Kriminalbeamte entdeckt in einem Hauptbuch oder Tagebuch, daß ein Verbrechen begangen worden ist. Wir entdecken aus einer Sammlung von Sonetten, daß ein Verbrechen begangen werden wird. Wir müssen die Ursprünge jener gefährlichen Gedanken aufspüren, die schließlich die Menschen zu intellektuellem Fanatismus und intellektuellem Verbrechen treiben. Wir sind beispielsweise gerade noch zurecht gekommen, um den Meuchelmord in Hartlepool zu verhindern, und das war allein der Tatsache zu verdanken, daß unser Mr. Wilks — ein strammer, junger Bursche — Triolette zu dichten versteht.«

»Glauben Sie denn wirklich«, fragte Syme, »daß ein so enger Zusammenhang besteht zwischen Verbrechen und modernem Intellekt, wie Sie voraussetzen?«

»Sie sind nicht demokratisch genug«, antwortete der Polizist, »Sie hätten recht, wenn Sie sagten, daß unsere gewöhnliche Behandlung eines armen Teufels von Verbrecher ein ziemlich brutales Geschäft war. Ich sage Ihnen, ich leide manchmal schwer unter meinem Beruf, wenn ich mit ansehen muß, daß er eigentlich nichts anderes bedeutet als einen beständigen Krieg gegen Unwissenheit und Verzweiflung. Aber diese neue Bewegung bei uns ist eine ganz andere Sache. Wir lehnen die philisterhafte englische Anmaßung ab, die Ungebildeten seien die gefährlichen Verbrecher. Wir erinnern an die römischen Kaiser. Wir erinnern an die großen Giftmischerfürsten der Renaissance. Wir behaupten, daß der gefährliche Verbrecher unter den Gebildeten zu suchen ist. Wir behaupten, daß der gefährlichste Verbrecher heutzutage der sich völlig außerhalb der Gesetze stellende moderne Philosoph ist. Im Vergleich mit ihm sind Einbrecher und Bigamisten im Grunde moralische Menschen. Sie haben sich ein Ideal von Menschen gebildet, wenn auch ein falsches: Der Dieb respektiert das Eigentum, er möchte nur alles Eigentum zu seinem Eigentum machen, um es dann nur noch mehr zu respektieren. Der Philosoph hingegen lehnt das Eigentum an sich ab, er möchte den Gedanken eines persönlichen Besitzes überhaupt aus der Welt schaffen. Der Bigamist respektiert die Ehe, sonst würde er sich nicht der höchst feierlichen, ja sogar kirchlichen Formalität der Ehe unterziehen. Der Philosoph dagegen verachtet die Ehe an sich. Der Mörder respektiert das menschliche Leben, er erstrebt nur eine größere Fülle menschlichen Lebens in sich selbst, indem er das, was ihm weniger lebenswert erscheint, opfert. Diese Philosophen hingegen hassen das Leben als solches, ihr eigenes sowohl als das der andern.«

Syme schlug die Hände zusammen. »Wie wahr das alles ist!« rief er. »Ich habe das seit meiner Kindheit gefühlt, konnte aber niemals den Widerspruch erklären. Der gewöhnliche Verbrecher ist ein schlechter Mensch, doch ist er wenigstens sozusagen ein bedingt guter Mensch. Er sagt, er sei, sobald nur irgendein bestimmtes Hindernis beseitigt sei — beispielsweise ein reicher Erbonkel — bereit, das Weltall zu bejahen und Gott zu preisen. Er ist ein Reformer, aber kein Anarchist. Er will das Haus säubern, aber nicht zerstören. Allein der gemeingefährliche Philosoph begnügt sich nicht damit, die Dinge zu ändern, er will sie vernichten. Ja, die moderne Welt hat alle jene Sorten polizeilicher Tätigkeit beibehalten, die Wirklich hart und schändlich sind, wie das Quälen der Armen, das Bespitzeln der Unglücklichen. Sie hat ihre würdigere Leistung, die Bestrafung mächtiger Hochverräter und mächtiger Kirchenfrevler, ganz vergessen. Die Modernen sagen, wir dürfen Ketzer nicht bestrafen. Mein einziger Zweifel ist, ob wir das Recht haben, überhaupt jemanden zu bestrafen.«

»Das ist ja absurd!« schrie der Polizist und rang seine Hände in einer Aufregung, die für Leute seines Schlages und seiner Uniform ungewöhnlich war, »das ist ja nicht zum Aushalten! Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber jedenfalls verplempern Sie Ihr Leben. Sie müßten, Sie sollten in unsere Spezialtruppe gegen die Anarchisten eintreten. Ihre Armeen stehen an unsern Grenzen. Wie ein drohender Donnerschlag lauert es über uns. Versäumen Sie noch einen Augenblick, so entgeht Ihnen der Ruhm, in unsern Reihen zu stehen und vielleicht zu fallen mit den letzten Helden der Welt.«

»Das ist eine Gelegenheit, die man nicht versäumen darf, sicherlich«, pflichtete Syme bei, »nur verstehe ich die Sache noch nicht ganz. Ich weiß so gut wie einer, daß die moderne Welt voll gesetzloser kleiner Menschen und verrückter kleiner Bewegungen ist. Aber so brutal sie auch sein mögen, ein Gutes ist an ihnen: sie kommen nicht unter einen Hut. Wie können Sie von ihnen sagen, daß sie eine Armee bilden und Katastrophen verursachen könnten. Was ist denn dran an dem ganzen Anarchismus?«

»Verwechseln Sie ihn nicht mit den gelegentlichen Dynamitattentaten in Rußland oder Irland, die wirklich nur Vergehen unterdrückter, irregeleiteter Menschen sind. Hier handelt es sich um etwas völlig anderes, um eine weitverzweigte philosophische Bewegung, die aus einem äußeren und einem inneren Ring besteht. Man könnte den äußeren die Laienschaft, den inneren die Priesterschaft nennen. Ich möchte lieber jenen als die unschuldige Abteilung und diesen als die höchstschuldige bezeichnen. Der äußere Ring, die Hauptmasse ihrer Anhänger, enthält bloße Anarchisten, das heißt: Leute, die da glauben, daß Regeln und Formeln am Unglück der Menschen schuld seien. Sie sind der Meinung, daß die üblen Erscheinungen des menschlichen Verbrechens das Ergebnis jenes Systems sind, das sie erst Verbrechen nennt. Sie vertreten nicht die Ansicht, daß das Verbrechen die Strafe nach sich zieht, sie glauben vielmehr, daß umgekehrt die Bestrafung das Verbrechen erzeugt. Sie vertreten die Ansicht, daß ein Mann, der sieben Frauen verführt hat, so schuldlos auftreten dürfe wie die Blumen im Frühling, und ein Mann, der sich einen Griff in fremde Taschen erlaubt, sich ausnehmend gut vorkommen dürfe. Deshalb nenne ich sie die unschuldige Abteilung.«

»Aha«, machte Syme.

»Ja, darum sprechen diese Leute von der ›kommenden glücklichen Zeit‹, vom ›Paradies der Zukunft‹, von der Menschheit, die dereinst frei sein wird von der Knechtschaft des Lasters und der Knechtschaft der Tugend und so weiter. Und ähnlich sprechen die Menschen des inneren Kreises, die heilige Priesterschaft. Auch sie sprechen zur beifallklatschenden Menge vom Glück der Zukunft und von der endlich befreiten Menschheit. Aber in ihrem Munde« — der Polizist senkte seine Stimme — »in ihrem Munde nehmen diese Redensarten von Glück die Form einer schrecklichen Drohung an. Sie unterliegen keinen Illusionen, sie sind zu intelligent, um nicht zu wissen, daß kein Mensch auf dieser Erde jemals ganz frei von Kampf und Sünde sein kann. Sie denken bei ihren Worten — an den Tod. Wenn sie sagen, daß die Menschheit am Ende frei sein werde, meinen sie nichts anderes, als daß sie Selbstmord begehen soll. Wenn sie von einem Paradies ohne Recht und Unrecht faseln, verstehen sie darunter das Grab. Sie kennen nur zwei Ziele: zuerst die Menschheit und dann sich selbst zu vernichten. Deshalb werfen sie auch Bomben und begnügen sich nicht damit, mit Pistolen zu schießen … Die unschuldige Gruppe ist enttäuscht, weil die Bombe nicht den König getötet hat, die hohe Priesterschaft aber freut sich, weil sie überhaupt irgendeinen getötet hat.«

»Wie kann ich mich Ihnen anschließen?« fragte Syme kurzerhand, denn er war bereits Feuer und Flamme.

»Es trifft sich gut, weil augenblicklich eine Stelle frei ist«, erwiderte der Polizist. »Ich weiß es zufällig, weil ich das Vertrauen des Chefs genieße, von dem ich gesprochen habe. Sie sollten eigentlich gleich hingehen und einmal nach ihm sehen. Das heißt, sehen ist falsch ausgedrückt, keiner hat ihn je gesehen. Aber sie könnten mit ihm sprechen, wenn Sie wollen.«

»Telephonisch?« fragte Syme voll Interesse.

»Nein«, sagte der Polizist gelassen, »er hat die Sonderbarkeit, sich fortwährend in einem pechrabenschwarzen Raum aufzuhalten. Er behauptet, das erhelle seine Gedanken. Kommen Sie mit!«

Etwas verwirrt und ziemlich aufgeregt, ließ sich Syme zu einer Seitentür in der langen Häuserreihe von Scotland Yard führen. Bevor er sich recht bewußt wurde, was geschah, war er durch die Hände von ungefähr vier Verbindungsbeamten gegangen und sah sich im Nu in einem Raum, dessen unvermittelte Schwärze ihn wie ein Blitzstrahl blendete. Es war nicht die gewöhnliche Dunkelheit, in der man noch Formen schwach unterscheiden kann, es war, als sei man plötzlich stockblind geworden.

»Sind Sie der neue Anwärter?« fragte eine schwere Stimme.

Und seltsamerweise, obwohl kein Schatten einer Gestalt in der Finsternis wahrzunehmen war, wußte Syme zwei Dinge: erstens, daß es die Stimme eines Mannes von wuchtiger Gestalt war, und zweitens, daß ihm der Mann den Rücken zukehrte.

»Sind Sie der neue Anwärter?« wiederholte der unsichtbare Chef, der anscheinend alles hörte, was um ihn vorging. »Gut. Sie sind eingestellt.«

Syme, dem der Boden unter den Füßen schwankte, machte einen schwachen Versuch, gegen diese keinen Widerspruch zulassende Redeweise anzukämpfen. »Ich habe nicht die geringste Erfahrung«, begann er.

»Keiner hat eine Erfahrung«, versetzte der andere, »von der Schlacht bei Harmageddon.«

»Aber ich bin tatsächlich ungeeignet …«

»Sie sind guten Willens, das genügt.«

»Meinen Sie wirklich? Ich kenne keinen Beruf, für den Bereitwilligkeit als Befähigungsnachweis genügt.«

»Ich schon: Märtyrer. Ich verurteile Sie zum Tode. Guten Tag.«

Also trat Gabriel in seinem schäbigen schwarzen Hut und seinem schäbigen Mantel in das karmesinrote Licht des Abends hinaus als ein Mitglied der neuen Kriminalabteilung zur Abwehr der großen Weltverschwörung. Auf den Rat seines neuen Freundes, des Polizisten, der von Berufs wegen zur Ordentlichkeit neigte, ließ er sich sein Haar und seinen Bart schneiden, kaufte einen guten Hut, kleidete sich in einen vorzüglichen Sommeranzug von hellem Blaugrau mit einer blaßgelben Blume im Knopfloch und wurde im Handumdrehen zu jenem eleganten und ziemlich unausstehlichen Stutzer, dem Gregory im kleinen Garten zu Saffron Park begegnet war. Bevor er endgültig das Polizeigebäude verließ, versah ihn sein Freund mit einer kleinen blauen Karte, auf der zu lesen stand: »Der letzte Kreuzzug«, daneben eine Nummer, als Zeichen seiner Amtsgewalt. Er steckte die Karte sorgfältig in seine obere Westentasche, zündete sich eine Zigarette an und zog aus, seinen Feind aufzuspüren und in allen Salons von London zu bekämpfen. Wohin ihn der Wind zuletzt geweht hatte, haben wir schon gesehen. Ungefähr um halb zwei Uhr in einer Februarnacht befand er sich, bewaffnet mit Stockdegen und Revolver, als rechtmäßig gewählter Donnerstag des anarchistischen Zentralrates auf einem kleinen Schlepper, der die stille Themse hinaufdampfte.

Als Syme in das Dampfboot stieg, hatte er das eigentümliche Gefühl, in ein ausgesprochen Neues einzutreten; nicht nur in eine neue Landschaft, sondern sogar in die Landschaft eines neuen Planeten. Dies lag einmal an dem wenn auch verrückten, so doch gewichtigen Entschluß des Abends, andererseits an der völligen Veränderung des Wetters und des Himmels, die sich seit seinem Eintritt in die kleine Kneipe vor zwei Stunden vollzogen hatte. Jede Spur des aufgewühlten Wolkengefieders jenes Sonnenuntergangs war dahingeschwunden, und ein nackter Mond stand an einem nackten Himmel. Der Mond war so hell und voll, daß er — um ein schon oft gewähltes Paradoxon zu gebrauchen — einer schwächeren Sonne glich. Er rief nicht den Eindruck eines hellen Mondscheins hervor, sondern den eines toten Tageslichtes.

Über der ganzen Landschaft lag eine ebenso klare wie unnatürliche Färbung, gleich jenem unheilvollen Zwielicht, das sich, wie Milton einmal gesagt hat, bei einer Sonnenfinsternis über die Welt ergießt. Kein Wunder, daß Syme glaubte, er befinde sich tatsächlich auf einem andern, verlasseneren Planeten, der sich um einen düsteren Stern drehe. Je mehr er diese funkelnde Trostlosigkeit der Mondlandschaft empfand, desto heller loderten die Flammen in der Nacht seiner ritterlichen Narrheit auf. Selbst die alltäglichsten Dinge, die er mit sich führte, wie der Proviant, der Branntwein und die geladene Pistole, nahmen jene greifbare, stoffliche Poesie an, die ein Kind erfüllt, wenn es eine Flinte auf einer Reise mit sich führt oder sein Kaninchen mit ins Bett nimmt. Der Stockdegen und die Branntweinflasche, eigentlich nur die Werkzeuge krankhafter Verschwörer, wurden zum Ausdruck seiner eigenen, gesünderen Romantik. Der Stockdegen dünkte ihm das Schwert der Ritterlichkeit und der Branntwein der Trank des Abschiedes. Denn selbst die modernen Phantasien gehen von irgendeinem einfacheren Mittelpunkt aus; die Abenteuer können verrückt sein, nur der Abenteurer darf es nicht sein. Der Drachen ohne St. Georg — er wäre nicht grotesk. So wurde auch diese unwirkliche Landschaft erst phantastisch durch die Gegenwart eines wirklichen Lebewesens. Symes aufgestörtem Gemüt erschienen die hellen frostigen Häuser und Terrassen an der Themse ebenso leer wie die Berge, die im Monde liegen. Aber selbst der Mond wird poetisch durch den Mann im Mond.

Der Schlepper wurde von zwei Männern bedient und kam trotz all ihrer Mühe nur verhältnismäßig langsam vorwärts. Der klare Mond, der noch über Chiswick geleuchtet hatte, war, bis sie Battersea erreicht hatten, verblaßt, und als sie sich den ungeheuren Bauten von Westminster näherten, war der Tag schon angebrochen. Sein Anbruch glich dem Zersplittern großer Bleibarren, die innen Silberbarren bergen, und die wiederum von weißem Feuer sprühen. Gerade in diesem Augenblickänderte der Schlepper seinen bisherigen Kurs und drehte zu einer breiten Landungsbrücke bei.

Die großen Steine am Kai erschienen Syme, als sein Blick auf sie fiel, dunkel und riesenhaft. Sie hoben sich schwarz und mächtig gegen die weiße Dämmerung ab, und es dünkte Syme, er lande an den kolossalen Stufen eines ägyptischen Palastes. Diese Vorstellung paßte durchaus zu seiner augenblicklichen Stimmung, in der es ihm vorkam, als habe er die unerschütterlichen Throne schrecklicher Heidenkönige zu erstürmen. Er sprang aus dem Boot auf eine glitschige Stufe und stand nun da, eine dunkle und schlanke Gestalt, inmitten des gewaltigen Mauerwerkes. Die zwei Männer im Schlepper stießen wieder ab und wendeten sich stromwärts. Sie hatten keine Silbe gesprochen.

Das Festmahl der Furcht

Zuerst hielt Syme die Steintreppe für so verlassen wie eine Pyramide. Aber kaum war er oben angelangt, als er einen Mann bemerkte, der sich über das Geländer des Kais beugte und zum Fluß hinunterschaute. Er war ganz konventionell in einen Gehrock von modischem Schnitt gekleidet, trug einen Seidenhut und hatte eine rote Blume im Knopfloch. Als Syme sich ihm Schritt für Schritt näherte, blieb die Gestalt unbeweglich stehen, und Syme konnte dicht genug herankommen, um selbst bei dem trüben Morgenlicht zu erkennen, daß das Gesicht des Fremden lang, bleich und intelligent war und in einen kleinen dunklen Zwickelbart auslief, der nur die Spitze des sonst glatt rasierten Kinnes bedeckte. Dieses bißchen Haar fiel kaum ins Auge bei diesem Antlitz, das klargeschnitten, asketisch und auf seine Weise edel war. Syme trat heran und nahm all das wahr; die Gestalt aber rührte sich nicht.

Zuerst hatte Syme instinktiv geglaubt, das sei der Mann, den er treffen wollte. Dann, als dieser nicht das geringste Zeichen gab, hatte er angenommen, daß er es nicht sei. Schließlich aber war er doch überzeugt, daß der Unbekannte etwas mit seinem verrückten Abenteuer zu tun habe. Denn er verhielt sich so still, wie es sonst niemand tut, wenn ein Fremder auf einen zukommt. Er war so bewegungslos wie eine Wachsfigur, so sehr, daß es einem auf die Nerven fiel. Syme sah immer wieder in das bleiche, würdevolle und anziehende Gesicht, das unentwegt auf den Fluß starrte; dann nahm er aus seiner Tasche den Zettel von Buttons, der seine Wahl bestätigte, und hielt ihn vor das schwermütige, fein geschnittene Gesicht. Als Antwort lächelte der Mann; sein Lächeln aber wirkte befremdend, denn es zeigte sich immer nur auf einer Seite, indem es einmal auf der rechten Wange und dann auf der linken aufzuckte.

Im Grunde war an dieser Absonderlichkeit nichts, das Schrecken einjagen konnte. Viele Leute haben diese nervöse Eigenheit eines schiefen Lächelns, und bei manchen wirkt es sogar anziehend. Aber unter all den Umständen, in denen sich Syme befand, bei dem von Feinden umlauerten Unternehmen, in der düsteren Dämmerung, in der Verlassenheit auf den großen, von Feuchtigkeit triefenden Steinen, konnte er eine gewisse Überreiztheitder Nerven nicht loswerden. Da waren der schweigsameFluß und der schweigsame Mann mit dem klassischen Gesicht, und da war die kurz vorher erlebte Erregung, ein wahrer Alptraum — kein Wunder, daß er glaubte, es ginge bei dem verkrampften Lächeln des Mannes nicht mit rechten Dingen zu.

Nur vorübergehend war dieser Krampf. Des Mannes Gesicht nahm sofort wieder seine ausgeglichene Schwermut an.

Er sprach ohne weitere Erklärung und ohne Fragenzu stellen, wie man zu einem alten Bekannten spricht; »Wenn wir auf Leicester Square zugehen, werden wir gerade zum Frühstück zurechtkommen. Sonntag besteht immer auf baldiges Frühstück. Haben Sie geschlafen?«

»Nein«, sagte Syme.

»Ich auch nicht«, entgegnete der Mann in alltäglichem Ton. »Ich werde nach dem Frühstück ins Bett zu gehen versuchen.«

Er sprach durchaus höflich und gebildet, aber mit äußerst tonloser Stimme, die dem Fanatismus seines Gesichts widersprach. Es schien fast, als ob alle freundlichen Worte nur leblose Förmlichkeiten waren; lebendig war nur sein Haß. Nach einer Pause sprach er wieder: »Selbstverständlich hat Ihnen der Sekretär der Untergruppe alles gesagt, was zu sagen war. Aber was nicht gesagt werden konnte, das ist die letzte Meinung des Präsidenten, denn seine Meinungen wuchern wie ein tropischer Urwald. Er hat zum Beispiel die Absicht, unsere Zusammenkünfte zu verheimlichen. Und wie führt er sie aus, falls Sie es nicht wissen sollten? Indem er sie in außerordentlichstem Maße nicht verheimlicht. Ursprünglich trafen wir uns, in einem unterirdischen Gewölbe, genauso wie es Ihre Untergruppe tut. Dann ließ uns Sonntag im Hinterzimmer eines gewöhnlichen Restaurants zusammenkommen. Er behauptete, daß uns niemand davonjage, wenn wir den Anschein vermieden, uns verstecken zu wollen. Schön, er ist einzigartig auf dieser Welt, ich weiß es, aber manchmal überfällt mich wirklich der Gedanke, daß sein ungewöhnlicher Verstand in seinen alten Tagen etwas leidet. Denn nunmehr brüsten wir uns vor aller Öffentlichkeit. Wir nehmen unser Frühstück auf einem Balkon ein — bedenken Sie: auf einem Balkon, von dem man auf Leicester Square hinabschauen kann.«

»Und was sagen die Leute dazu?« fragte Syme.

»Höchst einfach, was sie sagen«, antwortete sein Führer. »Sie sagen, wir seien eine Gesellschaft famoser Gentlemen, die sich als Anarchisten ausgeben.«

»Das scheint mir ein sehr gescheiter Einfall zu sein.«

»Gescheit? Der Teufel hole Ihre Dreistigkeit! Gescheit!« schrie der andere plötzlich mit schriller Stimme, die in ihrer Unvermitteltheit ebenso erschreckte wie sein schiefes Lächeln. »Wenn Sie Sonntag nur eine halbe Sekunde gesehen haben, werden Sie sich hüten, ihn gescheit zu nennen.«

Mittlerweile waren sie aus einer engen Straße herausgekommen und sahen, wie das frühe Sonnenlicht Leicester Square erfüllte. Vermutlich wird man nie erfahren, warum dieser Platz so fremdartig, in gewisser Hinsicht so kontinental aussieht. Man wird nie erfahren, ob es das ausländische Aussehen war, das die Fremden anzog, oder ob es die Fremden waren, die ihm das ausländische Aussehen verliehen. Jedenfalls war an diesem denkwürdigen, klaren Morgen die Wirkung besonders eindringlich. Auf dem offenen Leicester Square mit den von der Sonne beleuchteten Blättern, dem Standbild und den sarazenischen Umrissen der Alhambra glaubte man sich auf irgendeinen öffentlichen Platz in Frankreich oder Spanien versetzt. Und dieser Eindruck steigerte in Syme das Gefühl, das er immer wieder während des ganzen Abenteuers hatte, das unheimliche Gefühl, sich in eine andere Welt verlaufen zu haben. Es war unleugbar, daß er von jeher, schon als Junge, sich am Leicester Square schlechte Zigarren gekauft hatte. Aber als er sich der betreffenden Ecke zuwandte und die Bäume und die maurischen Kuppeln erblickte, hätte er schwören können, daß er sich an einem unbekannten Platz in einer fremden Stadt befinde.

An einer Ecke des Leicester Square sprang im spitzen Winkel ein gutgehendes, aber ruhiges Hotel hervor, dessen größerer Teil zu einer rückwärtigen Straße gehörte. In der Wand des ersten Stockwerks befand sich ein großes, bis auf den Boden reichendes französisches Fenster, offenbar das Fenster eines Cafés. Und vor diesem Fenster schwebte gewissermaßen über dem Platz ein von unschönen Strebepfeilern gestützter Balkon, groß genug, einen Speisetisch aufzunehmen. Er enthielt auch tatsächlich einen Tisch, genauer einen Frühstückstisch. Rund um diesen saß, von der Sonne beschienen und jedermann auf der Straße sichtbar, eine Gruppe geräuschvoll redseliger Herren, alle betont modisch gekleidet, mit weißen Westen und kostspielig geschmückten Knopflöchern. Einen ihrer Scherze konnte man fast über den Platz hinweg hören. Der würdevolle Sekretär beantwortete ihn mit seinem unnatürlichen Lächeln. Nun wußte Syme, daß diese lärmende Frühstücksgesellschaft das geheime Konklave der europäischen Dynamitverbrecher war.

Dann sah Syme, der ununterbrochen auf sie starrte, etwas, was ihm bisher entgangen war. Er hatte es nicht gesehen, weil es zu umfangreich war, um aufzufallen. Am äußersten Ende des Balkons wurde ein großer Teil der Aussicht durch den Rücken eines gewaltigen menschlichen Körpers behindert. Als Syme ihn wahrnahm, war sein erster Gedanke, daß der steinerne Balkon unter dem Gewicht dieses Menschen zusammenbrechen müsse. Seine Ungewöhnlichkeit wurde nicht nur durch seine abnorme Größe und ganz unglaubliche Feistigkeit bestimmt — alle seine Proportionen waren unerhört wie bei einem Standbild, das von vornherein auf kolossale Maße angelegt ist. Sein Haupt, mit weißem Haar gekrönt, sah, wenn man es von hinten erblickte, größer aus als sonst ein menschlicher Kopf. Schon die abstehenden Ohren zeigten einen überlebensgroßen Umfang. Und dieses Gefühl maßloser, erschreckender Ungeheuerlichkeit war so bedeutend, daß für Syme alle andern Gestalten plötzlich zusammenschrumpften zu winzigen Zwergen. Sie saßen alle noch da wie vorher mit ihren Blumen und Gehröcken, aber jetzt kam es Syme vor, als unterhalte sich der Riese mit fünf Kindern beim Tee.

Als Syme mit seinem Führer sich der Seitentür des Hotels näherte, kam ein Kellner heraus und lächelte über das ganze Gesicht. »Die Herren sind da oben. Sie tun sich unterhalten und lachen dabei, mein Herr. Sie sagen, sie wollen Bomben schmeißen auf den König.«

Und der Kellner eilte wieder davon mit seiner Serviette überm Arm, anscheinend höchlich erbaut über die ausnehmende Frivolität der Herren auf dem Balkon.

Die zwei stiegen stumm die Treppe hinauf. Syme hatte gar nicht daran gedacht zu fragen, ob der monströse Mann, unter dem der fast von ihm allein ausgefüllte Balkon zusammenzustürzen drohte, der große Präsident sei, vor dem sich die andern in Ehrfurcht neigten. Er wußte es mit einer unerklärbaren, aber plötzlichen Gewißheit. Denn er war einer jener Menschen, die unausgesprochenen psychologischen Einflüssen in einem Grade zugänglich sind, daß ihre geistige Gesundheit gefährdet scheint. Bar jeder Furcht in körperlichén Gefahren, hatte er eine viel zu feine Witterung für übersinnliches Unheil. Zweimal schon hatten in dieser Nacht ihn ein paar nichtssagende Dinge mit einem unheimlichen Kitzel berührt und das Gefühl in ihm geweckt, daß er sich immer mehr dem Hauptquartier der Hölle nähere. Und dieses Gefühl überwältigte ihn geradezu, als er in die Nähe des Präsidenten kam.

Es verband sich mit einer Erinnerung aus der Kindheit und war zugleich voller Haß. Als er durch das Innenzimmer auf den Balkon zuschritt, wurde das mächtige Gesicht Sonntags größer und größer. Da packte ihn die Furcht, das Gesicht könnte, wenn er ihm ganz nahe sei, sich so ins Unfaßliche ausdehnen, daß er laut aufschreien würde. Er dachte daran, daß er als Kind nicht die Maske des Memnon im Britischen Museum ansehen wollte, weil sie ein Gesicht, ein so ungeheuer großes Gesicht war.

Mit einer Anstrengung, die heroischer war als der Sprung über eine Klippe, ging er auf einen leeren Sitz an der Frühstückstafel zu und setzte sich. Die Herren grüßten ihn mit freundlichen Scherzen wie einen altvertrauten Kameraden. Er beruhigte sich ein wenig, als er ihre konventionelle Kleidung und die gewichtige, glänzende Kaffeekanne sah. Dann blickte er wieder auf Sonntag; ohne Frage war sein Gesicht ungeheuerlich, aber immerhin noch im Bereich des Menschenmöglichen.

Im Gegensatz zum Präsidenten sah die übrige Gesellschaft ziemlich alltäglich aus. Nichts an ihr fesselte, höchstens das eine, daß sie sich nach einer Laune des Präsidenten ein festliches Ansehen gegeben hatte, das dem Mahl den Charakter eines Hochzeitsfrühstücks verlieh. Nur ein Mann ragte schon bei oberflächlicher Betrachtung heraus. Er wenigstens war anscheinénd der richtige Feld-, Wald- und Wiesendynamitheld. Er trug zwar auch den hohen, weißen Kragen und den seidenen Binder, gleichsam die Uniform bei solchen Anlässen; aber aus diesem Kragen sprang ein ganz und gar unbändiger, unverkennbarer Kopf hervor: ein wilder Bart und ein wirrer Busch brauner Haare, der fast wie bei einem Skyeterrier die Augen überdeckte. Nur waren die Augen, die aus dem Haargewirr hervorschauten, traurig wie die eines russischen Leibeigenen. Diese Gestalt erregte nicht solchen Schrecken wie die des Präsidenten, aber sie wirkte in ihrem grotesken Aussehen irgendwie diabolisch und absurd, gerade so, als wenn aus einem steifen Kragen mit Binder plötzlich der Schädel einer Katze oder eines Hundes auftauchen würde.

Der Mann hieß Gogol. Er war ein Pole und wurde in diesem Zirkel Dienstag genannt. Auf sein Herz und seine Sprache drückte eine unheilbare Schwermut. Er konnte sich nicht zu der Rolle eines leichtfertig Glücklichen zwingen, wie der Präsident Sonntag es verlangte. In dem Augenblick, als Syme hereinkam, neckte der Präsident mit jener dreisten Mißachtung vor jedem Verdacht, die seine Politik war, den Polen wegen seiner Ungeschicklichkeit, konventionelle Manieren anzunehmen.

»Unser Freund Dienstag«, sagte der Präsident mit seiner tiefen, umfangreichen Stimme voller Ruhe, »scheint noch nicht erfaßt zu haben, um was es geht. Er kleidet sich wie ein Gentleman, aber seine Seele scheint zu groß zu sein, um sich wie ein solcher zu benehmen. Er wandelt weiter auf den Pfaden des Theaterverschwörers. Wenn heutzutage ein Gentleman in London spazierengeht in einem Zylinderhut und einem Gehrock, fragt keiner danach, ob er ein Anarchist ist. Aber wenn ein Gentleman einen Zylinderhut aufsetzt und einen Gehrock anzieht und dann auf allen vieren sich fortbewegt, nun, dann wird er Aufsehen erregen. Das aber tut Bruder Gogol. Er geht auf allen vieren mit solch unerreichbarer Geschicklichkeit, daß er mit der Zeit das Aufrechtgehen verlernen wird.«

»Ich eigne mich nicht zum Versteckspielen«, gab Gogol verdrießlich zurück mit einem harten, fremden Akzent, »ich schäme mich unserer Sache nicht.«

»Gewiß, mein Junge, ist das Ihre Sache«, antwortete der Präsident gutmütig. »Sie möchten sich schon auch unkenntlich machen wie jeder andere, aber Sie bringen es nicht fertig. Sehen Sie, solch ein Esel sind Sie. Sie versuchen, zwei unvereinbare Methoden zu verbinden. Wenn ein Hausherr einen Mann unter seinem Bett findet, wird er wahrscheinlich nur von dem Umstand als solchem Notiz nehmen. Wenn er aber unter seinem Bett einen Mann mit einem Zylinderhut findet, wird er — da stimmen Sie doch mit mir überein, mein lieber Dienstag — den Vorfall wohl kaum vergessen. Würden Sie zum Beispiel unter Admiral Biffins Bett gefunden …«

»Ich eigne mich nicht zum Betrug«, unterbrach Dienstag trübsinnig und errötete dabei.

»Ganz recht, mein Junge«, bestätigte der Präsident mit plumper Aufrichtigkeit. »Sie eignen sich zu nichts.«

Während die Unterhaltung weiterging, musterte Syme die Männer an der Tafelrunde aufmerksamer. Dabei spürte er, wie das Gefühl, etwas Wunderliches zu erleben, in ihm wieder lebendig wurde.

Er hatte zuerst gedacht, daß die Teilnehmer Alltagserscheinungen seien, mit Ausnahme des haarigen Gogol. Aber als er jetzt die andern genauer ansah, begann er, in jedem von ihnen das zu entdecken, was ihm schon bei dem Mann am Fluß aufgefallen war: irgendeine dämonische Einzelheit. Das schiefe Lachen, das ruckweise das rassige Gesicht seines originellen Führers verzerrt hatte, war typisch für all diese Typen. Jeder hatte etwas an sich, vielleicht erst beim zehnten oder zwanzigsten Blick wahrnehmbar, das nicht normal war und kaum menschlich schien. Ein Vergleich fiel ihm ein. Sie sahen alle aus wie Leute von Anstand und Sitte, aber irgend etwas war an ihnen verschoben, so etwa, wie man in einem Vexierspiegel erscheint.

An den einzelnen Beispielen ließ sich diese halbversteckte Überspanntheit am besten feststellen. Symes Cicerone trug den Titel Montag; er war der Sekretär des Rates, und sein verkrampftes Lächeln sah man mit mehr Entsetzen als alles andere, ausgenommen des Präsidenten schreckliches, zufriedenes Gelächter. Jetzt, da Syme mehr Muße und auch besseres Licht hatte, ihn zu beobachten, fielen ihm noch andere kennzeichnende Züge aüf. Sein Gesicht war so abgezehrt, daß Syme dachte, es müßte von einer Krankheit verheert sein; doch irgendwie sprach der gequälte Ausdruck seiner dunklen Augen dagegen. Es schien kein körperliches Leiden zu sein, in seinem Blick spiegelte sich eine psychische Qual, als ob schon das bloße Denken ihn peinigte.

Er war ein typischer Vertreter seiner Zunft, denn bei jedem der Anwesenden war etwas nicht in Ordnung. Ihm zunächst saß Dienstag, der wirrköpfige Gogol, bei dem die Verrücktheit offenkundiger war. Dann kam Mittwoch, ein gewisser Marquis de St. Eustache, eine recht charakteristische Figur. Auf den ersten Blick fand man nichts Ungewöhnliches an ihm; er war offenbar der einzige am Tisch, zu dem die modische Kleidung, die er trug, wirklich paßte. Er hatte einen schwarzen, nach französischer Art viereckig gestutzten Bart und einen schwarzen, englischen Gehrock, der noch viereckiger geschnitten war. Aber Syme, feinfühlig für solche Dinge, spürte sofort, daß den Mann eine schwüle Atmosphäre umgab, die etwas Betäubendes an sich hatte. Sie erinnerte an die einschläfernden Düfte und die erlöschenden Lampen in den düsteren Gedichten Byrons und Poes. Man hatte das Gefühl, daß an seiner Kleidung etwas Besonderes war, das sich nicht in helleren Farben, sondern in weicheren Stoffen offenbarte; sein Schwarz schien tiefer und wärmer als die schwarzen Schatten um ihn, gewissermaßen von intensiverer Kraft erfüllt. Sein schwarzer Rock sah aus, als rühre seine Schwarze von zu sattem Purpur, sein schwarzer Bart sah aus, als rühre seine Schwärze von zu tiefem Blau. Und in dem dunklen Dicicht seines Bartes zeigte sich ein sinnlicher und spöttischer Mund. Er mochte sein, was er wollte ein Franzose war er nicht: vielleicht war er ein Jude, vielleicht stammte er noch von weiterher aus dem dunklen Herzen des Ostens. Auf den hellfarbigeri persischen Ziegeln und Bildern, die jagende Tyrannen zeigen, kann man diese mandelförmigen Augen, diese blauschwarzen Bärte, diese grausamen, karmesinroten Lippen sehen.

Dann kam Syme; neben ihm saß ein sehr alter Mann, Professor de Worms, der immer noch den Sitz des Freitag innehatte, obwohl man täglich mit seinem Tod rechnete. Alles an ihm befand sich in der letzten Auflösung greisenhaften Verfalls, nur sein Verstand nicht. Sein Gesicht war so grau wie sein langer Bart, seine Stirn war hochgeschwungen und durchpflügt von Furchen stummer Verzweiflung. Bei keinem, selbst bei Gogol nicht, wirkte der Gegensatz zu dem hochzeitlichen Glanz des Gesellschaftsanzugs peinlicher als bei ihm. Denn die rote Blume in seinem Knopfloch stach kraß ab von seinem Gesicht, das buchstäblich bleifarben war; es wirkte so abstoßend, als ob betrunkene Gecken einen Leichnam in Kleider gesteckt hätten. Wenn er aufstand oder sich setzte, was nur mit vieler Mühe geschah, drückte sich in der Bewegung mehr aus als bloße Schwäche, etwas Undefinierbares, das mit dem Grauen der ganzen Spukszene im Einklang stand. Nicht bloß Altersschwäche verriet sich darin, sondern schon Fäulnis. Noch ein schauderhafter Gedanke durchzuckte Syme; wider eigenen Willen mußte er denken, dem Greis würde ein Arm oder ein Bein abfallen, sobald er sich rührte.

Gerade am Ende der Tafel saß der Mann, der Samstag hieß, der unkomplizierteste und doch verblüffendste von allen: ein gedrungener, vierschrötiger Mann mit einem dunklen, ungeschlachten, glattrasierten Gesicht, ein praktischer Arzt namens Bull. Er zeigte eine Verbindung von savoir-faire mit bewußter Grobheit, die man bei jungen Doktoren nicht selten findet. Seine vornehme Gewandung trug er mit mehr betonter Dreistigkeit als selbstverständlicher Ungezwungenheit, und meist zeigte er ein gekünsteltes Lächeln. Sonst war nichts Absonderliches an ihm, außer einer dunklen, fast undurchsichtigen Brille. Es war vielleicht nur ein Crescendo der nervösen Einbildung in Syme, aber diese schwarzen Augenscheiben wirkten furchtbar auf ihn; sie erinnerten an halbvergessene Greuelmärchen, an eine Geschichte von Pfennigen, die auf die Augen eines Toten gelegt waren. Symes Blicke fielen immer wieder auf die schwarzen Gläser und das undurchsichtige Grinsen. Hätte der dem Sterben nahe Professor sie getragen oder selbst der bleiche Sekretär, so wären sie am Platz gewesen. Aber bei diesem jüngeren, lebensstarken Mann schienen sie ein Rätsel zu sein. Sie entzogen einem den Schlüssel zu seinem Gesicht. Man konnte nicht feststellen, was sein Lächeln und seine Feierlichkeit eigentlich bedeuteten. Teils aus diesem Grunde und teils, weil er eine gewisse aufdringliche Männlichkeit zur Schau trug, die den andern fehlte, dünkte es Syme, daß er der verruchteste all dieser verruchten Männer sein müsse. Er glaubte, seine Augen müßten bedeckt sein, weil sie einen zu fürchterlichen Anblick gewährt hätten.

Die Entlarvung

Das also waren die sechs Männer, die geschworen hatten, die Welt zu zerstören. Immer wieder mußte Syme seine fünf Sinne zusammennehmen in ihrer Gegenwart. Manchmal glaubte er einen Augenblick lang, daß seine Wahrnehmungen übertrieben waren, daß da ganz alltägliche Menschen um ihn waren, von denen der eine alt, der andere nervös, der dritte kurzsichtig war. Aber das Gefühl eines unnatürlichen Symbolismus überkam ihn immer wieder. Jede dieser Gestalten schien dem Grenzgebiet der Wirklichkeit anzugehören wie ihre Theorie dem Grenzland der Gedanken. Er wußte, daß jeder gewissermaßen am äußersten Ende eines verwilderten Weges der Vernunft stand. Eine Fabel der Alten fiel ihm ein, nach der ein Mensch, der westwärts bis an das Ende der Welt ginge, eines Tages auf etwas stoßen würde, vielleicht auf einen Baum, der weniger oder mehr als ein Baum sei, ein Baum, besessen von einem bösen Geist; und ginge er ostwärts bis ans Ende der Welt, würde er auf etwas stoßen, das auch nicht ganz es selbst sei, ein Turm vielleicht, dessen Urbild böse sei. So schienen diese Gestalten, gewalttätig und unerklärlich, sich gegen einen äußersten Horizont abzuheben, Visionen der Grenzbezirke. Die Enden der Welt waren in ihnen beschlossen.

Die Unterhaltung hatte nicht aufgehört, seit er den Schauplatz betreten hatte; von den schroffen Kontrasten an dieser unheimlichen Frühstückstafel war der zwischen dem leichten und unaufdringlichen Ton der Unterhaltung und ihrem schrecklichen Inhalt nicht der geringste. Sie waren nämlich vertieft in ein Gespräch über eine unmittelbar bevorstehende Verschwörung. Der Kellner hatte ganz recht gehabt, als er sagte, daß sie von Bomben und Königen redeten. In drei Tagen sollte der Zar den Präsidenten der Französischen Republik in Paris treffen, und über Schinken und Eiern auf dem sonnigen Balkon beschlossen nun diese strahlenden Gentlemen, wie beide sterben sollten. Eben war das Werkzeug gewählt werden: Der schwarzbärtige Marquis sollte eine Bombe werfen.

Unter normalen Umständen würde die Tatsache dieses ausgemacht verbrecherischen Planes Syme ernüchtert und von all seinem mystischen Schauer geheilt haben. Er würde an nichts anderes gedacht haben als an die Notwendigkeit, wenigstens zwei menschliche Lebewesen davor zu retten, durch Eisen und explodierendes Dynamit in Stücke gerissen zuwerden. Aber die Wahrheit war, daß mit der Zeit eine dritte Art von Furcht über ihn kam, eindringlicher und wirksamer als sein sittliches Wderstreben und sein Verantwortungsbewußtsein. Er hatte nicht Angst um den französischen Präsidenten oder den Zaren, er hatte Angst um sich selbst. Die Plaudernden nahmen wenig Notiz von ihm, sie steckten die Köpfe zusammen und schwatzten weiter, die meisten gleichmäßig feierlich, nur daß gelegentlich das schiefe Lächeln im Gesicht des Sekretärs aufzuckte wie ein gezackter Blitz, der den Himmel aufreißt. Ein hartnäckiger Umstand allerdings verwirrte Syme zuerst und erfüllte ihn schließlich mit Schrecken. Der Präsident starrte ihn ununterbrochen an, mit auffallendem und beängstigendem Interesse. Der Koloß war völlig ruhig, aber seine blauen Augen, die aus ihren Höhlen quollen, waren unentwegt auf Syme gerichtet.

Syme fühlte plötzlich den Drang in sich, aufzuspringen und sich vom Balkon zu stürzen. Als er des Präsidenten Augen auf sich starren sah, glaubte er, sie seien aus Glas. Es gab nicht den leisesten Zweifel für ihn: Sonntag hatte auf geheimnisvolle, außergewöhnliche Weise herausgefunden, daß er ein Spitzel war. Er blickte über den Rand des Balkons und sah gerade unter sich einen Polizisten, der gedankenverloren dastand und unverrückt auf das Geländer und die Bäume schaute, die im Sonnenlicht glänzten.

Dann überfiel ihn die Versuchung, die ihn noch viele Tage foltern sollte. Über der Gegenwart dieser ebenso mächtigen wie abstoßenden Männer, dieser Fürsten der Anarchie, hatte er fast die schwächliche, absonderliche Gestalt des Poeten Gregory vergessen, jenes bloßen Ästheten des Anarchismus. Er dachte jetzt an ihn mit vertrauter Herzlichkeit, als ob sie als Kinder zusammen gespielt hätten. Aber er erinnerte sich auch, daß er durch ein bedeutungsvolles Versprechen an Gregory gebunden war. Er hatte versprochen, nie das zu tun, was er gerade jetzt zu tun beinahe im Begriff stand. Damit hatte er auch versprochen, nicht von diesem Balkon zu springen und mit diesem Polizisten zu sprechen. Er nahm seine kalte Hand von der kalten Steinbalustrade. Seine Seele wurde im Schwanken moralischer Unentschlossenheit hin und her gerissen. Zersprengte er das Band eines vorschnellen Gelübdes, das er einer schurkischen Gesellschaft gegeben, so lag sein ganzes Leben ebenso offen und sonnig da wie der Platz unter ihm. Hielt er aber, so altmodisch es auch sein mochte, auf seine Ehre, so lieferte er sich Schritt für Schritt der Gewalt dieses mächtigen Feindes der Menschheit aus, dessen Intellekt allein schon eine Folterkammer war. Wenn er hinuntersah auf den Platz, erblickte er den behäbigen Polizisten, eine Säule des gesunden Menschenverstandes und der bürgerlichen Ordnung. Und sah er auf die Frühstückstafel, erblickte er den Präsidenten, der ihn mit großen, unerträglichen Augen musterte.

So wild der Wirbel seiner Gedanken auch war, zwei Überlegungen kamen ihm überhaupt nicht. Zunächst fiel es ihm überhaupt nicht ein, daran zu zweifeln, daß der Präsident mitsamt seinem Rat ihn zermalmen konnte, wenn er allein dastand. Der Platz mochte öffentlich, das Projekt unmöglich sein. Indes, Sonntag war nicht der Mann, der sich so leicht geschlagen gab, ohne irgendwie oder irgendwo seine eiserne Falle gelegt zu haben. Mochte es ein heimtückisches Gift oder ein unerwarteter Straßenunfall oder Hypnotismus oder eine Feuergarbe aus der Hölle sein — er entging Sonntag bestimmt nicht. Wenn er dem Mann die Stirn bot, war er unweigerlich ein Kind des Todes, entweder noch hier auf seinem Stuhl totgeschlagen oder etwas später durch eine harmlose Unpäßlichkeit erledigt. Rief er aber auf der Stelle die Polizei zu Hilfe, ließ er jeden verhaften, erzählte er alles haarklein und setzte er die ganze Energie Englands gegen sie in Bewegung, würde er unter Umständen entkommen, anders aber keinesfalls. Da war ein Balkon voller Gentlemen, die auf einen hellen und geschäftigen Platz hinuntersahen, aber er fühlte sich in ihrer Mitte ebensowenig sicher wie in einem Boot voll bewaffneter Piraten, die über eine menschenleere See blickten.

Noch ein zweiter Gedanke kam ihm nicht. Es fiel ihm niemals ein, sich geistig vom Feind imponieren zu lassen. Viele moderne Menschen, an eine schwächliche Verehrung des Intellekts und der Gewalt gewöhnt, wären unter dem überwältigenden Eindruck einer großen Persönlichkeit in Ergebenheit erstorben. Sie hätten Sonntag den Übermenschen genannt, denn er sah in der Tat, vorausgesetzt, daß es solch ein Lebewesen überhaupt gab, in seiner welterschütternden Absonderlichkeit wie ein wandelnder Steinkoloß aus. Man hätte in ihm leicht ein Wesen erblicken können, das über alles Menschenmögliche hinausging — mit seinen gewaltigen Plänen, die zu offenkundig waren, als daß man sie zu enthüllen brauchte, mit seinem großartigen Gesicht, das zu freimütig war, als daß man an ihm herumzugrübeln brauchte. Aber das war eine moderne Armseligkeit, zu der Syme nicht herabsinken konnte, mochte sein Denken manchmal noch so angekränkelt sein. Wie jeder Mann war er feige genug, harte Gewalt zu fürchten, indes so feige war er doch nicht, sie zu bewundern.

Die Männer aßen während der Unterhaltung, und wie sie das taten, war typisch für sie. Dr. Bull und der Marquis nahmen ab und zu und in aller Form nur von den besten Dingen auf der Tafel: kalten Fasan und Straßburger Pastete. Der Sekretär war Vegetarier, brachte es aber trotzdem fertig, über einer halbrohen Kartoffel und einem Glas, das zu drei Vierteln mit lauwarmem Wasser gefüllt war, von dem geplanten Mord zu sprechen. Der alte Professor besabberte sich so, daß es geradezu widerwärtig kindisch war. Der Präsident Sonntag aber bewahrte auch beim Essen seine imponierende Vorliebe für die bloße Masse. Er aß für zwanzig, er fraß unglaublich mit einem entsetzlichen Appetit. Ununterbrochen aber, während er ein Dutzend der kleinen Kuchenstücke verschlang und einen Liter Kaffee hinuntergoß, starrte er, den großen Kopf auf die Seite geneigt, auf Syme.

»Ich habe mir wiederholt überlegt«, sagte der Marquis, indem er kräftig in eine Schnitte mit Marmelade biß, »ob es nicht besser für mich wäre, einen Dolch zu nehmen. Die besten Sachen sind mit dem Dolch zustande gebracht worden. Jedenfalls wäre es eine Sensation, den französischen Präsidenten auf diese Weise zu erledigen und ihm den Dolch bis an das Heft in den Leib zu stoßen.«

»Sie täuschen sich«, widerspracb der Sekretär, seine schwarzen Augenbrauen zusammenziehend. »Der Dolch diente früher dazu, eine persönliche Auseinandersetzung mit einem bestimmten Tyrannen zu Ende zu bringen. Dynamit hingegen ist nicht nur unser bestes Werkzeug, sondern unser bestes Symbol. Es ist ein ebenso vollkommenes Symbol für uns wie den Weihrauch für christliche Gebete. Es dehnt sich aus; es zerstört nur, weil es sich ausbreitet, ebenso wie der Gedanke nur zerstört, weil er sich ausbreitet. Das menschliche Gehirn ist eine Bombe«, rief er, seinen ganzen seltsamen Ingrimm enthüllend und dabei seinen Schädel mit Heftigkeit bearbeitend. »Mein Gehirn ist eine Bombe, Tag und Nacht. Es muß sich ausbreiten, es muß. Eines Menschen Gehirn muß sich ausbreiten, wenn er das Universum zerbrechen will.«

»Ich will nicht, daß das Universum jetzt zusammenkracht«, zerdehnte der Marquis die Worte. »Ich habe noch eine Menge haarsträubender Sachen vor, bevor ich abtrete. Eine überdachte ich gestern im Bett.«

»Nein, wenn das Ende einer Sache das bloße Nichts ist«, sagte Dr. Bull mit seinem sphinxartigen Lächeln hinter den dunklen Brillengläsern, »ist es, scheint mir, kaum der Mühe wert, überhaupt etwas zu tun.«

Der alte Professor starrte auf die Decke mit seinen stumpfen Augen. »Jedermann weiß in seinem Herzen, daß es nichts gibt, was des Tuns wert ist.«

Ein sonderbares Stillschweigen entstand, und dann sagte der Sekretär: »Wir kommen von der Hauptsache ab. Die einzige Frage ist, wie Mittwoch den Schlag vollführen soll. Ich meine, wir sollten alle mit der ursprünglichen Absicht, eine Bombe zu werfen, einverstanden sein. Was die notwendigen Einzelvorbereitungen anbetrifft, so würde ich vorschlagen, er geht morgen zu allererst zu …«

Er brach mit seinem Vorschlag ab, da ein riesenhafter Schatten auftauchte. Präsident Sonntag war aufgestanden und schien den Himmel über sich zu verdunkeln. »Bevor wir weiter verhandeln«, sagte er mit sanfter und ruhiger Stimme, »wollen wir einmal hier ins Hinterzimmer hinübergehen. Ich muß Ihnen etwas Wichtiges mitteilen.«

Syme war auf seinen Füßen, bevor die andern sich erhoben. Der Augenblids der Entscheidung war gekommen, die Pistole auf ihn gerichtet. Unten auf dem Pflaster konnte er den Polizisten mäßig herumstehen und -stampfen hören, denn der Morgen war zwar sonnig, aber kalt.

Eine Drehorgel auf der Straße fing plötzlich eine heitere Weise zu spielen an. Als wäre es ein Signal zum Beginn der Schlacht, richtete sich Syme kerzengerade auf. Er fühlte einen übernatürlichen Mut in sich, der wer weiß woher kam. Die klimpernde Musik war voll der vulgären Lebenskraft und der unbegreiflichen Herzhaftigkeit der Armen, die sich in all diesen unsauberen Straßen an die Güte und die Nächstenliebe des Christentums klammern. Sein jungenhafter Narrenstreich, die Rolle eines Polizisten zu spielen, war seinem Gedächtnis ganz entschwunden; er wußte nicht mehr, ob er einer von den Gentlemen war, die sich in phantastische Polizisten verwandelt hatten, oder einer von den alten überspannten Burschen, die sich in dem dunklen Zimmer versammelt hatten. Er fühlte sich nur als ein Gesandter all dieser armen, einfachen, gutmütigen Leute auf der Straße, die jeden Tag den Kampf mit dem Leben aufnahmen zu den Klängen der Drehorgel. Und dieser hohe Stolz auf das menschliche Wesen hatte ihn in unerklärlicher Weise weit über diese Ungeheuer rings um ihn erhoben. Für einen Augenblick wenigstens blickte er auf ihre monströsen Überspanntheiten herab von dem sternhellen Gipfel der Alltäglichkeit. Er fühlte ihnen gegenüber die ganze unbewußte, schlichte Überlegenheit, die ein Tapferer reißenden Tieren oder ein Weiser gefährlichen Narreteien gegenüber empfindet. Er war sich bewußt, daß er weder die intellektuelle noch die physische Stärke des Präsidenten Sonntag besaß. Aber im Augenblick kümmerte er sich darum ebensowenig wie um die Tatsache, daß er nicht die Muskeln eines Tigers oder ein Horn auf seiner Nase wie ein Rhinozeros hatte. Alles ging unter in der elementaren Gewißheit, daß nicht der Präsident, sondern die Drehorgel recht hatte. In seiner Erinnerung tauchte die unwiderstehliche und im Grunde furchtbare Wahrheit aus dem Rolandslied auf:

Païens ont tort et Chrétiens ont droit —

Die Heiden sind im Unrecht, die Christen im Recht,

die in dem alten Französisch klirrte und knarrte wie schweres Eisen. Diese Befreiung seines Geistes aus dem Zustand der Schwäche ging Hand in Hand mit der ganz klaren Entscheidung, dem Tod ins Auge zu sehen. Wenn das Volk der Drehorgel zu seinem Wort in dieser alten Welt stehen konnte, so konnte er es auch. Gerade dieser Stolz, sein Wort zu halten, war es, der es ihn auch Schurken gegenüber halten ließ. Es war sein letzter Triumph über diese Wahnsinnigen, in ihr dunkles Zimmer zu gehen und für etwas zu sterben, das sie nicht einmal verstehen konnten. Die Drehorgel gab den Takt dazu mit der Kraft und den vielfachen Geräuschen eines ganzen Orchesters, und unter den Trompetenklängen der Lebenszuversicht glaubte er dumpf und rollend die Trommel des Todesmutes zu vernehmen.

Die Verschwörer waren schon dabei, sich in die Räume hinter dem offenen Fenster zu verteilen. Syme schloß sich als letzter an, äußerlich ruhig, aber sein Gehirn und seinen Körper hielt ein romantischer Rhythmus in Schwingung. Der Präsident führte sie eine Seitentreppe hinunter, wie sie von Dienstboten benutzt wird, in ein düsteres, kaltes, leeres Zimmer mit einem Tisch und Bänken, das wie ein verlassener Sitzungsraum aussah. Als alle drinnen waren, machte er die Tür zu und schloß sie ab.

Als erster sprach Gogol, der Unversöhnliche, der vor Verdrießlichkeit zu bersten schien. »Sso, sso«, schrie er in unbeherrschter Erregung und in einem schwerverständlichen Englisch. »Sie sagen, Sie sich nicht verrberrgen. Sie sagen, Sie sich zeigen. Alles nix. Wenn Sie mitteilen wollen Wichtiges, lauffen Sie selber in ein dunkles Kammer.«

Der Präsident nahm die stammelnde Anpöbelung mit gutem Humor hin. »Sie können das nicht recht begreifen, Gogol«, sagte er in väterlichem Ton. »Wenn man uns einmal auf dem Balkon hat Unsinn schwatzen hören, kümmert man sich nicht mehr darum, wo wir hinterher hingehen. Wären wir aber zuerst hierhergekommen, würden wir die ganze Meute am Schlüsselloch gehabt haben. Sie kennen anscheinend die Menschheit nicht.«

»Ich sterrbe für sie«, regte sich der Pole weiter auf, »und ich zerschmettere die zarristischen Bedrücker. Ich kümmrre mich um diese Versteckspiele nicht. Ich schlage die Tyrannen auf offener Strrraße nieder.«

»Ja, ja«, erwiderte der Präsident und nickte freundlich, wobei er sich an die Schmalseite eines langen Tisches setzte. »Sie sterben zuerst für die Menschheit, und dann stehen Sie wieder auf und zerschmettern Ihre Bedrücker. So ist’s recht. Und nun darf ich Sie bitten, ihre zarten Gefühle etwas mehr zu beherrschen und sich mit den andern Herren an diesen Tisch zu setzen. Zum ersten Mal an diesem Morgen soll etwas Vernünftiges gesagt werden.«

Syme setzte sich mit jener schnellen Bereitwilligkeit, die er schon bei der ersten Aufforderung gezeigt hatte. Gogol nahm als letzter Platz, in seinen braunen Bart etwas von »Gombromiß« brummend. Nur Syme allein schien eine Ahnung von dem Schlag zu haben, der bevorstand. Er kam sich durchaus wie ein Mann vor, der das Schafott besteigt mit der Absicht, unter allen Umständen einen guten Eindruck zu machen.

»Genossen«, begann der Präsident, der sich plötzlich erhoben hatte, »wir haben diese Komödie lange genug gespielt. Ich habe Sie hierhergebeten, um Ihnen etwas so Einfaches und Unerhörtes mitzuteilen, daß selbst die Kellner droben, an unsern Leichtsinn gewöhnt, irgendeinen überraschenden Ernst in meiner Stimme wahrgenommen hätten. Genossen, wir besprachen Pläne und nannten Orte. Bevor ich zu anderm übergehe, beantrage ich, über diese Pläne und Orte nicht in der heutigen Sitzung abzustimmen, sondern ihre Regelung völlig einem verläßlichen Mitglied zu überlassen. Ich schlage zu diesem Zweck den Genossen Samstag, Dr. Bull, vor.«

Alle starrten ihn an; dann fuhren sie in die Höhe, denn die nächsten Worte, so wenig laut sie gesprochen wurden, hatten eine elektrisierende, sensationelle Wirkung.

Sonntag schlug auf den Tisch. »Kein Wort weiter über die Pläne und Orte! Nicht die geringste Einzelheit darf in dieser — Gesellschaft über unsere Absichten laut werden.«

Sonntag hatte sich sein Leben lang bemüht, seine Anhänger in Staunen zu versetzen, aber erst heute schien es ihm wirklich geglückt zu sein. Sie bewegten sich alle fieberhaft auf ihren Sitzen, nur Syme nicht. Er saß steif da, die Hand in der Hosentasche, am Griff seines geladenen Revolvers. Wenn man ihn angriff, würde er sein Leben teuer verkaufen. Er würde zum mindesten herausfinden, ob der Präsident sterblich war.

Sonntag fuhr sanft fort: »Das haben Sie wahrscheinlich schon gemerkt, daß es nur einen ganz triftigen Beweggrund geben kann, die freie Rede an diesem Festtag der Freiheit zu verbieten. Wenn uns Fremde zufällig zuhören, so schert uns das wenig. Sie nehmen an, daß wir Unfug treiben. Aber an die Nieren ginge es uns, falls da einer unter uns wäre, der nicht zu uns gehört, der unsere schwerwiegenden Pläne kennt, ohne sie zu teilen, der …«

Der Sekretär kreischte plötzlich wie ein Weib und sprang auf: »Es kann nicht sein, es kann nicht …«

Der Präsident klappte mit seiner großen, flachen Hand, die wie die Flosse eines Riesenfisches aussah, auf den Tisch. »Ja«, sagte er langsam, »in diesem Zimmer befindet sich ein Spitzel, an diesem Tisch sitzt ein Verräter. Ich will keine unnützen Worte verlieren. Sein Name …«

Syme stand halb von seinem Sitz auf, den Finger fest am Abzug.

»Sein Name ist — Gogol. Es ist jener haarige Schwindler da drüben, der vergibt, ein Pole zu sein.«

Gogol sprang auf, in jeder Hand eine Pistole. Mit derselben blitzartigen Schnelligkeit stürzten ihm drei Männer an die Kehle. Sogar der Professor machte eine Anstrengung, sich zu erheben. Nur Syme sah wenig von dem, was da vorging, denn er war wie geblendet von einer wohltätigen Dunkelheit; er war bebend auf seinen Platz zurückgesunken, in einer Art Lähmung und schmerzlicher Erleichterung.

Das Unerklärliche an Professor de Worms

»Hinsetzen!« schrie Sonntag mit einer Stimme, die er nur ein- oder zweimal in seinem Leben angewandt hatte und die die Männer ihre erhobenen Waffen senken ließ.

Die drei ließen von Gogol ab, und auch der eben so Verdächtigte selbst nahm wieder seinen Platz ein.

»Nun, Mann«, sagte der Präsident energisch und wandte sich an Gogol wie an einen völlig Fremden, »wollen Sie mir den Gefallen tun und die Hand in Ihre obere Westentasche stecken und. mir zeigen, was Sie dort haben?«

Der angebliche Pole war bleich unter seinem wirren, dunklen Haar, aber mit erstaunlicher Kaltblütigkeit steckte er zwei Finger in die Tasche und. zog eine schmale, blaue Karte heraus. Als Syme sie auf dem Tisch liegen sah, erwachte er wieder für die Welt um sich herum. Denn obwohl die Karte am andern Ende des Tisches lag und er ihre Aufschrift nicht lesen konnte, ähnelte sie auffallend der blauen Karte in seiner eigenen Tasche, jener Karte, die man ihm bei seiner Aufnahme in die antianarchistische Polizeitruppe ausgehändigt hatte.

»Pathetischer Slave«, donnerte der Präsident, »tragischer Sohn Polens, wollen Sie angesichts dieser Karte noch leugnen, daß Sie in dieser Gesellschaft hier — sagen wir zumindest de trop sind?«

»Ganz recht«, entgegnete der bisherige Gogol. Jedermann freute sich, aus diesem fremdartigen Haarwust eine klare, geschäftsmäßige und etwas cockneyhafte Stimme herauszuhören. Es klang so unsinnig, als spräche ein Chinese plötzlich mit schottischem Akzent.

»Ich nehme an, daß Sie Ihre Lage wohl zu würdigen wissen«, sagte Sonntag.

»Absolut«, antwortete der Pole. »Ich sehe, es ist eine glatte Sache. Ich habe nur eines zu sagen: Ich glaube nicht, daß irgendein Pole meinen Akzent so täuschend hätte nachahmen können wie ich den seinen.«

»Das gebe im zu. Ich halte Ihren eigenen Akzent auch für unnachahmlich, obwohl ich ihn nur in meinem Bad gebrauchen möchte. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden, wenn ich Sie bitte, außer ihrer Karte auch Ihre Perücke hierzulassen?«

»Nicht das geringste«, erwiderte Gogol und riß mit einem Finger seine zottige Kopfbedeckung ab, unter der dünnes rotes Haar und ein bleiches, unverschämtes Gesicht auftauchten. »Es war heiß«, fügte er hinzu.

»Ich will Ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und zugeben«, fuhr Sonntag nicht ohne eine gewisse rauhe Bewunderung fort, »daß Sie sich unter Ihrer Kopfbedeckung ziemlich kühl verhalten haben. Nun passen Sie auf! Sie gefallen mir. Infolgedessen würde es mich zweiundeinehalbe Minute lang verdrießen, wenn ich hörte, daß Sie in Qualen hätten sterben müssen. Sollten Sie allerdings der Polizei oder sonst einer menschlichen Seele etwas über uns mitteilen, muß ich wohl oder übel den zweieinhalb Minuten langen Verdruß über mich ergehen lassen. Auf Ihr Unbehagen bin ich nicht versessen. Guten Tag. Passen Sie auf die Stufen auf!«

Der rothaarige Detektiv, der sich als Gogol verkleidet hatte, ging ohne ein Wort aus dem Zimmer, mit einer Miene ausgesprochener Gleichgültigkeit. Der erstaunte Syme indes konnte wahrnehmen, daß diese Sorglosigkeit nicht echt war. Denn ein leichtes Stolpern war vor der Tür zu hören, ein Beweis, daß der abziehende Detektiv doch nicht auf die Stufen geachtet hatte.

»Die Zeit verstreicht«, sagte der Präsident in seiner aufgeräumten Art und warf einen Blick auf seine Uhr, die wie alles an ihm über die Maßen groß war. »Ich muß gleich weggehen, ich muß den Vorsitz in einer Sitzung des Verbandes der Menschenfreunde übernehmen.«

Der Sekretär wendete sich ihm mit zuckenden Augenbrauen zu. »Wäre es nicht besser«, warf er scharf ein, »jetzt weiter die Einzelheiten unseres Projekts zu besprechen?«

»Nein, ich denke nicht«, versetzte der Präsident mit einem Gähnen, das sich wie ein bescheidenes Erdbeben ausnahm. »Wir lassen es, wie es ist. Samstag soll alles regeln. Ich muß weg. Nächsten Sonntag wieder hier Frühstück!«

Nun hatten die letzten aufregenden Ereignisse die schon gereizten Nerven des Sekretärs zum Zerreißen angespannt. Er war einer von jenen Menschen, die sogar beim Begehen eines Verbrechens gewissenhaft sind. »Ich muß protestieren, Präsident, die Sache verläuft nicht ordnungsgemäß. Eine Grundregel unserer Gesellschaft verlangt, daß alle Pläne in einer Vollversammlung beraten werden. Selbstverständlich billige ich durdaaus Ihre Vorsorge, in Gegenwart eines Verräters …«

»Sekretär«, unterbrach ihn der Präsident ernst, »wenn Sie mit Ihrem Kopf nach Hause gingen und ihn anstatt einer Rübe kochten, könnte es von Nutzen sein. Bestimmt kann ich es nicht sagen, aber es könnte sein.«

Der Sekretär bäumte sich auf wie ein wildgewordenes Pferd. »Hier versagt mein Verständnis …« begann er seinen Angriff.

»Das ist es, das ist es«, nickte der Präsident. »Sie versagen ziemlich. Ihr Verständnis versagt.« Und dann steigerte er seine Stimme und stand dabei auf: »Ei, Sie tanzender Esel, Sie wollten sich von einem Spitzel belauschen lassen, nicht wahr? Und jetzt? Wissen Sie denn, daß Sie jetzt nicht belauscht werden?«

Damit ging er aus dem Zimmer, indem er immer noch vor grenzenloser Verachtung sein Haupt schüttelte.

Vier Männer mit offenen Mündern ließ er zurück. Sie konnten sich keinen Vers auf all das machen. Nur Syme glaubte eine Ahnung zu haben; ein leichtes Frösteln überkam ihn dabei. Wenn die letzten Worte des Präsidenten einen versteckten Sinn haben sollten, bedeuteten sie nichts andres, als daß er seinen Argwohn noch nicht aufgegeben hatte. Sie bedeuteten, daß Sonntag ihn zwar nicht öffentlich anklagen konnte wie Gogol, daß er ihm aber auch nicht vertraute wie den andern.

Und dann erhoben sich die Vier, mehr oder weniger laut vor sich hinbrummend, und begaben sich irgendwohin zum Lunch, denn es war unterdessen Mittag geworden. Der Professor ging als letzter sehr langsam und mühsam. Syme saß noch einige Zeit allein und überdachte seine Lage. Ein Blitz war haarscharf neben ihm eingeschlagen, die Wolke aber stand noch über ihm. Schließlich stand auch er auf und begab sich aus dem Hotel auf Leicester Square hinaus. Es war zunehmend kälter geworden, und als er auf die Straße trat, überraschten ihn ein paar Schneeflocken. Den Stockdegen und das restliche Handgepäck Gregorys trug er bei sich, den Mantel hatte er irgendwo liegengelassen, vielleicht auf dem Schleppdampfer, vielleicht auf dem Balkon. Er hoffte, daß der Schneeschauer bald nachlassen werde, und zog sich in den Türeingang eines kleinen, schmutzigen Friseurladens zurück, dessen Schaufenster, bis auf eine schadhafte Wachsdame im Abendkleid, leer war.

Indes begann der Schnee dichter und schneller zu fallen. Symes Blick fiel zuerst auf die Dame aus Wachs, aber da er nichts Erhebendes daran fand, sah er statt dessen auf die weiße, verlassene Straße. Er erstaunte nicht schlecht, als er plötzlich vor dem Friseurladen einen Mann wahrnahm, der angelegentlich in das Fenster schaute. Seine Kopfbedeckung war mit Schnee überzogen wie die Mütze des Weihnachtsmannes; eine weiße Flockenschicht umhüllte seine Schuhe und Knöchel. Doch nichts vermochte ihn von der Betrachtung der farblosen Wachspuppe im schmutzigen Abendkleid abzulenken. Über dieses menschliche Wesen, das da in solchem Wetter stand und in solchen Laden starrte, wunderte sich Syme ohnehin genug. Indes diese Verwunderung verwandelte sich plötzlich in regelrechten Schrecken, denn der Mann da draußen war niemand anders als der gelähmte Professor de Worms. Hier schien kaum der Platz für eine Person seiner Jahre und seiner Gebrechlichkeit.

Syme war bereit, bei dieser entmenschten Bruderschaft aber auch jegliche Entartung für möglich zu halten. Aber daß der Professor sich in eine Wachspuppe verlieben könnte, vermochte er nicht zu glauben. Er konnte nur vermuten, daß des Mannes Leiden, gleich welcher Art, mit gelegentlichen Anfällen von Starrkrampf oder Trancezuständen verbunden war. Mitleid allerdings brachte er nicht auf. Im Gegenteil, er beglückwünschte sich, daß er dem Professor angesichts seines Anfalls und seines mühsamen Humpelns leicht entkommen und ihn Meilen hinter sich lassen konnte. Denn Syme mußte einfach endlich einmal aus dieser ganzen vergifteten Atmosphäre herauskommen, sei es auch nur für eine Stunde. Danach wollte er seine Gedanken zusammenraffen und die endgültige Entscheidung treffen, ob er sein Gregory gegebenes Wort halten solle oder nicht.

Er schlenderte durch die tanzenden Schneeflocken davon, ging zwei oder drei Straßen hinauf und zwei oder drei andere hinunter und betrat ein kleines Eßlokal am Soho Square. Nachdenklich nahm er vier kleine, ausgewählte Gänge zu sich, trank eine halbe Flasche Rotwein und beschloß die Mahlzeit mit schwarzem Kaffee und einer schwarzen Zigarre, immer noch in Gedanken versunken. Er hatte sich einen Platz im oberen Zimmer des Restaurants ausgesucht, das erfüllt war vom Geklapper der Messer und dem Geschnatter der Ausländer. Er erinnerte sich, daß er sich früher eingebildet hatte, alle diese harmlosen, netten Fremden seien Anarchisten. Beim Gedanken an die Wirklichkeit aber schauderte er. Freilich war es ein angenehmer Schauder, denn er war mit dem Gefühl verbunden, mit heiler Haut entwischt zu sein. Der Wein, die Massenabfütterung, der vertraute Platz, die Gesichter der natürlichen, gesprächigen Menschen ließen ihn den Rat der Sieben Tage als einen bösen Traum erscheinen. Und obwohl er wußte, daß dieser Rat eine unbestreitbare Tatsache war, war er wenigstens weit entfernt von ihm. Große Häuser und bevölkerte Straßen lagen zwischen ihm und den schändlichen Sieben; er war frei im freien London und trank Wein unter Freien. Irgendwie erleichtert, nahm er Hut und Stock und ging die Treppe hinunter in die untere Gaststube.

Kaum hatte er den unteren Raum betreten, als er wie angewurzelt auf der Stelle verharrte. An einem Tischchen, nahe am Fenster, von wo man auf die weiße, schneebedeckte Straße schauen konnte, saß der alte Anarchistenprofessor bei einem Glas Milch, mit hochgehobenem, leichenblassen Gesicht und hängenden Augenlidern. Einen Augenblick lang stand Syme so bewegungslos wie der Stock, auf den er sich stützte. Dann eilte er blindlings an dem Professor vorbei, stieß die Tür auf, schlug sie hinter sich zu und stand draußen im Schnee.

»Ist denn das möglich, sollte der alte Leichnam mich verfolgen?« fragte er sich und biß sich auf den gelben Schnurrbart. »Ich habe mich zu lange dort oben aufgehalten, kein Wunder, daß er mich mit seinen bleiernen Füßen einholen konnte. Ein Gutes nur, daß ich den Kerl meilenweit bis Timbuktu zurücklassen kann, wenn ich mich ein bißchen energisch auf die Beine mache. Oder geht die Phantasie mit mir durch? Verfolgt er mich gar nicht? Sonntag müßte ja ein Narr sein, wenn er einen Lahmen hinter mir dreinhetzte?«

Er schlug ein flottes Tempo ein, in der Richtung auf Covent Garden; dabei schwang er wirbelnd seinen Stock. Als er den großen Markt überquerte, hatte das Schneetreiben zugenommen und wurde, je mehr der Nachmittag sich verdunkelte, immer dichter. Die Schneeflocken umschwirrten ihn wie ein Schwarm silberner Bienen. Sie drangen ihm in Augen und Bart und peinigten durch ihre unablässige Sinnlosigkeit seine an sich schon gereizten Nerven. Als er schnellen Schritts an den Anfang der Fleet Street gekommen war, verlor er schließlich die Geduld und ging in ein Teehaus, um dort unterzuschlüpfen. Wie zur Entschuldigung bestellte er eine Tasse schwarzen Kaffee, Kaum hatte er die Bestellung aufgegeben, als auch schon Professor de Worms schwerfällig in das Lokal humpelte, sich mühsam setzte und um ein Glas Milch bat.

Syme war der Spazierstock aus der Hand gefallen; der darin verborgene Stahl verursachte ein hörbares Geräusch. Aber der Professor sah nicht auf. Syme war nicht leicht aus der Fassung zu bringen, nun jedoch riß er buchstäblich Mund und Augen auf wie ein Bauer bei einem Zaubertrick. Er hatte keine Droschke gesehen, die ihm gefolgt war, er hatte keinen Wagen draußen anfahren hören; allem menschlichen Ermessen nach war der Mann zu Fuß gekommen. Aber der Mummelgreis konnte nur schleichen wie eine Schnecke, während Syme gesaust war wie der Wind. Er sprang auf und griff hastig nach seinem Stock, halb verrückt durch den einfach nicht zu lösenden Widerspruch. Er ließ den Kaffee unberührt und schnellte aus der schwingenden Tür. Ein Omnibus, der in Richtung auf die Bank fuhr, ratterte mit ungewöhnlicher Schnelligkeit vorbei. Um ihn zu erreichen, mußte Syme eine Strecke von hundert Metern im Galopp zurücklegen. Aber er schaffte es, schwang sich auf das Trittbrett, hielt einen Augenblick inne, um Luft zu schöpfen, und kletterte nach oben. Doch schon hörte er es hinter sich asthmatisch keuchen.

Er drehte sich rasch um und sah, wie sich allmählich die Omnibusstufen hinauf zunächst ein Zylinderhut höher und höher hob, triefend von Schnee, und dann unter dem Schatten der Krempe das kurzsichtige Antlitz und die hinfälligen Schultern des Professors de Worms auftauchten. Er ließ sich mit der ihn kennzeichenden Vorsicht auf eine Bank nieder und hüllte sich bis zum Kinn in seinen wasserdichten Mantel.

Jede Bewegung der schwankenden Gestalt und der zitternden Hände des alten Mannes, jede Geste, jedes schreckhafte Zusammenzucken deuteten ohne Frage darauf hin, daß er hilflos war und sich in einer Auflösung der Körper- und Geisteskräfte befand. Er bewegte sich zollweise vorwärts, er setzte sich mit behutsamem Atemholen. Gewiß, philosophische Köpfe sprechen Raum und Zeit jede greifbare Existenz ab, aber hier schien es erwiesen, daß ein Lahmer einem Omnibus nachgerannt war.

Syme sprang auf dem schaukelnden Wagen in die Höhe, und mit einem verzweifelten Blick auf den winterlichen Himmel, der immer düsterer wurde, lief er die Stufen hinab. Den elementaren Drang, gleich von oben abzuspringen, hatte er zum Glück noch unterdrückt.

Zu aufgeregt, um zurückzuschauen oder ruhig zu überlegen, sauste er in einen der kleinen Höfe an der Fleet Street wie ein Kaninchen in ein Loch. Er hatte die verschwommene Idee, daß er das unbegreifliche Schachtelmännchen, falls es ihn wirklich verfolgen sollte, in jenem Labyrinth kleiner Gassen von seiner Spur ablenken könnte. Er tauchte unter und wieder auf in den krummen Gäßchen, die mehr engen Spalten als Fahrstraßen glichen, und nachdem er an ungefähr zwanzig verschiedenen Winkeln vorbeigegangen und ein unvorstellbares Vieleck beschrieben hatte, hielt er an, um auf einen Laut des Verfolgers zu lauschen. Es war nichts zu vernehmen, es konnte auch nicht viel gehört werden, da die kleinen Straßen dick mit Schnee bededst waren, der jeden Laut verschluckte. Irgendwo hinter Red Lion Court jedoch bemerkte er einen Platz, wo einige energische Bürger den Schnee auf eine Entfernung von ungefähr zwanzig Metern beseitigt hatten, so daß die Pflastersteine naß glänzend hervorschauten. Syme sah das nicht, als er vorüberging, er suchte nur nach einem neuen Weg aus dem Irrgarten. Doch als er ein paar hundert Meter weiter war, stand er wiederum still, um zu horchen. Aber auch sein Herz schien auszusetzen, denn er hörte von jener Stelle her, wo die holprigen Steine waren, die klappernde Krücke und die schlürfenden Füße des teuflischen Krüppels.

Der Himmel drohen war mit Schneewolken überzogen, die London vor der Zeit in eine beklemmende Dunkelheit hüllten. Zu beiden Seiten Symes waren die Häuserwände der Gasse unkenntlich und gestaltlos. Nichts von einem Fenster oder einem Durchblick war zu sehen. Er fühlte wieder den Drang in sich, aus diesem Häuserhaufen hinauszugelangen in die offene und helle Straße. Doch bummelte und irrte er noch lange Zeit umher, bis er endlich die Hauptverkehrsader gefunden hatte. Er war auf den weiten und leeren Ludgate Circus gelangt und sah die St.-Pauls-Kathedrale vor sich in den Himmel ragen.

Zunächst war er verdutzt, diese großen Straßen so leer zu finden, als habe eine Pest in der Stadt gewütet. Dann sagte er sich, daß eine gewisse Leere durchaus natürlich sei, denn erstens tobte der Schneesturm nicht unbedenklich, und zweitens war es Sonntag. Bei diesem Gedanken biß er sich auf die Lippen; das Wort Sonntag war für ihn ja ein vieldeutiges Wortspiel. Unter dem weißen Schneenebel hoch am Himmel war die ganze Atmosphäre der Stadt in ein merkwürdig grünes Zwielicht getaucht wie ein unterseeisches Panorama. Der trübe Abendhimmel hinter der dunklen Kuppel von St. Paul hatte sich mit rauchigen und düsteren Farben überzogen, Farben von krankhaftem Grün, totem Rot und erlöschender Bronze, die gerade noch hell genug waren, das solide Weiß des Schnees hervortreten zu lassen. Rechts hob sich gegen diese trostlosen Farben die schwarze Masse der Kathedrale, und auf der Spitze der Kathedrale war zufällig ein großer weißer Sdmeefleck liegengeblieben und klebte fest wie an einer Alpenspitze. Er lag so, daß er das oberste Ende der Kuppel zur Hälfte einhüllte und die große Kugel und das Kreuz in vollkommenem Silber heraushob. Als Syme dies erblickte, richtete er sich plötzlich auf und grüßte unwillkürlich mit seinem Stockdegen.

Er wußte, daß jener Böse wie ein Schatten hinter ihm her war, schnell und langsam, aber er machte sich nun nichts mehr daraus. Wie ein Symbol menschlicher Treue und Tapferkeit schien es ihm, daß mitten in den dunklen Himmel hell diese Spitze emporragte. Mochten die Teufel den Himmel in Fesseln schlagen, das Kreuz hatten sie nicht überwältigt. Das verlieh ihm neue Kraft. Er wollte das Geheimnis dieses rennenden, springenden und doch gelähmten Verfolgers zerreißen. Am Eingang des Gäßchens drehte er sich, den Stock in der Hand, um und sah dem Paralytiker entgegen.

Professor de Worms kam langsam um die Biegung. Eine einsame Gaslampe verzerrte die Umrisse seiner Gestalt, so daß man unwillkürlich an die phantastische Figur aus dem Kinderreim denken mußte. »Das bucklige Männlein, das eine bucklige Meile ging.« Er sah wirklich aus, als wäre er von den gewundenen Straßen, durch die er sich geschlängelt, aus seiner ursprünglichen Form gedreht werden. Er kam näher und näher; das Lampenlicht schien auf seine nach oben gerichtete Brille, sein nach oben gehobenes, kränkliches Gesicht. Syme erwartete ihn wie St. Georg den Drachen, wie ein Mann, der auf eine endliche Erklärung oder auf den Tod wartet. Und der alte Professor kam geradewegs auf ihn zu und ging an ihm vorüber wie ein Fremder, ohne auch nur zu blinzeln mit seinen jämmerlichen Augenlidern.

In diesem Unschuldigtun lag etwas, was Syme in eine helle Wut versetzte. Des Mannes Gehabe schien ausdrücken zu wollen, daß die ganze Verfolgung nur ein Zufall war. Syme war mit einer Energie geladen, die halb Erbitterung, halb plötzlicher Ausbruch eines knabenhaften Holmes war. Er machte eine wilde Gebärde, als ob er des alten Mannes Hut herunterschlagen wollte, schrie etwas wie: »Fang mich, wenn du kannst!« und rannte im Sturmschritt quer über den weißen, offenen Platz davon. Jetzt war kein Versteckspiel mehr möglich. Als Syme über seine Schulter zurücksah, konnte er die schwarze Gestalt des alten Gentleman hinter sich herkommen sehen mit langen, schwingenden Schritten wie einer, der ein Meilenrennen gewinnen will. Aber der Kopf auf diesem springenden Körper war immer noch bleich, ernst und standesgemäß — wie das Haupt eines Professors auf dem Körper eines Harlekins.

Diese wütende Jagd stürmte über den Ludgate Circus dahin, Ludgate Hill hinauf, um die St.-Pauls-Kathedrale, Cheapside entlang. Dabei erinnerte sich Syme an all die bösen Geister, von denen er jemals gehört hatte. Dann schwenkte er auf den Fluß zu und kam fast unten bei den Docks an. Er sah die gelben Fensterscheiben einer niedrigen, erleuchteten Schenke, flog hinein und verlangte Bier. Es war eine schmutzige Kneipe, voller fremder Matrosen, ein Platz, wo Opium geraucht und Messer gezückt werden mochten.

Einen Augenblick später betrat Professor de Worms den Raum, setzte sich vorsichtig und bat um ein Glas Milch.

Der Professor gibt Erklärungen

Als Gabriel Syme sich schließlich auf einem Stuhl wiederfand, gegenüber, gleichfalls wie am Ziel angelangt, den Professor mit seinen hochgezogenen Augenbrauen und bleiernen Lidern, kehrten seine Angstzustände zurück. Dieser unbegreifliche Mensch aus dieser Wüsten Sitzung des Anarchistenrates hatte ihn — trotz allem — eben doch verfolgt. Wenn dieser Mann als Paralytiker ein andrer war denn als Verfolger, so mochte ihn der Widerspruch interessanter, kaum aber erfreulicher machen. Es war wahrlich kein Trost, daß der Professor ihn immer zu finden wußte, er jedoch das Geheimnis des Professors nicht lüften konnte. Syme leerte einen ganzen Zinnkrug Ale, bevor der Professor seine Milch berührt hatte.

Eine Möglichkeit freilich stärkte seine Hoffnung, wenn sie ihm auch weiter nichts half. Es war möglich, daß diese ganze tolle Verfolgung etwas ganz anderes bedeutete als ausgerechnet einen Verdacht gegen ihn. Vielleicht war das törichte Dahinstürmen so etwas wie ein freundschaftliches Signal, das er hätte verstehen sollen. Vielleicht war es ein Ritual. Vielleicht wurde der neue Donnerstag immer Cheapside entlang gejagt, wie der neue Lord Mayor jeweils denselben Weg unter feierlichem Geleit zurücklegen muß. Er überlegte gerade, wie er dies durch eine Frage herausbekommen sollte, als der alte Professor ihn plötzlich ansprach. Bevor Syme die erste diplomatische Frage stellen konnte, fragte der alte Anarchist ihn seinerseits geradezu auf den Kopf: »Sind Sie eigentlich Polizist?«

Was immer auch Syme erwartet haben mochte — diese bündige und bedeutsame Frage hatte er nicht erwartet. Selbst bei seiner Geistesgegenwart brachte er nur eine Antwort voll reichlich plumper Scherzhaftigkeit heraus: »Ein Polizist?« lachte er gezwungen. »Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß ich ein Polizist sein soll?«

»Die Sache ist ganz einfach«, erwiderte der Professor geduldig. »Sie sehen wie ein Polizist aus. Darum kalkuliere ich, Sie sind einer.«

Jetzt verzerrte sich Symes Lächeln. »Ich habe wohl den Hut eines Polizisten versehentlich aus dem Restaurant mitgenommen, was?« fragte er zurück. »Ich habe durch irgendeinen Zufall irgendwo eine Nummer angesteckt bekommen, was? Meine Schuhe haben wohl etwas vom Auge des Gesetzes, was? Warum muß ausgerechnet ich ein Polizist sein? Lassen Sie mich doch einen Briefboten sein!«

Der alte Professor schüttelte seinen Kopf mit einem Ernst, der nichts hoffen ließ. Mit fieberhaftem Spott rannte Syme dagegen an. »Aber vielleicht mißverstehe ich die Feinheiten Ihrer deutschen Philosophie. Vielleicht ist Polizist ein relativer Ausdruck: Im Sinne der Entwicklungslehre verwandelt sich der Affe so allmählich in einen Polizisten, daß man keinen Übergang mehr entdecken kann. Der Affe schließt bereits die Möglichkeit eines Polizisten in sich. Ich kümmere mich ebensowenig darum, ein möglicher Polizist zu sein, wie darum, im deutschen Denken überhaupt etwas zu bedeuten.«

»Stehen Sie im Polizeidienst?« sagte der alte Mann, der Symes improvisierte und verzweifelte Stichelei überhörte. »Sind Sie ein Detektiv?«

Symes Herz wurde zu Stein, aber sein Gesicht veränderte sich nicht. »Ihre Zumutung ist lächerlich«, begann er. »Was auf Erden…«

Der alte Mann schlug mit seiner gelähmten Hand so heftig auf den wackeligen Tisch, daß er beinahe zusammenbrach. »Ich habe Sie kurz und bündig gefragt, Sie schwätzender Spitzel«, schrillte er mit seiner Fistelstimme. »Sind Sie ein Kriminalbeamter oder nicht?«

»Nein«, antwortete Syme wie ein Mann, der unter des Henkers Beil steht.

»Sie beschwören es«, sagte der alte Mann, indem er sich zu ihm hinüberbeugte; sein totes Gesicht belebte sich dabei widerwärtig. »Sie beschwören es. Verdammt sollen Sie sein, wenn Sie falsch schwören. Der Teufel soll bei Ihrer Beerdigung tanzen, und die bösen Geister sollen auf Ihrem Grab hacken. Soll da wirklich kein Mißverständnis vorliegen? Sie wollen ein Anarchist sein, ein Dynamitverbrecher? Vor allem, Sie wollen in keiner Weise ein Detektiv sein? Sie wollen nicht zur britischen Polizei gehören?«

Er lehnte seinen eckigen Ellbogen weit über den Tisch und legte seine große Hand wie eine Klappe ans Ohr.

»Ich bin nicht bei der britischen Polizei«, beteuerte Syme mit erkünstelter Ruhe.

Professor de Worms fiel in seinen Stuhl zurück und zeigte eine seltsame Miene, ein Gemisch von Bedauern und Erleichterung. »Das ist schade, weil ich es nämlich bin.«

Syme sprang in die Höhe und schob die Bank mit einem Ruck zurück. »Weil Sie was sind?« fragte er schwerfällig. »Sie sind was?«

»Ich bin ein Polizist«, erwiderte der Professor mit breitem Lächeln und durch seine Brille blitzend. »Aber da Sie den Polizisten für einen relativen Begriff halten, habe ich nichts mit Ihnen zu tun. Ich bin bei der britischen Polizeitruppe, sintemalen Sie mir jedoch versichern, Sie seien nicht bei der britischen Polizeitruppe, kann ich nur sagen, daß ich Sie in einem Klub von Dynamitverbrechern getroffen habe. Eigentlich müßte ich Sie also verhaften.«

Mit diesen Worten legte er ein genaues Ebenbild der blauen Karte auf den Tisch, die Syme in seiner eigenen Westentasche hatte, das Symbol seiner ihm von der Polizei verliehenen Amtsgewalt.

Syme hatte für die Dauer eines Blitzstrahls das Gefühl, daß der Kosmos sich auf den Kopf gestellt habe, daß alle Bäume nach unten wüchsen und alle Sterne unter seinen Füßen seien. Dann kam langsam ein entgegengesetztes Gefühl. In den vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte sich wirklich das Oberste zuunterst gekehrt, aber jetzt war das gekenterte Universum wieder auf die richtige Seite nach oben gelangt. Dieser Teufel da, der ihm gegenüber am Tisch sich zurücklehnte und ihn anlachte, vor dem er den ganzen Tag davongelaufen war, war nur ein älterer Bruder aus seinem eigenen Hause. Keinen Augenblick gelüstete es ihn nach Einzelheiten; die glückliche und simple Tatsache genügte ihm, daß dieser Schatten, der ihn mit unerträglichem Druck verfolgt und bedroht hatte, nur der Schatten eines Freundes war, der ihn einholen wollte. Er wußte, daß er ein Narr war und ein freier Mann zugleich. Mit jeder Befreiung aus unnormalen Zuständen ist ja stets eine gewisse gesunde Reaktion verbunden. Drei Dinge sind möglich: höllischer Stolz, Tränen und Gelächter. Symes Selbstbewußtsein verharrte ein paar Sekunden lang beim ersten, um dann plötzlich zum dritten überzugehen. Seine blaue Polizistenmarke aus der Westentasche ziehend und auf den Tisch schleudernd, warf er den Kopf zurück, bis die Spitze seines gelben Bartes fast zur Decke senkrecht stand, und brach in ein barbarisches Lachen aus.

Selbst in diesem engen Loch, das bis oben erfüllt war von beständigem Geklirr von Messern, Geschirr, Kannen, lärmenden Stimmen, plötzlich aufbrausendem Gezeter und wilden Bewegungen wirkte das homerisch ausgelassene Gelächter Symes so, daß einige Halbbetrunkene aufschauten.

»Worüber lachst du denn, Mensch?« fragte ein Dockarbeiter verwundert.

»Über mich selbst«, antwortete Syme und entlud sich abermals in den Krampf seines ekstatischen Zustands.

»Nehmen Sie sich zusammen«, sagte der Professor, »sonst werden Sie noch hysterisch. Trinken Sie etwas mehr Bier! Ich mache mit.«

»Sie haben Ihre Milch noch nicht getrunken.«

»Meine Milch!« sagte der andere im Ton unermeßlicher Verachtung. »Glauben Sie, ich sehe diesen scheußlichen Stoff auch nur an, wenn ich außer Sicht der verdammten Anarchisten bin? Wir sind alle Christenmenschen in diesem Zimmer, das heißt«, fügte er mit einem Blick auf den zechenden Haufen hinzu, »vielleicht nicht alle. Meine Milch austrinken? Tod und Teufel! Ja, ich werde sie bald ausgetrunken haben.« Er schlug das Glas auf den Tisch, daß die Splitter klirrten und eine helle Flüssigkeit umherspritzte.

Syme starrte ihn an mit glückseliger Neugier. »Jetzt verstehe ich erst, daß Sie überhaupt kein Greis sind.«

»Ich kann mein Gesicht hier nicht wegmachen. Es ist eine ziemlich mühsame Sache. Und zu entscheiden, ob ich ein alter Mann bin, liegt nicht an mir. Jedenfalls war ich an meinem letzten Geburtstag achtunddreißig.«

»Ja, aber ich meine, was fehlt Ihnen nun eigentlich?«

»Hm, ich neige zu Erkältungen.«

Sein Lachen über all dies entspannte und erleichterte Syme seltsam. Er lachte über die Idee, daß der paralytische Professor in Wahrheit ein junger Schauspieler war, der sich wie für das Rampenlicht zurechtgemacht hatte. Aber er fühlte, daß er auch ebenso laut gelacht hätte, wenn ein Salzfaß umgefallen wäre.

Der falsche Professor trank und wischte den falschen Bart. »Wußten Sie, daß dieser Gogol einer von uns war?«

»Ich? Nein, ich wußte es nicht. Wußten Sie es?«

»Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Ich dachte, der Präsident meinte mich, und war zu Tod erschrocken.«

»Und ich dachte, er meinte mich. Ich hatte die ganze Zeit über die Hand am Revolver.« Syme mußte immer noch lachen.

»Ich auch, und augenscheinlich auch Gogol.«

Syme schlug auf den Tisch. »Drei von den unsern waren also da. Drei von sieben — das macht schon etwas aus. Wenn wir nur gewußt hätten, daß wir zu dritt waren!«

Die Miene des Professors de Worms verfinsterte sich; er sah nicht auf, als er sagte: »Wir waren drei, das stimmt. Aber auch wenn wir dreihundert gewesen wären, hätten wir doch nichts ausrichten können.«

»Nichts ausrichten? Dreihundert gegen vier?« höhnte Syme.

»Nein. Gegen Sonntag nicht.«

Der bloße Name ernüchterte Syme. Er wirkte wie eine kalte Dusche. Sein Gelächter erlosch in seinem Herzen, bevor es auf seinen Lippen erstarb. Das Gesicht des unvergeßlichen Präsidenten tauchte in seiner Erinnerung auf, so lebhaft wie eine farbige Photographie. Der Unterschied zwischen Sonntag und seinen Trabanten wurde ihm jetzt erst bewußt. Ihre Gesichter, wie leidenschaftlich und finster sie auch sein machten, verwischten sich allmählich im Gedächtnis wie jedes andere Menschengesicht, das Sonntags dagegen schien immer schärfer hervorzutreten wie ein gut getroffenes Porträt, das immer lebendiger wird, je länger man es betrachtet.

Beide schwiegen für die Dauer von Augenblicken. Dann platzte Syme heraus so rasch wie der Pfropfen aus der Champagnerflasche: »Professor, es ist unerträglich. Fürchten Sie sich vor diesem Mann?«

Der Professor hob seine schweren Lider und starrte Syme mit großen, weit offenen, blauen Augen voller Biederkeit an. »Ja, Sie auch?«

Syme verstummte sekundenlang. Dann richtete er sich kerzengerade auf wie einer, dem man eine Beleidigung ins Gesicht geschleudert hat und schob den Stuhl von sich. »Ja«, bekannte er mit einem unbeschreiblichen Klang in der Stimme. »Sie haben recht. Ich fürchte mich vor ihm. Darum schwöre ich bei Gott, daß ich diesen Menschen, den ich fürchte, suchen werde, bis ich ihn finde und ihm den Mund zerschlage. Mag der Himmel sein Thron und die Erde sein Schemel sein, ich schwöre, daß ich ihn demütige.«

»Wie?« fragte der Professor und ließ ihn nicht aus den Augen. »Warum?«

»Weil ich mich vor ihm fürchte, und kein Mensch sollte im Weltall etwas haben, vor dem er sich fürchtet.«

De Worms blinzelte ihn an voll Verwunderung. Er machte einen Versuch zu sprechen, aber Syme fuhr mit leiser Stimme fort, in der eine leidenschaftliche Erregung mitschwang: »Wer würde sich herbeilassen, Dinge zu zerschlagen, die er nicht fürchtet? Wer würde sich erniedrigen, schlechthin tapfer zu sein wie irgendein gewöhnlicher Preisboxer? Wenn einer furchtlos ist, neigt er sich nicht wie ein Baum. Bekämpfe das, was du fürchtest! Sie erinnern sich der alten Geschichte von dem englischen Geistlichen, der einem alten Briganten auf Sizilien die letzte Ölung gab. Zum Dank sagte der große Räuber auf seinem Totenbett: ›Ich kann Ihnen kein Geld, aber einen Rat für Ihr Leben geben: Die Klinge fest in die Hand — und zustoßen!‹ So möchte ich auch zu Ihnen sprechen, Professor: Zuschlagen, und sei’s bis an die Sterne!«

Der andere blickte auf die Decke, eine Eigentümlichkeit von ihm. »Sonntag ist ein Fixstern.«

Syme setzte sich den Hut auf. »Sie werden ihn bald fallen sehen.«

Die Entschiedenheit dieser Bewegung brachte den Professor halbwegs auf die Beine. »Haben Sie eine klare Vorstellung, wohin Sie jetzt gehen werden?«

»Natürlich, ich werde verhindern, daß diese Bombe in Paris geworfen wird.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie?«

»Nein«, gab Syme mit der gleichen Entschiedenheit zu.

»Wr wollen nichts übereilt tun«, fuhr der angebliche de Worms fort, indem er seinen Bart strich und zum Fenster hinaussah. »Sie entsinnen sich, daß die ganzen Vorbereitungen für das scheußliche Verbrechen in die Hände des Marquis und des Dr. Bull gelegt worden sind. Der Marquis überquert mittlerweile wohl den Kanal. Aber wohin er gehen und was er vorhaben wird, weiß vermutlich nicht einmal der Präsident; wir jedenfalls bestimmt nicht. Der einzige, der es wissen könnte, ist Dr. Bull.«

»Verdammt! Und wir wissen nicht, wo er ist.«

»Tja«, meinte der andere in seiner merkwürdig geistesabwesenden Art. »Ich weiß es.«

Syme machte gierige ‘Augen. »Wollen Sie es mir nicht sagen?«

»Ich will Sie hinführen«, beruhigte ihn der Professor und nahm seinen Hut vom Nagel.

Syme stand da und schaute ihn in heftiger Erregung an. »Wissen Sie auch, was Sie beabsichtigen? Sie wollen sich mir anschließen? Sie wollen das Risiko auf sich nehmen?«

Vergnügt antwortete der Professor: »Junger Mann, es macht mir Spaß, daß Sie mich für einen Feigling halten. Ich habe nur ein Wort dazu zu sagen, und zwar ganz in der Art Ihrer eigenen philosophischen Rhetorik. Sie glauben, es sei möglich, den Präsidenten zu stürzen. Ich weiß, daß es unmöglich ist, und ich versuche es trotzdem.« Dabei öffnete er die Tür der Kneipe, durch die ein scharfer Luftzug hereinblies. Dann gingen sie in die dunklen Straßen hinaus.

Der meiste Schnee war geschmolzen, aber hier und da zeigte sich noch ein in der Dunkelheit allerdings mehr grauer als weißer Klumpen. Die engen Gassen waren dreckig und voller Pfützen, in denen sich die brennenden Lampen unregelmäßig wie Bruchstücke einer andern, versunkenen Welt spiegelten. Syme kam sich fast wie betäubt vor, als er durch dieses wach— sende Gewirr von Licht und Schatten hindurchschritt, sein Begleiter dagegen hielt mit einer gewissen Munterkeit auf das Ende der Straße zu, wo ein zollbreiter Streifen des Flusses aufleuchtete wie ein Flammenstreifen.

»Wo gehen Sie hin?« erkundigte sich Syme.

»Jetzt gehe ich mal hier an die Ecke und will sehen, ob Dr. Bull schon zu Bett gegangen ist. Er ist sehr auf seine Gesundheit bedacht und legt sich früh schlafen.«

»Dr. Bull! Wohnt er denn hier an der Ecke?«

»Nein. Eigentlich wohnt er ein Stück weiter weg, an der andern Seite des Flusses, aber von hier aus kann man feststellen, ob er schon zu Bett ist.«

Er wandte sich der Ecke zu, von der er gesprochen hatte, und deutete, unmittelbar vor dem trüben, mit Lichtern gesprenkelten Fluß, mit seinem Stock auf das andere Ufer. Auf der Surreyseite reichte gerade an diesen Punkt ein massiger Block von großen Wohnhäusern an die Themse heran, und zwar so nahe, daß man glaubte, er hinge über den Fluß. Er war übersät mit beleuchteten Fenstern und ragte wie ein gewaltiger Fabrikschornstein zu einer fast unglaublichen Höhe auf. Seine besondere Wucht und die einzigartige Lage gaben dem Gebäudeblock ein eigentümliches Aussehen. Syme hatte niemals einen der Wolkenkratzer in Amerika gesehen, darum erschienen ihm die Gebäude so traumhaft.

Gerade wie er so in Gedanken versunken war, ging das höchste Licht in diesem mit ungezählten Lichtern beleuchteten Turm plötzlich aus, als ob dieser schwarze Argus mit einem seiner ungezählten Augen ihm zugeblinzelt hätte.

Professor de Worms drehte sich auf seinem Absatz herum und schlug mit dem Stock an seinen Schuh. »Wir kommen zu spät. Der hygienische Doktor hat sich schon ins Bett gelegt.«

»Wie meinen Sie? Wohnt er denn drüben?«

»Ja, hinter jenem merkwürdigen Fenster, das Sie jetzt nicht mehr sehen können. Los, und jetzt essen wir einen Bissen. Wir müssen ihn morgen früh besuchen.«

Ohne weiter viel Worte zu machen, schlug er den Weg durch mehrere Seitengassen ein, bis sie in das grelle Licht und den Lärm der East India Dock Road kamen. Der Professor, der sich hier auszukennen schien, ging auf einen Platz zu, wo die Reihe erleuchteter Läden in ein unerwartet beruhigendes Zwielicht getaucht war. Ein altes, baufälliges Gasthaus stand zwanzig Fuß von der Straße zurück.

Der Professor erklärte: »Man kann gute englische Gasthäuser, versteckt wie Fossilien, durch einen Zufall überall finden. Ich habe einmal ein solch anständiges Lokal in Westend aufgestöbert.«

Syme lächelte: »Vermutlich ist dies hier das entsprechende anständige Lokal in Eastend.«

»Genau«, sagte der Professor zustimmend und betrat das Gasthaus.

Hier speiste und schlief man recht gediegen. Die Bohnen mit Schinken, die man hier ausgezeichnet zu bereiten verstand, dazu der erstaunlich gute Burgunder, krönten Symes Behagen und sein Gefühl, einen neuen Kameraden gefunden zu haben. Während der ganzen bisherigen Prüfungszeit war das Alleinsein eine der Wurzeln seines Unbehagens gewesen. Es gab keine Worte, die Kluft zu schildern, die zwischen diesem Alleinsein und dem Bewußtsein bestand, einen Bundesgenossen zu besitzen. Den Mathematikern mag man recht geben, daß vier zweimal zwei ist. Aber zwei ist nicht zweimal eins, zwei ist zweitausendmal eins. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb die Welt, trotz aller damit verbundenen Nachteile, immer wieder zur Einehe zurückkehren wird.

Syme konnte zum ersten Mal seine ganze abenteuerliche Geschichte ausführlich darlegen, von dem Augenblick an, da er mit Gregory in die kleine Schenke am Fluß gegangen war. Er tat es ohne Aufregung und weitläufig, in einer Art gemütlichen Selbstgesprächs, wie man sich mit guten alten Freunden unterhält. Aber auch der Mann, der die Rolle des Professors de Worms spielte, war nicht minder mitteilsam. Seine eigene Geschichte war ebenso verrückt wie die Symes.

»Ihre Ausstaffierung ist nicht schlecht«, meinte Syme und trank aus seinem Glas Mäcon, »beträchtlich besser jedenfalls als die des alten Gogol. Von Anfang an kam er mir etwas zu haarig vor.«

»Das macht der Unterschied in der künstlerischen Auffassung«, versetzte der Professor nachdenklich. »Gogol ist Idealist. Er verkleidete sich als das abstrakte oder sagen wir das platonische Ideal eines Anarchisten. Ich aber bin Realist. Ich bin Porträtmaler. Das heißt, Porträtmaler ist ein nicht ganz richtiger Ausdruck. Ich bin ein Porträt.«

»Das versteh’ ich nicht.«

Der Professor wiederholte: »Ich bin ein Porträt, das Porträt des berühmten Professors de Worms, der, wenn ich mich nicht irre, in Neapel ist.«

»Sie meinen, Sie haben sich als de Worms verkleidet. Aber weiß er denn, daß Sie mit seiner Nase Mißbrauch treiben?«

»Er weiß es recht wohl.«

»Warum zeigt er Sie dann nicht an?«

»Ich habe ihn angezeigt.«

»Das müssen Sie mir erklären.«

»Mit Vergnügen, wenn es Sie nicht langweilt, meine Geschichte zu hören«, antwortete der berühmte Philosoph aus dem Ausland. »Ich bin von Beruf Schauspieler und heiße Wilks. Als ich noch auf der Bühne war, verkehrte ich mit allem möglichen Lumpenpack und allen möglichen Genies. Manchmal kam ich mit Leuten vom Rennsport zusammen, manchmal mit Kunstschlawinern, manchmal mit politischen Flüchtlingen. Auf einer solchen Bude emigrierter Phantasten wurde ich dem großen deutschen nihilistischen Philosophen Professor de Worms vorgestellt. Ich wußte nicht viel über ihn, bis ich ihn kennenlernte. Aber seine wenig anziehende Erscheinung hatte ich sorgfältig studiert. Jetzt verstand ich, warum er beweisen wollte, daß das Prinzip der Zerstörung die Gottheit des Weltalls sei, warum er die Notwendigkeit einer leidenschaftlichen, unablässigen Energie forderte, die alle Dinge in Fetzen reißen müsse. Energie, behauptete er, sei das All. Er war lahm, kurzsichtig und Paralytiker. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich in etwas frivoler Stimmung, und er war mit so zuwider, daß ich beschloß, ihn nachzuahmen. Wäre ich ein Zeichner gewesen, so hätte ich eine Karikatur von ihm gemacht. Ich war aber nur ein Schauspieler, und so konnte ich eine Karikatur von ihm bloß mimen. Ich staffierte mich zu einer wilden Travestie des alten verwahrlosten Professors aus. Als ich das Zimmer betrat, in dem seine Anhänger versammelt waren, erwartete ich, mit brüllendem Gelächter empfangen zu werden oder gar mit stürmischem Unwillen über die beleidigende Anmaßung. Das genaue Gegenteil trat ein. Ich kann die Überraschung nicht beschreiben, die ich empfand, als ich beim Eintritt respektvollem Stillschweigen begegnete, dem ein bewunderndes Beifallsmurmeln folgte, als ich meine Lippen öffnete. Der Fluch des vollendeten Künstlertums hatte mich getroffen: Ich war zu geschickt gewesen, zu naturgetreu! Die dort glaubten, ich sei wirklich der große nihilistische Professor. Ich war ein geistig gesunder junger Mann damals und bekenne, daß mich jener Glaube doch irgendwie bedrückte. Bevor ich mich völlig erholen konnte, kamen zwei oder drei seiner Bewunderer aufgeregt auf mich zu, voller Unwillen, und sagten empört, daß mir im Nebenzimmer eine öffentliche Beleidigung zugefügt werden sei. Ich fragte nach den näheren Umständen. Man sagte mir wütend, daß ein frecher Bursche mich zu parodieren versuche. Ich hatte mehr Champagner getrunken als mir zuträglich war, und angeheitert, wie ich war, entschloß ich mich, die Situation auszukosten. Ich wollte den drohenden Blicken der Gesellschaft entgegengehen mit erhobenen Augenbrauen und eisigem Blick — in diesem Augenblick trat der wirkliche Professor ins Zimmer.

Ich brauche kaum zu sagen, daß ein Zusammenstoß unvermeidlich war. Die Pessimisten um mich herum schauten ängstlich von dem einen Professor zum andern, gespannt darauf, wer den kürzeren ziehen würde. Ich gewann. Von einem alten Mann in schlechtem Gesundheitszustand, wie es mein Rivale war, konnte man nicht annehmen, daß er einen solch sterbenselenden Eindruck machte wie ich lebenskräftiger junger Schauspieler, der es darauf anlegte, sterbenselend zu sein. Er hatte tatsächlich Paralyse; da er dadurch jedoch erheblich behindert war, konnte er keineswegs ein solch ausgezeichneter Paralytiker sein wie ich. Er versuchte, mich geistig zu schlagen. Ich begegnete ihm mit einem sehr einfachen Trick. Sobald er etwas sagte, was niemand als er selber verstand, erwiderte ich etwas, was nicht einmal ich selber verstand. Er sagte: ›Ich denke nicht, daß Sie nach dem Prinzip handeln könnten, nach dem Evolution nur eine Negation ist. Sie inhärieren die Introduktion der Distanzen, die wiederum ein wesentlicher Bestandteil des Differentials sind.‹ Ich antwortete spöttisch: ›Das haben Sie alles bei Pinkwerts gelesen; die Ansicht, daß Involution eugenisch wirkt, hat Glumpe längst dargelegt.‹ Es ist unnötig zu sagen, daß es nie Leute wie Pinkwerts und Glumpe gegeben hat. Nur unser Publikum schien sich ihrer, zu meiner Überraschung, zu erinnern. Der Professor fand, daß seine gelehrte und mysteriöse Methode ihn der Willkür eines Feindes aussetzen könnte, dem der Zweifel nicht lag. So wählte er eine verständlichere Form des Witzes. ›Ich sehe‹, stichelte er. ›Sie haben Erfolg wie das falsche Ferkel bei Aesop.‹ ›Und Sie fallen herein wie der Igel bei Montaigne.‹ Brauche ich zu sagen, daß es bei Montaigne keinen Igel gibt? Er meinte: ›Ihre Effekthascherei geht aus wie Ihr Bart.‹ Auf diese ganz richtige Bemerkung fand ich nicht gleich eine treffende Antwort. So lachte ich herzlich und sagte aufs Geratewohl: ›Ganz wie der Hausknecht des Pantheisten‹, und drehte mich spornstreichs um, meines Sieges gewiß. Der wirkliche Professor war aus dem Feld geschlagen, wenn auch nicht mit Gewalt, obwohl einer mit aller Ausdauer versuchte, ihm die Nase abzureißen. Er wird jetzt, glaube ich, überall in Europa als harmloser Betrüger behandelt. Sein scheinbarer Ernst und Zorn machen ihn nur noch amüsanter.«

»Hm, daß Sie diesen schmutzigen, alten Bart zum Scherz eine Nacht lang angelegt haben, verstehe ich, aber daß Sie ihn überhaupt nicht mehr ablegen, verstehe ich nicht.«

»Das ist der Schluß der Geschichte. Als ich, begleitet von verehrungsvollem Beifall, die Gesellschaft verließ, humpelte ich die dunkle Straße hinunter, in der Hoffnung, bald weit genug weg zu sein, um wieder wie ein Mensch aussehen zu können. Kaum war ich um eine Ecke gebogen, da spürte ich, wie mich einer an der Schulter faßte. Ich drehte mich um und sah mich einem riesigen Polizisten gegenüber. Er sagte mir, daß man mich brauche. Ich nahm die Haltung eines Paralytikers an und schrie mit hartem deutschem Akzent: ›Gewiß, sie brauchen mich, die Unterdrückten in der Welt. Sie wollen mich verhaften mit der Beschuldigung, der große Anarchist Professor de Worms zu sein.‹ Der Polizist zog unbeweglich ein Papier in seiner Hand zu Rate und sagte höflich: ›Nein, mein Herr, wenigstens nicht ganz in diesem Sinne. Ich soll Sie verhaften, weil Sie nicht der berühmte Anarchist de Worms sind.‹ Diese Beschuldigung war, wenn sie überhaupt ein Verbrechen meinte, jedenfalls die leichtere von den beiden. So ging ich mit dem Mann, in leichtem Zweifel, aber ohne Beunruhigung. Ich wurde durch eine Anzahl Zimmer geführt und stand schließlich vor einem Polizeioffizier. Der eröffnete mir, daß ernsthafte Maßnahmen geplant seien gegen die Zellen des Anarchismus und daß diese meine Maskerade von beträchtlichem Wert für die öffentliche Sicherheit sein könnte. Er bot mir ein gutes Gehalt und diese, kleine blaue Karte an. Obwohl unsere Unterhaltung nur kurz war, kam er mir vor wie ein Mann von recht gesundem Menschenverstand und Humor. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wie er aussah, weil …«

Syme legte Messer und Gabel hin. »Ich weiß. Weil Sie mit ihm in einem verdunkelten Zimmer sprachen.«

Professor de Worms nickte und trank sein Glas aus.

Der Mann mit der Brille

»Burgunder ist eine hübsche Sache«, bekannte der Professor traurig, als er sein Glas niedersetzte.

»Sie sehen nicht so aus, als ob das stimmte«, versetzte Syme. »Sie trinken ihn, als sei er eine Medizin.«

»Sie müssen mich entschuldigen«, sagte der Professor trübsinnig. »Meine Lage ist ziemlich merkwürdig. Innerlich möchte ich bersten vor knabenhaftem Vergnügen. Aber ich habe den paralytischen Professor so treffend gespielt, daß ich jetzt nicht mehr davon loskomme. So kann ich, selbst wenn ich unter Freunden bin und nicht die geringste Notwendigkeit besteht, mich zu verstellen, nicht mehr anders als langsam sprechen, mit gerunzelter Stirn, gerade wie wenn es meine eigene Stirn wäre. Ich vermag recht glücklich sein, verstehen Sie, aber nur in der Maske eines Paralytikers. Die vergnügtesten Ausrufe hüpfen mir im Herzen herum, aber völlig anders kommen sie mir aus dem Mund. Sie sollten mich einmal sagen hören: ›Nur Mut, Alter!‹ Es kämen Ihnen Tränen in die Augen.«

»Schön«, gab Syme zu, »aber ich kann mir nicht helfen, Sie kommen mir, abgesehen von all dem, doch ein wenig gequält vor.«

Der Professor war leicht verdutzt und starrte ihn an. »Sie sind ein verdammt kluger Bursche. Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten. Ja, ich habe eine ziemlich dicke Wolke im Kopf. Mich beschäftigt ein großes Problem.« Er senkte seine kahle Stirn auf seine beiden Hände. Dann begann er wieder mit leiser Stimme: »Können Sie Klavier spielen?«

»Ja«, entgegnete Syme etwas verwundert. »Man sagt, ich hätte einen guten Anschlag.« Dann fügte er hinzu, als sein Gegenüber schwieg: »Hoffentlich hat sich die dicke Wolke jetzt verflüchtigt.«

Nach langer Pause sagte der Professor aus dem Schatten seiner Hände heraus: »Es hätte auch genügt, wenn Sie gut Schreibmaschine schreiben könnten.«

»Danke für die Schmeichelei.«

»Passen Sie auf«, fuhr der andere fort. »Sie erinnern sich, wen wir morgen besuchen müssen. Sie und ich haben morgen etwas vor, das gefährlicher ist als ein Versuch, die Kronjuwelen aus dem Tower zu stehlen. Wir wollen ein Geheimnis aus einem sehr schlauen, sehr starken und sehr verruchten Mann herausholen. Ich glaube, es gibt keinen, den Präsidenten natürlich ausgenommen, der so wahrhaft fürchterlich ist wie jener kleine grinsende Bursche mit der dunklen Brille. Er hat vielleicht nicht die weißglühende Begeisterung bis zum Tode, das verrückte Märtyrertum für die Anarchie, das für den Sekretär so typisch ist. Aber jener Fanatismus des Sekretärs hat wenigstens menschliches Pathos und ist fast ein sympathischer Zug. Der kleine Doktor dagegen hat eine geradezu brutale Gesundheit, die viel unangenehmer ist als des Sekretärs Kränklichkeit. Vergessen Sie nicht seine abstoßende Männlichkeit und Lebenskraft. Er federt wie ein Gummiball. Verlassen Sie sich darauf, Sonntag hat nicht geschlafen — ich möchte eigentlich wissen, ob er überhaupt schläft —, als er alle Pläne dieses Verbrechens dem runden, schwarzen Schädel des Dr. Bull anvertraute.«

»Und Sie glauben, daß dieses einzigartige Ungeheuer besänftigt wird, wenn ich ihm Klavier vorspiele?«

»Seien Sie kein Esel! Ich habe das Klavierspielen nur erwähnt, weil man dadurch flinke und selbständige Finger bekommt. Syme, wenn wir durch die Unterhaltung mit Dr. Bull gesund und lebendig hindurchkommen wollen, müssen wir irgendeinen Zeichenkodex verabreden, den dieses Scheusal nicht kennt. Ich habe in großen Zügen ein Geheimalphabet ausgedacht, mit den fünf Fingern zu schreiben — sehen Sie, so«, und er telegraphierte mit den Fingern auf dem hölzernen Tisch. — »Bös, bös, ein Wort, das wir häufig brauchen können.«

Syme goß sich noch ein Glas Wein ein und begann das Schema zu studieren. Er verfügte über ein ungewöhnlich rasches Auffassungsvermögen für Rätsel, und er hatte zudem wahre Taschenspielerhände. So hatte er bald heraus, wie man einfache Botschaften durch harmlos erscheinendes Klopfen auf den Tisch oder das Knie übermitteln kann. Der Wein und das Gefühl, einen Kameraden gefunden zu haben, regten ihn zu immer neuen spaßhaften Einfällen an, und der Professor mußte bald gegen die allzu uferlosen Anwendungen der neuen Sprache ankämpfen, wie sie dem erhitzten Gehirn Symes entsprangen.

»Wir müssen bestimmte Wortzeichen haben«, schlug er nachdenklich vor, »Worte, die wir wahrscheinlich brauchen, fein abgestimmte Symbole von tieferer Bedeutung. Mein Lieblingswort ist ›Zeitgenosse‹. Und das Ihre?«

»Lassen Sie doch Ihre Albernheiten! Sie wissen wohl nicht, wie ernst das alles ist?«

»Saftig!« sagte Syme und schüttelte bedeutend seinen Kopf. »Wir müssen ›saftig‹ nehmen, saftig, wie man es vom Gras sagt. Sie kennen es doch?«

»Bilden Sie sich denn ein«, erboste sich der Professor, »daß wir uns mit Dr. Bull über Gras unterhalten?«

Syme ließ sich in seiner Nachdenklichkeit nicht stören. »Es gibt mehrere Wege, auf denen wir uns dem Mann nähern können, und gerade dieses Wort erleichtert uns die Einleitung spielend. Wir könnten sagen: ›Da Sie ein Revolutionär sind, Dr. Bull, erinnern Sie sich wohl, daß ein Tyrann uns einmal angedroht hat, wir müßten alle ins Gras beißen, und in der Tat blicken viele von uns auf das frische, saftige Gras des Sommers …‹«

»Verstehen Sie denn gar nicht, daß wir es hier mit einer Tragödie zu tun haben?«

»Durchaus, aber es ist doch immer etwas Komisches in einer Tragödie. Was zum Teufel können Sie sonst tun? Ich möchte Ihrer Sprache einen weiteren Spielraum gehen. Ich wollte, wir könnten sie mit Fingern und Zehen signalisieren. Das würde allerdings bedeuten, daß wir unsere Schuhe und Socken während der Unterhaltung auszögen, was jedoch unauffällig geschehen müßte …«

»Syme«, sagte sein Freund ernst und schlicht, »gehen Sie zu Bett!«

Noch geraume Zeit saß Syme in seinem Bett und knobelte an dem neuen Kodex. Er wurde am nächsten Morgen geweckt, als der Osten noch in Dunkelheit lag, und fand seinen graubärtigen Bundesgenossen wie einen leibhaftigen Geist an seinem Bett stehen.

Syme setzte sich im Bett zurecht und blinzelte. Dann sammelte er seine Gedanken, zog seinen Schlafanzug aus und stand auf. Irgendwie kam es ihm vor, als sei mit dem Schlafanzug alle Sicherheit und alles Gemeinschaftsgefühl der vergangenen Nacht von ihm abgefallen und als stände er da in einer Atmosphäre kalter Gefahr. Wohl empfand er Zuneigung und Vertrauen zu seinem Kameraden, aber es war das Vertrauen zwischen zwei Menschen, die zum Schafott gingen.

»Wohlan«, sagte Syme mit erzwungener Heiterkeit, als er seine Hosen anzog. »Ich habe von Ihrem Alphabet geträumt. Haben Sie eigentlich lange gebraucht, es zu entwerfen?«

Der Professor gab keine Antwort, sondern blickte vor sich hin mit Augen von der Farbe der winterlichen See. So wiederholte Syme seine Frage: »Ich meine, hat es lange gedauert, bis Sie sich all das ausgedacht hatten? Ich habe mir die Dinge gründlich durch den Kopf gehen lassen, und es hat mich eine gute Stunde Plackerei gekostet. Haben Sie lange gebraucht, es zu behalten?«

De Worms schwieg; seine Augen waren weit geöffnet und er trug ein starres, schmales Lächeln zur Sdlau.

»Wie lange haben Sie gebraucht?«

Der Professor rührte sich nicht.

»Zum Kuckuck, können Sie denn nicht antworten?« rief Syme in einem Wutanfall, dem etwas wie Furcht beigemischt war. Ob der Professor nicht antworten konnte oder nicht wollte?

Syme stand da und starrte auf das Gesicht mit der pergamentartigen Haut, mit den ausdruckslosen blauen Augen. Sein erster Gedanke war, daß der Professor verrückt geworden sei, sein zweiter Gedanke aber war noch entsetzlicher. Was wußte er denn schließlich von diesem seltsamen Menschen, den er unbesonnen zum Freund erkoren hatte? Er wußte von dem Mann nichts, als daß er an dem Anarchistenfrühstück teilgenommen und ihm eine längere Geschichte erzählt hatte.

Wie unwahrscheinlich war es doch, daß es neben Gogol noch einen Kameraden geben sollte! War dieses Mannes Stillschweigen eine neue Art, Krieg zu erklären? War diese diamantharte Starrheit am Ende bloß das furchtbare Grinsen eines dreifachen Verräters, der zum Schluß sein wahres Gesicht zeigt? Er stand und horchte angespannt in dies herzlose Schweigen. Er bildete sich fast ein, Dynamitattentäter kommen zu hören‘ um ihn zu packen und in aller Ruhe auf den Korridor hinauszudrängen.

Dann aber glitt sein Blick zufällig etwas tiefer, und plötzlich brach er in Lachen aus. Noch bewegte sich der Professor nicht, stumm wie ein Standbild, aber seine fünf Finger rührten sich lebhaft auf dem Tisch. Syme beobachtete die schnellen Bewegungen der sprechenden Hand und las klar die Botschaft: »Ich will nur auf diese Art sprechen. Wir müssen uns daran gewöhnen.«

Er klopfte die Antwort ungeduldig und erleichtert zugleich: »In Ordnung. Wir wollen frühstücken gehen.«

Sie griffen nach ihren Hüten und Stöcken, ohne ein Wort zu verlieren. Aber Syme packte seinen Stockdegen mit festem Griff, als er ihn in die Hand nahm.

Nur ein paar Minuten hielten sie sich in einer Kaffeebude auf, um rasch etwas Kaffee und ein paar dickbelegte Sandwiches zu sich zu nehmen. Dann machten sie sich auf, den Fluß zu überqueren, der in der grauen Morgenbeleuchtung so trostlos wie der Acheron aussah. Sie erreichten den Fuß des riesigen Häuserblocks, den sie vom jenseitigen Ufer gesehen hatten, und begannen stillschweigend die zahllosen Steintreppen hinaufzusteigen; nur hie und da blieben sie stehen, um am Geländer kurze Bemerkungen auszutauschen.

Bei jedem neuen Stockwerk kamen sie an einem Fenster vorbei; jedes Fenster zeigte ihnen eine bleiche, traurige Dämmerung, die sich mühsam über London erhob. Man sah die unzähligen Schieferdächer, die den bleigrauen Wegen einer aufgewühlten See nach dem Sturm glichen. Syme ward sich immer mehr bewußt, daß in seinem neuen Abenteuer stärker als in dem wilden Erlebnis der Vergangenheit etwas kühl Verstandesmäßiges liege. Letzte Nacht zum Beispiel waren ihm die großen Häuser wie traumhafte Türme vorgekommen. Als er jetzt die ermüdenden, gar kein Ende nehmenden Treppen hinaufstieg, wurde er erschreckt und verwirrt durch ihre fast endlose Aufeinanderfolge. Aber es war nicht der heiße Schrecken eines Traumes oder eines übersteigerten Wahnes. Ihre Unendlichkeit war viel mehr die leere Unendlichkeit der Arithmetik, etwas Undenkbares, jedoch für das Denken Notwendiges. Sie war ähnlich den verblüffenden Feststellungen der Astronomen über die Entfernung der Fixsterne. Es war, als stiege er das Haus der Vernunft hinauf, und das kam ihm abstoßender vor als die Unvernunft selber.

Endlich erreichten sie den Treppenabsatz, wo Dr. Bull wohnte; ein letztes Fenster zeigte ihnen eine grell-weiße Dämmerung, umsäumt von plumproten Wolkenbänken, die mehr rotem Lehm als wolkigem Rot glichen. Und als sie Dr. Bulls kahle Dachstube betraten, war sie überflutet von Licht.

Syme durchzuckte angesichts dieses Raumes und des unfreundlichen Tagesanbruchs eine unklare historische Erinnerung. In dem Augenblick, da er die Dachstube erblickte und darin den an einem Tisch schreibenden Dr. Bull, wurde ihm bewußt, was ihm in der Erinnerung vorschwebte: die Französische Revolution. Es fehlte nur noch die schwarze Silhouette einer Guillotine gegen das beklemmende Rot und Weiß dieses Morgens. Dr. Bull hatte nur ein weißes Hemd und schwarze Kniehosen an; von seinem kurzgeschittenen, dunklen Kopf hätte er ganz gut eben seine Perücke abgenommen haben — er hätte Marat oder ein etwas nachlässiger Robespierre sein können.

Sah man allerdings genauer hin, dann schwand diese französische Erinnerung. Die Jakobiner waren Idealisten gewesen; diesen Mann da aber umgab die Atmosphäre eines mörderischen Materialismus. Wie er so dasaß in dem kräftigen, weißen Licht des Morgens, das von einer Seite hereinfiel und scharfe Schatten warf, erschien er anders, bleicher, eckiger gleichsam als beim Frühstück auf dem Balkon. Die zwei schwarzen Gläser vor seinen Augen sahen aus wie Höhlen in seinem Schädel, der so einem Totenkopf glich. Und wahrhaftig, wenn je der Tod schreibend an einem hölzernen Tisch saß — er hätte es sein können.

Er blickte auf, lächelte freundlich, als die beiden eintraten, und sprang mit jener federnden Schnelligkeit auf, von der der Professor gesprochen hatte. Er setzte Stühle hin, ging zu einem Kleiderhaken hinter der Tür, zog rasch einen Rock und eine Weste von rauhem, dunklem Tweed an und knöpfte sie ordentlich zu. Darauf kam er zurück um sich an seinen Tisch zu setzen.

Seine Ruhe und gute Laune machten seine beiden Gegner für einen Augenblick hilflos. Mit einer gewissen, bald vorübergehenden Hemmung brach der Professor das Stillschweigen und begann: »Es tut mir leid, Sie so früh zu stören, Genosse«, sagte er, indem er die langsame Manier des de Worms wieder annahm. »Sie haben ohne Zweifel schon alle Anordnungen für die Pariser Sache getroffen.« Und mit unendlicher Langsamkeit: »Wir müssen Ihnen etwas mitteilen, das einen kurzen Aufschub unerläßlich macht.«

Dr. Bull lächelte wieder und starrte sie, ohne zu sprechen, ununterbrochen an. Der Professor fuhr fort, vor jedem Wort innehaltend: »Halten Sie mich, bitte, nicht für ungewöhnlich voreilig, aber ich möchte Ihnen raten, Ihre Pläne zu ändern oder, wenn es dafür zu spät ist, Ihren Augen alle erdenkliche Hilfe angedeihen zu lassen. Genosse Syme und ich haben eine Erfahrung gemacht, die Ihnen auseinanderzusetzen mehr Zeit beanspruchen würde, als wir zur Verfügung haben, wenn wir handeln wollen. Trotzdem würde ich Ihnen den Vorfall im einzelnen berichten, selbst auf die Gefahr hin, Zeit zu verlieren, sofern Sie meinen, daß es für das Verständnis des Problems, das wir zu erörtern haben, wesentlich ist.«

Er zog seine Sätze in die Länge, indem er sie unerträglich lang und weitschweifig werden ließ, in der Hoffnung, den kleinen Doktor in eine wütende Explosion von Ungeduld zu versetzen, bei der er dann seine Karten aufdecken mußte. Aber Dr. Bull verlor sein starres Lächeln nicht, und der Monolog war verlorene Liebesmüh. Syme begann, sich aufs neue unbehaglich und der Verzweiflung nahe zu fühlen. Des Doktors stilles Lächeln glich in keiner Weise dem furchterregenden, starrkrampfartigen Schweigen des Professors vor einer halben Stunde. Um dessen Verkleidung und Grimassen schwebte immer etwas Groteskes. Syme erinnerte sich an die Pein, die er gestern empfunden hatte, wie man sich daran erinnert, als Kind vor dem Teufel Angst gehabt zu haben. Aber hier war helles Tageslicht, hier saß ein gesunder, breitschultriger Mann, in Tweed gekleidet, der nichts Außergewöhnliches an sich hatte als diese zufällige, widerwärtige Brille, der nicht starrte und grinste, sondern nur ständig lächelte und kein Wort sagte. Das Ganze erwedrte das Gefühl einer unerträglichen Wirklichkeit. Unter dem zunehmenden Sonnenlicht wurden auch des Doktors Gesichtsfarbe ebenso wie das Muster seines Rockes immer lebhafter und aufdringlicher, wie ähnliche Dinge in einem realistischen Roman oft so wichtig werden können. Nur sein Lächeln war ganz flüchtig, die Haltung seines Kopfes höflich; das einzig nicht Geheure war sein Stillschweigen.

»Wie gesagt«, griff der Professor seine Ausführungen erneut auf wie ein Mann, der sich mühsam durch schweren Sand hindurcharbeitet, »ist der Vorfall, der uns veranlaßt hat, Informationen über den Marquis einzuziehen, eine Angelegenheit, die man besser erzählen müßte. Und da er dem Genossen Syme hinderlicher war als mir…« Er zog seine Worte auseinander wie die eines Wechselgesangs. Syme allerdings, der scharf aufpaßte, bemerkte, wie seine langen Finger dahinfuhren. Er las die Botschaft: »Sie müssen fortfahren. Dieser Teufel hat mich ausgepumpt.«

Syme sprang in die Bresche mit dem Schwung kühner Improvisation, der immer über ihn kam, sobald er aufgeregt war: »Ja, die Sache ist mir tatsächlich passiert. Ich hatte das Glück, mit einem Detektiv in Unterhaltung zu kommen, der mich, dank meinem Hut, für einen Mann von Rang und Ruf hielt. Da ich meinen guten Eindruck, den ich auf ihn machte, ausnutzen wollte, nahm ich ihn mit und machte ihn im Savoy betrunken. Unter dem Einfluß des Alkohols wurde er vertraulich und plauderte mir mit vielen Worten aus, daß man den Marquis in den nächsten Tagen in Frankreich zu verhaften hoffe. Wenn nun nicht Sie oder ich seiner Spur …«

Der Doktor lächelte noch immer in der freundlichsten Weise, und seine verdeckten Augen waren noch immer undurchdringlich. Der Professor signalisierte Syme, er würde seine Erklärung fortführen, und begann mit der alten, mühseligen Ruhe: »Syme hat mir sofort mitgeteilt, was er erfahren hat, und so sind wir zusammen hierhergekomrnen, um zu sehen, wie Sie die Nachricht aufnehmen würden. Es erscheint mir dringend notwendig, daß …«

Die ganze Zeit hatte Syme den Doktor angestarrt, fast so ununterbrochen wie dieser den Professor, allerdings ohne zu lächeln. Die Nerven beider Waffengefährten waren nahe daran zu reißen, so angespannt waren sie von dieser dauernden bewegungslosen Liebenswürdigkeit. Da beugte sich Syme plötzlich vor und klopfte scheinbar mäßig an die Kante des Tisches. Seine Botschaft an seinen Verbündeten lautete: »Ich habe eine Intuition.«

Der Professor signalisierte, ohne eine Pause in seinem Monolog eintreten zu lassen, zurück: »Dann schießen Sie los.«

Syme telegrafierte: »Es ist ganz außergewöhnlich.«

Darauf der andere: »Außergewöhnlicher Blödsinn!«

Syme: »Ich bin ein Poet.«

Der andere: »Ein roter Mann sind Sie.«

Syme war rot bis zu den Haarwurzeln geworden, und seine Augen brannten wie im Fieber. Er hatte tatsächlich eine Intuition, die ihm zu närrischer Gewißheit wurde. Sein Klopfen wieder aufnehmend, signalisierte er seinem Freund: »Sie können kaum erfassen, wie poetisch meine Intuition ist. Sie hat. jene Plötzlichkeit an sich, die uns manchmal im Frühling überfällt.«

Er las die Antwort an seines Freundes Fingern ab. Sie lautete: »Hol Sie der Teufel!«

Darauf fuhr der Professor mit Worten in seinem an den Doktor gerichteten Monolog fort.

Syme aber signalisierte mit den Fingern: »Vielleicht sollte ich besser sagen, meine Intuition ähnelt jenem plötzlichen Geruch nach der See, wie man ihn im Innern saftiger Hölzer findet.«

Sein Genosse dachte gar nicht daran, zu antworten.

»Oder man könnte auch sagen«, klopfte Syme, »sie ist wie das leidenschaftlich auflodernde rote Haar einer schönen Frau.«

Der Professor fuhr in seiner Rede fort, aber wie er im besten Fahrwasser war, hatte sich Syme entschlossen zu handeln. Er beugte sich über den Tisch und sagte mit einer Stimme, die man nicht überhören konnte: »Dr. Bull.«

Des Doktors glatter, lächelnder Kopf bewegte sich nicht, doch hätte man schwören können, daß seine Augen unter seinen dunklen Gläsern Pfeile auf Syme schossen.

»Dr. Bull«, wiederholte Syme mit besonders klarer und höflicher Stimme, »würden Sie mir einen kleinen Gefallen tun? Würden Sie so gütig sein und Ihre Brille abnehmen?«

Der Professor drehte sich Syme zu, starr vor Wut und Erstaunen. Syme beugte sich vor, mit feuerrotem Gesicht, wie ein Mann, der sein Leben und sein Vermögen in die Waagschale geworfen hatte. Der Doktor rührte sich nicht.

Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen, daß man eine Nadel hätte fallen hören; nur einmal wurde es unterbrochen durch das vereinzelte Geheul eines entfernten Dampfers auf der Themse. Dann stand Dr. Bull langsam auf, noch immer mit seinem impertinenten Lächeln auf dem Gesicht, und nahm seine Brille ab.

Syme sprang auf und trat einen Schritt zurüd; wie ein Chemiker, der eine erfolgreiche Explosion beobachtet. Seine Augen glichen Sternen, und für einen Moment konnte er nur schauen, ohne zu sprechen.

Der Professor war ebenfalls in die Höhe geschnellt — er hatte seine vorgetäuschte Paralyse ganz vergessen. Er stützte sich auf die Lehne des Stuhls und starrte voller Zweifel auf Dr. Bull, als ob der Doktor sich vor seinen Augen in eine Kröte verwandelt hätte. Es war in der Tat wie eine große Verwandlungsszene.

Die zwei Detektive sahen vor sich einen jungenhaft blickenden Mann im Stuhl sitzen, mit freimütigen, vergnügten hellbraunen Augen, offenem Gesichtsausdruck, cockneyhaft gekleidet wie ein Handlungsgehilfe aus der City und unstreitig den Anschein recht solider Alltäglichkeit erweckend. Er lächelte noch, aber es war wie das erste Lächeln eines kleinen Kindes.

»Ich wußte es ja, ich bin ein Dichter«, schrie Syme ganz begeistert. »Ich wußte, meine Eingebung war unfehlbar wie der Papst. Die Brille war dran schuld, allein die Brille. Ausgerechnet diese abscheulichen schwarzen Augen, dazu alles übrige, die Gesundheit und die scharfen Blicke machten ihn zu einem lebendigen Teufel unter toten.«

»Das war allerdings ein merkwürdiger Gegensatz«, sagte der Professor zögernd. »Aber was das Projekt des Dr. Bull anbetrifft …«

»Projekt hin, Projekt her!« brauste Syme auf, ganz außer sich. »Sehen Sie sich ihn an, sein Gesicht, seinen Kragen, seine verdammt noblen Schuhe! Und da wollen Sie allen Ernstes annehmen, daß so einer ein Anarchist ist?«

»Syme!« warnte der andere, immer noch voller Argwohn. Aber Syme ließ sich nicht stören. »Ich will das Risiko auf mich nehmen. Dr. Bull, ich bin Polizeibeamter. Hier meine Karte!« Und er schleuderte die blaue Karte auf den Tisch.

Der Professor fürchtete noch immer, daß alles verloren sei, doch ließ er den Kameraden nicht im Stich. Er zog seinen eigenen Ausweis heraus und legte ihn neben den des Freundes. Und nun brach der dritte in ein herzhaftes Lachen aus, und zum ersten Mal an diesem Morgen hörte man seine Stimme.

»Ich bin schrecklich froh, ihr Burschen, daß ihr so früh gekommen seid«, sagte er mit der Geschwätzigkeit eines Schuljungen, »so können wir alle zusammen nach Frankreich aufbrechen … Jawohl, ich bin auch bei der Polizei«, und er hob leichthin, um der Form zu genügen, eine blaue Karte gegen sie.

Einen steifen Filzhut aufsetzend und nach seinen koboldhaften Augengläsern greifend, bewegte sich der Doktor so rasch zur Tür, daß die andern unwillkürlich folgten. Syme war ein bißchen verstört, und als sie durch den Korridor gingen, schlug er plötzlich mit seinem Stock an den steinernen Durchgang, daß es nur so schallte. »Aber, allmächtiger Gott«, rief er, »wenn alles mit rechten Dingen zugeht, waren ja mehr verflixte Detektive bei diesem verflixten Rat als verflixte Dynamitattentäter!«

»Wir hätten leicht den Kampf aufnehmen können«, sagte Bull, »wir waren vier gegen drei.«

Der Professor stieg die Treppe hinunter, seine Stimme kam von unten herauf. »Nein, wir waren nicht vier gegen drei, so glücklich waren wir nicht. Wir waren vier gegen einen.«

Die andern gingen stumm weiter.

Der junge Mann namens Bull bestand mit der ihm eigenen natürlichen Höflichkeit darauf, als letzter zu gehen, bis sie die Straße erreichten. Aber nun machte sich seine robuste Behendigkeit unbewußt geltend, und er schritt rasch voran, auf ein Reisebüro zu, wobei er den andern über die Schulter erklärte: »Es ist hübsch, ein paar Kameraden zu haben. Ich bin schon halb schachmatt gewesen von all diesem Tanz, so ganz mutterseelenallein. Um ein Haar hätte ich meine Arme um Gogol gelegt und ihn festgehalten, was unklug gewesen wäre. Hoffentlich verachten Sie mich nicht, weil ich Schiß hatte.«

»Und wir? Glauben Sie, ich habe nicht Schiß gehabt?« fragte Syme. »Alle Teufel der Hölle haben zu meiner schlotternden Angst beigetragen. Aber der schlimmste Teufel waren Sie und Ihre diabolische Brille.«

Der junge Mann lachte vergnügt: »War es nicht ein famoser Ulk? So eine einfache Idee — freilich nicht von mir. Ich habe nicht den Kopf dazu. Sehen sie, ich wollte in den Polizeidienst treten, wollte mich besonders an der Antidynamit-Aktion beteiligen. Aber zu dem Zweck wollte man, daß ich mich als Dynamitverbrecher verkleiden sollte. Nun schworen alle bei der ewigen Verdammnis, daß ich niemals wie ein Dynamitverbrecher aussehen würde. Sie behaupteten, sogar mein Gang sei zu anständig, und von hinten sehe ich wie die Britische Verfassung aus. Sie behaupteten, ich sehe zu gesund und zu optimistisch aus, zu zuverlässig und zu brav. Sie nannten mich alles mögliche in Scotland Yard. Sie meinten, wenn ich ein Verbrecher gewesen wäre, hätte ich mein Glück gemacht, weil ich wie ein ehrenhafter Mann aussehe. Aber da ich das Unglück hätte, ein ehrenhafter Mann zu sein, bestände nicht die geringste Aussicht, ihnen helfen zu können, weil ich in keiner Weise einem Verbrecher gliche. Zuletzt führte man mich zu einem alten Bonzen, der eine hohe Stellung in der Polizei hatte und einen immensen Kopf auf den Schultern zu tragen schien. Alle redeten hoffnungslos durcheinander. Einer meinte, ein buschiger Bart würde mein nettes Lächeln verbergen, ein anderer, man müsse mein Gesicht schwärzen, dann könnte ich vielleicht wie ein Negeranarchist aussehen. Nur der alte Bonze schoß mit einer außerordentlichen Bemerkung den Vogel ab. ›Eine ganz dunkle Brille wird genügen‹, sagte er mit Nachdruck. ›Schaut ihn euch an; jetzt sieht er wie ein Engel Gottes aus. Gebt ihm eine dunkle Brille, und die Kinder schreien hell auf bei seinem Anblick.‹ Und so war es, beim heiligen Georg! Kaum waren meine Augen verdeckt, glich ich in allem übrigen, mit meinem Lächeln und den breiten Schultern und dem kurzen Haar, einem vollendeten kleinen Teufel. Wie gesagt, es war höchst einfach, als es getan war — wahrhaftig wie ein Wunder. Aber das war nicht das eigentliche Wunder, es war noch etwas anderes bei der Sache, das mich fast taumelig machte; in meinem Kopf wirbelt es heute noch, wenn ich daran denke.«

»Und das war?« fragte Syme.

»Ich will es Ihnen sagen«, antwortete der Mann mit der Brille. »Dieser riesige Kerl bei der Polizei, der mich nur abzuschätzen brauchte, um zu wissen, wie mich die Brille vom Scheitel bis zur Sohle verändern würde, wahrhaftigen Gotts, der sah mich überhaupt nicht.«

Symes Augen blitzten ihn an. »Wie war das möglich? Ich dachte, Sie sprachen mit ihm.«

»Das schon, aber wir sprachen miteinander in einem pechrabenschwarzen Raum, der einem Kohlenkeller glich. Das sollte doch kein Mensch für möglich halten.«

»Das kann ich mir ebenfalls gar nicht vorstellen«, meinte Syme bedächtig.

Und der Professor nickte: »Ja, eine erstaunliche Sache!«

Ihr neuer Verbündeter war in allen praktischen Dingen wie ein Wirbelwind. Im Reisebüro erkundigte er sich mit geschäftsmäßiger Kürze nach den Zugverbindungen nach Dover. Kaum hatte er die Auskunft, so verfrachtete er die Gesellschaft in eine Droschke, und bevor sie überhaupt richtig zu Atem gekommen waren, saßen sie schon mit ihm in einem Eisenbahnabteil. Sie befanden sich bereits auf dem Boot nach Calais, als die Unterhaltung munter weiterfloß.

»Ich war schon entschlossen«, erklärte Dr. Bull, »zum Lunch nach Frankreich zu gehen. Aber nun bin ich froh, nicht allein reisen zu müssen. Sehen Sie, ich mußte dieses Biest, den Marquis, mit seiner Bombe hinüberschicken, weil der Präsident sein Augenmerk auf mich gerichtet hat, weiß Gott, warum. Vielleicht kann ich Ihnen die Geschichte eines Tages erzählen. Ich war vollständig erschlagen. Sobald ich versuchte, dem Beobachtetwerden zu entschlüpfen, sah ich den Präsidenten irgendwo; entweder lächelte er mir vom Erker eines Klubhauses zu, oder er zog den Hut vor mir, vom Dache eines Omnibusses aus. Sie können sagen, was Sie wollen — der Bursche hat sich dem Teufel verkauft, er kann an sechs Plätzen zugleich sein.«

»So schickten Sie den Marquis weg, ich verstehe«, meinte der Professor. »Ist es lange her? Werden wir ihn rechtzeitig erwischen?«

»Ja«, antwortete der neue Führer. »Ich habe alles in Betracht gezogen. Er wird noch in Calais sein, wenn wir ankommen.«

»Und wenn wir ihn in Calais haben«, fragte der Professor, »was dann?«

Auf diese Frage verlor Dr. Bull für einen Augenblick die Fassung. Er überlegte eine Weile und sagte darauf : »Theoretisch wäre es das beste, denke ich, wenn wir die Polizei anrufen würden.«

»Ich nicht«, versetzte Syme. »Theoretisch sollte ich mich zunächst ertränken. Ich versprach einem armen Kerl, der ein wirklicher moderner Pessimist war, auf mein Ehrenwort, nichts der Polizei zu sagen. Ich bin kein Freund von Spitzfindigkeiten, aber einem modernen Pessimisten kann ich mein Wort nicht brechen. Das wäre so, als wenn man einem Kind das Wort bräche.«

»Ich sitze im selben Boot«, bekannte der Professor. »Ich habe versucht, mich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, und konnte es nicht, wegen eines albernen Eides, den ich geleistet habe. Als ich noch Schauspieler war, war ich ein Allerweltskerl. Meineid und Verrat waren die einzigen Verbrechen, die ich nicht beging. Hätte ich sie begangen, wüßte ich nicht den Unterschied zwischen Recht und Unrecht.«

»Durch all das bin ich ebenfalls hindurchgegangen«, sagte Dr. Bull, »und habe mich entschieden. Ich gab dem Sekretär im stillen das Versprechen — Sie kennen ihn, den Mann mit dem schiefen Lächeln. Liebe Freunde, dieser Mann ist der Unglücklichste unter allen Menschenkindern. Es mag an seiner Verdauung liegen, an seinem Gewissen, an seinen Nerven, an seiner Weltanschauung, jedenfalls ist er verdammt, ist er schon in der Hölle. Schön, einen solchen Mann kann ich nicht zu Tode hetzen und ihm den Hals umdrehen. Das ist so, als wenn man einen Aussätzigen peitschen wollte. Mag sein, daß ich verrückt bin, aber ich empfinde das so — ich kann mir nicht helfen.«

»Ich halte Sie nicht für verrückt«, beruhigte Syme. »Ich wußte, Sie würden so entscheiden, wenn Sie nur erst …«

»He?« machte Dr. Bull.

»Wenn Sie nur erst Ihre Brille abnehmen.«

Dr. Bull lächelte ein bißchen und schlenderte über das Deck, um einen Blick auf die sonnenbeschienene See zu werfen. Dann ging er wieder zurück, sorglos ausschreitend, und ein verständnisvolles Stillschweigen war um die drei Männer.

»Ja«, sagte Syme, »wir sind wohl alle in gleicher Weise moralisch und unmoralisch. So können wir auch den kommenden Ereignissen besser entgegentreten.«

»Sie haben ganz recht«, pflichtete der Professor bei. »Und wir müssen uns beeilen, denn ich sehe schon Kap Gris Nez von Frankreich herüberschauen.«

»Das kommende Ereignis«, sagte Syme erneut, »ist die Tatsache, daß wir allein auf diesem Planeten sind. Gogol ist verschwunden, Gott weiß wohin; vielleicht hat der Präsident ihn wie eine Fliege zertreten. Bei dem Rat waren wir drei gegen drei wie jene alten Römer, die die Brücke verteidigten. Aber wir sind in einer ungünstigeren Lage, erstens weil jene sich auf ihre Organisation stützen könnten, wir aber nicht, und zweitens, weil …«

»Weil einer dieser drei kein Mensch ist«, ergänzte der Professor.

Syme nickte, und nach sekundenlangem Schweigen fuhr er fort: »Mein Vorschlag ist der: Wir müssen etwas unternehmen, um den Marquis bis morgen Mittag in Calais festzuhalten. Ich habe schon über zwanzig Pläne in meinem Kopf gewälzt. Wr können ihn nicht als Dynamitattentäter anzeigen, darüber sind wir uns einig. Wir können ihn nicht hinhalten auf eine geringfügige Beschuldigung hin, denn dann müßten wir mit vor Gericht erscheinen; da er uns kennt, würde er sofort Lunte riechen. Wir können ihn nicht unter einem Vorwand von seinem Anarchistenunternehmen zurückhalten; er könnte allerhand daraus folgern, nur nicht den Entschluß, in Calais zu bleiben, während der Zar in aller Sicherheit in Paris ist. Wir könnten versuchen, ihn zu entführen und ihn einzusperren; aber er ist dort ein bekannter Mann. Er hat eine ganze Leibwache von Freunden; er ist sehr stark und tapfer, und so ist der Ausgang fraglich. Das einzige, was ich für aussichtsreich halte, ist, seine besonderen Verhältnisse ausnützen. Ich will mir die Tatsache zunutze machen, daß er ein angesehener Edelmann ist. Ich will die Tatsache ausnützen, daß er viele Freunde in der besten Gesellschaft hat.«

»Was zum Teufel reden Sie eigentlich daher?« fragte der Professor.

»Die Symes werden zum ersten Mal im vierzehnten Jahrhundert erwähnt«, fuhr Syme fort, »jedoch berichtet die Überlieferung, daß einer von ihnen hinter Bruce zu Bannockburn ritt. Seit 1350 ist der Stammbaum ganz klar.«

»Er ist nicht richtig im Kopf«, sagte der kleine Doktor voll Staunen.

Syme ließ sich nicht stören: »Unser Wappenschild ist ein silbernes Feld, in dem ein roter Sparren drei Kreuzchen trägt. Der Wahlspruch wechselt.«

Der Professor griff Syme grob an die Weste: »Wir sind dicht an Land. Sind Sie seekrank oder machen Sie am unrechten Ort dumme Späße?«

»Meine Bemerkungen sind äußerst praktisch«, versetzte Syme in einer durch nichts zu erschütternden Ruhe. »Das Haus derer von St. Eustache ist ebenfalls sehr alt. Der Marquis kann nicht leugnen, daß er ein Gentleman ist. Er wird nicht leugnen können, daß auch ich ein Gentleman bin. Um ihm nun meine soziale Stellung recht deutlich vor Augen zu führen, beabsichtige ich, ihm bei der ersten besten Gelegenheit den Hut vom Kopf zu schlagen. Aber — wir sind hier im Hafen.«

Sie gingen an Land, vom kräftigen Sonnenschein wie geblendet. Syme, der jetzt die Führung übernahm, wie sie Bull in London gehabt hatte, geleitete sie eine Art Strandpromenade entlang, bis er zu einigen unter Laubwerk verborgenen Cafés mit Blick auf die See kam. Wie er ihnen so vorausging, hatte sein Schritt etwas Wichtigtuerisches; seinen Stock schwang er wie ein Schwert. Er strebte anscheinend zum äußersten Ende in der Reihe der Cafés, aber plötzlich blieb er stehen. Mit einer heftigen Gebärde gebot er den Gefährten Stillschweigen und deutete mit einem Finger seiner behandschuhten Rechten auf einen Cafétisch unter blühenden Zweigen. Hier saß der Marquis de St. Eustache; seine Zähne schimmerten aus dem dichten, schwarzen Bart hervor, und sein kühnes, braunes Gesicht war durch einen hellgelben Strohhut beschattet und zeichnete sich gegen die violette See ab.

Das Duell

Syme setzte sich mit seinen Begleitern ebenfalls an einen Cafétisch; seine Augen funkelten wie drunten die gleißende See. Er bestellte mit liebenswürdiger Ungeduld eine Flasche Saumur. Aus irgendeinem Grunde befand er sich in merkwürdig heiterer Laune. Seine Stimmung, die von Anfang an ungewöhnlich gehoben war, stieg in demselben Maße, wie der Saumur in der Flasche sank. Während der nächsten halben Stunde war sein Gerede ein wahrer Sturzbach von Unsinn. Er entwickelte einen Plan, wie die Unterhaltung zwischen ihm und dem gefährlichen Marquis vor sich gehen solle. Er brachte ihn hastig mit einem Bleistifft zu Papier, und zwar wie einen Katechismus mit Fragen und Antworten. Mit außerordentlicher Schnelligkeit trug er ihn vor.

»Ich werde mich an ihn heranpirschen. Bevor er seinen Hut abnimmt, werde ich den meinen ziehen. Ich werde sagen: ›Marquis de Eustache, nicht wahr?‹ Er wird sagen: ›Der berühmte Mr. Syme, nehme ich an.‹ Er wird in ausgezeichetem Französisch sagen: ›Wie geht es Ihnen?‹ Ich werde in bestem Cockney antworten: ›Oh, wie es einem Syme geht.‹«

»Ach, hören Sie auf!« brummte der Mann mit der Brille. »Nehmen Sie sich doch zusammen und werfen Sie den Fetzen Papier weg. Was wollen Sie wirklich tun?«

»Aber es war doch so ein hübscher Katechismus!« erwiderte Syme in rührender Einfalt. »Lassen Sie ihn mich doch vorlesen. Er hat nur 43 Fragen und Antworten, und einige von den Antworten des Marquis sind wundervoll witzig. Ich will meinem Gegner Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

»Aber was soll das alles?« fragte Dr. Bull gereizt.

»Es führt zu einer Herausforderung durch mich, sehen Sie«, sagte Syme strahlend. »Sobald der Marquis die neununddreißigste Antwort gegeben hat, die folgendermaßen lautet …«

Der Professor unterbrach ihn durch die gewichtige Frage: »Wenn nun aber der Marquis zufällig auf die dreiundvierzig Fragen, die Sie niedergeschrieben haben, gar nicht eingehen mag? In diesem Falle, meine ich, dürften Ihre eigenen Sprüche ziemlich in der Luft hängen.«

Syme hieb strahlenden Gesichts auf den Tisch: »Himmel, das ist verdammt richtig. Und ich habe daran überhaupt nicht gedacht. Sie haben einen ganz außergewöhnlichen Scharfsinn. Sie werden noch einmal sehr berühmt werden.«

»Und Sie sind betrunken wie ein Besenbinder«, schnauzte der Doktor.

Syme ließ sich nicht beirren. »Es bleibt nur eins übrig: Ich muß eine andre Methode anwenden, um das Eis — wenn ich mich so ausdrücken darf — zwischen mir und dem Mann zu brechen, den ich zu töten beabsichtige. Und da der Lauf des Zwiegesprächs durch eine der Parteien nicht so im voraus festgelegt werden kann — wie Sie mit so tiefem Scharfsinn erkannt haben —, ist nach meiner Ansicht nur ein Ausweg möglich: die eine Partei muß tunlichst den ganzen Dialog führen. Das werde ich machen, beim heiligen Georg.« Mit einem Ruck stand er auf; seine blonden Haare wehten in der leichten Seebrise.

In einem Tanzcafé irgendwo unter den Bäumen spielte eine Kapelle; eine Frauenstimme hörte gerade auf zu singen. In Symes erhitztem Kopf klang das Schmettern der Blechmusik wie damals jenes Kreischen und Klimpern der Drehorgel am Leicester Square, bei deren Tönen er sich entschlossen hatte, dem Tod Trotz zu bieten. Er blickte zu dem Tischchen hinüber, an dem der Marquis saß. Dieser befand sich jetzt in Gesellschaft zweier Herren, respektabel aussehender Franzosen in Gehrock und Seidenhut, ersichtlich Männer in angesehener gesellschaftlicher Stellung; einer trug die rote Rosette der Ehrenlegion. Neben diesen schwarzgekleideten und zylinderbewehrten Gestalten sah der Marquis in seinem zwanglosen Strohhut und hellen Frühlingsanzug wie ein Bohemien und sogar etwas gewöhnlich aus; aber daß er ein Marquis war, das war nicht zu verkennen. Man hätte auch sagen können, er sehe wie ein König aus mit seiner selbstverständlichen Eleganz, seinen hochmütigen Augen und seinem stolzen, gegen die purpurne See erhobenen Haupt. Keinesfalls freilich wie ein christlicher König, vielmehr wie ein dunkelfarbiger Despot, halb Grieche, halb Asiate, der in jenen Tagen, da die Sklaverei noch eine Selbstverständlichkeit war, von seiner Galeere, inmitten ächzender Sklaven, über das Mittelmeer blickte. Gerade so, dachte Syme, würde sich das goldbraune Antlitz eines solchen Tyrannen gegen die dunkelgrünen Oliven und das brennende Blau von Himmel und Meer abheben.

»Werden Sie es jetzt zum Rencontre kommen lassen?« fragte der Professor grämlich, da er sah, wie Syme immer noch dastand, ohne sich zu rühren.

Syme trank das letzte Glas seines funkelnden Weins aus. Er deutete zum Marquis und seinen Begleitern hinüber. »Da haben wir also das Rencontre. Die drei gefallen mir nicht. Ich werde dem da an seiner großen, häßlichen Nase zupfen.«

Er schritt rasch hinüber, nicht mehr ganz fest auf den Beinen. Der Marquis wölbte seine schwarzen, assyrischen Augenbrauen voller Überraschung, als er ihn erblickte, lächelte aber höflich. »Sie sind doch Mr. Syme, nicht wahr?«

Syme verbeugte sich. »Und Sie sind Marquis de Saint Eustache«, sagte er mit Grazie. »Sie gestatten, daß ich Sie an der Nase zupfe.«

Er beugte sich vor, um es zu tun, aber der Marquis sprang zurück, warf dabei seinen Stuhl um, und die beiden Herren in Zylindern hielten Syme an den Schultern fest.

»Dieser Mann da hat mich beleidigt«, rief Syme, lebhaft gestikulierend, um sich verständlich zu machen.

»Sie beleidigt?« schrie der Gentleman mit der roten Rosette, »wann denn?«

»Oh, jetzt eben«, sagte Syme unverfroren. »Er hat meine Mutter beleidigt.«

»Ihre Mutter beleidigt?« rief der Gentleman überrascht.

Syme gab ein wenig nach: »Gewiß …, irgendwie — meine Tante.«

»Aber wie kann der Marquis jetzt eben Ihre Tante beleidigt haben?« warf der zweite Gentleman in begreiflicher Verwunderung ein. »Er saß ja die ganze Zeit hier.«

»Oh…, mit dem, was er sagte«, erklärte Syme dunkel.

»Ich habe überhaupt nichts gesagt«, verteidigte sich der Marquis, »nur über die Musikkapelle habe ich etwas bemerkt. Ich meinte nur, ich habe es gern, wenn Wagner gut gespielt wird.«

»Und das war eine Anspielung auf meine Familie!« schlug Syme entschlossen in die Kerbe. »Meine Tante spielt Wagner miserabel. Es ist immer eine peinliche Angelegenheit. Wir fühlen uns da immer beleidigt.«

»Das ist wirklich außergewöhnlich«, sagte der Herr mit dem Band der Ehrenlegion, fragend den Marquis anblickend.

»Oh, ich versichere Sie«, fuhr Syme ernst fort, »Ihre ganze Unterhaltung war überhaupt gespickt mit dunklen Anspielungen auf die Schwächen meiner Tante.«

»Das ist Unsinn!« begehrte der zweite Gentleman auf. »Ich für meine Person habe die letzte halbe Stunde nichts gesagt, als daß ich dem Gesang jenes Mädchens mit dem schwarzen Haar gern zuhöre.«

»Na also, da haben Sie es wieder!« sagte Syme aufgebracht. »Das Haar meiner Tante war rot.«

»Mir scheint« bemerkte der andere, »Sie suchen nur einen Vorwand, den Marquis zu beleidigen.«

Syme sah herausfordernd um sich und richtete dann den Blick auf ihn. »Beim heiligen Georg! Was sind Sie für ein kluger Bursche!«

Jetzt fuhr der Marquis in die Höhe; seine Augen funkelten wie die eines Tigers. Er schrie: »Sie suchen einen Streit mit mir. Sie wollen einen Zweikampf mit mir. Bei Gott, den können Sie haben. Es hat noch keinen gegeben, der da lange warten mußte. Diese Herren werden vielleicht für mich das Nötige tun. Wir haben noch vier Stunden Tageslicht. Noch diesen Abend wollen wir die Sache austragen.«

Syme verbeugte sich mit aller Höflichkeit. »Marquis, Ihre Handlungsweise ist Ihres Rufs und Ihrer Ahnen würdig. Erlauben Sie, daß ich mich für einen Augenblick mit den Herren berate, die meine Vertreter sein werden.«

Mit drei langen, feierlichen Schritten war er wieder bei seinen Gefährten. Sie hatten seine vom Champagner eingegebene Attacke verfolgt und seinen geradezu schwachsinnigen Äußerungen zugehört. Ganz verwirrt sahen sie ihm entgegen. Denn der da kam, war ein bißchen bleich, aber ganz nüchtern und sprach mit verhaltener Leidenschaft völlig vernünftig. Etwas heiser sagte er: »Ich habe es geschafft. Ich habe dem Biest einen Zweikampf aufgehängt. Aber passen Sie auf und hören Sie genau zu. Es ist keine Zeit zu verlieren. Sie sind meine Sekundanten, und alles muß von Ihnen ausgehen. Sie müssen darauf bestehen, unbedingt darauf bestehen, daß das Duell erst morgen nach sieben Uhr stattfindet. Sie geben mir so die Möglichkeit, ihn daran zu hindern, daß er den Zug sieben Uhr fünfundvierzig nach Paris erreicht. Wenn er ihn versäumt, versäumt er sein Verbrechen. Er kann sich nicht weigern, falls Sie Zeitpunkt und Ort festlegen. Aber er wird es versuchen. Er wird ein Feld wählen in der Nähe eines Bahnhofs an der Strecke, wo er den Zug noch erwischen kann. Er ist ein sehr guter Fechter und wird sich darauf verlassen, mich rechtzeitig zu erledigen, um noch zum Zug zurechtzukommen. Aber ich weiß auch gut zu parieren, und ich denke, ich werde ihn auf irgendeine Weise hinhalten, bis der Zug vorbei ist. Dann mag er mich meinemegen umbringen, damit er seine Ruhe hat. Sie verstehen? Sehr gut; dann möchte ich Sie einigen netten Freunden von mir vorstellen.« Er führte sie rasch über die Promenade und machte sie mit den Sekundanten des Marquis bekannt, Trägern hocharistokratischer Namen, die sie zuvor noch nie gehört hatten.

Syme war abhängig von seltsamen Gemütsbewegungen, die ein Teil seines Wesens waren. Sie waren poetische Intuitionen, wie er sie selbst nannte — so zum Beispiel bei seiner plötzlichen Idee mit der Brille —, und steigerten sich manchmal zu erstaunlicher Vorausschau.

So hatte er die Pläne seines Gegners richtig vorausgesehen. Als der Marquis durch seine Sekundanten dahin unterrichtet wurde, daß Syme erst am Morgen zum Kampf antreten könne, erkannte er sofort das Hindernis, das dadurch seinem Bombenwurf-Unternehmen in der Hauptstadt drohte. Natürlich konnte er den Zusammenhang seinen Freunden nicht erklären, und so wählte er genau den Ausweg, den Syme vorausgesagt hatte. Er veranlaßte seine Sekundanten, eine kleine Wiese, nicht weit von der Eisenbahn, als Kampfplatz zu bestimmen; im übrigen verließ er sich auf sein Glück schon im ersten Gang.

Als er dann, äußerlich völlig kühl, das Feld der Ehre betrat, hätte ihm kein Mensch angemerkt, daß ihn Reisegedanken beunruhigten. Seine Hände steckten in den Taschen, sein Strohhut saß auf dem Hinterkopf, sein bemerkenswertes Gesicht leuchtete bronzefarben in der Sonne. Aber sogar einem Fremden hätte auffallen müssen, daß in seiner Begleitung nicht nur seine Sekundanten mit den Duellwaffen erschienen, sondern auch zwei Diener, die einen Lederhandkoffer und einen Frühstückskorb trugen.

So früh die Stunde auch war, die Sonne durchdrang alles mit Wärme; Syme war recht überrascht über so viele Frühlingsblumen, die golden und silbern im hohen Gras standen, in dem die ganze Gesellschaft bis zu den Knien versank.

Mit Ausnahme des Marquis trugen alle Männer den düster feierlichen Gesellschaftzsanzug und schwarze Zylinderhüte. Besonders der kleine Doktor, noch dazu mit seiner schwarzen Brille, sah wie ein Leichenbitter in einer Posse aus. Syme entging der komische Gegensatz zwischen diesem Aufzug wie zu einem Begräbnis und der üppig blühenden, glitzernden Wiese nicht. Aber im Grunde war dieser lächerliche Kontrast zwischen den bunten Blüten und den schwarzen Hüten nur ein Symbol für die Tragik, die in dem düsteren Geschäft inmitten der blühenden Natur lag. Zur Rechten Symes befand sich ein kleiner Wald, weit weg zu seiner Linken erstreckte sich die lange Kurve des Eisenbahngleises, das er gewissermaßen vor dem Marquis zu beschützen hatte; denn für diesen bedeutete es die einzige Möglichkeit, von hier fortzukommen. Vor sich, hinter der schwarzen Gruppe seiner Gegner, sah Syme einen kleinen blühenden Mandelbusch, der sich wie eine regenbogenfarbige Wolke gegen einen Streifen der See im Hintergrund abhob.

Der Ritter der Ehrenlegion, der Oberst Ducroix hieß, näherte sich dem Professor und Dr. Bull mit großer Höflichkeit und schlug vor, den Kampf mit der ersten nennenswerten Verwundung als beendet ansehen zu wollen.

Dr. Bull jedoch, der durch Syme gerade über diesen Punkt seines Plans sorgfältig eingepaukt worden war, bestand darauf, mit bedeutsamer Würde und in sehr schlechtem Französisch, das Duell sei fortzusetzen bis zur Kampfunfähigkeit eines der beiden Kontrahenten. Syme hatte sich entschlossen, sich wenigstens zwanzig Minuten lang so zu halten, daß der Marquis kampffähig blieb, aber auch andrerseits ihm keine Abfuhr beibringen konnte. In zwanzig Minuten mußte der Pariser Zug vorbei sein.

»Einem Mann von der anerkannten Fertigkeit und Tapferkeit des Monsieur de St. Eustache«, sagte der Professor feierlich, »kann es gleichgültig sein, welche Art der Austragung gewählt wird, und unser Paukant hat gewichtige Gründe, wenn er den Zweikampf nur bis zum ersten Blutigen ablehnt, Gründe, deren Delikatesse mich hindert, sie hier auseinanderzusetzen, aber für deren ganz und gar honorige Natur ich …«

»Peste!« unterbrach im Hintergrund der Marquis, dessen Gesicht sich plötzlich verdunkelt hatte, »wir wollen aufhören zu reden und anfangen.« Und dabei hieb er mit seinem Stock einer großen Blume den Kopf ab.

Syme hatte Verständnis für seine unbeherrschte Ungeduld und schaute instinktiv über seine Schulter, ob der Zug schon in Sicht sei. Aber nirgends war eine Rauchfahne am Horizont zu sehen.

Der Oberst kniete nieder, schloß den Waffenkasten auf und entnahm ihm ein Paar Degen, die im Sonnenlicht wie zwei Feuerstreifen aufblitzten. Einen reichte er dem Marquis, der ohne viele Umstände nach ihm griff, den andern Syme, der die Klinge bog und die Waffe in der Hand wog mit so viel Umständlichkeit, als es sich mit seiner Würde vertrug. Dann holte der Oberst noch ein Paar Klingen hervor, von denen er eine Dr. Bull gab und die andere selbst behielt, und schickte sich an, die Kämpfer auf ihre Plätze zu weisen.

Beide hatten Röcke und Westen ausgezogen und standen da, den Degen in der Hand. Auch die Sekundanten hatten sich auf jeder Seite des Kampffeldes mit blankem Degen aufgestellt; in ihren dunklen Gehröcken und Hüten wirkten sie düster genug. Die Duellanten salutierten. Der Oberst sagte ruhig: »Los!« und die zwei Degen schlugen mit hellem Klang aneinander.

Als das Klirren des zusammenstoßenden Eisens durch Symes Nerven lief, fielen all die phantastischen Ängste, die ihn bisher gepeinigt hatten, von ihm ab wie die Träume von einem Menschen, der in seinem Bett erwacht. Er entsann sich ihrer ganz klar und der Reihenfolge nach wie bloßer Nervenzustände — wie die Angst vor dem Professor nichts anderes gewesen war als die Angst vor der tyrannischen Willkür eines Nachtmahrs und die Furcht vor dem Doktor nichts anderes als die Furcht vor dem luftleeren Raum der Wissenschaft. Jene war die uralte Furcht, daß sich ein Wunder ereignen könne, diese die jeder Hoffnung bare moderne Angst, daß sich kein Wunder ereignen kann. Aber er erkannte, daß diese Angstzustände nur Phantasien waren, denn nun sah er sich der großen Tatsache der Todesfurcht gegenüber, mit ihrer harten und gnadenlosen Unleugbarkeit. Er kam sich vor wie ein Mann, der die ganze Nacht geträumt hat, er falle in einen Abgrund, und nun am Morgen aufwacht, um gehängt zu werden. Denn kaum war seines Feindes Klinge im Sonnenlicht aufgeblitzt, kaum hatte er die zwei stählernen Zungen, vibrierend wie zwei lebendige Wesen, sich berühren sehen, da hatte er jählings die Gewißheit, daß sein Gegner unerbittlich war und wahrscheinlich sein letztes Stündlein geschlagen hatte.

Er fühlte sich seltsam hingezogen zu allem Irdischen ringsum, selbst zum Gras unter seinen Füßen; er empfand eine lebendige Liebe zu allem Lebendigen. Er konnte sich beinahe vorstellen, daß er das Gras wachsen höre, daß da, wo er stand, frische Blumen aufsproßten und auf der Wiese zur Blüte aufbrächen, blutrote Blumen, und andere, brennend in Gold und Blau, prangend in der Pracht des Frühlings. Und wenn seine Augen für einen Wimpernschlag dem ruhigen, starren, hypnotischen Blick des Marquis auswichen, sahen sie den kleinen Busch des Mandelbäumchens sich vom Himmel abheben. Er hatte das Gefühl, daß er, sollte er mit heiler Haut davonkommen, für immer vor jenem Mandelbaum sitzen und sich nach nichts anderem in der Welt sehnen wolle.

Aber während er so aus Erde und Himmel und aus allem ringsum die lebendige Schönheit einer verlorenen Sache erlebte, war die andere Hälfte seines Geistes so klar wie Glas. Er parierte Hieb und Stoß seines Gegners mit der Präzision eines Uhrwerks, wie er es sich selber kaum zugetraut hätte. Einmal ritzte die Degenspitze seines Gegners sein Handgelenk und hinterließ einen leichten Blutstreifen. Doch bemerkte das entweder keiner, oder es wurde stillschweigend übersehen. Beide machten ihre Ausfälle, parierten, fielen wieder aus, und einmal oder zweimal glaubte Syme, daß sein Stoß säße. Da aber kein Blut an der Klinge oder am Hemd zu sehen war, mußte er annehmen, daß er sich getäuscht hatte. Dann aber gab es einen Szenenwechsel.

Auf die Gefahr hin, alles zu verlieren, gab der Marquis seine starre Besonnenheit auf und warf einen unruhigen Blick über die Schulter auf das Eisenbahngleis zu seiner Rechten. Darauf wandte er Syme sein Gesicht zu, das nun verzerrt war wie das eines wütenden Berserkers. Als habe er zwanzig Waffen, so begann er nunmehr zu fechten. Die Attacken kamen so rasch und stürmisch, daß der blitzende Degen einem Hagel von Pfeilen glich. Syme war es unmöglich, auf den Schienenstrang zu schauen, aber es war auch nicht nötig. Er konnte auch so den Grund zu der plötzlichen Raserei des Marquis erraten — der Pariser Zug war in Sicht.

Indes, die fast krankhafte Kraftentfaltung des Marquis überschlug sich selbst. Zweimal stieß Syme beim Parieren seines Gegners Degenspitze weit beiseite, und das dritte Mal war sein Gegenstoß so heftig, daß es diesmal keinen Zweifel über einen Treffer geben konnte. Symes Degen bog sich — er mußte tief in den Körper des Marquis eingedrungen sein.

Symes war so sicher, daß seine Klinge den Feind getroffen, wie ein Gärtner, der seinen Spaten in das Erdreich gestoßen hat. Jedoch der Marquis sprang zurück, ohne zu schwanken, und Syme starrte seine Degenspitze an wie ein Blöder. Es war auch nicht ein Tropfen Blut daran.

Es entstand ein Augenblick eisigen Schweigens. Dann stürzte sich Syme seinerseits wütend auf den andern, erfüllt von brennender Neugier. Der Marquis war im allgemeinen wahrscheinlich ein besserer Fechter als er, wie er von Anfang an vermutet hatte, jetzt aber schien der Marquis verstört und im Nachteil zu sein. Er focht unbesonnen, ja zerstreut und schaute beständig nach dem Schienenstrang, fast als fürchte er den Zug mehr als die stählerne Spitze. Syme dagegen kämpfte erbittert, aber überlegt, in einer geistigen Wut, unter allen Umständen das Rätsel zu lösen, warum an seinem Degen kein Blut kleben blieb. Deshalb zielte er nun weniger auf den Rumpf des Marquis als vielmehr auf seine Kehle und seinen Kopf. Anderthalb Minuten später merkte er, daß seine Degenspitze in den Hals des Mannes eingedrungen war, unterhalb des Kiefers. Sie kam wieder blank heraus. Halb außer Rand und Band stieß er noch einmal zu, so daß unbedingt eine blutige Schramme auf der Wange des Marquis hätte entstehen müssen. Aber keine Schramme zeigte sich.

Einen Augenblick lang verdunkelte sich für Syme der Himmel wieder durch übernatürlichen Schrecken. Dieser Mann mußte einfach verzaubert sein — verhext! Doch diese neue spirituelle Drohung war schrecklicher noch als die bloß das Gehirn treffende Verwirrung, die der Paralytiker mit seinen Verfolgungen angerichtet hatte. Der Professor war nur ein Kobold gewesen, dieser Mann da aber war ein Teufel, vielleicht der Teufel. Das war nicht zu leugnen: dreimal war eine menschliche Waffe in ihn eingedrungen, und dreimal hatte sie keine Spur hinterlassen. Bei diesem Gedanken richtete sich Syme empor, und alles, was gut in ihm war, hob ihn hoch und sang in den Lüften wie ein Wind, der in den Bäumen singt. Er dachte an all die kleinen menschlichen Züge in seinen letzten Erlebnissen: an die chinesischen Lampions in Saffron Park, an das rote Haar des Mädchens im Garten, an die braven biertrinkenden Seeleute drunten am Dock, an seine treuen Begleiter, die ihm zur Seite standen. Vielleicht war er auserkoren, als Vorkämpfer für all diese schönen und guten Dinge das Schwert zu schwingen gegen den Feind der Schöpfung. »Jedenfalls«, sagte er zu sich, »bin ich mehr als ein Teufel, ich bin ein Mensch. Ich kann das tun, was kein Satan tun kann — ich kann sterben.« Wie ihn dieser Gedanke durchzuckte, hörte er einen schwachen, fernen Pfiff, der das Kommen des Pariser Zuges ankündigte.

Er begann wieder zu fechten, mit: übernatürlicher Leichtigkeit, wie ein Mohammedaner für das Paradies. Als der Zug näher und näher kam, glaubte er die Menschen zu sehen, die jetzt die Ehrenpforten in Paris mit Blumen schmückten. Er verband in Gedanken das anschwellende Geräusch des heranbrausenden Zuges mit dem Ruhm der großen Republik, deren Zugang er gegen die Hölle bewachte. Immer höher stiegen seine Gedanken, je näher das Fauchen des Zuges in sein Ohr dröhnte, bis es in einem langen, stolz gellenden Pfiff iendigte. Der Zug hielt.

Plötzlich sprang der Marquis zum Entsetzen aller ganz aus dem Bereich seines Gegners und warf seinen Degen weg. Der Sprung war um so bewundernswerter, als Syme eine Sekunde vorher seinen Degen in des Mannes Schenkel gestoßen hatte.

»Halt!« rief der Marquis mit einer Stimme, die augenblickliche Beachtung abnötigte. »Ich möchte etwas sagen.«

»Was ist los?« fragte Oberst Ducroix erstaunt. »War dies ein unkommentmäßiger Stoß?«

»Irgendwie liegt etwas Unkommentmäßiges vor«, sagte Dr. Bull, der ein wenig blaß wurde. »Mein Paukant hat den Marquis mindestens viermal getroffen, aber es ist ihm nichts anzumerken.«

Der Marquis hob seine Hand und hat mit einer seltsam bleichen Miene um Gehör. »Lassen Sie mich, bitte, erklären! Es ist ziemlich wichtig. Mr. Syme« — und dabei wendete er sich an seinen Gegner — »wir schlagen uns heute, weil, wenn ich mich recht erinnere, Sie den Wunsch ausgesprochen hatten — den ich für unsinnig hielt —, mich an der Nase zu zupfen. Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie nunmehr Ihre Absicht ausführten und mich so rasch wie möglich an der Nase zupften. Ich muß nämlich zum Zug.«

»Ich protestiere«, entrüstete sich Dr. Bull. »Das ist nicht kommentmäßigl«

»Dafür gibt es keinerlei Präzedenzfall«, schaltete sich Oberst Ducroix ein und schaute seinen Paukanten nachdenklich an. »Ich erinnere mich nur an einen Fall — Hauptmann Bellegard und Baron Zumpt —, wo auf Ersuchen eines Kontrahenten während des Kampfes die Waffen gewechselt wurden. Aber eine Nase kann man kaum eine Waffe nennen.«

»Wollen Sie mich an meiner Nase zupfen oder nicht?« wiederholte der Marquis gereizt. »Los, los, Mr. Syme! Sie wollten es tun, also tun Sie es! Sie können keine Ahnung haben, wie wichtig das für mich ist. Seien Sie nicht so selbstsüchtig! So zupfen Sie mich doch sofort an der Nase, wenn ich bitten darf.« Er beugte sich leicht vor mit einem bezwingenden Lächeln. Der Pariser Zug fuhr gerade keuchend und ächzend in einen kleinen Bahnhof hinter dem nahe liegenden Hügel ein. Syme hatte das Gefühl, das ihn während dieses Abenteuers mehr als einmal beschlichen hatte, das Gefühl, daß eine unheimliche, mächtige, himmelanstürmende Woge sich gerade auf ihn zu stürzen drohe. Wie durch eine Welt wandelnd, die er nur zur Hälfte verstand, tat er zwei Schritte vorwärts und griff nach der römischen Nase dieses bemerkenswerten Edelmanns. Er zerrte kräftig an ihr und — sie blieb in seiner Hand. Für einige Sekunden stand Syme feierlich und töricht zugleich da, die Pappnase zwischen seinen Fingern verdutzt betrachtend, während die Sonne und die Wolken und die bewaldeten Hügel auf diese närrische Szene herniedersahen.

Der Marquis brach das Schweigen mit lauter und munterer Stimme. »Wenn einer der Herren Verwendung für meine linke Augenbraue hat, so kann er sie haben. Oberst Ducroix, nehmen Sie hier meine linke Augenbraue. Vielleicht kann das Ding Ihnen noch eines Tages Nutzen bringen.« Mit diesen Worten riß er sich eine seiner schwärzlichen assyrischen Brauen aus, wobei die Hälfte seiner braunen Stirn mitging, und bot sie höflich dem Obersten an, der sprachlos vor Wut dastand.

»Wenn ich gewußt hätte«, sprudelte der heraus, »daß ich für eine Memme eintrete, die sich zum Fechten ausstopft …«

»Oh, ich weiß, ich weiß«, unterbrach der Marquis, indem er rücksichtslos verschiedene Teile von sich rechts und links auf das Feld warf. »Aber Sie irren sich; ich kann das jetzt nur nicht erklären. Ich sagte schon, der Zug ist in den Bahnhof eingefahren.«

»Ja«, brauste Dr. Bull auf, »und der Zug wird abfahren. Er wird ohne Sie abfahren. Wir wissen sehr wohl, zu welchem teuflischen Werk …«

Der geheimnisvolle Marquis hob seine Hände mit verzweifelter Gebärde. Wie eine merkwürdige Vogelscheuche stand er da in der Sonne. Die eine Hälfte seines Gesichts war der bisherigen Haut beraubt, und mit der andern grinste und fletschte er von unten her. »Wollen Sie mich verrückt machen?« schrie er. »Der Zug …«

»Sie werden nicht mit dem Zug fahren«, sagte Syme fest und griff nach seinem Degen.

Die phantastische Gestalt wandte sich gegen Syme und schien sich zu einer gewaltigen Anstrengung aufraffen zu wollen. Dann stieß er, ohne Atem zu holen, hervor: »Sie Riesenroß, Sie triefäugiger Tölpel und Krakeeler, Sie gottverlassener Idiot und verdammter Narr, Sie alberner Trottel, Sie …«

»Sie werden nicht mit diesem Zug fahren«, wiederholte Syme.

»Und warum in Dreiteufels Namen«, brüllte der andere, »sollte ich denn mit dem Zug fahren?«

»Das wissen wir alle«, sagte der Professor ernst. »Sie wollen nach Paris, um eine Bombe zu werfen.«!

»Gehen Sie zum Henker mit Ihrem Geschwätz!« brüllte der Marquis und raufte sich sein Haar, das sich mit Leichtigkeit ablöste. »Haben Sie denn allesamt Gehirnerweichung bekommen, daß Sie nicht merken, was ich bin? Glaubten Sie wirklich, daß ich den Zug erreichen wollte? Zwanzig Pariser Züge könnten meinetwegen vorbeifahren. Hol der Teufel die Pariser Züge!«

»Worüber regen Sie sich dann also auf?« begann der Professor.

»Worüber ich mich aufrege? Nicht darüber, daß ich den Zug erwische. Ich rege mich auf, daß der Zug mich erwischen könnte. Und jetzt, bei Gott, hat er mich erwischt.«

Mit Nachdruck sagte Syme: »Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihre Bemerkungen keinen Eindruck auf mich machen. Vielleicht würde klarer werden, was Sie wollen, wenn Sie die Überreste Ihrer originellen Stirn und einen Teil von dem, was einstmals Ihr Kinn war, entfernen würden. Klarheit des Denkens vollzieht sich in mancherlei Weise. Was verstehen Sie darunter, daß der Zug Sie erreicht hat? Es mag an meiner dichterischen Phantasie liegen, aber irgendwie fühle ich, daß es etwas bedeuten könnte.«

»Es bedeutet alles«, betonte der Marquis, »und das Ende von allem, Sonntag hat uns jetzt völlig in der Hand.«

»Uns?« wiederholte der Professor verblüfft. »Was verstehen Sie unter ›uns‹?«

»Die Polizei selbstverständlich«, versetzte der andere und zog seinen Skalp und die zweite Hälfte seines Gesichts ab.

Der Kopf, der da zum Vorschein kam, war der blonde, wohlgebürstete, glatthaarige Kopf, wie er so häufig in der englischen Polizei zu finden ist; nur das Gesicht war blaß.

»Ich bin Inspektor Ratcliffe«, erklärte er hastig und fast barsch. »Mein Name ist bei der Polizei ziemlich bekannt, und ich sehe wohl, daß Sie zu ihr gehören. Aber sollte es noch einen Zweifel über meine Stellung geben, so habe ich hier meinen Ausweis …«, und er zog eine blaue Karte aus der Tasche.

Der Professor machte eine müde Geste. »Oh, bemühen Sie sich nicht, wir haben genug davon, um eine Schnitzeljagd damit versorgen zu können.«

Der kleine Mann namens Bull hatte, wie viele lebhafte Leute alltäglichen Schlags, plötzliche Anwandlungen von Taktgefühl. Hier rettete er jedenfalls die Situation. Mitten in der bedenklichen Verwandlungsszene trat er einen Schritt vor mit dem ganzen würdevollen Verantwortungsbewußtsein eines Sekundanten und wandte sich an die beiden Sekundanten des Marquis: »Meine Herren, wir schulden Ihnen allen Ernstes eine Ehrenerklärung. Ich versichere Sie, daß Sie nicht die Opfer eines albernen Scherzes, wie Sie vielleicht annehmen, geworden sind oder einer für einen Mann von Ehre ungehörigen Angelegenheit. Sie haben Ihre Zeit nicht unnütz vertan, Sie haben dazu beigetragen, die Welt zu retten. Wir sind keine Possenreißer, sondern verwegene Männer, die im Krieg gegen eine weitgespannte Verschwörung stehen. Eine geheime Gesellschaft von Anarchisten jagt uns wie Hasen; es sind nicht solche unglücklichen Narren, die hier und da durch Hunger und deutsche Philosophie verführt werden, Bomben zu werfen, es ist eine reiche, mächtige und fanatische Gemeinschaft, eine Art Kirche des östlichen Pessimismus, die es für eine heilige Pflicht hält, die Menschheit wie Ungeziefer auszurotten. Wie sehr sie uns herzen, können Sie aus der Tatsache ersehen, daß wir zu solchen Verkleidungen gezwungen sind wie die, für die ich hier spreche, und zu solchen Possen wie die, in die Sie mit hereingezogen werden sind.«

Der jüngere Sekundant des Marquis, ein kurzwüchsiger Mann mit schwarzem Schnurrbart, verbeugte sich höflich und sagte: »Selbstverständlich nehme ich die Ehrenerklärung an. Aber Sie werden mir Ihrerseits verzeihen, wenn ich es ablehne, Ihnen weiter in Ihre Schwierigkeiten zu folgen, und mir erlaube, Ihnen einen guten Morgen zu bieten. Das ungewöhnliche Schauspiel, einen Landsmann von Distinktion sich in freier Luft plötzlich in Stücke auflösen zu sehen, genügt für einen Tag. Oberst Ducroix, ich möchte in keiner Weise Ihre Handlungen beeinflussen, aber ich gehe jetzt zur Stadt zurück. Die hier versammelte Gesellschaft dürfte sich doch wohl etwas abseits vom Normalen bewegen.«

Oberst Ducroix setzte sich mechanisch in Bewegung, aber dann zog er heftig an seinem weißen Schnurrbart und stieß hervor: »Nein, zum Donner! Ich werde nicht gehen. Wenn diese Herren da wirklich in der Patsche sitzen wegen ein paar gemeiner Verbrecher, will ich ihnen helfen. Ich habe für Frankreich gekämpft, und es wäre eine Schande, wenn ich nicht für die Zivilisation kämpfte.«

Dr. Bull nahm seinen Hut ab, schwenkte ihn und rief laut Beifall wie bei einer öffentlichen Versammlung.

»Machen Sie nicht solchen Lärm!« wies Inspektor Ratcliffe ihn zurecht. »Sonntag könnte Sie hören.«

»Sonntag!« schrie Bull und ließ seinen Hut sinken.

»Ja«, gab Ratcliffe zurüdc, »er könnte bei ihnen sein.«

»Bei wem?« fragte Syme.

»Bei den Leuten aus dem Zug«, entgegnete der andere.

»Was Sie sagen, scheint äußerst beunruhigend«, begann Syme. »Wenn tatsächlich … Aber, mein Gott«, unterbrach er sich plötzlich wie einer, der eine Explosion kommen sieht, »da war ja unsere ganze Gesellschaft bei jenem Anarchistenrat gegen die Anarchie! Jeder der Anwesenden war ein Detektiv, ausgenommen den Präsidenten und seinen Privatsekretär. Was kann das nur bedeuten?«

»Bedeuten!« sagte Ratcliffe äußerst heftig. »Es bedeutet, daß wir umgebracht werden. Kennen Sie Sonntag nicht? Wissen Sie nicht, daß seine Scherze immer so raffiniert und primitiv zugleich sind, daß man sie zunächst gar nicht beachtet? Glauben Sie denn, daß ein Mann wie Sonntag alle seine mächtigen Feinde zum Obersten Rat versammelt und sich nicht die Mühe gibt, daß es auch der letzte für sie ist? Ich sage Ihnen, er hat jeden Trust gekauft, er hat jedes Kabel in Beschlag genommen, er hat die Kontrolle über jede Eisenbahnlinie, besonders über jene dort«, und er deutete mit zitterndem Finger auf den kleinen Bahnhof.

»Die ganze Bewegung hat er unter Beobachtung gehalten; die halbe Welt war bereit, sich für ihn zu erheben. Aber da waren ausgerechnet fünf Leute, die sich ihm vielleicht entgegengestellt hätten — und der alte Teufel lud sie zum Obersten Rat, damit sie ihre Zeit vergeudeten, indem sie einander beobachteten. Idioten, die wir waren; seinen ganzen Plan hat er auf unserer Idiotie aufgebaut. Sonntag wußte, daß Syme den Professor durch London gejagt, und daß Syme mit mir in Frankreich fechten würde. Und während er Unsummen von Kapital zusammenrafft und sich weitverzweigter Telegraphenlinien bemächtigt, rennen wir fünf Schafsköpfe hintereinander her wie eine Schar Kinder, die Blindekuh spielen.«

»Und?« fragte Syme hartnäckig.

»Und!« erwiderte der andere und wurde plötzlich heiter, »er hat uns gefunden, gerade jetzt, wie wir auf einem Platz von größter landschaftlicher Schönheit und äußerster Einsamkeit Blindekuh spielen. Er hat wahrscheinlich schon die Welt in der Tasche; es bleibt ihm nur noch übrig, uns paar Narren hier auf dieser Wiese einzufangen. Und da Sie sicher wissen möchten, was ich wegen der Ankunft jenes Zuges befürchtet habe, so will ich es Ihnen sagen. Ich befürchtete, daß Sonntag oder sein Sekretär gerade in diesem Augenblick aus ihm ausgestiegen sind.«

Syme stieß unwillkürlich einen Schrei aus, und alle rich— teten ihre Blicke gegen den Bahnhof. Es war offensichtlich, daß sich von dorther eine Menge Menschen auf sie zubewegte. Aber noch waren sie zu weit entfernt, als daß man sie hätte unterscheiden können.

»Es war eine Gewohnheit des gewesenen Marquis de St. Eustache«, sagte Ratcliffe, indem er ein Lederfutteral herauszog, »immer einen Krimstecher mit sich zu führen. Entweder kommt der Präsident oder der Sekretär mit dem Mob hinter uns her. Sie haben uns auf einem netten, ruhigen Platz umstellt, wo wir nicht in die Versuchung geraten können, unsere Eide zu brechen und die Polizei um Hilfe zu rufen. Dr. Bull, ich vermute, daß Sie durch dieses Glas hier besser sehen können als durch Ihre sonst höchst dekorative Brille.«

Er händigte den Krimstecher dem Doktor aus, der sogleich seine Brille abnahm und das Instrument an seine Augen brachte.

»Es kann nicht so schlimm sein, wie Sie sagen«, bemerkte der Professor etwas kleinlaut. »Es ist eine hübsche Anzahl, allerdings, aber es könnten ebenso gut gewöhnliche Touristen sein.«

»Tragen gewöhnliche Touristen«, fragte Bull, den Krimstecher vor den Augen, »schwarze Halbmasken vor dem Gesicht?«

Syme riß ihm das Glas beinahe aus der Hand und blickte hindurch. Die meisten Männer in dem heranrückenden Haufen sahen wirklich alltäglich aus; aber es war auch nicht zu leugnen, daß zwei oder drei an der Spitze schwarze Halbmasken bis zum Munde hinunter aufhatten. Eine solche Maskierung genügt vollauf, besonders in dieser Entfernung, und Syme konnte nichts erkennen als die glattrasierten Wangen und Kinnladen der Männer, die an der Spitze miteinander plauderten. Und wie sie so plauderten, lächelten sie. Einer von ihnen aber lächelte nur auf einer Seite.

Die Verbrecher jagen die Polizisten

Syme nahm mit einer gewissen Erleichterung das Fernglas von den Augen. Er wischte sich die Stirn. »Der Präsident ist nicht dabei.«

»Sie sind aber doch noch weit hinten am Horizont«, sagte der verwirrte Oberst, blinzelnd und nur halb beruhigt durch Bulls hastige, wenn auch höfliche Erklärung. »Könnten Sie denn Ihren Präsidenten aus all diesen Leuten herauskennen?«

»Könnte ich einen weißen Elefanten aus all diesen Leuten herauskennen?« antwortete Syme, leicht gereizt. »Wie Sie ganz richtig sagen, sind sie noch am Horizont. Aber wenn er unter ihnen wäre — bei Gott, ich glaube, der Erdboden würde zittern.«

Nach einer kurzen Pause bemerkte Ratcliffe düster: »Selbstverständlich ist der Präsident nicht dabei. Verdammt, ich wollte, er wäre es. So fährt er vielleicht durch Paris, oder er sitzt auf den Trümmern der St.-Pauls-Kathedrale.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte Syme. »Etwas mag sich in unserer Abwesenheit ereignet haben, doch die Welt kann er nicht in einem Anlauf erobert haben. Es ist ganz richtig«, fügte er hinzu, mit einem finster besorgten Blick die weiten Felder bis zum Bahnhof hin messend, »es ist sicherlich richtig, daß da eine Menge herbeiströmt. Aber das ist nicht die Armee, von der Sie sprechen.«

»O nein«, versetzte der neue Detektiv verächtlich, »eine Streitmacht von Wert ist das nicht. Aber sie entspricht genau unserm Wert, das sage ich Ihnen unumwunden. Wir bedeuten nicht viel, mein Junge, in Sonntags Weltbild. Die Kabel und Telegraphen hat er selbst in die Hand genommen. Den Obersten Rat hingegen aus der Welt zu schaffen, betrachtet er als eine unbedeutende Angelegenheit, wie man eine Postkarte fortwirft. Das überläßt er seinem Privatsekretär.« Und er spuckte ins Gras. Dann kehrte er sich den andern zu und sagte etwas rauh: »Es ließe sich viel zugunsten des Todes sagen. Sollte jedoch einer eine andere Wahl vorziehen, so rate ich ihm dringend, mir zu folgen.«

Mit diesen Worten wandte er seinen breiten Rücken und schritt in stummer Entschlossenheit dem Walde zu. Die andern warfen einen Blick über ihre Schultern und sahen, daß die dunkle Menschenwolke sich vom Bahnhof her in geheimnisvoller Ordnung über das flache Feld bewegte. Man erkannte schon, sogar mit bloßem Auge, auf den vordersten Gesichtern schwarze Flecken; das waren die Masken, die sie trugen. So folgten die Anarchistenbekämpfer geradenwegs ihrem Führer, der bereits den Wald erreicht hatte und unter den Bäumen verschwand.

Die Sonne schien heiß auf das trockene Gras. Als die Polizisten im Wald untertauchten, empfanden sie den Schatten wie einen kühlen Schlag, gleich Tauchern, die sich in einen dunklen Teich stürzen. Zerstreutes Sonnenlicht und zitternde Schatten erfüllten das Innere des Waldes. Sie woben einen wehenden Schleier, der mit seinem Flimmern fast an einen Kinematographen erinnerte. Selbst die gewichtigen Gestalten, die mit ihm dahinschritten, konnte Syme kaum richtig wahrnehmen zwischen Sonnenkringeln und Schattenbildern, die über sie hinweghuschten. Das eine Mal stand der Kopf eines Mannes in Rembrandtscher Beleuchtung, während alles um ihn in Undeutlichkeit verschwamm, das andere Mal zeigte er grellweiße Hände und das Gesicht eines Negers. Der ehemalige Marquis hatte den alten Strohhut über seine Augen gezogen; der schwarze Schatten der Krempe schnitt sein Gesicht so scharf in zwei Teile, daß es schien, als träge er eine der schwarzen Halbmasken ihrer Verfolger. Die Phantasie befruchtete Symes starkes Gefühl für Wunder. Trug er eine Maske? Trug sonst einer eine Maske? War irgendeineir irgend etwas? Dieser Zauberwald, in dem die Menschengesichter abwechselnd schwarz und weiß wurden und ihre Gestalten einmal anschwollen zum Sonnenlicht und dann wieder zusammenschrumpften zu formloser Nacht, dieses Chaos von Halbdunkel — nach dem klaren Tageslicht draußen — schien Syme ein vollendetes Symbol der Welt, in der er sich nun schon drei Tage bewegte; einer Welt, in der sich die Menschen ihre Bärte abnahmen und ihre Brillen und ihre Nasen und sich in andere verwandelten. Jenes Selbstvertrauen, das ihn erfüllt hatte, als er glaubte, daß der Marquis ein Teufel sei, war verschwunden jetzt, da er wußte, daß der Marquis ein Freund war. Nach all diesen Verwirrungen lag die Frage nahe, wer denn nun überhaupt Freund, wer Feind sei. Gab es überhaupt noch etwas, das nicht das war, was es schien? Der Marquis hatte seine Nase abgenommen und sich als Detektiv entpuppt. Konnte er nicht ebensogut seinen Kopf abnehmen und sich als Kobold entpuppen? War am Ende nicht alles so wie diese verwirrte Waldlandschaft, dieser Tanz von Hell und Dunkel? Alles nur ein schnell vorübergehendes Flimmern, immer unvorhergesehen, und jeder Schein sofort vergessen? Gabriel Syme hatte im Herzen dieses sonnendurchleuchteten Waldes gefunden, was manche moderne Maler vor ihm dort gefunden hatten. Er hatte das gefunden, was sie Impressionismus nennen und was nur ein andrer Name ist für jenen letzten Skeptizismus, der im Weltall keinen festen Grund gewinnen kann.

Wie man sich in einem bösen Traum anstrengt, aufzuschreien und aufzuwachen, so bemühte sich Syme plötzlich, diese letzte und schlimmste seiner Phantasien loszuwerden. Mit zwei ungestümen Schritten holte er den Herrn mit dem Strohhut des Marquis ein, den Herrn, der jetzt Mr. Ratcliffe hieß. Mit übertrieben lauter und munterer Stimme brach er das grenzenlose Schweigen und machte Konversation. »Darf ich fragen, wohin wir eigentlich gehen?«

So echt waren die Zweifel seiner Seele gewesen, daß er nun sehr froh war, seinen Begleiter mit einer leichten und durchaus menschlichen Stimme sprechen zu hören: »Wir müssen hinunter durch die Stadt Lancy, an die See. Ich nehme an, daß ein Teil des Landes auf ihrer Seite ist.«

»Aber was beabsichtigen Sie damit?« rief Syme. »Sie können doch so nicht durch die ganze Welt rennen. Sicherlich sind nicht viele Arbeiter Anarchisten, und sicherlich kann der bloße Mob, wenn er anarchistisch wäre, nicht eine moderne Armee und eine moderne Polizei schlagen.«

»Bloßer Mob!« wiederholte sein neuer Freund mit einem Schnauben der Geringschätzung. »Sie reden von Mob und den arbeitenden Klassen, als ob es sich um die handelte. Sie haben diese altmodische Idee, daß die Anarchie, wenn sie käme, von den Armen ausginge. Warum denn? Die Armen sind gewiß geborene Rebellen, aber Anarchisten sind sie niemals gewesen; es liegt ihnen mehr als irgend sonst jemand daran, daß eine anständige Regierung vorhanden ist. Der arme Mann hat wirklich ein Interesse am Wohlergehen des Landes. Der reiche Mann nicht; er kann in einer Nacht nach Neuguinea verschwinden. Die Armen haben manchmal dagegen protestiert, schlecht regiert zu werden; die Reichen haben immer Einspruch dagegen erhoben, überhaupt regiert zu werden. Die Aristokraten, das waren immer die Anarchisten, wie Sie schon aus dem Aufstand der Barone ersehen können.«

»Die reine Vorlesung über englische Geschichte für Anfänger«, sagte Syme, »das ist alles gut und schön, aber ich habe noch nicht ihre Nutzanwendung begriffen.«

»Ihre Nutzanwendung ist, daß die meisten ausführenden Organe des alten Sonntag südafrikanische und amerikanische Millionäre sind. Darum hat er alle Verbindungsmittel in der Hand, und darum müssen wir, die vier letzten Kämpfer der Anti-Anarchisten-Polizei, wie Kaninchen durch einen Wald rennen.«

»Von Millionären kann ich das verstehen«, gab Syme nachdenklich zu, »denn die sind beinahe alle verrückt. Ein paar verkommene alte Trottel mit Flausen im Kopf am Gängelband halten, das ist eine Sache; große daristliche Nationen in die Gewalt bekommen, eine andere. Ich möchte um meine Nase wetten — verzeihen Sie die Anspielung —, daß Sonntag direkt hilflos vor der Aufgabe stehen würde, einen x-beliebigen gesunden und normalen Menschen zu seinen Ansichten zu bekehren.«

»Schön«, sagte der andere, »es hängt nur davon ab, welche Art von Mensch Sie meinen.«

»Er könnte zum Beispiel jenen dort nie bekehren«, Syme deutete in gerader Richtung vor sich hin.

Sie waren zu einer offenen Stelle voll Sonnenlicht gelangt, die Syme wieder sein normales Gleichgewicht zurückgab. Und auch die Gestalt in der Mitte der Waldlichtung erschien ihm wie eine Verkörperung des gesunden Menschenverstandes von einer fast unheimlichen Wirklichkeit. Von der Sonne verbrannt und schweißbedeckt, schlicht und doch gewichtig zugleich mit seinen selbstverständlichen Handgriffen, schlug ein schwerfälliger französischer Bauer Holz mit seinem Beil. Sein Karren stand ein paar Meter entfernt, schon halb vollgeladen mit geschlagenem Holz. Das Pferd, das weidete, war wie sein Herr brav und anständig und hatte nichts von Verzweiflung an sich; wie sein Herr sah es bei aller Schwermut fast glücklich aus. Der Mann war ein Normanne, größer als der Durchschnitt der Franzosen, und sehr eckig. Seine dunkle Gestalt hob sich dunkel von einem Sonnenausschnitt ab, beinahe wie eine allegorische Figur in Fresko auf Goldgrund gemalt.

»Mr. Syme glaubt«, rief Ratcliffe dem französischen Obersten zu, »daß wenigstens dieser Mann niemals ein Anarchist sein wird.«

»Er hat in dem Fall recht«, antwortete lachend Oberst Ducroix, »wenn auch nur aus dem Grund, weil der Mann eine Menge Besitz zu verteidigen hat. Aber ich vergaß, daß man in Ihrer Heimat wohlhabende Bauern nicht kennt.«

»Er sieht aber arm aus«, äußerte Bull seinen Zweifel.

»Ganz recht«, sagte der Oberst, »weil er eben reich ist.«

»Ich habe eine Idee«, meinte Dr. Bull plötzlich; »was würde er verlangen, wenn er uns in seinem Karren mitnähme? Diese Hunde sind alle zu Fuß, da könnten wir sie bald hinter uns lassen.«

»Ach, geben Sie ihm, was Sie wollen«, bemerkte Syme eifrig. »Ich habe genug Geld bei mir.«

»Daran liegt es nicht«, sagte der Oberst. »Er wird nie Respekt vor Ihnen haben, wenn Sie nicht mit ihm handeln.«

»Oh, wenn er feilschen will …«, begann Bull ungeduldig.

»Er feilscht, weil er ein freier Mann ist«, erklärte der andere. »Sie müssen verstehen, Freigiebigkeit begriffe er gar nicht. Er ist nicht auf Trinkgelder angewiesen.«

Und während sie schon die schweren Füße ihrer hartnäckigen Verfolger hinter sich zu hören glaubten, standen sie nervös hin und her trampelnd herum und warteten auf den französischen Oberst, der mit dem französischen Holzfäller verhandelte, ganz in dem gemächlichen Hin und Her eines Markttages. Nach vier Minuten schließlich sahen sie, daß der Oberst recht behalten hatte. Der Bauer war einverstanden mit ihren Plänen, aber nicht unterwürfig dienernd wie ein gut bezahlter Agent, sondern ernst wie ein Anwalt, der die angemessene Gebühr erhalten hat. Er riet ihnen, am vorteilhaftesten sei es, wenn sie sich zu der kleinen Schenke auf den Hügeln bei Lancy begeben würden. Der Gastwirt, ein früherer Soldat, der auf seine alten Tage allerdings fromm geworden sei, würde sich ganz bestimmt ihrer annehmen und sogar riskieren, ihnen zu helfen. Die ganze Gesellschaft kletterte daher auf den Holzhaufen und fuhr schaukelnd auf dem primitiven Wagen die andere, steilere Seite des Waldes hinunter. Wenn auch das Fuhrwerk schwerfällig und wacklig war, so kamen sie doch rasch vorwärts und hatten bald das befreiende Gefühl, sich immer mehr von denen zu entfernen, die — mochten sie sein, wer sie wollten — sie vor sich herjagten.

Denn das Rätsel, woher den Anarchisten all diese Verfolger zugelaufen waren, war noch ungelöst. Die Gegenwart eines einzigen Mannes hatte den Polizisten genügt: Sie waren beim ersten Anblick des entstellten Lächelns des Sekretärs geflohen. Syme blickte immer wieder über seine Schulter auf die Armee hinter ihnen zurück.

Als der Wald sich völlig lichtete, konnte Syme die jenseitige, sonnenbeschienene Böschung sehen, über die sich die dicke schwarze Masse wie ein riesiger Käfer dahinwälzte. In dem hellen Sonnenlicht und mit seinen bloßen Augen, die fast so scharf wie ein Teleskop waren, konnte er deutlich den Haufen verfolgen. Einzelne menschliche Gestalten konnte er unterscheiden, und in zunehmendem Maße überraschte ihn die Art, in der sich diese gleichsam wie ein Mann vorwärtsbewegten. Sie trugen anscheinend dunkle Kleidung und einfache Hüte, wie man es bei jeder gewöhnlichen Menschenansammlung auf der Straße sieht. Jedoch liefen sie nicht auseinander oder schwärmten zum Angriff aus, wie es doch eigentlich der Natur solchen Pöbels gelegen hätte. Sie kamen mit einer hölzernen Plumpheit daher wie eine unerbittliche Armee von Automaten.

Syme machte Ratcliffe darauf aufmerksam.

»Ja«, erwiderte dieser, »das ist Disziplin. Das ist Sonntags Werk. Er ist vielleicht fünfhundert Meilen entfernt, aber die Furcht vor ihm lastet wie der Finger Gottes auf ihnen allen. Gewiß, sie rücken in aller Ordnung an, und man kann getrost seine Schuhe wetten, daß sie auch in aller Ordnung reden, ja und auch in aller Ordnung denken. Für uns ist nur das eine wichtig, daß sie auch wieder in aller Ordnung verschwinden.«

Syme nickte. Es war ersichtlich, daß der schwarze Fleck der Verfolger in dem Maße kleiner wurde, als der Bauer sein Pferd bearbeitete.

Die sonnenüberstrahlte Landschaft, so flach sie im ganzen war, fiel auf der andern Seite des Waldes wellenförmig nach der See zu ab, ähnlich wie es in Sussex ist. Der einzige Unterschied war der, daß in Sussex die Straße vielfach gewunden gewesen wäre wie ein kleiner Bach, während diese französische Straße hier senkrecht vor ihnen, abfiel wie ein Wasserfall. Dieses gerade Gefälle hinunter klapperte nun in einem bedrohlichen Winkel der Wagen; immer steiler wurde die Straße, und in ein paar Minuten sahen sie unter sich den kleinen Hafen von Lancy und den großen blauen Bogen der See. Die wandernde Wolke ihrer Feinde war hinterm Horizont verschwunden.

Pferd und Wagen nahmen eine scharfe Wendung um eine Gruppe von Ulmen; das Pferd berührte mit seiner Nase beinahe das Gesicht eines alten Herrn, der auf einer Bank vor dem Café »Le Soleil d’Or« saß. Der Bauer knurrte eine Entschuldigung und sprang von seinem Sitz. Die anderen stiegen ebenfalls einer nach dem andern ab und richteten an den alten Herrn einige höfliche Redensarten, denn aus seinem selbstbewußten Auftreten war zu schließen, daß er der Besitzer dieses Gasthauses war.

Er war ein weißhaariger, pausbäckiger alter Bursche mit schläfrigen Augen und grauem Schnurrbart; stämmig, seßhaft und harmlos, von der Art, wie man sie oft in Frankreich findet und noch häufiger im katholischen Teil Deutschlands.

Alles um ihn herum, seine Pfeife, sein Krug Bier, seine Blumen, sein Bienenstock strömten einen altangestammten Frieden aus. Erst als seine Besucher in die Gaststube traten und aufsahen, erblickten sie einen Säbel an der Wand.

Der Oberst, der den Gastwirt wie einen alten Freund begrüßte, schritt rasch in die Gaststube, setzte sich und bestellte die landesübliche Erfrischung. Die knappe, militärische Art, wie er das tat, interessierte Syme, der sich neben ihn setzte. Er nutzte die Gelegenheit, als der alte Gastwirt hinausgegangen war, seine Neugier zu befriedigen.

»Darf ich fragen, Oberst«, sagte er mit leiser Stimme, »warum wir hierhergegangen sind?«

Oberst Ducroix lächelte hinter seinem borstigen, weißen Schnurrbart. »Aus zwei Gründen, Monsieur, und ich will Ihnen zuerst, wenn auch nicht den wichtigsten, so doch den nützlichsten angeben. Wir sind hierhergegangen, weil dies in einem Umkreis von zwanzig Meilen der einzige Platz ist, wo wir Pferde bekommen können.«

»Pferde!« wiederholte Syme und fuhr auf.

»Ja, wenn Sie sich wirklich von Ihren Feinden lösen wollen, können Sie das nur mit Pferden bewerkstelligen, es sei denn, Sie haben Fahrräder oder Autos in der Tasche.«

»Und was raten Sie, wohin wir uns wenden sollen?« fragte Syme unsicher.

»Ohne Frage müssen Sie möglichst rasch zur Polizeiwache der Stadt eilen. Mein Freund, dem ich unter so merkwürdigen Umständen sekundiert habe, scheint mir die Möglichkeiten eines allgemeinen Aufruhrs zu übertreiben. Aber selbst er würde vermutlich kaum bestreiten, daß Sie unter dem Schutz der Gendarmerie sicher sind.«

Syme nickte bedächtig; dann sagte er plötzlich: »Und Ihr anderer Grund, hierhergegangen zu sein?«

»Mein anderer Grund«, versetzte Ducroix nüchtern, »ist der, daß es nicht zu verachten ist, einen oder zwei Mann mehr um sich zu haben, wenn man möglicherweise dem Tod entgegengeht.«

Syme blichte auf ein kunstlos gemaltes, rührendes religiöses Bild an der Wand. »Sie haben recht«, sagte er und fuhr fort: »Hat sich schon jemand nach Pferden umgesehen?«

»Ja«, antwortete Ducroix, »Sie können beruhigt sein; ich habe den Auftrag im Augenblick gegeben, da wir hereingekommen sind. Ihre Feinde haben nicht den Eindruck gemacht, als beeilten sie sich sonderlich. Und doch sind sie erstaunlich rasch vorwärts gekommen, wie eine gut einexerzierte Armee. Ich wußte gar nicht, daß die Anarchisten so viel Disziplin haben. Sie haben keinen Augenblick zu verlieren.«

Noch während er sprach, kam der alte Gastwirt mit den blauen Augen und dem weißen Haar bedächtig ins Zimmer und meldete, draußen ständen sechs Pferde gesattelt.

Auf Ducroix’ Rat versahen sich die fünf andern mit leicht tragbarem Proviant. Darauf nahmen sie ihre Duelldegen als die einzig verfügbaren Waffen zur Hand, und weiter ging’s mit Getrappel, die steile, weiße Straße hinunter. Die zwei Diener, die des Marquis Gepäck getragen hatten, als er noch Marquis war, ließ man im Café zurück, mit Zustimmung aller und durchaus auch mit ihrem Einverständnis.

Unterdessen hatte sich die Nadnnittagssonne nach Westen geneigt; in ihrem Licht konnte Syme die handfeste Gestalt des alten Gastwirts sehen, wie sie kleiner und kleiner wurde, aber noch immer unbewegt unter der Tür stand und ihnen nachhlickte, den Sonnenschein in seinem Silberhaar. Syme hatte die fixe abergläubisdze Idee (die freilich bestärkt war durch die gelegentliche Bemerkung des Obersten), daß dieser Mann vielleicht tatsächlich der letzte ehrenhafte Mensch sei, den er je auf Erden sehen würde.

Er blickte noch einmal auf die zusammenschrumpfende Gestalt, die sich schließlich wie ein grauer Fleck mit einer weißen Flamme darüber von der grünen Wand der steilen Düne hinter ihr abhob. Und wie sein Blick über den Rücken der Düne hinter dem Gastwirt schweifte, tauchte eine Armee von schwarzgekleideten, marschierenden Männern auf. Sie schienen über dem wackeren Mann und seinem Haus wie eine schwarze Wolke von Heuschrecken zu hängen. Keinen Augenblick zu früh also waren die Pferde gesattelt worden.

Anarchie über der Erde

Die Reiter spornten die Pferde zum Galopp an, ohne auf das recht starke Gefälle der holprigen Straße Rücksicht zu nehmen. So erreichten sie bald einen Vorsprung vor der anmarschierenden Masse; bei den ersten Häusern von Lancy schließlich verloren sie die Verfolger aus dem Blick. Da der Ritt eine ganze Weile gedauert hatte, bis sie den Kern der Stadt erreichten, hatte bereits der Sonnenuntergang seine wärmenden Farben über die Stadt gebreitet. Der Oberst schlug vor, nicht sofort zur Polizeiwache zu gehen. Man müsse sehen, ob man sich nicht noch mit irgend jemand verbinden könne, der einem nützlich sein könnte.

»Vier von den fünf reichen Leuten in dieser Stadt«, erklärte er, »sind gemeine Schwindler. Ich nehme an, dieses Verhältnis ist im übrigen auf der ganzen Welt ziemlich dasselbe. Der fünfte ist ein Freund von mir und ein ausgezeichneter Bursche, und, was die Hauptsache für uns ist, er besitzt ein Auto.«

»Ich fürchte«, sagte in seiner scherzhaften Weise der Professor mit einem Blick auf die weiße Straße, auf der jeden Moment der schwarze, krabbelnde Fleck daherkommen konnte, »ich fürchte, wir haben kaum Zeit zu einem Nachmittagsschwätzchen.«

»Doktor Renards Haus ist nur drei Minuten entfernt«, beruhigte der Oberst.

»Unsere Feinde sind keine zwei Minuten entfernt«, gab Bull zu bedenken.

»Ja«, ließ sich Syme hören, »aber wenn wir schell weiterreiten, müssen sie zurückbleiben, denn sie sind zu Fuß.«

»Er hat aber ein Auto«, beharrte der Oberst.

»Aber wir können es nicht mehr erwischen«, sagte Bull.

»Mein Bekannter ist aber ganz auf Ihrer Seite.«

»Er könnte nicht da sein.«

»Hören Sie!« unterbrach Syme plötzlich. »Was ist das für ein Lärm?«

Eine Sekunde lang saßen alle still wie Reiterstandbilder, und eine Sekunde, zwei, drei Sekunden lang schienen Himmel und Erde gleichfalls den Atem anzuhalten. Dann hörten sie in einem Augenblick gespanntester Aufmerksamkeit die Straße entlang jenes vibrierende Trappeln, das nur eines bedeuten konnte: Pferde!

Das Gesicht des Obersten hatte sich einen Herzschlag lang verändert, als wäre er vom Blitz getroffen. Dann sagte er militärisch knapp und ironisch: »Sie haben uns übers Ohr gehauen! Achtung — Kavallerie greift an!«

»Woher mögen sie die Pferde bekommen haben?« fragte Syme und trieb sein Roß zu einem leichten Galopp an.

Der Oberst schwieg für eine Weile. Danach erhob er seine Stimme: »Ich wußte genau, was ich sagte, wenn ich davon sprach, daß Soleil d’Or der einzige Ort im Umkreis von zwanzig Meilen ist, wo man Pferde bekommen kann.«

»Nein«, widersprach Syme heftig, »ich kann nicht glauben, daß er dazu fähig ist mit seinem weißen Haar.«

»Er kann gezwungen werden sein«, besänftigte der Oberst. »Sie müssen mindestens hundert Mann stark sein. Deshalb gehen wir jetzt zu meinem Freund Renard; er hat ein Auto.«

Mit diesen Worten lenkte er sein Pferd plötzlich um eine Ecke und ritt die Straße wie ein Teufel hinunter, so daß die andern, obwohl schon im Galopp, Schwierigkeiten hatten, dem flatternden Schweif seines Pferdes zu folgen.

Dr. Renard bewohnte ein hohes, behagliches Haus am Ende der abschüssigen Straße. Als die Reiter an seiner Tür abstiegen, konnten sie noch einmal den grünen Hügelrücken mit der weißen Straße über die Dächer der Stadt ragen sehen. Sie atmeten auf, denn die Straße war noch leer, und zogen an der Glocke.

Dr. Renard war ein braunbärtiger Mann mit strahlenden Augen, ein trefflicher Vertreter jenes einsilbigen, aber sehr fleißigen Mittelstandes, der sich in Frankreich so viel besser gehalten hat als in England. Als er in die Angelegenheit eingeweiht war, setzte er sich mit einem »Pah« über die Bedenken des Exmarquis hinweg und meinte in seinem echt französischen Skeptizismus, daß ein allgemeiner Anarchistenaufruhr höchst unwahrscheinlich sei. »Anarchie«, sagte er, mit den Achseln zuckend, »ist Kinderei.«

»Et ça«, schrie der Oberst plötzlich und zeigte über die Schultern der andern, »das ist auch Kinderei, nicht wahr?«

Sie blickten sich alle um und sahen die schwarze Reiterschar mit der ganzen Wildheit eines Attila über die Höhe des Hügels herauffegen. So schnell sie auch ritten, hielt die gesamte Reihe dicht zusammen; man konnte die schwarzen Masken der ersten Linie ausgerichtet sehen wie Uniformen. Die dunkle Hauptmasse war zwar unverändert geblieben, wenn sie sich auch schneller bewegte; es gab aber doch einen merklichen Unterschied, der auf der Böschung des Hügels wie auf einer schrägliegenden Landkarte zu erkennen war: Die Reiter bildeten wohl ein Karree, jedoch flog ein Reiter der Kolonne weit voraus. Mit heftigen Bewegungen von Hand und Absatz spornte er sein Pferd zu immer größerer Eile an, so daß man hätte glauben können, er sei nicht der Verfolger, sondern der Verfolgte. Aber sogar in der Entfernung konnte man etwas so ausgesprochen Fanatisches an seiner Gestalt erkennen, daß man wußte: Das da war der Sekretär selbst!

»Es tut mir leid, im Augenblick ein kultiviertes Gespräch nicht führen zu können«, sagte der Oberst, »aber können Sie mir Ihr Auto leihen, jetzt sofort, binnen zwei Minuten?«

»Ich befürchte, daß Sie alle total verrückt sind«, gestand Dr. Renard mit verbindlichem Lächeln, »aber Gott verhüte, daß Ihre Verrücktheit unserer Freundschaft irgendwie Abbruch tun soll. Kommen Sie, wir wollen in die Garage und den Wagen holen.«

Dr. Renard war ein freundlicher Mann und schwer reich. Seine Zimmer waren eingerichtet wie das Museum von Cluny, und er besaß drei Autos. Jedoch benützte er sie nur selten, da er den einfachen Lebensstil der französischen Mittelklasse pflegte; als nun sein ungeduldiger Freund einen Wagen suchen wollte, versicherte er, daß nur einer von ihnen funktionieren würde. Diesen brachten die Polizisten mit einiger Schwierigkeit auf die Straße vor des Doktors Haus. Als sie aus der düsteren Garage herauskamen, waren sie überrascht über die Dämmerung, die unterdessen mit tropischer Schnelligkeit hereingebrochen war. Entweder hatten sie sich länger in der Garage aufgehalten, als sie vermutet hatten, oder ein Wolkendach hatte sich über die Stadt gebreitet. Sie blickten die steile Straße hinunter und sahen einen leichten Nebel von der See her aufsteigen.

»Jetzt oder nie«, rief Dr. Bull. »Ich höre Pferde.«

»Nein«, verbesserte der Professor, »nur ein Pferd.«

Und tatsächlich: die Horchenden vernahmen ganz deutlich, daß der Lärm, der sich rasch auf den klappernden Steinen näherte, nicht von der ganzen Kavalkade herrührte, sondern von einem einzelnen Reiter, der diese weit hinter sich gelassen hatte — von dem irrsinnigen Sekretär.

Symes Familie war einst, da sie bessere Tage gesehen hatte, auch einmal im Besitz eines Autos gewesen. So wußte er mit ihm umzugehen. Er war sofort auf den Chauffeursitz gesprungen; mit vor Erregung rotem Gesicht fummelte und probierte er an der ungewohnten Maschinerie. Dann vergeudete er seine ganze Kraft völlig umsonst an einem Hebel und meinte schließlich ganz ruhig: »Ich fürchte, es geht nicht.«

Während er das sagte, sauste ein Mann um die Ecke, aufrecht sitzend auf seinem dahinrasenden Pferd, unaufhaltsam wie ein Pfeil. Sein Kinn schien wie verrenkt, so preßte er ein Lächeln aus ihm heraus. Er fegte an die Seite des stillstehenden Wagens, in den sich die Gesellschaft gedrängt hatte, und legte mit einer besitzergreifenden Gebärde die Hand auf den Kühler. Es war der Sekretär; sein Mund wurde ganz gerade vor lauter Triumph.

Syme beugte sich mit aller Kraft über das Lenkrad, aber es war kein Laut zu hören als das Dröhnen der anderen Verfolger, die in die Stadt ritten. Dann jedoch ertönte plötzlich das Kreischen kratzenden Eisens — der Wagen sprang an. Er riß den Sekretär glatt aus dem Sattel wie ein Messer, das man rasch aus der Scheide zieht, schleifte ihn mit einem furchtbaren Stoß zwanzig Meter weit, schleuderte ihn beiseite und ließ ihn flach auf der Straße liegen, weit vor seinem scheuenden Gaul. Als der Wagen die Ecke mit einer eleganten Kurve nahm, konnte man eben die anderen Anarchisten sehen, wie sie die Straßen füllten und ihren gestürzten Führer aufhoben.

»Ich kann nicht verstehen, warum es plötzlich so dunkel geworden ist«, meinte der Professor leise.

»Es kommt ein Sturm, denke ich«, sagte Dr. Bull. »Schade nur, daß unser Wagen kein Licht hat.«

»Doch«, beruhigte der Oberst und holte vom Boden des Wagens eine schwere, altmodisch bauchige Eisenlaterne hervor, in der eine Kerze steckte. Sie war ganz offensichtlich eine Antiquität und hatte wohl einmal religiösen Zwecken gedient, denn auf einer Seite trug sie ein Kreuz.

»Wo, zum Kuckuck, haben Sie das Ding bloß her?« fragte der Professor.

»Von dort, wo der Wagen herstammt«, antwortete der Oberst, vor sich hinlachend, »von meinem guten Freund. Während unser Kamerad hier sich mit dem Motor abplagte, rannte ich die Vordertreppe des Hauses hinauf und sprach mit Renard, der in seiner Vorhalle stand, wie Sie sich erinnern werden. ›Es ist wohl keine Zeit mehr, eine Lampe aufzutreiben‹ sagte ich. Er sah auf und blinzelte liebenswürdig auf die schöne gewölbte Decke der Halle. Da hing an Ketten von wunderbarer Eisenarbeit diese Laterne herab, einer von den hundert Schätzen seines Hauses. Mit Gewalt riß er die Lampe von der Decke, wobei er die gemalte Täfelung zerbrach und zwei blaue Vasen durch seine Heftigkeit zerschlug. Dann händigte er mir die Eisenlaterne aus, und ich verstaute sie im Wagen. Hatte ich nicht recht, wenn ich sagte, es lohne sich, Dr. Renard kennenzulernen?«

»Allerdings«, gab Syme zu und hing die schwere Laterne an der Vorderseite auf. Es war wie eine Allegorie ihrer Lage: der Gegensatz zwischen dem modernen Auto und seiner seltsamen alten Kirchenlampe.

Bisher waren sie durch den ruhigsten Teil der Stadt gefahren und höchstens einem oder zwei Fußgängern begegnet, denen sie nicht ansehen konnten, ob der Ort friedlich oder feindlich gesinnt war. Nunmehr begannen die Fenster in den Häusern nacheinander aufzuleuchten und erweckten ein stärkeres Gefühl von Bewohntheit und. von Menschen. Dr. Bull wendete sich dem Exmarquis zu, der ihre Flucht veranlaßt hatte, und lächelte nun wieder natürlich und freundlich. »Diese Lichter stimmen einen heiter.«

Der Inspektor zog seine Brauen zusammen. »Mich kann nur eine Gattung von Lichtern heiter stimmen. Das sind die Lichter der Polizeiwache, die ich dort am Ende der Stadt sehe. Gebe Gott, daß wir in spätestens zehn Minuten dort sind.«

Bulls glühender Optimismus machte sich jählings Luft. »Oh, das ist alles rasender Unsinn! Wenn Sie wirklich glauben, daß normale Menschen in normalen Häusern Anarchisten sind, dann müssen Sie verrückter sein als ein Anarchist selber. Wenn wir umkehren und mit diesen Kerlen kämpfen, wird die ganze Stadt auf unserer Seite sein.«

»Nein«, versetzte der andere unerschütterlich, »die ganze Stadt wird gegen uns kämpfen. Passen Sie auf!«

Während sie so sprachen, hatte sich der Professor in plötzlicher Erregung vorgebeugt. »Was ist das für ein Lärm?«

»Oh, die Pferde hinter uns, vermutlich«, erwiderte der Oberst. »Ich dachte, Wir wären sie los.«

»Die Pferde hinter uns? Nein!« sagte der Professor. »Es sind nicht die Pferde, und es ist nicht hinter uns.«

Und schon schossen vor ihnen am Ende der Straße zwei beleuchtete, ratternde Gegenstände vorbei. Es war so rasch wie ein Blitz gegangen; trotzdem hatte jeder erkennen können, daß es sich um zwei Autos handelte. Der Professor stand auf mit bleichem Gesicht und schwer, daß es die beiden andern Wagen aus Renards Garage gewesen sein müßten.

»Ich versichere Ihnen, es waren seine«, wiederholte er mit wild rollenden Augen, »und sie waren voller Männer in Masken.«

»Unsinn«, brauste der Oberst auf. »Dr. Renard würde denen seine Wagen niemals überlassen.«

»Er kann dazu gezwungen werden sein«, gab Ratcliffe zu bedenken. »Die ganze Stadt ist auf ihrer Seite.«

»Sie glauben das?« fragte der Oberst ungläubig.

»Sie werden das auch noch glauben müssen«, antwortete der andere hoffnungslos, aber ruhig.

Nach einer verdutzten Pause begann der Oberst wieder: »Nein, ich kann es nicht glauben. Das ist doch Unsinn. Die gesamte Einwohnerschaft einer friedlichen Stadt …«

Er wurde durch einen Knall und ein blitzartiges Aufflammen dicht vor seinen Augen unterbrochen. Als der Wagen weiterfuhr, wehte ein Strich weißen Rauches hinter ihm her, und Syme spürte deutlich eine Kugel an seinem Ohr vorbeisausen.

»Mein Gott«, sagte der Oberst, »man hat auf uns geschossen.«

»Deswegen brauchen wir unsere Unterhaltung nicht abzubrechen«, meinte Ratcliffe verdrießlich. »Bitte, fahren Sie fort in Ihren Ausführungen, Oberst. Sie sprachen, denke ich, von der gesamten Bevölkerung einer friedlichen französischen Stadt.«

Der Oberst war so verblüfft, daß er den Spott gar nicht merkte. Er sagte nur: »Außerordentlich. Ganz außerordentlich …«

»Ein Nörgler«, warf Syme ein, »könnte so etwas unangenehm nennen. Ich nehme jedoch an, diese Lichter da draußen auf dem Feld jenseits der Straße gehören zur Gendarmeriestation. Wir werden gleich dort sein.«

»Nein«, widersprach Inspektor Ratclifie, »wir werden überhaupt nicht hinkommen.«

Er war aufgestanden und hatte scharf nach vorne Ausschau gehalten. Dann setzte er sich wieder und strich mit einer müden Gebärde sein schlichtes Haar glatt.

»Was meinen Sie?« fragte Bull spitz.

»Ich meine, daß wir niemals dorthin kommen werden«, antwortete der Pessimist gelassen. »Sie haben zwei Reihen Bewaffneter quer über die Straße aufgestellt; ich kann sie von hier sehen. Die Stadt steht in Waffen, wie ich schon sagte. Jeder muß es sich jetzt so bequem wie möglich machen.«

Und Ratcliffe setzte sich behaglich im Wagen zurecht und zündete sich eine Zigarette an. Die andern aber sprangen erregt auf und starrten auf die Straße hinunter. Syme war langsamer gefahren, seit ihre Pläne so ins Wanken gekommen waren. Nun hielt er den Wagen schließlich an, gerade an der Ecke einer Seitenstraße, die sehr steil zur See hinunterführte.

Die Stadt lag fast völlig im Schatten, die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Wo immer ihre Strahlen durchdringen konnten, übergossen sie alles mit brennendem Gold. Auf die Seitenstraße fiel das letzte Licht des Sonnenuntergangs so grell wie ein Scheinwerfer im Theater. Er überflutete das Auto der fünf Freunde und verwandelte es in einen gleißenden Sonnenwagen. Die übrige Straße hingegen, besonders Anfang und Ende, füllte tiefste Dämmerung; sekundenlang konnte man nichts erkennen. Dann aber pfiff Syme, dessen Augen am schärfsten waren, durch die Zähne. »Es stimmt. Da vorne ist ein Haufen, eine Truppe oder etwas Ähnliches mitten auf der Straße.«

»Gut, wenn es das ist«, sagte Bull ungeduldig, »dann muß irgend etwas los sein — ein Manöver oder des Bürgermeisters Geburtstag oder sonst etwas. Ich kann und will nicht glauben, daß die Bewohner eines solch gemütlichen Ortes mit Dynamit in der Tasche herumspazieren. Fahren Sie ein bißchen weiter, Syme, wir wollen uns das einmal ansehen.«

Der Wagen kroch ungefähr hundert Meter weiter. Dann fuhren sie alle in die Höhe, weil Dr. Bull in ein schallendes Gelächter ausbrach.

»Ach, wir Trottel«! rief er. »Was ich euch gesagt habe. Die Menge da vorne ist so zahm wie eine Kuh. Und wenn sie es nicht ist, liegt es nur an uns.«

»Weso?« fragte der Professor, ganz verwundert.

»Sie blinde Henne!« schrie Bull, »sehen Sie denn nicht, wer sie führt?«

Sie schauten nochmals scharf nach vorne, und dann rief der Oberst mit stockender Stimme: »Wahrhaftig, es ist kein anderer als Renard.«

Tatsächlich bewegte sich quer über die Straße eine Reihe dunkler Gestalten; man konnte sie nicht genau erkennen. Aber weit genug vorne, im Bereich des Abendlichtes, schritt würdevoll Dr. Renard auf und ab, unverkennbar im hellen Hut, seinen langen, braunen Bart streichend und einen Revolver in der linken Hand haltend.

»Was bin ich für ein Narr gewesen!« rief der Oberst aus. »Der brave Junge ist natürlich ausgezogen, uns zu helfen.«

Dr. Bull kollerte vor Lachen und schwang seinen Degen so sorglos wie einen Spazierstock. Er sprang aus dem Wagen, lief quer über den freien Platz und schrie: »Dr. Renard, Dr. Renard!«

Einen Augenblick später glaubte Syme seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Denn der so menschenfreundliche Dr. Renard hatte bedächtig seinen Revolver erhoben und zweimal auf Bull gefeuert, so daß die Schüsse in der Straße widerhallten.

Fast in derselben Sekunde, da der weiße Pulverdampf aufgestiegen war, kam auch ein langer Paff einer weißen Wolke aus der Zigarette des zynischen Ratcliffe. Wie die andern war auch er etwas erbleicht, aber er lächelte dabei. Dr. Bull, dem die Kugeln haarscharf an seinem Skalp vorbeigegangen waren, blieb in der Mitte der Straße ohne ein Zeichen von Furcht stehen, drehte sich dann sehr langsam um, ging gemächlich zum Wagen zurück und kletterte hinein. In seinem Hut waren zwei Löcher. »Na«, sagte der Zigarettenraucher gedehnt, »was sagen Sie nun?«

»Ich denke«, antwortete Dr. Bull pedantisch, »daß ich in Peabody Buildings Nr. 217 im Bett liege und bald mit einem Satz aufwachen werde, oder ich denke, daß ich in einer Gummizelle in Hanwell sitze und der Doktor nicht viel aus meinem Fall machen kann. Aber wenn Sie wissen wollen, was ich nicht denke, kann ich es Ihnen auch sagen. Ich denke nicht, was Sie denken. Ich denke nicht und ich werde niemals denken, daß die Masse dieser alltäglichen Menschen dort ein übles Pack dreckiger Freidenker ist. Nein, Sir, ich bin ein Demokrat, und ich glaube nicht, daß Sonntag einen durchschnittlich normalen Kanalarbeiter oder Ladenjüngling bekehren könnte. Nein — ich mag vielleicht verrückt sein, aber die Menschheit ist es nicht.«

Syme richtete seine hellblauen Augen auf Bull mit einem Ernst, den er gemeinhin nicht erklären konnte. »Sie sind ein Prachtkerl! Sie vermögen an eine Gesundheit zu glauben, die nicht nur Ihre eigene ist. Und Sie haben auch recht, was die Menschheit überhaupt anbelangt, die Bauern und solche Leute wie den wackern alten Gastwirt. Aber recht haben Sie nicht, was Renard anbetrifft. Ich habe ihm vom ersten Augenblick an nicht getraut. Er ist Rationalist und, was schlimmer ist, er ist reich. Wenn Pflichtbewußtsein und Religion tatsächlich zugrunde gehen, dann nur durch die Reichen.«

»Und sie werden nunmehr zugrunde gehen«, sagte der Mann mit der Zigarette und erhob sich, die Hände in den Taschen. »Denn da kommen die Teufel nämlich schon.«

Die Männer im Kraftwagen sahen unruhig in die Richtung seines gebannten Blicks: wie ein ganzes Regiment rückte es am Ende der Straße vor, an der Spitze wie rasend Dr. Renard, dessen Bart im Winde wehte.

Der Oberst sprang aus dem Wagen; es hielt ihn dort einfach nicht mehr. Er schrie: »Meine Herren, es ist nicht zu glauben. Es muß ein Spaß sein. Wenn Sie Renard kennten wie ich — es ist ebenso, als wollte man Königin Viktoria eine Dynamitattentäterin nennen. Wenn Sie eine Ahnung vom Charakter des Mannes hätten …«

Syme lachte bitter: »Fragen Sie Dr. Bull, er hat sie schon — im Hut.«

»Ich sage Ihnen, er kann es nicht sein«, schrie der Oberst, indem er auf den Boden stampfte. »Renard soll es erklären, er soll es mir erklären«, und er schritt rasch vorwärts.

»Beeilen Sie sich nicht so«, dehnte der Raucher seine Worte. »Er wird es uns allen sehr bald erklären.«

Aber der ungeduldige Oberst war schon außer Hörweite; er marschierte auf den Feind los. Der aufgeregte Dr. Renard hob wieder seinen Revolver, zögerte indes, als er sein Gegenüber erkannte. So trat ihm der Oberst entgegen, ganz außer sich und heftig gestikulierend.

»Das ist doch sinnlos«, sagte Syme. »Er wird bei dem alten Heiden nie etwas erreichen. Ich schlage vor, wir fahren — bumm! — mitten durch die Kerls da hindurch, so wie die Kugel durch Bulls Hut. Und wenn wir alle dabei umkommen, eine ordentliche Anzahl von ihnen muß auch dran glauben.«

»Das möcht’ ich nicht«, warf Bull ein und enthüllte sein innerstes Wesen, indem er jetzt Dialekt sprach. »Die armen Teufel sind nur verführt. Geben Sie dem Obersten eine Chance!«

»Sollen wir nicht vielleicht doch lieber zurückgehen?« fragte der Professor.

»Nein«, entgegnete Ratcliffe kaltblütig, »die Straße hinter uns ist auch schon gesperrt. Anscheinend befindet sich dort noch ein Freund von Ihnen, Syme.«

Syme drehte sich schnell um und blickte auf den Weg, den sie zurückgelegt hatten. Und was sah er? Eine ungeordnete Reiterschar, die sich sammelte und in der Dunkelheit auf sie zugaloppierte. Er erblickte über dem vordersten Sattel den Silberglanz einer Waffe und beim Näherrücken den Silberglanz vom Haar eines alten Mannes. Im nächsten Augenblick hatte er mit äußerster Heftigkeit den Motor herumgerissen und sauste die steile Seitenstraße zur See hinunter wie einer, der zu allem entschlossen ist — auch zu sterben.

»Was zum Teufel ist denn los?« schrie der Professor und packte ihn am Arm.

»Wie bist du tief gefallen, du schöner Morgenstern«, sagte Syme. Dabei wirbelte der Wagen durch die Dunkelheit wie ein fallender Stern.

Die andern verstanden den Sinn seiner Worte nicht. Aber als sie hinter sich die Straße hinaufschauten, kam schon die feindliche Reiterei um die Ecke und den Abhang herunter, ihnen nach. An der Spitze ritt der brave Gastwirt, feurig überflutet vom Licht der Abendsonne.

»Alle Welt ist verrückt geworden«, seufzte der Professor und schlug die Hände vers Gesicht.

»Nein«, sagte Dr. Bull in bewundernswerter Bescheidenheit, »nur ich bin’s.«

»Ja, und was tun wir denn jetzt?« fragte der Professor.

»Ich denke«, erwiderte Syme mit wissenschaftlicher Präzision, »wir werden gleich an einen Laternenpfahl rennen.«

Im nächsten Augenblick schon war das Auto mit wildem Krach gegen irgend etwas Eisernes gefahren. Gleich darauf krabbelten vier Männer unter einem wirren Durcheinander von Metall hervor, und ein hoher, schlanker Laternenpfahl, der an der Ecke der Seepromenade gestanden hatte, ragte immer noch empor, wenn auch gebogen und gekrümmt wie der Ast eines gebrochenen Baumes.

»Na also, wir haben etwas über den Haufen gerannt«, stellte der Professor mit schwachem Lächeln fest. »Das ist ja heiter.«

»Sie werden selber noch ein Anarchist«, meinte Syme und staubte in seinem angeborenen Gefühl für Sauberkeit seine Kleider ab.

»Das ist hier jedermann«, sagte Ratcliffe.

Während sie miteinander sprachen, brausten der weißhaarige Reiter und seine Begleiter donnernd von oben herab, und fast gleichzeitig rannte eine dunkle Schar von Männern schreiend die Küste entlang. Syme griff nach seinem Degen und nahm ihn zwischen die Zähne, zwei andere verstaute er unter den Armen, einen vierten schwang er in der linken und die Laterrie in der rechten Hand. So stürmte er von der hoch gelegenen Promenade auf den Strand hinunter.

Die andern ihm nach; gemeinsam folgten sie dem entschlossenen Vorbild und ließen den heulenden Pöbel hinter sich. »Wir haben noch eine Chance«, sagte Syme, wozu er den Stahl aus dem Mund nahm. »Was auch immer all dieser Höllenspuk bedeuten mag, die Polizei wird uns zu Hilfe kommen. Erreichen können wir sie nicht, denn der Weg ist versperrt. Aber hier läuft eine Mole oder eine Buhne ins Meer hinaus. Hier können wir uns verteidigen, länger als sonst irgendwo, so, wie es Horatius auf seiner Brücke getan. Wir müssen sie halten, bis die Gendarmerie ausrückt. Mir nach!«

Sie folgten ihm, der zähneknirschend den Strand hinunterlief. In ein oder zwei Sekunden stießen ihre Schuhe nicht mehr auf den Sand des Strandes, sondern auf breite, flache Steine. Sie marschierten auf einer langen, niederen Mole, die in die düstere, wallende See hinausführte. Als sie an ihrem Ende angelangt waren, merkten sie, daß sie damit zugleich das Ende ihres Abenteuers erreicht hatten. Sie wandten sich um und sahen die Stadt vor sich.

Sie stand in hellem Aufruhr. Die Strandpromenade, die sie eben herabgekommen waren, überflutete ein dunkler, brüllender Strom von Menschen mit erhobenen Armen und verzerrten Gesichtern, die wild nach ihnen starrten. Die lange, dunkle Linie war wie punktiert mit Fackeln und Laternen. Aber selbst wo keine Flamme ein wütendes Gesicht beleuchtete, konnte man noch in der fernsten Gestalt, aus der im tiefsten Schatten liegenden Geste einen wohlorganisierten Haß erkennen. Es war klar, daß sie — diese vier hier auf der Mole — die verfluchtesten aller Menschen waren und nicht wußten warum.

Zwei oder drei Männer, klein und schwarz wie Mönche, sprangen über den Wegrand, wie die Verfolgten es getan hatten, und ließen sich auf den Strand fallen. Mit furchtbarem Schrei stapften sie durch den tiefen Sand und bemühten sich, aufs Geratewohl in die See vorzudringen. Ihr Beispiel fand Nachahmung; die schwarze Menschenmasse begann zu laufen und über den Strand zu rinnen wie dunkler Sirup.

Syme erkannte unter den Männern, die am weitesten voraus waren, den Bauern, der ihren Wagen gefahren hatte. Er platschte in die Brandung auf einem riesigen Karrengaul und schwang drohend seine Axt gegen sie.

»Der Bauer!« rief Syme. »Seit dem Mittelalter hat sich kein Bauer mehr erhoben …«

»Selbst wenn jetzt die Polizei kommt«, meinte der Professor sorgenvoll, »vermag auch sie gegen diesen Mob nichts mehr anzufangen.«

»Unsinn!« sagte Bull verzweifelt. »Es muß doch noch einige Leute in der Stadt geben, die Menschen geblieben sind.«

»Nein«, widersprach der hoffnungslose Inspektor, »das menschliche Wesen wird bald ausgelöscht sein. Wir sind die letzten Menschen.« Wie geistesabwesend bemerkte der Professor: »Vielleicht.« Dann fügte er träumerisch hinzu: »Wie heißt es am Ende der ›Dunciade‹?

›Keine Flamme darf mehr brennen,

nicht auf offnem Platz und nicht daheim.

Kein menschlich Licht ist mehr zu finden,

kein göttlicher Glanz.

Deine furchtbare Herrschaft, Chaos, ist erneut errichtet.

Alles Leben erlischt auf deinen vernichtenden Befehl.

Deine Hand, großer Anarchist, läßt den Vorhang fallen, und in Dunkelheit versinkt das Universum.‹

«

»Halt«, unterbrach ihn Bull plötzlich, »die Polizei rückt aus.«

Die schwachen Lichter der Gendarmeriewache waren in der Tat teils erloschen, teils wurden sie von hastig hin und her eilenden Gestalten verdunkelt. Durch die Dunkelheit hörte man klirrend und rasselnd eine berittene Truppe nahen.

»Sie stürmen gegen den Mob an«, schrie Bull, außer sich vor Erstaunen und Aufregung.

»Nein«, widersprach Syme, »sie formieren sich auf der Promenade.«

»Sie legen ihre Karabiner an«, schrie Syme wieder, tanzend vor Begeisterung.

»Ja«, sagte Ratcliffe‘ »und gleich werden sie auf uns feuern.«

Während er sprach, knatterte mit einem Mal Gewehrfeuer los, und Kugeln prallten wie Hagelsehloßen auf den Steinen vor ihnen auf.

»Die Gendarmen haben sich den Anarchisten angeschlossen«, rief der Professor und schlug sich vor die Stirn.

Bull aber bekannte ergeben: »Ich bin in einer Gummizelle.«

Ein langes Stillschweigen entstand. Dann verkündete Ratcliffe, indem er über den grauen Purpur der rollenden See sah: »Was liegt daran, wer verrückt oder wer normal ist. Wir werden bald alle hin sein.«

Syme wendete sich ihm zu: »Sie sind ganz ohne jede Hoffnung?«

Mr. Ratcliffe gab lange keine Antwort; endlich sagte er ruhig: »Nein, merkwürdigerweise bin ich. nicht völlig ohne Hoffnung. Ich habe da noch so eine winzig kleine blödsinnige Hoffnung, die ich nicht loswerde. Alle Macht dieses Planeten ist gegen uns, und so frage ich mich, ob nicht doch diese kleine, alberne Hoffnung auch umsonst ist.«

»Auf was oder wen gründet sich Ihre Hoffnung?« wollte Syme wissen.

»Auf einen Mann, den ich niemals gesehen habe«, erwiderte der andere und sah auf die bleifarbene See.

»Ich weiß, wen Sie meinen«, fuhr Syme leise fort, »den Mann im dunklen Zimmer. Aber Sonntag muß ihn schon umgebracht haben.«

»Vielleicht«, meinte der andere hartnäckig, »aber wenn, dann war es der einzige Mann, bei dem es Sonntag Mühe gemacht hat, ihn zu töten.«

»Ich habe gehört, was Sie da eben sagten«, schaltete sich der Professor ein und drehte sich um. »Auch ich halte mich fest an Dingen, die ich niemals sah.«

Da schwang sich Syme, der wie blind seinen Gedanken nachgehangen hatte, plötzlich um seine eigene Achse und schrie laut wie einer, der aus dem Schlaf fährt: »Wo ist der Oberst? Ich dachte, er ist bei uns!«

»Der Oberst? Ja«, rief Bull, »wo zum Henker ist der Oberst?«

»Er ist doch zu Renard gegangen, um mit ihm zu sprechen«, meinte der Professor.

»Wir können ihn doch nicht unter all diesen Kanaillen zurücklassen«, ereiferte sich Syme. »Wir wollen wie Gentlemen sterben, wenn …«

»Sorgen Sie sich nur nicht um den Oberst«, beruhigte ihn Ratcliffe, bleich und höhnisch grinsend. »Dem geht es äußerst wohl. Er ist …«

»Nein, nein, nein«, raste da Syme los, »nicht auch noch der Oberst! Ich kann es nicht glauben!«

»Aber Ihren Augen trauen Sie doch?« fragte der andere zurück und deutete auf den Strand.

Einige der Verfolger waren ins Wasser hineingewatet und schüttelten drohend ihre Fäuste. Aber da die See unruhig war, konnten sie die Mole nicht erreichen. Nur zwei oder drei Gestalten standen am Anfang des steinernen Weges und schickten sich an, vorsichtig weiter vorzudringen. Der Schein einer Laterne erhellte zufällig die Gesichter der beiden, die am weitesten vorn waren. Das eine Gesicht war zur Hälfte mit einer schwarzen Maske bedeckt, und unter ihr zuckte der Mund so nervös, daß der schwarze Zwickelbart sich hin und her bewegte wie ein Lebewesen voller Unrast. Das andere aber war rot und hatte einen weißen Schnurrbart: der Oberst! Die beiden standen in offenbar ernster Beratung.

»Er ist also auch futsch«, sagte der Professor und setzte sich auf einen Stein. »Alles ist weg. Ich auch. Ich traue meinem eigenen Körper nicht mehr. Ich komme mir vor, als könnte meine Hand plötzlich wegrutschen und mich selbst schlagen.«

»Wenn meine Hand ausrutscht«, ergänzte Syme, »wird sie irgendeinen andern schlagen.« Mit diesen Worten schritt er die Mole entlang auf den Oberst zu, den Degen in der einen und die Laterne in der andern Hand.

Kaum sah der Oberst ihn kommen, so richtete er seinen Revolver gegen ihn und feuerte, um die letzte Hoffnung und den letzten Zweifel zu beseitigen. Der Schuß verfehlte Syme, traf aber seinen Degen und zerschmetterte ihn unterhalb des Griffs. Syme stürzte vor und schwang die eiserne Laterne über seinem Kopf.

»Judas und Herodes!« knirschte er und schlug den Oberst nieder. Dann kehrte er sich dem Sekretär zu, dessen gräßlicher Mund vor Wut schäumte, und hielt die Lampe mit solch unerbittlich zwingender Gebärde hoch, daß der Mann für einen Augenblick wie erstarrt war und zuhören mußte.

»Sehen Sie diese Laterne!« schrie Syme mit furchtbarer Stimme. »Sehen Sie das Kreuz, das auf ihr eingekerbt ist, und die Flamme, die in ihr brennt! Von Ihnen stammt das Kreuz nicht. Sie haben die Flamme nicht angezündet. Bessere Menschen als Sie, Menschen, die noch glauben und gehorchen konnten, haben das Eisen geschmiedet und die Legende vom Licht bewahrt. Jede Straße, auf der Sie gehen, jeder Faden, den Sie auf sich tragen, stralt wie diese Laterne da Ihre Philosophie des Schmutzes und der Ratten Lügen. Sie können nichts schaffen. Sie können nur zerstören. Sie wollen die Menschheit zerstören, Sie wollen die Welt zerstören. Genug damit! Diese eine alte christliche Laterne sollen Sie nicht zerstören. Sie soll dorthin gehen, wo sie Ihrem Reich der Affen für immer entzogen sein wird.«

Er schlug mit der Laterne auf den Sekretär ein, daß er taumelte. Dann wirbelte er sie zweimal um den Kopf und schleuderte sie weit ins Meer hinaus, wo sie zischte und flackerte wie eine Rakete, ehe sie untersank.

»Degen heraus!« brüllte Syme und wandte sein vor Erregung flammendes Gesicht den dreien hinter ihm zu. »Wir wollen diese Hunde angreifen, denn unsere Zeit zu sterben ist gekommen.«

Seine drei Begleiter stürmten ihm nach, den Degen in der Hand. Symes Degen war zerbrochen, aber er riß einen Knüppel aus der Hand eines Fischers, den er niederstieß. Im nächsten Augenblick hätten sie sich auf die Menschenmassen gestürzt und wären verloren gewesen — da gab es eine Überraschung. Der Sekretär hatte seit der Rede Symes dagestanden wie betäubt und sich den Kopf gehalten. Jetzt zog er plötzlich seine schwarze Maske ab.

Das blasse Gesicht, das zum Vorschein kam, zeigte im Lampenlicht weniger Wut als Erstaunen. Er hob seine Hand mit offensichtlicher Autorität: »Hier liegt ein Mißverständnis vor, Mr. Syme, ich denke, Sie verkennen unsere Stellung. Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes.«

»Des Gesetzes?« sagte Syme und ließ seinen Knüppel fallen.

»Allerdings«, bestätigte der Sekretär. »Ich bin Detektiv von Scotland Yard«, und zog eine kleine blaue Karte aus der Tasche.

»Und für was halten Sie uns?« fragte der Professor und hob seine Arme hoch.

»Sie«, sagte der Sekretär steif, »sind, soviel ich als feststehende Tatsache weiß, Mitglieder des Obersten Anarchistenrats. Verkleidet als einer von Ihnen, habe ich …«

Dr. Bull schleuderte seinen Degen ins Meer. Er sagte: »Es gibt überhaupt keinen Obersten Anarchistenrat. Wir waren alle miteinander eine Schar schwachsinniger Polizisten, von denen einer den andern bespitzelte. Und alle diese braven Leute, die so tüchtig auf uns losgepfeffert haben, hielten uns für Dynamitattentäter. Ich wußte, daß ich mich in der Masse nicht täuschte …« Er lächelte die Menge an, die sich um sie geschart hatte, und fuhr fort: »Einfache Leute sind niemals verrückt. Ich weiß es, ich bin selber ein einfacher Mann aus dem Volk. Und nun gehe ich an Land, um für jeden von euch einen auszugeben.«

Der Präsident wird verfolgt

Am nächsten Morgen fuhren fünf recht durcheinander geratene, aber vergnügte Leute nach Dover. Der arme alte Oberst hätte einige Ursache zu klagen gehabt, da er zuerst gezwungen werden war, für zwei Parteien zu kämpfen, die gar nicht existierten, und dann mit einer eisernen Laterne niedergeschlagen wurde. Aber er war ein hochgemuter alter Herr, und da er sehr beruhigt war, daß keine der Parteien etwas mit Dynamit zu tun hatte, verabschiedete er sich auf dem Pier mit größter Herzlichkeit von ihnen.

Die fünf miteinander versöhnten Detektive hatten sich hundert Einzelheiten zu erklären. Der Sekretär mußte Syme erzählen, wie sie dazugekommen waren, Masken zu tragen: um sich dem mutmaßlichen Feind als Mitverschwörer zu nähern. Syme mußte berichten, warum sie mit solcher Schnelligkeit durch ein zivilisiertes Land geflohen seien. Aber über all diesen Einzelheiten, die sich erklären ließen, erhob sich bergehoch die wichtigste Frage, die sie nicht beantworten konnten. Was bedeutete das alles? Wenn sie alle harmlose Beamte waren, was und wer war Sonntag? Wenn er sich nicht der Welt bemächtigt hatte, wozu dann der ganze Aufwand? Besonders Inspektor Ratcliffe grübelte darüber nach.

»Ich kann mir ebensowenig wie Sie einen Vers machen auf das Spiel des alten Sonntag«, bekannte er, »aber was Sonntag auch immer sein mag, ein unschuldiger Bürgersmann ist er nicht. Verdammt noch eins! Erinnern Sie sich an sein Gesicht?«

»Ich werde es nie vergessen«, versicherte Syme.

Der Sekretär meinte: »Vermutlich werden wir bald mehr herausbekommen, denn morgen haben wir unsere nächste Versammlung. Sie entschuldigen«, setzte er mit ziemlich grausigem Lächeln hinzu, »daß ich meine Sekretärspflichten so ernst genommen habe.«

»Vermutlich haben Sie recht«, sagte der Professor nachdenklich. »Vermutlich könnten wir etwas von ihm erfahren. Aber ich gestehe, daß ich mich davor fürchte, Sonntag zu fragen, wer er wirklich ist.«

»Warum? Aus Furcht vor Bomben?«

»Nein«, gestand der Professor, »aus Furcht, er könnte es mir sagen.«

»Darauf wollen wir eins trinken.«

Während ihrer Reise zu Schiff und mit der Bahn ging es sehr fidel zu; sie steckten immer beieinander. Dr. Bull, der unentwegte Optimist der Gesellschaft, bemühte sich, die andern vier zu überreden, gemeinsam mit einem zweirädrigen Wagen von Victoria aus zu fahren. Aber der Vorschlag wurde verworfen, und man fuhr mit einer vierrädrigen Droschke mit Dr. Bull auf dem Kutschbock, wobei Dr. Bull sich eins sang. Sie beendeten ihre Fahrt in einem Hotel am Picadilly Circus, um es nicht zu weit zum Frühstück am nächsten Morgen am Leicester Square zu haben. Doch waren die Abenteuer des Tages noch nicht ganz vorüber. Dr. Bull, unzufrieden mit dem allgemeinen Vorschlag, zu Bett zu gehen, war ungefähr um elf Uhr aus dem Hotel geschlendert, um noch ein wenig von den nächtlichen Schönheiten Londons zu nippen. Doch zwanzig Minuten später kam er schon zurück und machte Lärm in der Halle. Syme, der ihn zuerst zu besänftigen suchte, mußte schließlich seinen Mitteilungen mit gespannter Aufmerksamkeit lauschen.

»Ich sage Ihnen, ich habe ihn gesehen«, betonte Dr. Bull.

»Wen?« fragte Syme rasch. »Den Präsidenten etwa?«

»So schlimm nicht«, erwiderte Dr. Bull mit ganz unnötigem Gelächter, »so schlimm nicht. Ich habe ihn hier.«

»Wen hier?« Syme wurde ungeduldig.

»Den Haarmenschen«, sagte der andere mit leuchtenden Augen, »den Mann, der so haarig aussah: Gogol. Hier ist er!« Und er zog am Ellbogen einen sich heftig widersetzenden jungen Mann heran, den gleichen, der fünf Tage vorher aus dem Rat geflogen war, immer noch mit dünnem rotem Haar und bleichem Gesicht, den ersten der falschen Anarchisten, der entlarvt worden war.

»Was wollen Sie von mir?« schrie er. »Sie haben mich als Spitzel hinausgeworfen.«

»Wr sind alle Spitzel«, flüsterte Syme.

Und Dr. Bull brüllte: »Wr sind alle Spitzel! Los, wir trinken eins!«

Am nächsten Morgen marschierte das Bataillon der vereinigten Sechs recht kleinlaut in das Hotel am Leicester Square.

»Das ist schon angenehmer«, sagte Dr. Bull, »wenn sechs Männer einen zu fragen beabsichtigen, was er will.«

»Ich denke, es ist, ein bißchen anders«, gab Syme zu bedenken. »Sechs beabsichtigen, einen zu fragen, was sie wollen.«

Schweigend gingen sie über den Platz, und obwohl das Hotel an der entgegengesetzten Ecke lag, sahen sie den kleinen Balkon und eine Gestalt, die viel zu groß für ihn war. Er saß allein, mit gesenktem Kopf aufmerksam in einer Zeitung lesend. Alle seine Ratsmitglieder, die gekommen waren, uni mit ihm ein Ende zu machen, überschritten den Platz mit dem Gefühl, als würden sie vom Himmel aus mit hundert Augen beobachtet.

Sie hatten viel darüber geredet, wie sie es anstellen sollten, ob sie den unmaskierten Gogol draußen lassen und diplomatisch vorgehen oder ob sie ihn mit hineinnehmen und die Mine gleich springen lassen sollten. Syme und Bull waren für das zweite Verfahren, und ihr Entschluß gewann die Oberhand. Doch fragte sie am Ende der Sekretär, warum sie Sonntag so rasch attackieren wollten.

»Mein Grund ist höchst einfach«, antwortete Syme. »Ich greife ihn rasch an, weil ich ihn fürchte.«

Schweigend folgten sie Syme die dunkle Treppe hinauf, und alle begegneten gleichzeitig dem prallen Sonnenlicht des Morgens und dem nicht weniger sonnigen Lächeln des Mannes, der Sonntag war.

»Großartig!« rief er aus. »Freue mich, Sie alle beisammen zu sehen. Entzückender Tag heute. Ist der Zar tot?«

Der Sekretär, der zufällig vorne stand, rüstete sich zu einer würdigen Überrumpelung. Er sagte ernst: »Nein, mein Herr, es hat kein Blutbad gegeben. Ich bringe Ihnen Nachricht von einem weniger abscheulichen Schauspiel.«

»Abscheuliches Schauspiel?« wiederholte der Präsident und sah ihn mit hellem Lächeln prüfend an. »Meinen Sie Dr. Bulls Brille?«

Dem Sekretär benahm es für einen Augenblick den Atem, aber der Präsident fuhr fort mit seiner einschmeichelnden Überredungskunst: »Selbstverständlich haben wir alle unsere Meinungen und auch unsere Augen im Kopf. Aber die Brille abscheulich zu nennen, bevor der Mann selbst …«

Dr. Bull riß seine Brille herunter und warf sie auf den Tisch: »Meine Brille ist abscheulich, aber ich nicht. Hier ist mein Gesicht.«

»Ich glaube, es ist die Art von Gesicht, die einem zur zweiten Natur wird. Tatsächlich, es wird Ihnen zur zweiten Natur. Und wer bin ich, daß ich mit den wilden Früchten am Baum des Lebens hadern wollte. Ich glaube, auch mein Gesicht wird mir eines Tages zur zweiten Natur werden …«

»Zu Narreteien haben wir keine Zeit«, fiel ihm der Sekretär wütend ins Wort. »Wär sind hierhergekommen, um zu erfahren, was dies alles bedeutet. Wer sind Sie? Was sind Sie? Warum bestellten Sie uns alle hierher? Wssen Sie, wer und was wir sind? Sind Sie ein Narr, der den Verschwörer spielt, oder sind Sie ein kluger Mann, der den Narren spielt? Antworten Sie mit!«

»Kandidaten«, murmelte Sonntag nachlässig vor sich hin, »brauchen nur acht von vorgeschriebenen siebzehn Fragen zu beantworten. Soviel ich verstehe, wollen Sie von mir wissen, was ich bin, was Sie sind und was dieser Tisch hier ist, was dieser Rat und diese Welt ist. Gut, ich will den Schleier von einem Geheimnis wegziehen. Sie wollen wissen, was Sie sind. Sie sind eine Schar von recht wohlgesinnten jungen Eseln.«

»Und Sie?« fragte Syme, indem er sich vorbeugte, »was sind Sie?«

»Ich? Was ich bin?« begehrte der Präsident auf und erhob sich langsam in seiner unglaublichen Größe, als wollte eine ungeheure, bis zum Gewölbe über ihnen reichende Wege über die Sechs hereinbrechen. »Sie wollen wissen, was ich bin, nicht wahr? Bull, Sie sind ein Mann der Wissenschaft. Graben Sie in den Wurzeln dieser Bäume und finden Sie die Wahrheit über sie heraus. Syme, Sie sind ein Dichter. Schauen Sie auf diese Morgenwolken und verraten Sie mir oder irgendeinem die Wahrheit über Morgenwolken. Ich aber sage Ihnen dies: eher werden Sie die Wahrheit dieses Baumes und der höchsten Wolke herausbekommen als die Wahrheit über mich. Sie können vielleicht das Meer verstehen, doch ich werde Ihnen ein Rätsel bleiben; Sie werden vielleicht wissen, was die Sterne sind, aber nicht, was ich bin. Seit Anbeginn der Welt jagen mich die Menschen wie einen Wolf — Könige und Weise, Poeten und Gesetzgeber, alle Kirchen und alle Philosophen, aber noch nie hat man mich gefangen, und eher fallen die Himmel ein, ehe ich mich stelle. Ich habe ihnen schon Beine gemacht, ungeachtet ihrer Gerissenheit, und jetzt will ich es abermals tun.«

Bevor sich einer von den sechs Freunden rühren konnte, hatte sich der ungeheure Mann wie ein riesiger 0rang-Utan über die Balustrade des Balkons geschwungen. Er ließ sich aber nicht fallen, sondern zog sich hoch wie an einem waagrechten Balken und sagte feierlich, indem er sein großes Kinn über die Ecke des Balkons schob: »Nur eins will ich Ihnen über mich verraten: Ich bin der Mann im dunklen Raum, der Sie alle zu Polizisten gemacht hat.«

Damit fiel er vom Balkon auf die Steine, wie ein großer Gummiball aufprallend, und rannte mit ein paar Sätzen auf die Ecke der Alhambra zu, wo er einen Wagen herbeirief und hineinsprang. Die sechs Detektive standen da wie vom Donner gerührt und unter dem Eindruck dieser letzten Eröffnung leichenblaß. Aber als er im Wagen verschwand, kehrte Symes praktischer Sinn zurück. Er stürzte sich gleichfalls vom Balkon, unbekümmert darum, ob er sich die Beine dabei brechen würde, und rief ebenfalls eine Droschke herbei.

Er und Bull sprangen zusammen in die Droschke, der Professor und der Inspektor in eine andere, während der Sekretär und der ehemalige Gogol gerade rechtzeitig eine dritte erklommen, um dem davoneilenden Syme zu folgen, der den davoneilenden Präsidenten verfolgte. Sonntag führte sie in einer wilden Jagd gegen Nordwesten, sein Kutscher, offensichtlich unter dem Einfluß von mehr als gewöhnlichen Versprechungen, trieb das Pferd zu halsbrecherischer Eile an. Syme war nicht in der Stimmung, Rücksicht zu nehmen. Er stand in seinem Wagen auf und schrie laut: »Haltet den Dieb!«, bis die Passanten neben seiner Droschke herliefen, Schutzleute anhielten und aufgeregte Fragen stellten. All dies blieb nicht ohne Eindruck auf den Kutscher des Präsidenten, dem nun wohl Bedenken aufstiegen und ein langsamer Trab angemessener erschien. Er öffnete die Verbindungsklappe, um vernünftig mit dem Fahrgast zu sprechen. Dabei ließ er die lange Peitsche vorn herunterhängen. Sonntag beugte sich vor, ergriff sie und riß sie mit einem heftigen Ruck aus des Mannes Hand. Dann stellte er sich in der Droschke auf, peitschte das Pferd und brüllte laut, so daß sie wie ein Sturmwind die Straßen hinunterstoben. Straße auf Straße, Platz auf Platz durchsauste wirbelnd dies merkwürdige Fuhrwerk, in dem der Fahrgast das Pferd antrieb und der Kutscher voller Verzweiflung versuchte, es anzuhalten. Die andern drei Droschken kamen hinterher wie keuchende Jagdhunde — wenn der Ausdruck für eine Droschke zulässig ist; an Läden und Straßen schossen sie vorbei wie rasselnde Pfeile.

Mitten in der rasenden Fahrt drehte sich Sonntag um und steckte seinen großen, grinsenden Kopf aus der Droschke. Mit seinem im Wind flatternden weißen Haar machte er auf seine Verfolger einen furchterregenden Eindruck — wie ein riesenhafter Kobold. Dann hob er rasch seine Rechte, schleuderte einen Papierknäuel in Symes Gesicht und entschwand den Augen. Syme fing das Geschoß geschickt auf und stellte fest, daß es aus zwei zusammengeknüllten Papieren bestand. Eines war an ihn gerichtet, das andere an Dr. Bull, mit einem langen und teilweise ironischen Zusatz hinter seinem Namen. Jedenfalls war die Adresse an Dr. Bull beträchtlich länger als die Mitteilung, denn diese enthielt nur die Wdrte: »Was meinen Sie jetzt über Martin Tupper?«

»Was will der alte Narr bloß?« fragte Bull und starrte auf die Worte. »Was will er von Ihnen?«

Symes Botschaft war länger und lautete folgendermaßen: »Keiner wird eine Einmischung durch den Archidiakon mehr bedauern als ich. Ich hoffe, es kommt nicht soweit. Aber zum letzten Mal: wo sind Ihre Galoschen? Die Sache steht schlecht, besonders nach dem, was der Pfandleiher sagte.«

Der Kutscher des Präsidenten schien sein Pferd wieder einigermaßen in die Gewalt bekommen zu haben, und die Verfolger gewannen etwas an Raum, als sie in die Edgware Road einbogen. Und hier begegnete ihnen ein Hindernis, wie von der Vorschung geschickt. Der Straßenverkehr bog nach rechts und links ab, er stodrte sogar, denn die lange Straße herunter kam das unverkennbare Heulen einer Feuerspritze, die in ein paar Sekunden wie ein eherner Blitzstrahl vorbeisauste. Aber ebenso schnell wie das geschah, hatte sich Sonntag aus seiner Droschke geworfen, war auf die Feuerspritze gesprungen, hatte sie umklammert und sich hineingeschwungen. Man sah noch, wie er mit erklärenden Gesten auf die verwunderten Feuerwehrmänner einredete und dann im Tosen des Verkehrs verschwand.

»Ihm nach!« brüllte Syme. »Jetzt kann er uns nicht mehr emwischen. Eine Feuerspritze ist nicht zu verfehlen.«

Die drei Kutscher, die einen Augenblick lang verblüfft Waren, schlugen auf ihre Pferde ein und verringerten so etwas die Entfernung zwischen sich und ihrer verschwindenden Beute. Der Präsident nutzte sofort die Nähe aus. Er kletterte zur Rückseite des Feuerwehrwagens, verbeugte sich wiederholt, warf eine Kußhand und schleuderte schließlich ein sauber gefaltetes Briefchen an die Brust des Inspektors Ratcliffe. Als dieser es öffnete, nicht ohne Ungeduld, las er die Worte: »Fliehen Sie sofort! Die Wahrheit über Ihre Hosenstrecker ist bekannt. Ein Freund.«

Die Feuerspritze war noch weiter nach Norden gesaust, in eine Gegend, die die Verfolger nicht kannten. Als sie an einer Reihe hoher, von Bäumen beschatteter Gitter vorüberkamen, waren die sechs Freunde zuerst verdutzt und dann beruhigt, als sie den Präsidenten von der Feuerspritze springen sahen. Ob das aus irgendeiner Laune geschah oder infolge des zunehmenden Protestes seiner Gastgeber, konnten sie nicht erkennen. Bevor jedoch die drei Droschken die Stelle erreichen konnten, war der Präsident das hohe Gitter wie eine riesige graue Katze hinaufgeklettert, schwang sich hinüber und verschwand im dunklen Laubwerk.

Syme hielt mit wütender Gebärde seinen Wagen an, stürmte heraus und setzte ebenfalls zum Erklettern des Gitters an. Als er ein Bein über dem Zaun hatte und seine Freunde ihm folgten, wendete er ihnen sein Gesicht zu, das auf einmal ganz bleich war.

»Was für ein Ort mag das nur sein?« fragte er. »Kann es vielleicht das Haus dieses alten Teufels sein? Ich habe gehört, er habe ein Haus in London Nord.«

»Um so besser«, sagte der Sekretär grimmig, einen Halt für seinen Fuß suchend, »dann werden wir ihn zu Hause finden.«

»Nein, das ist es nicht«, zweifelte Syme stirnrunzelnd. »Ich höre abscheuliche Laute, als ob die Teufel lachten und niesten und sich schneuzten.«

»Seine Hunde werden bellen«, beruhigte der Sekretär.

»Warum sagen Sie nicht, seine Küchenschaben bellen, seine Geranien bellen!« fuhr ihn Syme wütend an. »Haben Sie jemals einen Hund so bellen hören?«

Er hielt seine Hand hoch. Da dröhnte aus dem Dickicht ein langes, knurrendes Brüllen, das einem durch Mark und Bein ging, ein durchdringendes Röhren, das alles um sie herum erzittern machte.

»Sonntags Hunde sind keine gewöhnlichen Hunde«, sagte Gogol und schauderte.

Syme war auf der anderen Seite hinuntergesprungen, blieb aber stehen und lauschte ungeduldig.

»Hören Sie das?« fragte er, »ist das ein Hund? Irgendein Hund?«

Da drang auf ihre Ohren ein heiseres Kreischen ein, als ob sich etwas verzweifelt wehrte und zugleich jammerte in plötzlicher Pein. Und dann ertönte weit weg wie ein Echo etwas, das wie ein langgezogener nasaler Trompetenton klang.

»Sein Haus ist, scheint’s, die Hölle«, rief der Sekretär; »und sollte es die Hölle sein, ich gehe hinein.« Und er schwang sich mit einem Satz über das hohe Gitter.

Die andern folgten. Sie stürmten durch ein Gewirr von Pflanzen und Sträuchern und gelangten auf einen offenen Weg. Nichts war zu sehen. Aber Bull schlug plötzlich die Hände über dem Kopf zusammen. »Ihr Esel«, schrie er, »es ist der Zoo.«

Wie sie sich so erbost nach einer Spur ihrer wild verfolgten Jagdbeute umsahen, kam ein Wärter in Uniform den Weg entlang gelaufen, in seiner Begleitung ein einfach gekleideter Mann.

»Ist er hier vorbeigekommen?« keuchte der Wärter hervor.

»Ist was?« fragte Syme.

»Der Elefant!« schrie der Wärter. »Ein Elefant ist toll geworden und ausgerissen.«

»Mit einem alten Herrn ist er ausgerissen«, erklärte sein Begleiter atemlos, »mit einem armen, alten, weißhaarigen Herrn.«

»Was für ein alter Herr?« fragte Syme mit großer Neugier.

»Ein sehr stattlicher und beleibter alter Herr in hellgrauem Anzug«, entgegnete der Wärter eifrig.

»So«, sagte Syme, »wenn er das Äußere eines alten Gentleman hatte und wenn Sie sich ganz sicher sind, daß er ein stattlicher, beleibter alter Herr in grauem Anzug ist, können Sie mein Wort drauf nehmen, daß der Elefant nicht mit ihm ausgerissen ist. Vielmehr ist er mit dem Elefanten ausgerissen. Der Elefant ist noch nicht geschaffen, der mit ihm ausreißen könnte ohne sein Einverständnis. Und, zum Donnerwetter, da ist er ja!«

Diesmal gab es keinen Zweifel. Gerade über die Grasfläche, ungefähr zweihundert Meter entfernt, jagte inmitten einer schreiend auseinanderstiebenden Menge ein gigantischer Elefant in rasendem Tempo dahin. Seinen Rüssel hielt er steif emporgereckt wie den Bugspriet eines Schiffes, und sein Trompeten klang wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Auf dem Rücken des brüllenden und nach hinten ausschlagenden Tieres aber saß Präsident Sonntag mit der Gelassenheit eines Sultans und stachelte mit irgendeinem Gegenstand in seiner Hand das Tier zu dieser wütenden Eile an.

»Haltet ihn!« schrien die Leute durcheinander. »Er wird gleich zum Tor draußen sein.«

»Halte einer einen Erdrutsch auf«, sagte der Wärter. »Er ist schon draußen.«

Kaum hatte er den Mund zugemacht, da verkündete ein Toben und Heulen des Entsetzens, daß der große graue Elefant aus den Toren des Zoologischen Gartens ausgebrochen war und im schnellsten Galopp wie ein neuartiger Omnibus die Albany Street hinuntersauste.

»Großer Gott!« bekannte Bull, »ich habe noch gar nicht gewußt, daß ein Elefant so rennen kann. Es müssen wieder Droschken her, wenn wir ihn nicht aus dem Auge verlieren wollen.«

Als sie auf das Tor zueilten, durch das der Elefant verschwunden war, nahm Syme das fesselnde Panorama all dieser exotischen Tiere in den Käfigen, an denen sie vorübereilten, in sich auf. Lange später noch entsann er sich des seltsamen Bildes. Er erinnerte sich namentlich an die Pelikane mit ihren sonderbaren Hängekehlen und wie er sich damals im stillen gewundert hatte, warum ausgerechnet der Pelikan als Symbol christlicher Liebe gilt. Das konnte doch nur den Sinn haben, daß ein gut Teil christlicher Liebe dazu gehört, einen Pelikan schön zu finden. Er erinnerte sich an einen Nashornvogel, der eigentlich nichts anderes war als ein riesiger gelber Schnabel, an dem hinten ein kleiner Vogel hing. Das Ganze hatte in ihm ein Gefühl hervorgerufen, das unerklärlich lebhafte Gefühl, daß die Natur sich doch recht geheimnisvolle Scherze erlaubt. Sonntag hatte ihnen gesagt, daß sie ihn verstehen würden, sobald sie die Sterne verstanden hätten. Er hätte gerne wissen mögen, ob wohl die Erzengel den Nashornvogel verstehen.

Die sechs unglücklichen Detektive schwangen sich in Droschken und folgten dem Elefanten und dem Schrecken, den er in der langen Reihe der Straßen verursachte. Diesmal wendete sich Sonntag nicht um, sondern zeigte ihnen den soliden Umfang seines gewaltigen Rückens. Das erboste sie möglicherweise noch mehr als seine vorherigen Hänseleien. Erst kurz vor der Baker Street warf er etwas in die Luft wie ein Junge, der einen Ball hochschleudert, um ihn wieder aufzufangen. Aber bei ihrem Tempo fiel der Gegenstand weit nach hinten, gerade neben die Droschke, in der Gogol fuhr. Und in der schwachen Hoffnung, einen Anhaltspunkt zu erhaschen, oder aus sonst einem unerklärlichen Grunde hielt er seinen Wagen an, um ihn aufzuheben. Es war ein dickes Paket, an ihn adressiert. Als er es untersuchte, stellte sich heraus, daß es aus dreiunddreißig wertlosen Papierschnitzeln bestand, einer immer in den andern gewickelt. Als die letZte Hülle weggerissen war, zeigte sich ein kleiner Papierstreifen, auf dem geschrieben stand: »Das Wort sollte, denke ich, ›rosa‹ heißen.«

Der Mann namens Gogol sagte kein Wort dazu, aber die Bewegungen seiner Hände und Füße glichen denen eines Mannes, der ein Pferd zu immer neuen Anstrengungen antreibt.

Straße auf Straße, Distrikt auf Distrikt durchraste das Monstrum des flüchtigen Elefanten. Es lockte die Menschen ans Fenster und brachte den Verkehr in schlimmstes Durcheinander. Und noch immer arbeiteten sich die drei Droschken hinter dem Monstrum her durch die aufgescheuchte Menschheit. Es war, als seien Elefant und Droschken Teile eines verrückten Umzugs oder vielleicht auch der Reklameparade eines Zirkus. Mit solcher Geschwindigkeit bewegten sie sich vorwärts, daß sich die Entfernungen unglaublich verkürzten. Syme sah schon die Albert Hall in Kensington vor sich, als er sich noch in Paddington wähnte. Besonders rasch kam das Tier in South Kensington vorwärts, wo es sich auf den leeren vornehmen Straßen ungehindert austoben konnte. Schließlich nahm es Kurs dorthin, wo das Riesenrad von Earl’s Court zum Himmel ragte. Größer und größer wurde das Rad, bis es wie das Sternbild des Wagens den Himmel füllte.

Der Elefant entkam den Droschken. Sie verloren ihn an mehreren Straßenbiegungen aus den Augen, und als sie an eines der Tore zum Earl’s Court gelangten, konnten sie nicht mehr weiter. Vor ihnen staute sich eine Menge Menschen; in ihrer Mitte stand ein großer Elefant, keuchend und zitternd, wie solch unförmige Tiere es nun einmal tun. Der Präsident aber war verschwunden.

»Wo ist er hin?« schrie Syme und stürzte aus dem Wagen.

»Der Gentleman ist in die Ausstellung gegangen, mein Herr!« sagte noch voller Aufregung einer der Angestellten der Ausstellung. Dann fügte er wie gekränkt hinzu: »Spaßiger Gentleman, mein Herr! Bat mich, sein Pferd zu halten, und gab mir dies.«

Mit sichtlichem Widerwillen zeigte er ein Stück zusammengefalteten Papiers; es war adressiert an den »Sekretär des Zentralen Anarchistenrats«.

Wütend riß es der Sekretär auf und fand auf der Innenseite folgendes geschrieben:

»Zieht der Hering in die Ferne,

lacht der Sekretär so gerne;

kehrt der Hering nicht zurück,

bricht des Sekretärs Genick.«

»Ach herrje«, murmelte der Sekretär, und dann wandte er sich an den Angestellten: »Warum haben Sie den Mann hineingelassen? Reiten die Leute etwa stets auf tollen Elefanten, wenn sie in Ihre Ausstellung kommen? Tun sie …«

»Sehen Sie mal!« rief Syme plötzlich. »Sehen Sie doch mal dort hinüber!«

»Wohin?« fragte der Sekretär unwirsch.

»Auf den Fesselballon«, erwiderte Syme aufgeregt.

»Was zum Teufel kümmert mich jetzt ein Fesselballon«, begehrte der Sekretär auf. »Was ist denn schon Besonderes an einem Fesselballon?«

»Nichts«, versetzte Syme, »außer daß er gefesselt ist.«

Jetzt richteten alle ihre Blicke dorthin, wo der Ballon über der Ausstellung wie ein Kinderballon an einem Strick schwebte. Eine Sekunde später war der Strick entzwei, und der entfesselte Ballon trieb dahin mit der Freiheit einer Seifenblase.

»Zehntausend Teufel!« schrie der Sekretär schrill. »Er ist drinnen!«

Und er schüttelte drohend seine Fäuste gen Himmel.

Der Ballon, von einem günstigen Wind getragen, flog gerade über sie hinweg. Sie konnten das große weiße Haupt des Präsidenten sehen, der an der Seite herausguckte und wohlwollend auf sie herniedersah. »Ach, du meine Güte!« rief der Professor in jener Altmännerart, die er nicht mehr loswurde, seit er sich den gebleichten Bart und das pergamentene Gesicht zugelegt hatte. »Ach, du meine Güte! Mir war’s doch, als wäre mir etwas auf meinen Hut gefallen.«

Mit zittemder Hand griff er hinauf und nahm ein Stück zusammengewickeltes Papier herunter. Gedankenverloren faltete er es auseinander und las die mit einem schwunghaften Schnörkel versehenen Worte: »Ihre Schönheit hat mich nicht unberührt gelassen. — Aus ›Klein Schneeglöckchen‹.«

Nach kurzem Stillschweigen sagte Syme und biß sich dabei auf den Bart: »Ich gebe mich noch nicht geschlagen. Das verdammte Ding muß irgendwo heruntergehen. Wir wollen es verfolgen.«

Die sechs Philosophen

Über grüne Felder und durch blühende Hecken arbeiteten sich die sechs von Schmutz bedeckten Detektive vorwärts, ungefähr fünf Meilen über London hinaus. Der Optimist der Gesellschaft hatte zuerst vorgeschlagen, dem Ballon über Südengland im Wagen zu folgen. Aber am Ende ließ er sich davon überzeugen, daß der Ballon ganz sicher nicht den Straßen folgen würde, noch mehr aber würden sich die Kutsche dagegen sträuben, dem Ballon zu folgen. Infolgedessen mußten sich die unermüdlichen, weil grenzenlos erbitterten Wanderer ihren Weg durch düsteres Dickicht und über gepflügte Felder bahnen, bis jeder wie ein Landstreicher übelster Sorte aussah. Die grünen Hügel von Surrey erlebten den endgültigen, tragischen Verfall des bewundernswerten hellgrauen Anzuges, in dem Syme aus Saffron Park aufgebrochen war. Der Seidenhut ward vor seiner Nase von einem widerspenstigen Ast durchlöchert, seine Rockschöße wurden bis zur Schulter von hartnäckigen Dornen zerrissen, der Lehm von England war hinaufgespritzt bis zum Kragen. Trotzdem schob er seinen gelben Bart voraus mit schweigender und wütender Entschlossenheit, und seine Blicke waren unverrückbar auf den dahinschwebenden Gasball gerichtet, der in der tollen Glut der sinkenden Sonne gefärbt schien wie eine Sonnenuntergangswolke.

»Trotz allem ist es sehr schön«, sagte er.

Worauf der Professor meinte: »Ungewöhnlich und seltsam schön. Ich wollte, der Windbeutel dort oben würde platzen.«

»Nein«, gab Dr. Bull zu bedenken, »hoffentlich nicht. Der Bursche könnte dabei verletzt werden.«

Da rief der Professor rachsüchtig: »Ordentlich soll er verletzt werden, ordentlich! Bekäme ich ihn nur in meine Finger, dann würde er verletzt. ›Klein Schneeglöckchen‹!«

»Ich möchte nicht, daß er verletzt wird«, sagte Dr. Bull.

»Was?« schrie der Sekretär bitter. »Glauben Sie denn nicht, daß er unser Mann in jenem dunklen Zimmer war? Sonntag würde natürlich sagen, es war irgendein anderer.«

»Ich weiß nicht, ob ich es glaube oder nicht«, antwortete Dr. Bull. »Aber das meine ich: Ich will nicht, daß Sonntags Ballon platzt, weil …«

»Weil?« fragte Syme gespannt.

»Weil er so großartig ist wie ein Ballon«, erwiderte Dr. Bull. »Darum handelt es sich für mich gar nicht, ob er der Mann war, der uns die blaue Karte gegeben hat. Das ist alles Nebensache. Mich kümmert es nicht, ob’s einer weiß. Ich hatte immer eine Sympathie für den alten Sonntag, so verrucht er war. Gerade so wie für ein Riesenbaby. Wie soll ich Ihnen erklären, worin meine absonderliche Sympathie begründet war? Sie hindert mich nicht, ihn wie die Hölle zu bekämpfen. Vielleicht verstehen Sie mich besser, wenn ich Ihnen sage, ich habe ihn gern, weil er so feist ist.«

»Kaum«, antwortete der Sekretär.

»Jetzt habe ich es«, rief Bull. »Ich habe ihn gern, weil er so rund und so hell ist. Grade wie ein Ballon. Wir stellen uns dicke Leute immer schwerfällig vor. Er hätte besser tanzen können als eine Balletteuse. Jetzt wird mir klar, was ich meine. Gewöhnliche Kraft zeigt sich in Gewalttätigkeit, wahre Kraft aber in Leichtigkeit. Es ist wie in jenen alten Überlegungen: Was würde sich ereignen, wenn ein Elefant hüpfen könnte wie ein Heuschreck?«

»Unser Elefant«, sagte Syme und sah in die Höhe, »ist jedenfalls wie ein Heuschreck in den Himmel gesprungen.«

»Ich kann mich nicht dagegen wehren«, schloß Bull, »aber aus irgendeinem Grund habe ich den alten Sonntag doch gern. Nein, es ist nicht die Bewunderung bloßer Kraft oder sonst etwas Albernes. Vielleicht ist es mehr die Bewunderung einer gewissen Heiterkeit, als ob einer berste vor lauter guten Nachrichten. Haben Sie so etwas nicht schon einmal an einem schönen Frühlingstag gespürt? Die Natur hat ihre Launen, aber an so einem Tag erweist es sich, daß es gutartige Launen sind. Ich kenne die Bibel wenig, aber die eine Stelle ist buchstäblich wahr, wo zum Berg gesagt wird: ›Hebe dich auf!‹ Dieser Berg hat sich buchstäblich aufgehoben — wenigstens kommt es einem so vor. Warum ich Sonntag gern habe? Wie kann ich es Ihnen begreiflich machen? Weil er so ein Mordskerl ist.«

Ein langes Stillschweigen entstand. Dann hob der Sekretär mit merkwürdig gesammelter Stimme an: »Sie kennen Sonntag überhaupt nicht. Vielleicht kommt es daher, weil Sie besser sind als ich und nichts von der Hölle wissen. Ich war ein wilder Bursche und von Anfang an ein wenig pathologisch. Der Mann, der da in diesem dunklen Raum sitzt und uns alle gewählt hat, dieser Mann hat mich genommen, weil ich den krankhaften Blick eines Verschwörers hatte, weil mein Lächeln verdreht war und mein Blick unheimlich, selbst wenn ich lächelte. In mir muß etwas gewesen sein, das den Nerven all dieser Anarchisten entsprach. Denn als ich Sonntag das erste Mal sah, ging — für mich wenigstens — nicht jene sorglose Vitalität von ihm aus, von der Sie sprachen, sondern etwas Schweres und Trauriges, wie es in der Natur der Dinge liegen mag. Ich fand ihn, wie er in einem dämmerigen Raume rauchte, einem Raum mit heruntergelassenen Vorhängen, der viel niederdrückender wirkte als das völlige Dunkel, mit dem sich unser Meister sonst umgibt. Er saß auf einer Bank, ein gewaltiger Menschenberg, dunkel und unförmig. Er hörte auf das, was ich sagte, ohne ein Wort zu sprechen oder sich auch nur zu rühren. Ich ließ meinen leidenschaftlichen Herzensergießungen freien Lauf und stellte meine beredtesten Fragen. Dann, nach langem Stillschweigen, begann diese Masse sich zu schütteln, und ich dachte, eine geheime Krankheit mache sie heben. Sie zitterte wie eine widerwärtige lebendige Gallerte. Ich mußte daran denken, was ich einmal über die niedrigsten Lebewesen gelesen habe, die der Ursprung alles Daseins sind, jene Protoplasmen der Tiefsee. Es sah aus wie die Urform der Materie, ganz und gar gestaltlos und schamlos. Daraus aber, wie erschüttert er war, konnte ich nur schließen, daß solch ein Monstrum eigentlich bedauernswert sein müsse. Und dann wurde es mir mit einmal bewußt, daß dieser Fleisehberg sich schüttelte vor verhaltenem Gelächter, und dieses Lachen galt — mir. Und das soll ich verzeihen? Es ist keine Kleinigkeit, von jemandem ausgelacht zu werden, der zugleich minderwertiger und stärker ist als man selber.«

»Ihr übertreibt alle maßlos«, mischte sich die klare Stimme des Inspektors Ratcliffe ein. »Präsident Sonntag ist ein Problem für den Durchschnittsverstand, aber er ist physisch nicht solch ein Schaustück von Barnum, wie ihr es aus ihm macht. Er empfing mich in einem gewöhnlichen Büro am hellichten Tag, in einem graukarierten Anzug. Er redete mit mir in unauffälliger Weise. Aber ich will Ihnen sagen, was ein hißdien gruselig an Sonntag ist. Sein Zimmer ist ordentlich, seine Kleidung desgleichen, alles scheint in Ordnung; er aber, er ist geistesabwesend. Manchmal werden seine großen hellen Augen ganz blind. Stundenlang vergißt er, daß man da ist. Nun wirkt Geistesabwesenheit bei einem schlechten Kerl etwas unheimlich. Wir halten einen Bösewicht für wachsam. Wir können uns einen Bösewicht nicht als einen ehrlichen und rechtschaffenen Träumer vorstellen, denn ein Bösewicht ist niemals allein mit sich beschäftigt. Ein geistesabwesender Mensch ist ein gutmütiger Mensch. Er ist ein Mensch, der sich entschuldigt, wenn er einen zufällig dann doch sieht. Aber was soll man dazu sagen, wenn ein Geistesabwesender einen, dem er zufällig begegnet, umbringen will? Das ist’s, was einen nervös macht, diese mit Grausamkeit verbundene Zerstreutheit. Männer, die durch den Urwald gegangen sind, mögen ähnliches empfunden haben bei dem Gedanken, daß sie von wilden Tieren umgeben sind, die unschuldig und unbarmherzig zugleich sind. Sie können die Menschen übersehen oder sie töten. Wer aber möchte zehn geschlagene Stunden in einem Besuchszimmer mit einem geistesabwesenden Tiger zusammensein?«

»Und was halten Sie von Sonntag, Gogol?« fragte Syme.

»Ich denke aus Prinzip an Sonntag ebensowenig, wie ich am Mittag die Sonne anstaune«, erwiderte Gogol einfach.

»Das ist ein Standpunkt«, bekannte Syme gedankenvoll. »Was sagen Sie, Professor?«

Der Professor ging wie schlendernd dahin, ließ den Kopf hängen und den Stock nachschleifen; er antwortete gar nicht.

»Wachen Sie auf, Professor!« versuchte Syme ihn aufzumuntern. »Teilen Sie uns mit, was Sie über Sonntag denken.«

Schließlich fing der Professor leise zu sprechen an: »Ich denke etwas, das im nicht klar ausdrücken kann. Oder vielmehr, ich denke etwas, das ich nicht einmal klar denken kann. Es ist ungefähr folgendes: Mein früheres Leben war, wie Sie wissen, ziemlich weitläufig und ausschweifend. Als ich nun Sonntags Gesicht sah, hielt ich es auch für zu weitläufig — jedermann tut das —, aber ich hielt es auch für zu ausschweifend. Das Gesicht war so groß, daß man es als Gesicht gar nicht zu fassen vermochte. Das Auge war so weit von der Nase entfernt, daß man es nicht mehr als Auge ansprechen konnte. Der Mund war so sehr Mund an sich, daß man nicht an seinen Zusammenhang mit den andern Gesichtspartien dachte. Die ganze Sache ist sehr schwer zu erklären.«

Er hielt kurz inne und begann dann von neuem: »Aber ich will mich einmal so ausdrücken. Ich gehe nächtlicherweile auf einer Straße spazieren. Ich sehe eine Lampe, ein erleuchtetes Zimmer und eine Wolke. Alles das zusammen stellt ein vollständiges und unmißverständliches Bild dar. Kaum jedoch bin ich ein Stück weitergegangen, verwischt es sich, das Fenster ist zehn Meter weg, die Lampe hundert, die Wolke unsichtbar. So entschwand mir Sonntags Gesicht, es zerrann nach rechts und nach links, wie es eben mit solchen Zufallsbildern geschieht. Sonntags Gesicht hat den Zweifel in mir geweckt, ob es überhaupt Gesichter gibt. Ich weiß nicht, ob Ihr Gesicht, Bull, ein Gesicht ist oder nur eine perspektivische Zusammenschau. Vielleicht ist die eine Scheibe Ihrer garstigen Brille ganz nahe vor mir und die andere fünfzig Meilen entfernt. Oh, die Zweifel eines Materialisten sind keinen Pfifferling wert. Sonntag hat mich die letzten und ärgsten Zweifel gelehrt, die Zweifel eines Spiritualisten. Ich bin Buddhist, und Buddhismus ist kein Glaubensbekenntnis, er ist ein Zweifel. Mein armer, lieber Bull, ich glaube nicht, daß Sie wirklich ein Gesicht haben. Ich habe nicht Glauben genug, an die Materie zu glauben.«

Symes Augen waren noch auf den schwebenden Ball gerichtet, der, vom Abendlicht gerötet, wie eine rosigere und unschuldigere Welt aussah: »Ist Ihnen«, hub er an, »bei Ihren Beschreibungen auch folgende seltsame Wahrnehmung aufgefallen? Jeder von Ihnen sieht Sonntag anders. Und doch vergleicht ihn jeder von Ihnen mit dem Universum selbst. Bull vergleicht ihn mit der Erde im Frühling, Gogol mit der Sonne am Mittag. Den Sekretär erinnert er an das gestaltlose Protoplasma und den Inspektor an die Rätselhaftigkeit des Urwalds. Der Professor vergleicht ihn mit dem Bild einer wechselnden Landschaft. Das ist merkwürdig, aber noch merkwürdiger ist, daß ich ähnlich über den Präsidenten denke. Auch ich muß ihn mit der ganzen Welt vergleichen.«

»Gehen Sie etwas rascher, Syme«, sagte Bull, »verlieren Sie nicht den Ballon aus den Augen!«

Syme fuhr langsam fort: »Als ich zum ersten Mal mit Sonntag zusammenkam, sah ich nur seinen Rücken, und das genügte, um zu wissen, daß er der schlechteste Mensch auf Erden ist. Sein Nacken und seine Schultern waren brutal wie die eines Affengottes. Seine Kopflinie hatte eine Krümmung, die kaum menschlich war, sein Schädel war wie der eines Stiers. Tatsächlich, ich hatte einmal den scheußlichen Gedanken, daß er gar kein Mensch, sondern ein in menschliche Kleidung gestecktes Tier sei.«

»Gehen Sie doch endlich los!« wiederholte Dr. Bull.

»Und dann ereignete sich etwas Seltsames. Ich hatte seinen Rücken von der Straße aus gesehen, als er auf dem Balkon saß. Danach betrat ich das Hotel, und wie ich von der andern Seite auf ihn zukam, erblickte ich sein Gesicht im vollen Sonnenlicht. Jetzt überraschte mich sein Gesicht, wie es jedermann überrascht; aber nicht weil es brutal, nicht weil es bösartig war. Im Gegenteil, es überraschte mich, weil es gut war.«

»Syme«, rief der Sekretär aus, »sind Sie krank?«

»Es glich dem Gesicht eines alten Erzengels, der nach heroischem Kampf die Waagschale der Gerechtigkeit in der Hand hält und Recht spricht. Aus seinen Augen strahlte ein Lächeln, und um seinen Mund schwebten Rechtschaffenheit und Trauer. Es war das nämliche weiße Haar, es waren die nämlichen mächtigen, grau bekleideten Schultern, die ich von hinten gesehen hatte. Aber was mir von hinten tierisch, erschien mir von vorne göttlich.«

»Pan«, sagte der Professor träumerisch, »war Gott und Tier zugleich.«

»Damals und immer wieder«, setzte Syme wie im Selbstgespräch fort, »ist dies das Geheimnis von Sonntag gewesen, und es ist auch das Geheimnis der Welt. Sehe ich seinen schrecklichen Rüdren‘ so bin ich sicher, sein edles Gesicht ist nichts als Maske. Sehe ich aber sein Gesicht nur für einen Augenblick, so weiß ich, sein Rücken ist bloß ein Scherz. Das Schlechte ist so unumstößlich schlecht, daß wir das Gute nur für einen Zufall halten können; das Gute ist so unumstößlich gut, daß wir das Schlechte erklärt wissen wollen. Aber der Höhepunkt kam heute, als ich Sonntag mit dem Wagen einzuholen versuchte und den ganzen Weg hinter ihm her war.«

»Hatten Sie denn Zeit, darüber nachzudenken?« fragte Ratcliffe.

»Zeit?« erwiderte Syme. »Zeit genug für einen verwegenen Gedanken. Ich war plötzlich von der Idee besessen, daß sein blinder, ausdrucksloser Hinterkopf in Wahrheit sein Gesicht war, ein schreckliches, augenloses Gesicht, das mich anstarrte. Und ich glaubte, daß die Gestalt, die da vor mir hersauste, sich eigentlich rückwärts bewegte, im Grunde also gar nicht rannte, sondern tanzte.«

»Furchtbar!« sagte Dr. Bull schaudernd.

»Furchtbar ist nicht das richtige Wort«, erklärte Syme. »Es war der schlimmste Augenblick in meinem Leben. Und doch wußte ich zehn Minuten später, als er seinen Kopf aus dem Wagen steckte und eine Grimasse wie ein phantastischer Wasserspeier schnitt, daß er nur wie ein Vater mit seinen Kindern Versteck spielte.«

»Ein immerhin langwieriges Spiel«, meinte der Sekretär und sah stirnrunzelnd seine zerrissenen Schuhe an.

»Hören Sie zu!« rief Syme mit Nachdruck. »Soll ich Ihnen das Geheimnis der Welt enthüllen? Wir kennen nur ihre Rückseite. Wir sehen alles von hinten, und das gibt einen brutalen Anblick. Das ist kein Baum, nur die Rückseite des Baums. Das ist keine Wolke, nur die Rückseite einer Wolke. Sehen Sie nicht, wie sich alles niederbeugt und sein Gesicht verbirgt? Wenn wir uns nur umdrehen könnten …«

»Passen Sie auf!« unterbrach ihn Bull lärmend, »der Ballon kommt runter.«

Es war nicht nötig, Syme aufmerksam zu machen; er hatte ihn nie aus den Augen verloren. Er sah, wie die glänzende Kugel plötzlich am Himmel schwankte und dann langsam hinter den Bäumen niedersank wie eine untergehende Sonne.

Der Mann, der Gogol genannt werden war, der während der anstrengenden Wanderung kaum gesprochen hatte, warf plötzlich seine Hände hoch wie außer sich. »Er ist tot«, schrie er. »Und jetzt weiß ich, er war mein Freund, mein Freund in der Dunkelheit.«

»Tot?« schnaubte der Sekretär. »So leicht geht der nicht tot. Wenn er aus dem Ballon gestürzt sein sollte, werden wir ihn finden, wie er sich wälzt, einem Fohlen gleich, das sich im Grase kollert und zum Spaß hinten ausschlägt.«

»Und mit den Hufen klappert«, ergänzte der Professor. »Die Fohlen machen es so, und Pan auch.«

»Wieder Pan!« sagte Dr. Bull gereizt. »Anscheinend glauben Sie, daß Pan alles ist.«

»Das ist er auch«, bestätigte der Professor, »im Griechischen. Er bedeutet ›Alles‹.«

Der Sekretär schaute hinüber: »Vergessen Sie nicht, daß auch das Wort Panik daher kommt!«

Syme war stehengeblieben, ohne auf eine der Bemerkungen zu hören. Er sagte kurz: »Dort drüben ging er nieder. Wir gehen hin.« Und mit einer unbeschreiblichen Geste fügte er hinzu: »Oh, wenn er uns alle betrogen hätte durch seinen Tod! So ein Schabernack sähe ihm gleich.«

Mit erneuter Energie schritt er auf die entfernten Bäume zu; seine Lumpen und Fetzen flatterten im Wind. Die andern folgten ihm unschlüssig und mit wundgelaufenen Füßen. Aber fast im selben Augenblick erkannten sie, daß sie nicht allein waren auf dem kleinen Feld.

Quer über die Rasenfläche kam ihnen ein hochgewachsener Mann entgegen, der sich auf einen seltsamen, langen, zepterähnlichen Stab stützte. Er war in ein feines, aber altmodisches Gewand gekleidet, mit Kniehosen; die Farbe der Kleidung hatte jene Schattierung zwischen Blau, Violett und Grau, wie man sie in gewissen Farbentönen einer Waldlandschaft finden kann. Sein Haar war weißlich-grau, und beim ersten Blick sah es aus wie gepudert. Er kam ganz ruhig heran; aber nach dem Silberreif auf seinem Haupt hätte er einer der Schattengeister des Waldes sein können.

»Meine Herren«, erklärte er, »mein Gebieter hat einen Wagen für Sie bereitstehen an der Straße nebenan.«

»Wer ist Ihr Gebieter?« fragte Syme, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Mir wurde gesagt, Sie kennen ihn«, versetzte der Mann ehrerbietig.

Nach kurzem Schweigen fragte der Sekretär: »Wo ist dieser Wagen?«

»Er wartet schon einige Zeit«, antwortete der Fremde. »Mein Gebieter ist eben erst nach Hause gekommen.«

Syme blickte rechts und links auf den grünen Wiesengrund, auf dem er sich befand. Die Hecken waren gewöhnliche Hecken, die Bäume gewöhnliche Bäume; und doch glaubte er sich unversehens in ein Märchenland versetzt.

Er musterte den Abgesandten von oben bis unten, aber er konnte nichts weiter entdecken, als daß der Rock des Mannes genau die Farbe der Purpurschatten und sein Gesicht genau die Farbe des rot-braun-goldnen Himmels hatte.

»Führen Sie uns hin!« sagte Syme knapp. Ohne ein Wort zu verlieren, drehte sich der Mann im violetten Rock um und schritt auf eine Öffnung in der Hecke zu, auf die das Licht eines weißen Weges fiel.

Als die sechs Wanderer diesen Durchgang vor sich hatten, sahen sie die weiße Straße, besetzt von einer Reihe von Wagen, und zwar solcher Wagen, wie man sie sich ohne ein dazugehöriges vornehmes Haus, etwa in Park Lane, eigentlich gar nicht vorstellen kann. Neben diesen Wagen standen Diener in prächtigen graublau-violetten Uniformen. Sie zeigten eine vornehme Würde, die man gemeinhin weniger bei Dienern eines Gentleman findet als vielmehr bei Hofbeamten eines großen Königs. Nicht weniger als sechs Wagen warteten, für jeden aus der jämmerlich zerlumpten Schar einer. Alle Bedienten trugen Degen, als ob sie in Hoftracht wären, und als einer der Sechs nach dem anderen in seinen Wagen stieg, zogen sie blank und salutierten, daß es plötzlich nur so blitzte von Stahl.

»Was soll das bedeuten?« fragte Bull Syme, als sie sich trennten. »Ist dies noch ein Scherz Sonntags?«

Syme sank müde in die Kissen und sagte: »Ich weiß nicht, aber sollte es einer sein, ist’s einer jener Scherze, von denen Sie sprachen: einer der gutartigen.«

Die sechs Abenteurer waren durch manche Abenteuer gegangen, indes keines hatte ihnen so den Boden unter den Füßen weggezogen wie dieses letzte der Behaglichkeit. Sie hatten sich an wilde Erlebnisse gewöhnt, aber das jetzige, das so glatt dahinfloß, überwältigte sie. Sie wurden sich nicht klar darüber, was es für Wagen waren, doch es genügte ihnen zu wissen, daß es Wagen waren, Wagen mit Polstern. Sie begriffen nicht recht, wer der alte Mann war, der sie geführt hatte, aber daß er sie zu den Wagen gebracht hatte, genügte ihnen vollauf.

Syme fuhr, ganz sich selbst überlassen, durch eine Baumallee, die immer dichter wurde. Es war kennzeichnend für ihn: solange irgend etwas zu leisten war, hatte er sein bärtiges Kinn nach vorne gereckt. Nun aber, da die Leitung des Unternehmens aus seinen Händen genommen war, fielen seine Kräfte von ihm ab; ermattet ließ er sich in die Polster sinken.

Nur ganz nebenbei nahm er wahr, welche Straßen der Wagen durchfuhr. Er sah, daß es an steinernen Toren, an einem Park vielleicht, vorbeiging, daß sie langsam einen waldigen Hügel erklommen, der, auf beiden Seiten mit Bäumen bestanden, doch mehr Park als Wald war. Wie bei einem Mann, der allmählich aus einem gesunden Schlaf erwacht, wuchs seine Freude an der Umgebung. Er merkte, daß die Hecken richtige Hecken waren, lebendige Wände; daß eine Hecke wie eine menschliche Armee ist, wohldiszipliniert, aber doch voller Wachstum. Er sah hohe Ulmen hinter den Hecken und dachte, wie glücklich die Knaben sein würden, die auf ihnen herumklettern könnten. Dann bog der Wagen in eine Wegkrümmung ein, und da lag plötzlich vor seinen Augen ein langes, niederes Haus im sanften Licht des Sonnenuntergangs wie eine lange, niedere Abendwolke. Alle sechs Freunde verglichen hinterher ihre Beobachtungen miteinander und tauschten ihre recht unterschiedlichen Meinungen aus; darin aber waren sie sich alle einig, daß der Ort sie in unerklärlicher Weise an ihre Kindheit erinnerte. Es war im einzelnen weder diese Ulmenkrone noch jener krumme Pfad, nicht dieser Ausschnitt eines Obstgartens noch jene Umrisse eines Fensters — und doch erklärte jeder von ihnen, er könne sich eher an dieses Fleckchen Erde erinnern als an seine Mutter.

Als die Wagen schließlich auf ein breites, niederes Portal zurollten, kam ihnen ein anderer Mann in der gleichen Uniform, aber mit einem silbernen Stern auf der Brust entgegen. Diese eindrucksvolle Persönlichkeit sagte zu dem verwirrten Syme: »Erfrischungen stehen in Ihrem Zimmer bereit.«

Syme stieg, noch unter dem magnetischen Einfluß höchsten Erstaunens, hinter dem achtunggebietenden Bedienten eine weitläufige Eichentreppe hinauf. Er betrat eine prächtige Zimmerflucht, die eigens für ihn bestimmt zu sein schien. Mit dem herkömmlichen Instinkt seiner Klasse stellte er sich als erstes vor einen hohen Spiegel, um seinen Binder gerade zu ziehen und sein Haar glatt zu streichen; und nun erst sah er, wie furchtbar er aussah. Über sein Gesicht war das Blut von der Wunde geronnen, die ihm der Ast geschlagen, sein Haar hing wirr über die Stirn wie gelbes, verdorrtes Gras, seine Kleidung war in lauter Fetzen zerrissen. Und da sprang ihn die Rätselfrage an, wie er eigentlich hierher geraten sei und wie er hier wieder herauskommen solle. Im selben Augenblick sagte ein Mann in Blau, der sich als sein Kammerdiener vorstellte, sehr feierlich: »Ich habe Ihre Kleider bereitgelegt, mein Herr.«

»Kleider!« versetzte Syme mit bitterm Auflachen. »Ich habe keine Kleider außer diesen da.« Dabei hob er zwei lange Streifen seines Gehrocks in elegantem Schwung und machte eine drehende Bewegung wie eine Balletteuse.

»Der gnädige Herr läßt Ihnen mitteilen«, begann der Bediente wieder, »daß heute abend ein Kostümfest stattfindet. Sie möchten dazu bitte das Gewand anziehen, das ich zurechtgelegt habe. Mittlerweile möchten Sie die Flasche Burgunder und etwas kalten Fasan nicht ausschlagen; es sind noch einige Stunden bis zum Abendessen.«

»Kalter Fasan ist eine gute Sache«, sagte Syme nachdenklich, »und Burgunder gleichfalls. Aber ich wünsche jetzt weder das eine noch das andere, ich möchte wissen, was zum Teufel das alles bedeutet und was für ein Kostüm Sie für mich haben? Wo ist es?«

Der Diener nahm von einem Diwan ein langes, pfauenblaues, dominoartiges Gewand. Seine Vorderseite war mit einer großen goldnen Sonne geschmückt und hier und da mit flammenden Sternen und Halbmonden besetzt.

»Sie möchten sich als Donnerstag kleiden, mein Herr«, erklärte der Kammerdiener, irgendwie zutraulich.

»Als Donnerstag kleiden!« wiederholte Syme langsam in tiefem Nachdenken. »Recht erwärmen kann ich mich für dieses Kostüm aber nicht …«

»O doch, mein Herr«, entgegnete der Diener beflissen, »das Donnerstag-Kostüm ist warm. Es reicht bis zum Kinn.«

Syme seufzte: »Meinetegen; ich verstehe das alles nicht. Ich habe mich so lange an unbequeme Abenteuer gewöhnen müssen, daß ich mich jetzt in bequemen nicht zurechtfinde. Ich möchte mir nur noch zu fragen erlauben, warum ich als Donnerstag ausgerechnet einen blaugrünen Frack anziehen soll, über und über gesprenkelt mit Sonne und Mond. Diese Gestirne, meine ich, scheinen auch an anderen Tagen. Soviel ich mich erinnere, habe ich den Mond noch letzten Dienstag gesehen.«

»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber die Bibel schreibt das für Sie vor.« Mit respektvollem, gleichsam strenggläubigem Finger deutete er auf eine Stelle im ersten Kapitel der Genesis. Staunend las sie Syme. Es war die Stelle, wo auf den vierten Tag der Woche die Erschaffung von Sonne und Mond dargetan wird. Hier rechnete man also mit einem christlichen Sonntag.

»Es wird immer toller«, sagte Syme und setzte sich auf einen Stuhl. »Wer sind denn diese Leute, die für kalten Fasan sorgen und Burgunder und grüne Kleider und Bibeln? Sorgen Sie für alles?«

»Gewiß, mein Herr, für alles«, erwiderte der Bediente würdevoll. »Soll ich Ihnen behilflich sein bei Ihrem Kostüm?«

»Naja, helfen Sie mir!« Syme war ungeduldig.

Aber obwohl er diesen Mummenschanz eigentlich albern fand, fühlte er doch eine merkwürdige Leichtigkeit und Natürlichkeit in seinen Bewegungen, sobald er das blaugrün-goldne Gewand angelegt hatte. Und als sich gar herausstellte, daß er auch einen Degen tragen sollte, ertappte er sich bei geradezu kindischen Vorstellungen. Mit einer hoheitsvollen Geste legte er die Falten über seine Schultern zurecht, als er aus dem Gemach schritt. Seinen Degen hielt er nach hinten hochgestellt, und wie ein Troubadour stolzierte er dahin. Denn Verkleidungen verkleiden nicht, sondern enthüllen.

Der Ankläger

Syme schritt den Korridor entlang. Da sah er den Sekretär oben auf der Treppe stehen. Der Mann hatte niemals so vornehm ausgesehen. Er war in eine lange Robe von tiefem Schwarz gehüllt, mit einem Band oder breitem Streifen von makellosem Weiß, der in der Mitte wie ein Lichtkegel herunterfiel. Das ganze glich einem würdevollen Meßgewand. Syme brauchte nicht in seinem Gedächtnis oder in der Bibel zu suchen, um sich zu erinnern, daß den ersten Tag der Schöpfung die Geburt des Lichtes aus der Dunkelheit kennzeichnet. Darauf deutete das Gewand hin. Syme entging auch nicht, wie vollkommen dieses reine Weiß und Schwarz die Seele des bleichen und düsteren Sekretärs ausdrückte. Es zeigte seine unnachsichtige Wahrheitsliebe und seinen unbeugsamen Fanatismus, die ihn so geeignet für den Krieg gegen die Anarchisten machten und ihn doch auch wieder so leicht als einen von ihnen hatten vermuten lassen. Syme war kaum überrascht zu bemerken, daß dieses Mannes Augen auch hier in der Ungezwungenheit und Gastlichkeit ihrer neuen Umgebung noch finster blickten. Kein noch so guter Geruch nach Bier, kein noch so süßer Duft von Obstbäumen konnten den Sekretär davon abbringen, immer wieder bohrende Fragen zustellen.

Wenn Syme sich selbst hätte beobachten können, würde er wahrgenommen haben, daß auch er zum ersten Mal er selber und kein anderer sonst war. Denn so wie der Sekretär jenen Philosophen bedeutete, der das ursprüngliche, gestaltlose Licht liebt, so war Syme das Musterbild des Dichters, der sich stets bemüht, das Licht zu Gestalten werden zu lassen, es in Sonne und Sterne aufzugliedern. Der Philosoph mag manchmal das Unendliche lieben — der Dichter liebt immer das Endliche. Für ihn ist der große Augenblick nicht die Erschaffung des Lichts, sondern die Erschaffung von Sonne und Mond.

Als sie zusammen die breite Treppe hinunterstiegen, holten sie Ratcliffe ein, der wie ein Jäger in Frühlingsgrün gekleidet war, und zwar in der Form sich umschlingender Bäume. Denn er erinnerte an jenen dritten Tag, an dem die Erde und alles Grün geschaffen wurden; sein rechtschaffenes, vernünftiges Gesicht mit seinem nicht unfreundlichen Gradezu paßte dazu.

Sie wurden abermals durch einen breiten, niedrigen Torweg in einen weitläufigen, alten Englischen Garten geführt. Hier tanzte beim Licht von Fackeln und Freudenfeuern eine Menge faschingsfroher Menschen in bunten Kleidern. Syme meinte, alle Formen der Natur in Phantasiekostümen vor sich zu sehen. Da war einer verkleidet als Windmühle mit ungeheuren Flügeln, ein anderer als Elefant, ein dritter als Ballon; die beiden letzten deuteten wohl auf ihre letzten, unwahrscheinlichen Abenteuer hin. Syme sah sogar, mit seltsamem Schaudern, einen Tänzer, der einen riesigen Nashornvogel darstellte, mit einem Schnabel, zweimal so groß wie er selbst — jenes merkwürdige Tier also, das, einer lebendigen Frage gleich, sein Denken beschäftigt hatte, während er die lange Allee im Zoologischen Garten entlang gerannt war. Es gab indessen noch tausend andere Dinge zu sehen. Da waren ein tanzender Laternenpfahl, ein tanzender Apfelbaum, ein tanzendes Schiff zu sehen. Man hätte glauben können, die rasende Melodie eines tollen Musikers habe die alltäglichen Dinge aus Feld, Wald und Straße zu einem nicht endenwollenden Reigen veranlaßt. Und lange nachher, als Syme schon gesetzten Alters und abgeklärt war, rief der Anblick eines jener Dinge — eines Laternenpfahls oder eines Apfelbaums oder einer Windmühle — in ihm den Gedanken hervor, es sei dies ein verirrter Schwärmer von jener sonderbaren Maskerade. Auf einer Seite des mit Tänzern belebten Rasens befand sich eine Art grüner Erhöhung, wie eine Terrasse in einem altmodischen Garten.

Auf ihr waren halbmondförmig sieben große Stühle, die Thronsessel der sieben Tage, aufgestellt. Gogol und Dr. Bull hatten schon Platz genommen; der Professor setzte sich gerade. Gogol — Dienstag — trug ein Gewand, das die Einfachheit seines Wesens versinnbildlichte. Es sollte die Teilung der - Wasser darstellen und schied sich, bis zu den Füßen hinabfallend, in Grau und Silber. Der Professor — Freitag —, an dessen Tag die Vögel und Fische, die einfacheren Formen des Lebens, sich gebildet hatten, war in dunklen Purpur gekleidet, über den unregelmäßig glotzäugige Fische und absonderliche tropische Vögel verstreut waren als Sinnbilder des Zweifels und unergründlicher Phantasie. Dr. Bull, der letzte Tag der Schöpfung, trug einen Rock, bedeckt mit Wappentieren in Rot und Gold, und als Helmschmuck einen fröhlich hüpfenden Mann: Adam. Dr. Bull hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, breit lächelnd, das Bild eines Optimisten von reinstem Wasser.

Einer nach dem andern erstieg die Terrasse und setzte sich in seinen Sessel. Kaum saßen alle, da erhob sich ein Beifallsjubel sondergleichen aus der Schar der Masken, als ob ein Volk seine Fürsten begrüßt. Pokale klangen, Fackeln sprühten auf, und federgeschmückte Hüte flogen in die Luft. Die Männer, für die diese Thronsessel bereitgestellt waren, schienen mit außerordentlichem Lorbeer gekrönt. Nur der Stuhl in der Mitte war noch leer.

Syme saß links davon, der Sekretär rechts. Dieser blickte über den leeren Sitz auf Syme und sagte mit zusammengepreßten Lippen: »Wir wissen immer noch nicht, ob er nicht tot irgendwo auf dem Feld liegt.«

Fast im gleichen Moment, als Syme diese Worte hörte, sah er auf dem Meer menschlicher Gesichter vor sich eine Veränderung, schön und überraschend zugleich: als ob sich der Himmel geöffnet habe. Sonntag war schweigend wie ein Schatten vorübergegangen und hatte auf seinem Thronsitz in der Mitte Platz genommen. Er war ganz in ein reines, mächtiges Weiß gekleidet, und sein Haar wirkte wie eine silberne Flamme über seiner Stirn.

Eine lange Zeit — es schienen Stunden — schwang sich und stampfte die riesige Maskerade der Menschheit vor ihnen dahin zu den Klängen einer frohlockenden Marschmusik. Jedes tanzende Paar war ein Märchen für sich. Mochte eine Elfe mit einem Briefkasten tanzen oder ein Bauernmädchen mit dem Mond, stets war das Bild ebenso absurd wie bei »Alice im Wunderland«, doch auch stets so innig und zärtlich wie eine Liebesgeschichte. Zuletzt begann sich die dichte Menge zu verlieren. Paare schlenderten in die Gartenwege oder verzogen sich zu jenem Ende der Baulichkeiten, wo in gewaltigen Kesseln duftender Punsch aus altem Ale oder Wein dampfte. Hoch über allem, auf dem Dach des Hauses, brannte in einem eisernen Korb ein gigantisches Freudenfeuer, das das Land meilenweit erhellte. Es breitete den traulichen Schein der Herdflamme über das Grau und Braun der weiten Wälder und füllte noch die Leere der Nacht mit Wärme. Jedoch wurde all das mit der Zeit schwächer und schwächer; vereinzelte Gruppen sammelten sich um die großen Kessel oder wandelten laut lachend in die inneren Gänge des alten Hauses. Bald befanden sich nur noch einige Bummler im Garten. Schließlich lief auch der letzte irrende Zecher ins Haus und rief nach seinen Kumpanen. Das Feuer erlosch, und langsam obsiegten strahlend die Sterne. Die sieben seltsamen Männer Waren nun allein wie sieben Steinbilder auf steinernen Stühlen. Nicht einer hatte ein Wort gesprochen.

Sie hatten auch keine Eile damit, sie hörten lieber schweigend dem Summen der Insekten und dem fernen Gesang eines Vogels zu. Dann endlich sprach Sonntag wie traumverloren — nicht als beginne er eine Unterhaltung, sondern als spinne er eine schon lange begonnene weiter.

»Wir wollen später essen und trinken«, sagte er. »Jetzt wollen wir, die wir einander so schmerzlich geliebt und einander so lange bekämpft haben, ein wenig zusammenrücken , und miteinander plaudern. Es ist mir, als sei, Jahrhunderte hindurch, solange ich mich erinnern kann, nichts als Kampf gewesen — heroische Kriege, in denen ihr euch immer als Helden bewährt habt. Ein Epos nach dem andern, eine Ilias nach der anderen: immer seid ihr Waffenbrüder gewesen. War es erst jüngst — denn Zeit ist nichts — oder war es am Anfang der Welt, daß ich euch in den Krieg geschickt habe? Ich saß in der Dunkelheit, wo die Schöpfung schweigt, und war für euch nur eine Stimme, die Mut einflößt und eine übernatürliche Kraft. Ihr habt die Stimme im Dunkeln gehört und sonst niemals wieder. Die Sonne am Firmament leugnete sie, Erde und Himmel leugneten sie, alle menschliche Weisheit leugnete sie. Und als ich euch im Tageslicht traf, leugnete ich sie selbst.«

Syme wurde unruhig auf seinem Sitz, sonst aber war lautlose Stille, und der Unbegreifliche fuhr fort: »Aber ihr seid Männer gewesen, ihr habt nicht eure innerste Ehre vergessen, obwohl die ganze Welt euch auf die Folter gespannt hat, sie euch zu entreißen. Ich wußte, wie nahe ihr der Hölle wart. Ich weiß, wie Sie, Donnerstag, die Klingen kreuzten mit dem Satan und wie Sie, Mittwoch, mich beschimpften in der Stunde der Hoffnungslosigkeit.«

Das feierliche Schweigen in dem Garten, über dem die Sterne leuchteten, unterbrach der Sekretär mit den schwarzen Brauen, unerbittlich und barsch: »Wer und was sind Sie?«

»Ich bin der Sonntag«, sagte der andere, ohne sich zu rühren. »Ich bin der Frieden Gottes.«

Der Sekretär schoß in die Höhe und stand da, seine kostbare Robe mit der Hand zerknitternd. Er stieß hervor: »Ich weiß, was Sie meinen. Und gerade das kann ich Ihnen nicht verzeihen. Ich weiß, Sie sind die Zufriedenheit, der Optimismus, die endliche Versöhnung, wie man es nennt. Gut, ich aber bin nicht versöhnt. Wenn Sie der Mann im Dunkeln waren, warum waren Sie dann auch Sonntag, ein Ärgernis für das Sonnenlicht? Wenn Sie von Anbeginn unser väterlicher Freund waren, warum waren Sie auch unser größter Feind? Wir haben gezittert, wir sind geflohen vor Angst; wie Eisen bohrte es sich in unsere Seele — und Sie wollen der Frieden Gottes sein? Oh, ich kann Gott seinen Zorn verzeihen, wenn er auch die Völker zermalmt, aber seinen Frieden kann ich ihm nicht verzeihen.«

Sonntag antwortete mit keiner Silbe, aber langsam richtete er sein steinernes Angesicht auf Syme, als wollte er eine Frage an ihn stellen.

»Nein«, gestand Syme, »diesen Groll hege ich nicht. Ich bin Ihnen dankbar, nicht nur für Wein und Gastfreundschaft, sondern für manches tolle Erlebnis und für manche männliche Tat. Nur die Zusammenhänge möchte ich gerne wissen. Mein Herz ist hier glücklich und ruhig wie dieser alte Garten, aber meine Vernunft ist noch voller Unrast und verlangt nach einer Lösung des Rätsels.«

Sonntag blickte auf Ratcliffe, der klar und vernehmlich sagte: »Es ist so absurd, daß Sie auf beiden Seiten gestanden und gegen sich selbst gekämpft haben sollten.«

Bull bekannte: »Ich verstehe nichts, aber ich bin glücklich. Ich werde jetzt schlafen gehen.«

»Ich bin nicht glücklich«, ließ der Professor, der den Kopf in seine Hände vergraben hatte, sich vernehmen, »weil ich nichts verstehe. Sie haben mich zu nahe an die Hölle herankommen lassen.«

Gogol aber sagte, einfach wie ein Kind: »Ich wollte, ich wüßte, warum ich so viel Schmerzen erleiden mußte.«

Noch sprach Sonntag nichts. Er saß da, sein mächtiges Kinn auf seine Hand gestützt, und starrte in die Ferne. Dann endlich öffnete er den Mund: »Ich habe eure Klagen der Reihe nach gehört. Nun kommt hier, glaube ich, noch einer, der zu klagen hat, und auch ihn wollen wir hören.«

Das fallende Feuer in der großen Pechpfanne warf einen letzten Schimmer wie einen Streifen brennenden Goldes über das dunkle Gras. Gegen dieses feurige Band zeichneten sich dunkel die Umrisse der vorwärtsschreitenden Beine einer schwarz gekleideten Gestalt ab. Sie trug ein knappes Gewand mit Kniehosen, gleich dem der Bedienten des Hauses, nur daß es nicht blau war, sondern von der Farbe der absoluten Finsternis. Er trug wie die Diener eine Art Degen an der linken Seite. Erst als er ganz dicht an den Halbkreis der Sieben herangekommen war und sein Gesicht hob, um sie anzusehen, erkannte Syme mit blitzartiger Klarheit, daß es das breite, fast affenhafte Gesicht seines alten Freundes Gregory mit seinem brandroten Haar und seinem unverschämten Lächeln war.

»Gregory!« schnappte Syme nach Luft und stand halb von seinem Stuhl auf. »Ja! Das ist der wahre Anarchist!«

»Ja«, erwiderte Gregory mit gefährlicher Zurückhaltung, »ich bin der wahre Anarchist.«

»Es begab sich aber auf einen Tag«, murmelte Bull halb im Schlaf die Worte aus dem Buche Hiob, »da die Kinder Gottes kamen und vor den Herrn traten, da kam der Satan auch unter sie.«

»Sie haben recht.« Gregory blickte rundum. »Ich bin ein Zerstörer. Ich würde die Welt zerstören, wenn ich könnte.«

Eine tiefe Rührung erschütterte Syme; abgerissen, ohne Zusammenhang rief er: »Oh, Sie Unglücklicher, versuchen Sie, glücklich zu sein! Sie haben rotes Haar wie Ihre Schwester.«

»Meine roten Haare sollen wie rote Flammen über der Welt lodern. Ich dachte, ich haßte alles, mehr als gewöhnliche Menschen hassen können, aber ich sehe: nichts hasse ich so wie Sie!«

»Ich habe Sie niemals gehaßt.« Syme war sehr traurig.

Da brach es aus diesem unbegreiflichen Wesen hervor wie ein Gewitter. »Sie«, schrie er. »Sie haben niemals gehaßt, weil Sie niemals gelebt haben. Ich weiß, was ihr alle seid vom ersten bis zum letzten — ihr seid die Polizei, die großen, feisten, lächelnden Männer in Blau und mit blanken Knöpfen. Ihr seid das Gesetz, und ihr seid niemals mutlos gewesen. Aber lebt da nicht doch noch eine freie Seele, die sich nicht sehnte, euch zu demütigen, nur weil ihr niemals gebrochen wart? Wir Empörer reden gewiß allen möglichen Unsinn über dieses und jenes Verbrechen der Regierung. Das ist alles Unfug! Das einzige Verbrechen der Regierung ist, daß sie regiert. Die unverzeihliche Sünde der obersten Macht ist, daß sie die oberste ist. Ich verdamme euch nicht eurer Grausamkeit wegen. Ich verdamme euch nicht — wenn ich es auch möchte — eurer Güte wegen. Ich verdamme euch eurer Sicherheit wegen. Ihr sitzt in euren Stühlen aus Stein und seid niemals von ihnen heruntergekommen. Ihr seid die sieben Engel des Himmels und habt niemals Kummer erfahren. Oh, ich könnte euch verzeihen, daß ihr die Menschheit beherrscht, wenn ich nur einmal fühlen würde, daß ihr eine Stunde lang eine wirkliche Pein erlitten habt so wie ich …«

Syme sprang auf seine Füße, bebend vor Erregung. Er rief »Ich erkenne alles, alles, was da ist. Warum führen alle Dinge auf Erden Krieg miteinander? Warum kämpft das kleinste Lebewesen auf der Welt gegen die Welt selbst? Warum muß jede Fliege gegen das Universum kämpfen, warum eine harmlose Blume? Aus demselben Grund, aus dem ich allein sein mußte in dem furchtbaren Rat der Sieben Tage. All und jedes, was dem Gesetz gehorcht, kann die Glorie und die Vereinsamung des Anarchisten erleben. Jeder, der für Ordnung ficht, kann so tapfer und gut sein wie ein Dynamitattentäter. Satans Lüge muß in das Gesicht dieses Lästerers zurückgeschleudert werden. Durch Tränen und Qualen können wir das Recht gewinnen, zu diesem Mann zu sagen: ›Du lügst!‹ Keine Pein kann zu groß sein, um das Recht zu gewinnen, diesem Ankläger zu sagen: ›Auch wir haben gelitten.‹ Es ist nicht wahr, daß wir niemals gedemütigt werden sind. Auch wir sind aufs Rad geflochten worden. Es ist nicht wahr, daß wir niemals von unsern Thronen herabgestiegen sind. Auch wir sind in die Hölle gefahren. Wir waren eben dabei, über unser unvergeßliches Elend zu klagen, als dieser Mann auftrat und sich anmaßte, uns des Glückes anzuklagen. Diese Verleumdung weise ich zurück; wir sind nicht glücklich gewesen. Ich stehe ein für jeden der großen Hüter des Gesetzes, den er angeklagt hat. Wenigstens…«

Er richtete seinen Blick auf das große Antlitz Sonntags, das ein seltsames Lächeln erhellte.

Da fragte ihn Syme laut und voller Ehrfurcht: »Hast du jemals gelitten?«

Wie er so die Augen nicht von Sonntag wandte, dehnte sich dessen Antlitz zu erhabener Mächtigkeit und wurde größer als die kolossale Maske des Memnon, die ihn als Kind so in Schrecken versetzt hatte. Immer mehr breitete es Sich aus, daß es schließlich den ganzen Himmel füllte; dann wurde alles schwarz. Und in der Schwärze, die auf sein Bewußtsein herniedersank, vernahm er noch eine ferne Stimme, die einen Satz sagte, die er schon irgendeinmal gehört hatte: »Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke?«

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Wenn die Menschen in Romanen aus einem Traumgesicht erwachen, finden sie Sich gewöhnlich an irgendeinem Platz, wo sie eingeschlafen waren. Sie gähnen in einem Stuhl oder erheben sich mit zerschlagenen Gliedern von einer Wiese.

Symes Erfahrung war psychologisch viel merkwürdiger, wenn es an den Erlebnissen, durch die er gegangen, im irdischen Sinne überhaupt etwas Unwirkliches gab. Denn er konnte sich nachher wohl erinnern, daß er vor dem Antlitz Sonntags in Ohnmacht gefallen war, aber daß er überhaupt jemals mit ihm zusammengekommen sei, dessen entsann er sich nicht. Nur allmählich wurde ihm wieder bewußt, daß er mit einem angenehmen, unterhaltsamen Begleiter eine Vorortstraße entlanggegangen war. Dieser Begleiter aber war eine Gestalt aus dem Drama gewesen, das er soeben erlebt hatte, der rothaarige Dichter Gregory. Sie waren wie alte Freunde dahinspaziert und hatten sich über eine Nichtigkeit unterhalten. Nun aber spürte Syme eine übernatürliche Schwungkraft in seinem Körper und eine kristallene Klarheit in seinem Geist, die erhaben war über alles, was er sagte und tat. Er fühlte sich im Besitz eines neuen, nahezu unmöglich erscheinenden Bewußtseins, das alle andern Dinge des Daseins zu einer unerheblichen, aber immerhin verehrungswürdigen Alltäglichkeit zusammenschrumpfen ließ.

Die Dämmerung brach herein in Farben, die zugleich klar und zaghaft waren, als wollte die Natur ihre ersten Versuche in Gelb und in Rosa machen. Ein sanfter Wind wehte so rein und süß, daß man hätte glauben können, er bliese nicht vom Himmel herab, sondern wehe hinauf zum Firmament.

Syme war kaum überrascht, als er sah, wie rings um ihn auf beiden Seiten der Straße die roten, unregelmäßigen Häuser von Saffron Park sich erhoben. Er hatte keine Ahnung, daß er so nahe an London gewesen war. Er ging völlig in Gedanken einen weißen Weg entlang, auf dem frühwache Vögel hüpften und sangen, und blieb an einem Gartenzaun stehen. Und hier sah er Gregorys Schwester, das Mädchen mit dem rotgoldenen Haar, wie es Flieder schnitt zum Schmuck des Frühstückstisches, ganz versunken in ihr Tun und voll der unbewußten Feierlichkeit eines jungen Mädchens.

1"Übersetzung von Bernhard Sengfelder (1973)