Nicht so laut vor Jericho

Ephraim Kishon

1970

1

Die kleinen Begebenheiten und alltäglichen Dinge, die Kishon von liebevoller Anteilnahme hier erzählt, sind letzlich Zeugnisse jener menschlichen Unvollkomenheit, die uns selbst tagtäglich begegnet, in Hamburg wie in Tel Aviv, in New York wie in Jericho. Aber Kishon vermeidet auch nicht die aktuellen Probleme des kämpfenden Israel, und indem er über die Gegner und »Freunde« seines kleinen Volkes schreibt, wird seine spitze Feder schärfer. Der Satiriker Israels beweist wieder, daß er sogar mitten im Krieg um das Überleben seines Landes siene Liebe für sein Vok und sein wunderbares Talent nicht verloren hat; ein Talent, das den Namen Kishon in der ganzen Welt berühmt gemacht hat: sein unvergleichlicher Sinn für Humor.

Inhaltsverzeichnis

Auch die Waschmaschine ist nur ein Mensch

Über den Umgang mit Computern

Was schenken wir der Kindergärtnerin?

Elefantiasis

Wohin das Hündchen will

Ein Fläschchen fürs Kätzchen

Das Geheimnis der Redekunst

Die Guten und die Bösen

Die Russen kommen

Folterkammer Washington, D.C.

Allein gegen die ganze arabische Welt

Assimilation via Bildschirm

Wie rächt man sich an Verkehrspolizisten?

Kontakt mit Linsen

Die Stimme des Blutes

Rote Haare sind Ansichtssache

Durch den Kakao gezogen

Titel, Tod und Teufel

Des Fiedlers Fluch

New York ist nicht Amerika

Der Broadway ist off

Fremd in St. Pauli

Podmanitzki hat endlich Erfolg

Ein weitblickender Theaterleiter

Das Geisterkommando

Alles über Gerschon Messinger

Wie man Freunde gewinnt

Klepto-Philatelie

Aus Neu mach Alt

Hitze

Wo steckt Tuwal?

Das Wunderkind

Aus der Gründerzeit

Ein wirklich guter Freund

Ein Vorschlag, Vorschläge zu machen

Die vier apokalyptischen Fahrer

Buchwerbung

Verschlüsselt

Die Kraftprobe

Das Fernsehen als moralische Anstalt

Ich rufe noch einmal an

Die Rache des Kohlrabi

Hair

Alltag eines Berufshumoristen

… Und die Kinder Israels, als sie die große Stadt Jericho hatten umzingelt und eingeschlossen von allen Seiten, waren des Kämpfens müde, und rotteten sich zusammen zu gewaltigen Demonstrationen, und trugen in ihren Reihen aus Papyrus gefertigte Schaubänder, darauf geschrieben stand WIR WOLLEN FRIEDEN und MAKE LOVE, NOT WAR und KEINE EROBERUNGEN FÜR ISRAEL, und solches trugen sie einher.

Und stimmten ein großes Geschrei an, und stießen machtvoll in ihre Posaunen, so daß der Lärm zum Himmel stieg.

Und Josua trat vor sie hin, und beschwor sie und sprach, haltet ein mit dem Krach, ihr Ruchlosen, denn euer Getöse ist ein Scheuel und Greuel in den Ohren des Herrn, und sprach, wenn ihr nicht ablaßt von Brüllen und Blasen, dann werden die Mauern der Stadt noch einstürzen über euch.

Und so geschah es. Und blieb den Kindern Israels nichts übrig, als die Stadt Jericho zu erobern, und nahm aber der Krieg kein Ende, und ging weiter, und wehe den Siegern…

Seit der Befreiung vom Joche des Pharao gilt das jüdische Volk als unerschütterlicher Anwalt der Freiheit. Wir haben als erste ein Gesetz zur Aufhebung der Sklaverei erlassen, wir haben in allen möglichen Revolutionen das Banner der Gleichheit hochgehalten, und wir werden auch jetzt, in unserem neuen Vaterland, die jüdischen Waschmaschinen aus der Versklavung befreien.

Auch die Waschmaschine ist nur ein Mensch

Eines Tages unterrichtete mich die beste Ehefrau von allen, daß wir eine neue Waschmaschine brauchten, da die alte, offenbar unter dem Einfluß des mörderischen Klimas, den Dienst aufgekündigt hatte. Der Winter stand vor der Tür, und das bedeutete, daß die Waschmaschine jedes einzelne Wäschestück mindestens dreimal waschen müßte, da jeder Versuch, es durch Aufhängen im Freien zu trocknen, an den jeweils kurz darauf einsetzenden Regengüssen scheiterte. Und da der Winter heuer besonders regnerisch zu werden versprach, war es klar, daß nur eine neue, junge, kraftstrotzende und lebenslustige Waschmaschine sich gegen ihn behaupten könnte.

»Geh hin«, so sprach ich zu meinem Eheweib, »geh hin, Liebliche, und kaufe eine Waschmaschine. Aber wirklich nur eine, und von heimischer Erzeugung. So heimisch wie möglich.«

Die beste Ehefrau von allen ist zugleich eine der besten Einkäuferinnen, die ich kenne. Schon am nächsten Tag stand in einem Nebenraum unserer Küche, fröhlich summend, eine original hebräische Waschmaschine mit blitzblank poliertem Armaturenbrett, einer langen Kabelschnur und ausführlicher Gebrauchsanweisung. Es war Liebe aufs erste Waschen — der Reklameslogan hatte nicht gelogen. Unser Zauberwaschmaschinchen besorgte alles von selbst, Schäumen, Waschen und Trocknen. Fast wie ein Wesen mit menschlicher Vernunft.

Und genau davon handelt die folgende Geschichte.

Am Mittag des zweiten Tages betrat die beste Ehefrau von allen mein Arbeitszimmer ohne anzuklopfen, was immer ein böses Zeichen ist. Und sagte:

»Ephraim, unsere Waschmaschine wandert.«

Ich folgte ihr zur Küche. Tatsächlich: der Apparat war soeben damit beschäftigt, die Wäsche zu schleudern und mittels der hierbei erfolgenden Drehbewegung den Raum zu verlassen. Wir konnten den kleinen Ausreißer noch ganz knapp vor Überschreiten der Schwelle aufhalten, brachten ihn durch einen Druck auf den grellroten Alarmknopf zum Stillstand und berieten die Sachlage.

Es zeigte sich, daß die Maschine nur dann ihren Standort veränderte, wenn das Trommelgehäuse des Trockenschleuderers seine unwahrscheinlich schnelle Rotationstätigkeit aufnahm. Dann lief zuerst ein Zittern durch den Waschkörper — und gleich darauf begann er, wie von einem geheimnisvollen inneren Drang getrieben, hopphopp daraufloszumarschieren.

Na schön. Warum nicht. Unser Haus ist schließlich kein Gefängnis, und wenn Maschinchen marschieren will, dann soll es.

In einer der nächsten Nächte weckte uns das kreischende Geräusch gequälten Metalls aus Richtung Küche. Wir stürzten hinaus: das Dreirad unseres Söhnchens Amir lag zerschmettert unter der Maschine, die sich in irrem Tempo um ihre eigene Achse drehte. Amir seinerseits heulte mit durchdringender Lautstärke und schlug mit seinen kleinen Fäusten wild auf den Dreiradmörder ein:

»Pfui, schlimmer Jonathan! Pfui!«

Jonathan, das muß ich erklärend hinzufügen, war der Name, den wir unserem Maschinchen seiner menschenähnlichen Intelligenz halber gegeben hatten.

»Jetzt ist es genug«, erklärte die Frau des Hauses. »Ich werde Jonathan fesseln.«

Und das tat sie denn auch mit einem rasch herbeigeholten Strick, dessen anderes Ende sie an die Wasserleitung band.

Ich hatte bei dem allen ein schlechtes Gefühl, hütete mich jedoch, etwas zu äußern. Jonathan gehörte zum Einflußbereich meiner Frau, und ich konnte ihr das Recht, ihn anzubinden, nicht streitig machen.

Indessen möchte ich nicht verhehlen, daß es mich mit einiger Genugtuung erfüllte, als wir Jonathan am nächsten Morgen an der gegenüberliegenden Wand stehen sahen. Er hatte offenbar alle seine Kräfte angespannt, denn der Strick war gerissen.

Seine Vorgesetzte fesselte ihn zähneknirschend von neuem, diesmal mit einem längeren und dickeren Strick, dessen Ende sie um den Heißwasserspeicher schlang.

Das ohrenbetäubende Splittern, das sich bald darauf als Folge dieser Aktion einstellte, werde ich nie vergessen.

»Er zieht den Speicher hinter sich her!« flüsterte die entsetzte Küchenchefin, als wir am Tatort angelangt waren. Der penetrante Gasgeruch in der Küche bewog uns, auf künftige Fesselungen zu verzichten. Jonathans Abneigung gegen Stricke war nicht zu verkennen, und wir ließen ihn fortan ohne jede Behinderung seinen Waschgeschäften nachgehen. Irgendwie leuchtete es uns ein, daß er, vom Lande Israel hervorgebracht — eine Art Sabre —, über unbändigen Freiheitswillen verfügte. Wir waren beinahe stolz auf ihn.

Einmal allerdings, noch dazu an einem Samstag abend, an dem wir, wie immer, Freunde zum Nachtmahl empfingen, drang Jonathan ins Speisezimmer ein und belästigte unsere Gäste.

»Hinaus mit dir!« rief meine Frau ihm zu. »Marsch hinaus! Du weißt, wo du hingehörst!«

Das war natürlich lächerlich. So weit reichte Jonathans Intelligenz nun wieder nicht, daß er die menschliche Sprache verstanden hätte. Jedenfalls schien es mir sicherer, ihn durch einen raschen Druck auf den Alarmknopf zum Stehen zu bringen, wo er stand.

Als unsere Gäste gegangen waren, startete ich Jonathan, um ihn auf seinen Platz zurückzuführen. Aber er schien uns die schlechte Behandlung von vorhin übelzunehmen und weigerte sich. Wir mußten ihn erst mit einigen Wäschestücken füttern, ehe er sich auf den Weg machte…

Amir hatte allmählich Freundschaft mit ihm geschlossen, bestieg ihn bei jeder Gelegenheit und ritt auf ihm, unter fröhlichen »Hühott«-Rufen, durch Haus und Garten.

Wir alle waren’s zufrieden. Jonathans Waschqualitäten blieben die alten, er war wirklich ein ausgezeichneter Wäscher und gar nicht wählerisch in bezug auf Waschpulver. Wir konnten uns nicht beklagen.

Immerhin befiel mich ein arger Schrecken, als ich eines Abends, bei meiner Heimkehr, Jonathan mit gewaltigen Drehsprüngen auf mich zukommen sah. Ein paar Minuten später, und er hätte die Straße erreicht.

»Vielleicht«, sagte träumerisch die beste Ehefrau von allen, nachdem ich ihn endlich gebändigt hatte, »vielleicht könnten wir ihn bald einmal auf den Markt schicken. Wenn man ihm einen Einkaufszettel mitgibt…«

Sie meinte das nicht im Ernst. Aber es bewies, wieviel wir von Jonathan schon hielten. Wir hatten fast vergessen, daß er doch eigentlich als Waschmaschine gedacht war. Und daß er vieles tat, was zu tun einer Waschmaschine nicht oblag.

Ich beschloß, einen Spezialisten zu konsultieren. Er zeigte sich über meinen Bericht in keiner Weise erstaunt.

»Ja, das kennen wir«, sagte er. »Wenn sie schleudern, kommen sie gern ins Laufen. Meistens geschieht das, weil sie zuwenig Wäsche in der Trommel haben. Dadurch entsteht eine zentrifugale Gleichgewichtsstörung, von der die Maschine vorwärtsgetrieben wird. Geben Sie Jonathan mindestens vier Kilo Wäsche, und er wird brav seinen Platz halten.«

Meine Frau erwartete mich im Garten. Als ich ihr auseinandersetzte, daß es der Mangel an Schmutzwäsche war, der Jonathan zu zentrifugalem Amoklaufen trieb, erbleichte sie:

»Großer Gott! Gerade habe ich ihm zwei Kilo gegeben. Um die Hälfte zu wenig!«

Wir sausten zur Küche und blieben — was doch eigentlich Jonathans Sache gewesen wäre — wie angewurzelt stehen: Jonathan war verschwunden. Mitsamt seinem Kabel.

Noch während wir zur Straße hinausstürzten, riefen wir, so laut wir konnten, seinen Namen:

»Jonathan! Jonathan!«

Keine Spur von Jonathan.

Ich rannte von Haus zu Haus und fragte unsere Nachbarn, ob sie nicht vielleicht eine hebräisch sprechende Waschmaschine gesehen hätten, die sich stadtwärts bewegte. Alle antworteten mit einem bedauernden Kopfschütteln. Einer glaubte sich zu erinnern, daß so etwas Ähnliches vor dem Postamt gestanden sei, aber die Nachforschungen ergaben, daß es sich um einen Kühlschrank handelte, der falsch adressiert war.

Nach langer, vergeblicher Suche machte ich mich niedergeschlagen auf den Heimweg. Wer weiß, vielleicht hatte in der Zwischenzeit ein Autobus den armen Kleinen überfahren, diesen städtischen Wagenlenkern ist ja alles zuzutrauen… Tränen stiegen mir in die Augen. Unser Jonathan, das freiheitsliebende Geschöpf des israelischen Industrie-Dschungels, hilflos preisgegeben den Gefahren der Großstadt und ihres wilden Verkehrs… wenn die Drehtrommel in seinem Gehäuse plötzlich aussetzt, kann er sich nicht mehr fortbewegen… muß mitten auf der Straße stehenbleiben…

»Er ist hier!« Mit diesem Jubelruf begrüßte mich die beste Ehefrau von allen. »Er ist zurückgekommen!«

Der Hergang ließ sich rekonstruieren: In einem unbewachten Augenblick war der kleine Dummkopf in den Korridor hinausgehoppelt und auf die Kellertüre zu, wo er unweigerlich zu Fall gekommen wäre. Aber da er im letzten Augenblick den Steckkontakt losriß, blieb ihm das erspart.

»Wir dürfen ihn nie mehr vernachlässigen!« entschied meine Frau. »Zieh sofort deine Unterwäsche aus! Alles!«

Seit diesem Tag wird Jonathan so lange vollgestopft, bis er mindestens viereinhalb Kilo in sich hat. Und damit kann er natürlich keine Ausflüge mehr machen. Er kann kaum noch atmen. Es kostet ihn merkliche Mühe, seine zum Platzen angefüllte Trommel in Bewegung zu setzen. Armer Kerl. Es ist eine Schande, was man ihm antut.

Gestern hat’s bei mir geschnappt. Als ich allein im Haus war, schlich ich zu Jonathan und erleichterte sein Inneres um gute zwei Kilo. Sofort begann es in ihm unternehmungslustig zu zucken, und nach einer kleinen Weile war es soweit, daß er sich, noch ein wenig ungelenk hüpfend, auf den Weg zu der hübschen italienischen Waschmaschine im gegenüberliegenden Haus machte, mit männlichem, tatendurstigem Brummen und Rumpeln, wie in der guten alten Zeit.

»Geh nur, mein Jonathan.« Ich streichelte seine Hüfte.

»Los!«

Was zur Freiheit geboren ist, soll man nicht knechten.

Mit einer widerspenstigen Waschmaschine kann man sich ja noch verständigen, weil ihr Wortschatz begrenzt ist. Aber wenn man es mit einem Computer jüdischen Ursprungs zu tun bekommt, wird’s kritisch. Soviel ich weiß, ist der Riesen-Computer unseres Finanzministeriums in Jerusalem der einzige auf Erden, der seinen Vorgesetzten folgende Mitteilung zugehen ließ: »Meine Herren, gestern nachmittag bin ich verrückt geworden. Schluß der Durchsage.«

Über den Umgang mit Computern

Bisher hat es mich noch nie gestört, daß ich zufällig den gleichen Namen trage wie ein Nebenfluß des Jordan. Aber vor einiger Zeit erhielt ich eine Nachricht von der Steuerbehörde, auf offiziellem Papier und in sonderbar wackeliger Maschinenschrift:

»Letzte Mahnung vor Beschlagnahme. Da Sie auf unsere Mitteilung betreffend Ihre Schuld im Betrag von Isr. Pfund 20.012.11 für die im Juli vorigen Jahres durchgeführten Reparaturarbeiten im Hafen des Kishon-Flusses bis heute nicht reagiert haben, machen wir Sie darauf aufmerksam, daß im Nichteinbringungsfall der oben genannten Summe innerhalb von sieben Tagen nach dieser letzten Mahnung die gesetzlichen Vorschriften betreffend Beschlagnahme und Verkauf Ihres beweglichen Eigentums in Anwendung gebracht werden.

Sollten Sie Ihre Schuld inzwischen beglichen haben, dann betrachten Sie diese Mitteilung als gegenstandslos, (gez.) S. Seligson, Abteilungsleiter.«

Ungeachtet des tröstlichen Vorbehalts im letzten Absatz verfiel ich in Panik. Einerseits bewies eine sorgfältige Prüfung meiner sämtlichen Bücher und Belege unzweifelhaft, daß keine wie immer gearteten Reparaturen an mir vorgenommen worden waren, andererseits fand ich nicht den geringsten Anhaltspunkt, daß ich der erwähnten Zahlungsverpflichtung nachgekommen wäre.

Da ich seit jeher dafür bin, lokale Konflikte durch direkte Verhandlungen zu bereinigen, begab ich mich zur Steuerbehörde, um mit Herrn Seligson zu sprechen.

»Wie Sie sehen«, sagte ich und zeigte ihm meinen Personalausweis, »bin ich ein Schriftsteller und kein Fluß.«

Der Abteilungsleiter faßte mich scharf ins Auge:

»Wieso heißen Sie dann Kishon?«

»Aus Gewohnheit. Außerdem heiße ich auch noch Ephraim. Der Fluß nicht.«

Das überzeugte ihn. Er entschuldigte sich und ging ins Nebenzimmer, wo er den peinlichen Vorfall mit seinem Stab zu diskutieren begann, leider nur flüsternd, so daß ich nichts hören konnte. Nach einer Weile forderte er mich auf, in die offene Türe zu treten und mich mit erhobenen Händen zweimal im Kreis zu drehen. Nach einer weiteren Weile war die Abteilung offenbar überzeugt, daß ich im Recht sei oder zumindest im Recht sein könnte. Der Abteilungsleiter kehrte an seinen Schreibtisch zurück, erklärte die Mahnung für hinfällig und schrieb mit Bleistift auf den Akt: »Hat keinen Hafen. Seligson.« Dann machte er auf den Aktendeckel eine große Null und strich sie mit zwei diagonalen Linien durch.

Erleichtert kehrte ich in den Schoß meiner Familie zurück:

»Es war ein Irrtum. Die Logik hat gesiegt.«

»Siehst du!« antwortete die beste Ehefrau von allen. »Man darf nie den Mut verlieren.«

Am Mittwoch traf die »Benachrichtigung über die Konfiskation beweglichen Gutes« bei mir ein:

»Da Sie unsere ›letzte Mahnung vor Beschlagnahme‹ unbeachtet gelassen haben«, schrieb Seligson, »und da Ihre Steuerschuld im Betrag von Isr. Pfund 20.012.11 bis heute nicht beglichen ist, sehen wir uns gezwungen, die gesetzlichen Vorschriften betreffend Beschlagnahme und Verkauf Ihres beweglichen Eigentums in Anwendung zu bringen. Sollten Sie Ihre Schuld inzwischen beglichen haben, dann betrachten Sie diese Mitteilung als gegenstandslos.«

Ich eilte zu Seligson.

»Schon gut, schon gut«, beruhigte er mich. »Es ist nicht meine Schuld. Für Mitteilungen dieser Art ist der elektronische Computer in Jerusalem verantwortlich, und solche Mißgriffe passieren ihm immer wieder. Kümmern Sie sich nicht darum.«

Soviel ich feststellen konnte, war die zuständige Stelle in Jerusalem vor ungefähr einem halben Jahr automatisiert worden, um mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten. Seither besorgt der Computer die Arbeit von tausenden traurigen Ex-Beamten. Er hat nur einen einzigen Fehler, nämlich den, daß die Techniker in Jerusalem mit seiner Arbeitsweise noch nicht so recht vertraut sind und ihn gelegentlich mit falschen Daten füttern. Die Folge sind gewisse Verdauungsstörungen, wie eben im Fall der an mir vorgenommenen Hafenreparatur.

Seligson versprach, das Mißverständnis ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Sicherheitshalber schickte er noch in meiner Gegenwart ein Fernschreiben nach Jerusalem, des Inhalts, daß man die Sache bis auf weiteres ruhen lassen sollte, auf seine Verantwortung.

Ich dankte ihm für diese noble Geste und begab mich in vorzüglicher Laune nach Hause.

Am Montag vormittag wurde unser Kühlschrank abgeholt. Drei stämmige Staatsmöbelpacker wiesen einen von S. Seligson gezeichneten Pfändungsauftrag vor, packten den in unserem Klima unentbehrlichen Nutzgegenstand mit geübten Pranken und trugen ihn hinaus. Ich umhüpfte und umflatterte sie wie ein aufgescheuchter Truthahn:

»Bin ich ein Fluß?« krähte ich. »Habe ich einen Hafen? Warum behandeln Sie mich als Fluß? Kann ein Fluß reden? Kann ein Fluß hüpfen?«

Die drei Muskelprotze ließen sich nicht stören. Sie besaßen einen amtlichen Auftrag, und den führten sie durch.

Auf dem Steueramt fand ich einen völlig niedergeschlagenen Seligson. Er hatte soeben aus Jerusalem eine erste Mahnung betreffend seine Steuerschuld von Isr. Pfund 20.012.11 für meine Reparaturen erhalten.

»Der Computer«, erklärte er mir mit gebrochener Stimme, »hat offenbar die Worte ›auf meine Verantwortung‹ falsch analysiert. Sie haben mich in eine sehr unangenehme Situation gebracht, Herr Kishon. Das muß ich schon sagen!«

Ich empfahl ihm, die Mitteilung als gegenstandslos zu betrachten — aber da kam ich schön an. Seligson wurde beinahe hysterisch:

»Wen der Computer einmal in den Klauen hat, den läßt er nicht mehr los!« rief er und raufte sich das Haar. »Vor zwei Monaten hat der Protokollführer des parlamentarischen Exekutivausschusses vom Computer den Auftrag bekommen, seinen Stellvertreter zu exekutieren. Nur durch die persönliche Intervention des Justizministers wurde der Mann im letzten Augenblick gerettet. Man kann nicht genug aufpassen…«

Ich beantragte, ein Taxi zu rufen und nach Jerusalem zu fahren, wo wir uns mit dem Computer aussprechen sollten, gewissermaßen von Mann zu Mann. Seligson winkte ab:

»Er läßt nicht mit sich reden. Er ist viel zu beschäftigt. Neuerdings wird er sogar für die Wettervorhersage eingesetzt. Und für Traumanalysen.«

Durch flehentliche Bitten brachte ich Seligson immerhin so weit, daß er den Magazinverwalter in Jaffa anwies, meinen Kühlschrank bis auf weiteres nicht zu verkaufen.

Einer am Wochenende eingelangten »Zwischenbilanz betr. Steuerschuldenabdeckung« entnahm ich, daß mein Kühlschrank bei einer öffentlichen Versteigerung zum Preis von Isr. Pfund 19.- abgegangen war und daß meine Schuld sich nur noch auf Isr. Pfund 19.933.11 belief, die ich innerhalb von sieben Tagen zu bezahlen hatte. Sollte ich in der Zwischenzeit…

Diesmal mußte ich in Seligsons Büro eine volle Stunde warten, ehe er keuchend ankam. Er war den ganzen Tag mit seinem Anwalt kreuz und quer durch Tel-Aviv gesaust, hatte seinen Kühlschrank auf den Namen seiner Frau überschreiben lassen und schwor mir zu, daß er nie wieder für irgend jemanden intervenieren würde, am allerwenigsten für einen Fluß.

»Und was soll aus mir werden?« fragte ich.

»Keine Ahnung«, antwortete Seligson wahrheitsgemäß. »Manchmal kommt es vor, daß der Computer eines seiner Opfer vergißt. Allerdings sehr selten.«

Ich erwiderte, daß ich an Wunder nicht glaubte und die ganze Angelegenheit sofort und endgültig zu regeln wünschte.

Nach kurzem, stürmischem Gedankenaustausch trafen wir eine Vereinbarung, derzufolge ich die Kosten der in meinem Hafen durchgeführten Reparaturen in zwölf Monatsraten abzahlen würde. Mit meiner und Seligsons Unterschrift versehen, ging das Dokument sofort nach Jerusalem, um von meinem beweglichen Gut zu retten, was noch zu retten war.

»Mehr kann ich wirklich nicht für Sie tun«, entschuldigte sich Seligson. »Vielleicht wird der Computer mit den Jahren vernünftiger.«

»Hoffen wir’s«, sagte ich.

Gestern erreichte mich der erste Scheck in der Höhe von Isr. Pfund 1.666.05, ausgestellt vom Finanzministerium und begleitet von einer Mitteilung Seligsons, daß es sich um die erste Monatsrate der insgesamt Isr. Pfund 19.993.11 handelte, die mir von der Steuerbehörde gutgeschrieben worden waren.

Meine frohe Botschaft, daß wir fortan keine Existenzsorgen haben würden, beantwortete die beste Ehefrau von allen mit der ärgerlichen Bemerkung, es sei eine Schande, daß man uns um die Zinsen betrüge, anderswo bekäme man sechs Prozent.

Die Zukunft gehört dem Computer. Sollten Sie das schon selbst gemerkt haben, dann betrachten Sie diese Mitteilung als gegenstandslos.

In der jüdischen Ehe spielt die jüdische Frau eine seit Urzeiten verehrungsvoll respektierte Rolle: die Mutterrolle. Sie spielt diese Rolle sowohl ihren Kindern wie ihrem Mann gegenüber. Der jüdische Gatte fragt sich vor jeder Entscheidung, ob er nicht zuerst seine Frau fragen soll. Meistens fragt er sie. Und manchmal antwortet sie ihm sogar. Seine etwaigen Gegenäußerungen werden in der Mappe »Kindermund« abgelegt.

Was schenken wir der Kindergärtnerin?

Ich liege voll angekleidet auf meiner Couch. Hell leuchtet die Lampe über meinem Kopf. Und in diesem Kopf jagen einander die wildesten Gedanken.

Vor dem Spiegel am anderen Ende des Zimmers steht die beste Ehefrau von allen und krümmt sich. Das tut sie immer, wenn sie ganz genau sehen will, was sie tut. Jetzt eben bedeckt sie ihr Gesicht mit Bio-Placenta-Creme, diesem bekanntlich wunderbaren Mittel zur Regenerierung der Hautzellen. Ich wage nicht, sie zu stören. Noch nicht.

Für einen schöpferischen Menschen meines Alters kommt unweigerlich die Stunde der Selbsterkenntnis. Seit Wochen, nein, seit Monaten bedrängt mich ein grausames Dilemma. Ich kann es allein nicht bewältigen. Einen Schritt, der über den Rest meines Lebens entscheiden wird, muß ich mit jemandem besprechen. Wozu bin ich verheiratet? Ich gebe mir einen Ruck.

»Liebling«, sage ich mit ganz leicht zitternder Stimme, »ich möchte mich mit dir beraten. Bitte reg dich nicht auf und zieh keine voreiligen Schlüsse. Also. Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, daß ich am Ende meiner kreativen Laufbahn angelangt bin und daß es besser wäre, wenn ich mit dem Schreiben Schluß mache. Oder zumindest für ein paar Jahre pausiere. Was ich brauche, ist Ruhe, Sammlung und Erholung. Vielleicht geht’s dann wieder… Hörst du mir zu?«

Die beste Ehefrau von allen bedeckt ihr Gesicht mit einer neuen Lage Bio-Placenta und schweigt.

»Was rätst du mir?« frage ich zaghaft und dennoch eindringlich. »Sag mir die Wahrheit.«

Jetzt wandte sich die Bio-Placenta-Konsumentin um, sah mich lange an und seufzte.

»Ephraim«, sagte sie, »wir müssen etwas für die Kindergärtnerin kaufen. Sie wird nach Beer-Schewa versetzt und fährt Ende der Woche weg. Es gehört sich, daß wir ihr ein Abschiedsgeschenk machen.«

Das war, genau genommen, keine befriedigende Antwort auf meine Schicksalsfrage. Und darüber wollte ich Madame nicht im unklaren lassen.

»Warum hörst du mir eigentlich niemals zu, wenn ich etwas Wichtiges mit dir besprechen will?«

»Ich habe dir genau zugehört.« Über die Bio-Placenta-Schicht lagerte sich eine ziegelrote Salbe. »Ich kann mich an jedes Wort erinnern, das du gesagt hast.«

»Wirklich? Was habe ich gesagt?«

»Du hast gesagt: warum hörst du mir eigentlich niemals zu, wenn ich etwas Wichtiges mit dir besprechen will.«

»Stimmt. Und warum hast du mir nicht geantwortet?«

»Weil ich nachdenken muß.«

Das hatte etwas für sich. Es war ja schließlich kein einfaches Problem, mit dem ich sie da konfrontierte.

»Glaubst du«, fragte ich vorsichtig, »daß es sich vielleicht nur um eine vorübergehende Lustlosigkeit handelt, die ich aus eigener Kraft überwinden könnte? Eine schöpferische Pause, sozusagen?«

Keine Antwort.

»Hast du mich verstanden?«

»Natürlich habe ich dich verstanden. Ich bin ja nicht taub. Eine schöpferische Pause aus eigener Kraft überwinden, oder so ähnlich.«

»Nun?«

»Wie war’s mit einer Bonbonnière?«

»Wieso?«

»Das schaut nach etwas aus und ist nicht übermäßig teuer, findest du nicht auch?«

»Ob ich’s finde oder nicht — mein Problem ist damit nicht gelöst, Liebling. Wenn ich für ein bis zwei Jahre zu schreiben aufhöre, oder vielleicht für drei — womit soll ich mich dann beschäftigen? Womit soll ich das intellektuelle Vakuum ausfüllen, das in mir entstehen wird? Womit?«

Jetzt wurden die cremebedeckten Wangen einer Reihe von leichten Massage-Schlägen ausgesetzt, aus deren Rhythmus man mit ein wenig Phantasie das Wort »Kindergärtnerin« heraushören konnte.

»Hörst du mir zu?« fragte ich abermals.

»Frag mich nicht ununterbrochen, ob ich dir zuhöre. Natürlich höre ich dir zu. Was bleibt mir schon übrig. Du sprichst ja laut genug.«

»So. Und wovon habe ich jetzt gesprochen?«

»Von der Beschäftigung mit einem Vakuum, das du intellektuell ausfüllen willst.«

Sie hat tatsächlich jedes Wort behalten. Ich nahm den Faden wieder auf.

»Vielleicht sollte ich’s mit der Malerei versuchen? Oder mit der Musik? Nur für den Anfang. Gewissermaßen als Übergang.«

»Ja, meinetwegen.«

»Ich könnte natürlich auch auf die Wasserbüffel-Jagd gehen oder Reißnägel sammeln.«

»Warum nicht.«

Ein Löschpapier über die ziegelrote Creme, künstliche Wimpern unter die Augenbrauen, und dann ihre Stimme:

»Man muß sich das genau überlegen.«

Darauf wußte ich nichts zu sagen.

»Warum sagst du nichts, Ephraim?«

»Meiner Meinung nach ist es höchste Zeit, die Leiche unserer Waschfrau auszugraben und sie in den grünen Koffer zu sperren… Hast du mir zugehört?«

»Die Leiche der Waschfrau in den Koffer sperren.«

So leicht ist meine kleine Frau nicht zu beeindrucken. Jetzt bürstet sie mit einem winzigen, selbstverständlich aus dem Ausland importierten Bürstchen ihre Augenlider. Ich unternehme einen letzten Versuch.

»Wenn sie kinderliebend ist, die Tiergärtnerin, dann könnten wir ihr ein Zebrapony schenken.«

Auch das ging ins Leere. Meine Gesprächspartnerin stellte das Radio an und sagte:

»Keine schlechte Idee.«

»In diesem Fall«, schloß ich ab, »laufe ich jetzt rasch hinüber zu meiner Lieblingskonkubine und bleibe über Nacht bei ihr.«

»Ja, ich höre. Du bleibst über Nacht.«

»Also?«

»Wenn ich’s mir richtig überlege, kaufen wir ihr doch besser eine Vase als eine Bonbonnière. Kindergärtnerinnen lieben Blumen.«

Damit verfügte sich die beste Ehefrau von allen ins Badezimmer, um sich von der Gesichtspflege zu reinigen.

Ich werde wohl noch eine Zeitlang schreiben müssen.

Der Dollar beruht auf dem Goldstandard, der Rubel auf der Geheimpolizei, das Israelische Pfund auf den Arabern. Das heißt: es beruht auf der Tatsache, daß unser Finanzminister, solange die Araber auf uns schießen, nichts dergleichen tut. Wenn es sich ab und zu ergibt, daß die Kampfhandlungen eine Zeitlang ruhen, erscheint am Horizont sogleich das Gespenst der Inflation. Leider müssen wir feststellen, daß der Staat Israel schon seit Jahren von keiner Inflation bedroht wird.

Elefantiasis

Das Parlament trat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Gegenstand der hitzigen Debatte war — wie könnte es anders sein die Frage, ob die Klagemauer »Klagemauer« heißen sollte oder »Südliche Mauer«.

»Jetzt«, bemerkte Frau Kalaniot, »wäre eine gute Zeit, Elefanten zu kaufen.«

»Warum gerade jetzt?« fragte ich.

»Weil«, antwortete Frau Kalaniot, »der Preis noch unverändert ist. Sechs Pfund das Kilo, dazu 72% Umsatzsteuer und 85% Zoll. Wenn ich Geld hätte, würde ich sofort einen Elefanten kaufen.«

Ich versuchte zu widersprechen, aber Felix Seelig fiel mir ins Wort:

»Und dann wundert man sich, warum die Nachfrage nach Elefanten den Lebenskosten-Index in die Höhe treibt. Nur weil das Kilo Elefant noch immer so viel kostet wie vor der Abwertung, müssen wir über kurz oder lang für alles andere doppelt so viel bezahlen.«

Ziegler stieß ein gellendes Lachen aus:

»Elefanten kaufen! Was für ein Unsinn. Wirklich, Kinder, manchmal habe ich das Gefühl, daß ihr alle verrückt seid. Elefanten! Welcher vernünftige Mensch kauft heute irgend etwas, das nicht aus einem der Länder mit harter Währung kommt? Die Elefanten sind bekanntlich nicht mit der Dollarzone assoziiert, und deshalb besteht keine Aussicht, daß ihr Preis jemals steigen wird.«

»Und wenn er trotzdem steigt?« fragte ich. »Man muß bedenken, daß ein Elefant nur so lange eine günstige Investition darstellt, als er wenig kostet. Wenn er teurer wird, ist er wertlos, weil man ihn nicht mehr verkaufen kann, sobald keine Aussicht besteht, daß sein Preis steigen wird.«

Ich hatte das Gefühl, daß man meine lichtvollen Ausführungen nicht ganz verstand. Die Runde zerstreute sich.

Zu Hause berichtete ich meiner Frau über das Elefantenproblem.

»Kaufen wir einen«, sagte sie. »Nur um sicherzugehen.«

Ich suchte Lubliners Tierhandlung auf und verlangte einen Elefanten.

»Ausverkauft«, antwortete Lubliner ohne mit der Wimper zu zucken.

Ich ließ mich nicht so leicht abweisen und hielt unauffällig Nachschau. Richtig: in einer dunklen Ecke, hinter einem Papageienkäfig, stand ein Elefant.

»Und was ist das?« fragte ich anzüglich.

Lubliner errötete und versuchte sich darauf auszureden, daß es zu seinen Geschäftsprinzipien gehörte, immer mindestens ein Exemplar von jeder Gattung verfügbar zu haben.

»Wenn ich heute verkaufe — wer weiß, was ich morgen für die Nachlieferung zahlen muß. Zwei Elefanten warten auf mich unter Zollverschluß und ich kann sie nicht herausbekommen. Die Regierung verlangt einen Zollzuschlag, weil der Elefantenpreis in die Höhe gehen wird, wenn sie einen Zollzuschlag verlangt.«

Ich verließ Lubliner mit leeren Händen. Offen gestanden: es tat mir nicht besonders leid. Ich habe bisher ohne einen Elefanten gelebt und werde auch weiter ohne einen Elefanten leben können.

Und was sehe ich plötzlich in einer Seitenstraße des Rothschild-Boulevards? Wer kommt mir da entgegen? Ziegler mit einem Elefanten an der Leine.

Ich trete auf ihn zu:

»Woher hast du den Elefanten?« frage ich.

»Welchen Elefanten?« fragt Ziegler.

»Den hinter dir.«

»Ach, den.« Ziegler beginnt zu stottern. »Der gehört nicht mir. Mein Cousin ist auf Waffenübung und hat mich gebeten, das arme Tier spazierenzuführen.«

Das klang höchst unglaubwürdig. Seit wann führt man einen Elefanten spazieren? Ein Elefant ist ja kein Hund.

Die beste Ehefrau von allen war der gleichen Ansicht, als ich ihr davon erzählte.

»Auch bei uns im Haus stimmt etwas nicht«, fügt sie hinzu. »Seit gestern höre ich aus der Wohnung der Kalaniots ein merkwürdiges Geräusch. Klingt wie ein Trompeten. Die haben sicherlich in der Zeitung gelesen, daß die Einfuhrgebühr für Elefanten erhöht werden soll.«

Ich nickte betreten und betrübt. Es ist nicht angenehm zu wissen, daß jedermann im Umkreis etwas unternimmt, und nur man selbst steht da und läßt sich von der Entwicklung überrennen.

In der Nacht hörten wir gedämpftes Trampeln im Treppenhaus. Wir lugten durch den Gucker: Erna Seelig und ihr Mann stiegen auf Zehenspitzen zu ihrer Wohnung hinauf, zwei Elefanten im Schlepptau.

Als wir am nächsten Morgen die Zeitung öffneten, wurde uns alles klar: »Regierung untersucht Preiskartellbildung für Elefantenstoßzähne«, lautete eine balkendicke Überschrift.

Das also war’s! Die beste Ehefrau von allen nahm sich erst gar nicht die Mühe, ihren Zorn zu verhehlen.

»Geh und mach was!« rief sie mir zu. »Und daß du mir ja nicht ohne einen Elefanten nach Hause kommst! Jeder Idiot weiß, was er zu tun hat, nur du nicht…«

Gegen Abend gelang es mir tatsächlich, einen preisgünstigen Elefanten zu erstehen. Ich kaufte ihn einem Neueinwanderer ab, der noch Steuerfreiheit genoß.

Der Elefant konnte sich nur mit Mühe durch das Haustor zwängen, das in den letzten Tagen merklich niedriger geworden war. Vermutlich lag das an den Elefanten. Fast jedes Stockwerk hatte mindestens einen aufzuweisen, und alle zusammen drückten das Mauerwerk nach unten. Im übrigen mußten wir sehr behutsam vorgehen, um den Verkäufer nicht noch nachträglich zu gefährden. Neueinwanderer dürfen ihre Elefanten frühestens nach Ablauf eines Jahres verkaufen.

Wir gingen zu Bett, fröhlich wie noch nie seit der Abwertung des Israelischen Pfunds.

Am nächsten Morgen stürzte das Haus ein. Aus den Trümmern arbeiteten sich elf Elefanten hervor und rasten in wildem Galopp durch die Straßen. Die Experten behaupten, dies hätte sich vermeiden lassen, wenn die Elefanten an den Index gebunden wären.

Alles auf der Welt hat seinen Preis. Auch die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines Landes.

Unsere Sympathie für Elefanten rührt daher, daß wir eine kleine, um ihre Existenz kämpfende Nation — instinktiv die Partei des Schwächeren ergreifen. Wir stellen dabei nur eine einzige Bedingung: der Schwächere muß zimmerrein sein.

Wohin das Hündchen will

Zwinji, ein Wechselbalg aus der mongolischen Steppe, wurde eines frostigen Morgens in meinem damals noch sehr gepflegten Garten von mir entdeckt. Es mochte etwa fünf Uhr sein, eine Zeit, zu der die meisten Menschen noch schlafen — mit Ausnahme der Politiker, die sehr früh aufstehen müssen, sonst dreht sich das Rad der Geschichte nicht weiter. Um diese trübe Morgenstunde also hörte ich draußen vor dem Fenster ein leises, verzweifeltes Winseln. Ich zog die Vorhänge beiseite und blinzelte mit schlafverhangenen Augen hinaus. In der Mitte meines — ich wiederhole: damals sehr gepflegten — Gartens sah ich ein sehr kleines Hündchen, das mit sehr kleinen Pfötchen den Garten umgrub und mit sehr großem Appetit das umstehende Gras verzehrte. Das Hündchen war nicht nur sehr klein und sehr weiß, es war auch von sehr unbestimmbarer Rasse und völlig außerstande, seine vier Beine miteinander zu koordinieren.

Ich wollte die Vorhänge wieder zuziehen, um mich ins warme Bettchen zurückzubegeben, aber da war die beste Ehefrau von allen schon aufgewacht und fragte:

»Was ist los?«

»Junges vom Hund«, antwortete ich mißmutig.

»Lebt es?«

»Ja.«

»Dann laß es herein.«

Ich öffnete die Tür zum Garten. Das sehr junge Hündchen trottete in unser Schlafzimmer und pinkelte auf den roten Teppich.

An dieser Stelle möchte ich bemerken, daß ich meine Teppiche nur ungern anpinkeln lasse. Deshalb ergriff ich das kleine weiße Bündel und setzte es im Garten wieder ab. Meine stille Hoffnung war, daß Er, der die Vögel des Waldes ernährt, sich auch um die Hündchen des Gartens kümmern würde.

Er kümmerte sich nicht. Vielmehr stimmte das Hündchen ein durchdringendes Jaulen und Jammern an, was zur Folge hatte, daß aus dem Nachbarhaus Frau Kaminski im Morgenrock herbeigeeilt kam. Nun ist Frau Kaminski im Morgenrock kein besonders schöner Anblick, und was sie uns zu sagen hatte, war auch nicht besonders schön. Das änderte sich jedoch, als ihr Blick auf die Ursache des morgendlichen Lärms gefallen war. In wohlgesetzter Rede versuchte Frau Kaminski uns zu überzeugen, daß wir die kleine Waise unbedingt adoptieren müßten. Sie versäumte nicht, auf die wenig bekannte Tatsache hinzuweisen, daß der Hund ein treues Tier sei, und nicht nur treu, sondern auch klug und reinlich. Man könnte, wie Frau Kaminski ruhig sagte, ruhig sagen: der Hund ist der beste Freund des Menschen; abgesehen, vielleicht, von der Regierung.

»Wenn das alles so ist, Frau Kaminski«, erlaubte ich mir einzuwerfen, »warum adoptieren Sie den kleinen Hund nicht selbst?«

»Bin ich meschugge?« replizierte die Hundeliebhaberin. »Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte?«

So kam es, daß wir das sehr kleine, sehr junge Hündchen adoptierten. Ein sofort einberufener Familienrat beschloß nach lebhafter Debatte zwischen meiner Frau und mir, dem sehr jungen, sehr kleinen Hündchen den Namen Zwinji zu geben, wegen seiner gesprenkelten Ohren, oder weil es irgendwie nach mongolischer Steppe klang, oder vielleicht aus anderen Gründen, ich erinnere mich nicht mehr.

Zwinji fühlte sich bei uns alsbald wie zu Hause und stahl sich in unsere Herzen. Er war leicht zu verköstigen, weil er alles fraß, was in seine Reichweite kam, Knöpfe, Spagat, Armbanduhren, alles mögliche. Auch liebte er es, kleinere Kadaver aus Nachbars Garten in den unseren zu tragen. Er war uns in rührender Anhänglichkeit zugetan und wedelte mit seinem kurzen Schweifchen vor lauter Freude jedesmal, wenn wir ihn riefen, vorausgesetzt, daß er in unserer Hand eine ungarische Salami sah. In erstaunlich kurzer Zeit hatte ich ihm beigebracht, meinen Befehlen zu gehorchen. Dafür nur einige Beispiele:

»Sitz!« (Zwinji spitzt die Ohren und leckt mein Gesicht.)

»Spring!« (Zwinji kratzt sich den Bauch.)

»Gib’s Pfötchen!« (Zwinji rührt sich nicht.)

Ich könnte noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele anführen, aber schon aus den bisherigen geht hervor, daß Zwinji kein blödsinnig dressierter, serviler, mechanisch gehorchender Hund war, sondern ein unabhängiges, selbständig denkendes Lebewesen.

Nur schade, daß er immer auf den Teppich pinkelte.

Er pinkelte immer, und nur auf den Teppich.

Warum? Ich weiß es nicht. Nach den Erkenntnissen der neueren Tiefenpsychologie wäre anzunehmen, daß diese unglückselige Gewohnheit auf ein traumatisches Kindheitserlebnis zurückginge oder auf etwas noch Früheres. Vielleicht ist Zwinji in einem Mohnfeld auf die Welt gekommen und muß deshalb pinkeln, sobald er einen roten Teppich sieht, für den ich ein Vermögen gezahlt habe. Im übrigen bleiben die Ursachen unwesentlich und die Flecken bleiben Flecken.

Ich wollte mich mit Zwinjis sonderbaren Pinkelgewohnheiten nicht abfinden und begann mein wohldurchdachtes Erziehungswerk:

»Es ist verboten, auf den Teppich zu pinkeln«, sagte ich ihm langsam und deutlich, mit lehrhaft erhobenem Finger. »Verboten, hörst du? Verboten! Pfui!« Und nach jedem Zuwiderhandeln wurde meine Stimme strenger und mein Finger erhobener. Andererseits überschüttete ich ihn mit Lob, Liebkosungen und Leckerbissen, wenn er sein Geschäft einmal irrtümlich im Ziergarten vollzog, der auch damals noch einigermaßen gepflegt aussah und erst nach und nach, unter der Einwirkung von Zwinjis kräftig wachsenden Zähnen, zu verwildern begann.

Wahrscheinlich zog Zwinji aus meinen abwechslungsreichen Verhalten den Schluß, daß diese zweibeinigen, bald wütenden und bald zärtlichen Geschöpfe, mit denen er’s zu tun hatte, sehr launenhaft sein müßten… Wer kennt sich mit den Menschen schon aus.

Da Zwinji nicht imstande war, die primitivsten Gesetze der Hygiene zu begreifen und zu befolgen, mußte ich mir immer neue, immer raffiniertere Erziehungsmaßnahmen einfallen lassen. Ich legte mir eine Art Eskalation zurecht. Als erstes würde ich ihn daran gewöhnen, nicht auf rote Teppiche zu pinkeln, sondern auf andersfarbige, und dann würde ich ihn aus dem Haus locken, so daß er sein Bedürfnis im Freien verrichten könnte, vorzugsweise in den benachbarten Gärten.

Mit diesem Ziel vor Augen bedeckte ich unseren roten Teppich mit einem grauen und stellte für jedes graue Pipi eine Bratwurst als Prämie bereit.

Nach etwa zwei Wochen, in denen Zwinji sich an den grauen Teppich gewöhnt hatte, legte ich den roten wieder bloß. Zwinji, der sich gerade im Garten befand, kam freudig bellend herbeigesaust und pinkelte auf den roten Teppich. Hunde sind bekanntlich treu.

Natürlich war mein Vorrat an Pädagogik noch lange nicht erschöpft. Ich beschloß, in Zwinjis Herzen die Liebe zur Natur zu wecken, kaufte eine lange, grüne Leine und ging mit ihm allnächtlich nach Petach-Tikvah. Ein schöner Spaziergang durch eine schöne Gegend, zumal im Mondschein. Zwinji bewahrte während des ganzen Wegs bewundernswerte Zurückhaltung. Erst kurz vor unserem Haus wurde er unruhig, und kaum hatte ich die Tür geöffnet, machte er einen Satz auf den roten Teppich, wo er sofort in Aktion trat.

Mit der Zeit begann ich mich zu fragen, warum das alles denn sein müßte und warum ich’s mir eigentlich gefallen ließ.

Ich brachte das Problem auch meiner Frau gegenüber zur Sprache. Sie verwies mich auf den französischen Philosophen Rousseau, der bekanntlich die These aufgestellt hat, daß alles, was natürlich ist, auch schön sei. Mit anderen Worten: es war natürlich, daß Zwinji immer nur auf den Teppich pinkelte.

Was aber tat die Natur in ihrer grenzenlosen Weisheit?

Eines Morgens, als Frau Kaminski wieder einmal mit einigen Knochen für den Hund herüberkam, erzählte ich ihr von Zwinjis hygienischen Schwierigkeiten und bekam folgendes von ihr zu hören:

»Weil Sie ihn schlecht erzogen haben. Weil Sie nicht wissen, wie man mit Hunden umgeht. Weil Sie ihn falsch behandeln. Sie müssen jedesmal, wenn er den roten Teppich benützt, müssen Sie ihm jedesmal die Schnauze hineinstecken, dann müssen Sie ihm einen Klaps geben und ihn zum Fenster hinauswerfen. So macht man das.«

Obwohl ich kein Freund körperlicher Züchtigung bin, machte ich es so. Zwinji kam, sah und pinkelte — ich steckte seine Schnauze hinein, gab ihm einen Klaps und warf ihn zum Fenster hinaus. Die Prozedur wiederholte sich mehrmals am Tag, aber ich ließ nicht locker. Es war mein Lebensehrgeiz geworden, Zwinji seine schlechten Pinkelsitten abzugewöhnen.

Langsam, sehr langsam, begannen sich die Früchte meiner Geduld zu zeigen. Zwinji hat sich doch manches gemerkt und manches abgewöhnt. Ich stelle das nicht ohne Genugtuung fest.

Gewiß, er pinkelt noch immer auf den roten Teppich — aber nachher springt er ganz von selbst aus dem Fenster, ohne die geringste Hilfe von meiner Seite, und wartet draußen auf mein Lob und meine Leckerbissen.

Immerhin ein Teilerfolg.

Nicht nur heimliche Elefanten und pinkelfreudige Hunde, auch anspruchsvolle Katzen genießen die Zuneigung des israelischen Bürgers. Und auch diese Zuneigung wird ihm schlecht gelohnt.

Ein Fläschchen fürs Kätzchen

Wir alle haben unsere Schwächen. Manche von uns trinken, manche sind dem Spielteufel verfallen, manche sind Mädchenjäger oder Finanzminister. Meine Frau, die beste Ehefrau von allen, ist Katzenliebhaberin. Die Katzen, die sie liebhat, sind aber keine reinrassigen Edelprodukte aus Siam oder Angora, sondern ganz gewöhnliche, ja geradezu ordinäre kleine Biester, die in den Straßen umherstreunen und durch klägliches Miauen kundtun, daß sie sich verlassen fühlen. Sobald die beste Ehefrau von allen eine dieser armseligen Kreaturen erspäht, bricht ihr das Herz, Tränen stürzen ihr aus den Augen, sie preßt das arme kleine Ding an sich, bringt es mit nach Hause und umgibt es mit Liebe, Sorgfalt und Milch. Bis zum nächsten Morgen.

Am nächsten Morgen ist ihr das alles schon viel zu langweilig.

Am nächsten Morgen spricht sie zu ihrem Gatten wie folgt:

»Möchtest du mir nicht wenigstens ein paar Kleinigkeiten abnehmen? Ich kann nicht alles allein machen. Rühr dich gefälligst.«

Und so geschah es auch mit Pussy. Sie hatte Pussy tags zuvor an einer Straßenecke entdeckt und ohne Zögern adoptiert. Zu Hause stellte sie sofort einen großen Teller mit süßer Milch vor Pussy hin und schickte sich an, mit mütterlicher Befriedigung zuzuschauen, wie Pussy den Teller leerlecken würde.

Pussy tat nichts dergleichen. Sie schnupperte nur ganz kurz an der Milch und drehte sich wieder um.

Fassungslos sah es die Adoptivmama. Wenn Pussy keine Milch nähme, würde sie ja verhungern. Es mußte sofort etwas geschehen. Aber was?

Im Verlauf der nun einsetzenden Beratung entdeckten wir, daß Pussy zur großen, glücklichen Familie der Säugetiere gehörte und folglich die Milch aus einer Flasche eingeflößt bekommen könnte.

»Das trifft sich gut«, sagte ich. »Wir haben ja für unseren Zweitgeborenen, das Knäblein Amir, nicht weniger als acht sterilisierte Milchfläschchen im Hause, und —«

»Was fällt dir ein?! Die Milchflaschen unseres Amirlein für eine Katze?! Geh sofort hinunter in die Apotheke und kauf ein Schnullerfläschchen für Pussy!«

»Das kannst du nicht von mir verlangen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich mich schäme. Ein erwachsener Mensch, noch dazu ein anerkannter Schriftsteller, den man in der ganzen Gegend auch persönlich kennt, kann doch unmöglich in eine Apotheke gehen und ein Schnullerfläschchen für eine Katze verlangen.«

»Papperlapapp«, replizierte meine Gattin. »Nun geh schon endlich.«

Ich ging, mit dem festen Entschluß, die wahre Bestimmung des Fläschchens geheimzuhalten.

»Ein Milchfläschchen, bitte«, sagte ich dem Apotheker.

»Wie geht es dem kleinen Amir?« fragte er.

»Danke gut. Er wiegt bereits zwölf Pfund.«

»Großartig. Was für eine Flasche soll es denn sein?«

»Die billigste«, sagte ich.

Ringsum entstand ein ominöses Schweigen. Die Menschen, die sich im Laden befanden — es waren ihrer fünf oder sechs —, rückten deutlich von mir ab und betrachteten mich aus feindselig geschlitzten Augen. »Seht ihn euch nur an, den Kerl«, bedeuteten ihre Blicke. »Gut gekleidet, Brillenträger, fährt ein großes Auto — aber für seinen kleinen Sohn kauft er die billigste Flasche. Es ist eine Schande.«

Auch vom Gesicht des Apothekers war das freundliche Lächeln verschwunden:

»Wie Sie wünschen«, sagte er steif. »Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß diese billigen Flaschen sehr leicht zerbrechen.«

»Macht nichts«, antwortete ich leichthin. »Dann leime ich sie wieder zusammen.«

Der Apotheker wandte sich achselzuckend ab und kam mit einer größeren Auswahl von Milchflaschen zurück. Es waren lauter Prachterzeugnisse der internationalen Milchflaschen-Industrie. Nur ganz am Ende des Assortements, schamhaft versteckt, lag ein kleines, häßliches, schäbiges Fläschchen in Braun.

Ich nahm alle Kraft zusammen:

»Geben Sie mir das braune.«

Das abermals entstandene Schweigen, noch ominöser als das erste, wurde von einer dicklichen Dame unterbrochen:

»Es geht mich nichts an«, sagte sie, »und ich will mich nicht in Ihre Privatangelegenheiten mischen. Aber Sie sollten sich das doch noch einmal überlegen. Ein Kind ist der größte Schatz, den Gott uns schenken kann. Wenn Sie so schlecht dran sind, mein Herr, daß Sie sparen müssen, dann sparen Sie überall anders, nur nicht an Ihrem kleinen Sohn. Für ein Kind ist das Beste gerade gut genug. Glauben Sie einer mehrfachen Mutter!«

Ich tat, als hätte ich nichts gehört, und erkundigte mich nach den Preisen der verschiedenen Flaschen. Sie rangierten zwischen 5 und 8 Israelischen Pfunden. Die braune, auf die meine Wahl gefallen war, kostete nur 35 Aguroth.

»Mein kleiner Bub ist sehr temperamentvoll«, sagte ich ein wenig stotternd. »Ein rechtes Teufelchen. Zerschlägt alles, was ihm in die Hände kommt. Es wäre ganz sinnlos, eine teure Flasche für ihn zu kaufen. Er ruiniert sie sofort.«

»Warum sollte er?« fragte der Apotheker. »Wenn Sie sein kleines Köpfchen mit der linken Hand vom Nacken aus stützen… sehen Sie: so… während Sie ihm mit der rechten Hand die Milch einflößen, ist alles in Ordnung. Oder scheint Ihnen das nicht der Mühe wert?«

Vor meinem geistigen Auge erschien Pussy, in sauberen Windeln gegen meine linke Hand gestützt und begehrlich nach dem Fläschchen schnappend. Ich schüttelte den Kopf, um das Spukbild zu vertreiben.

»Sie wissen wohl nicht, wie man ein Kleinkind behandelt?« ließ die dicke mehrfache Mutter sich vernehmen. »Ja, ja, die jungen Ehepaare von heute… Aber dann sollten Sie wenigstens eine Nurse haben. Haben Sie eine Nurse?«

»Nein… das heißt…«

»Ich werde Ihnen eine sehr gute Nurse verschaffen!« entschied die Dicke. »So, wie Sie Ihr Baby behandeln, kriegt es ja einen Schock fürs ganze Leben… warten Sie… ich habe zufällig die Telefonnummer bei mir…« Und schon war meine Wohltäterin am Telefon, um eine Nurse für mich zu engagieren. Verzweifelt sah ich mich um. Die Ausgangstür war nur drei Meter von mir entfernt. Hätten die beiden untersetzten Männergestalten, die meinen Blick offenbar bemerkt hatten, nicht die Tür blockiert, dann wäre ich mit einem Satz draußen gewesen und heulend im Nebel verschwunden. Aber es war zu spät.

»Sie sollten der Dame dankbar sein«, empfahl mir der Apotheker. »Sie hat vier Kinder und alle sind bei bester Gesundheit. Verlassen Sie sich drauf: sie verschafft Ihnen eine ausgezeichnete Nurse, die den kleinen Amir von seinen nervösen Zuständen heilen wird.«

Ich darf bei dieser Gelegenheit einflechten, daß mein zweitgeborener Sohn Amir das normalste Kind im ganzen Nahen Osten ist und keinerlei »Zustände« hat, von denen ihn irgend jemand heilen müßte. Es blieb mir nur noch die Hoffnung, daß die geschulte Nurse am andern Ende des Telefons nicht zu Hause wäre.

Sie war zu Hause. Die feiste Madame, die sich nicht in meine Privatangelegenheiten mischen wollte, teilte mir triumphierend mit, daß Fräulein Mirjam Kussevitzky, diplomierte Nurse, bereit wäre, morgen bei mir vorzusprechen. »Paßt Ihnen elf Uhr vormittag?« fragte das Monstrum.

»Nein«, antwortete ich, »da habe ich zu tun.«

»Und um eins?«

»Fechtstunde.«

»Auch Ihre Frau?«

»Auch meine Frau.«

»Dann vielleicht um zwei?«

»Da schlafen wir.«

»Um vier?«

»Da schlafen wir noch immer. Fechten macht müde.«

»Sechs?«

»Um sechs erwarten wir Gäste.«

»Acht?«

»Um acht gehen wir ins Museum.«

»Das hat man davon, wenn man jemandem uneigennützig helfen will!« rief die uneigennützige Helferin mit zornbebender Stimme und schmiß den Hörer hin. »Dabei hätte Ihnen dieser Informationsbesuch keine Kosten verursacht, wie Sie in Ihrem Geiz wahrscheinlich befürchten. Es ist wirklich unerhört.«

Ein leichter Schaum trat auf ihre Lippen. Die übrigen Anwesenden zogen einen stählernen Ring um mich. Es sah bedrohlich nach Lynchjustiz aus.

Aus dem Hintergrund kam die eisige Stimme des Apothekers:

»Soll ich Ihnen also die braune Flasche einpacken? Die billigste?«

Ich bahnte mir den Weg zu ihm und nickte ein stummes Ja. Insgeheim gelobte ich, wenn ich gesund und lebendig von hier wegkäme, ein Waisenhaus für verlassene Katzen zu stiften.

Der Apotheker unternahm einen letzten Bekehrungsversuch:

»Sehen Sie sich doch nur diesen billigen Gummiverschluß an, oben auf der Flasche. Er ist von so schlechter Qualität, daß er sich schon nach kurzem Gebrauch ausdehnt. Das Kind kann Gott behüte daran ersticken.«

»Na wenn schon«, erwiderte ich mit letzter Kraft. »Dann machen wir eben ein neues.«

Aus dem drohenden Ring, der mich jetzt wieder umgab, löste sich ein vierschrötiger Geselle, trat auf mich zu und packte mich am Rockaufschlag.

»Sind Sie sich darüber klar«, brüllte er mir ins Gesicht, »daß man mit diesen billigen Flaschen keine Babies füttert, sondern Katzen?!«

Das war zuviel. Ich war am Ende meiner Widerstandskraft.

»Geben Sie mir die beste Flasche, die Sie haben«, hauchte ich dem Apotheker zu.

Ich verließ den Laden mit einer sogenannten »Super-Pyrex«-Babyflasche, der eine genaue Zeit- und Quantitätstabelle beilag, sowie ein Garantieschein für zwei Jahre und ein anderer gegen Feuer-, Wasser- und Erdbebenschaden. Preis: 8,50 Pfund.

»Warum, du Idiot«, fragte die beste Ehefrau von allen, als ich die Kostbarkeit ausgepackt hatte, »warum mußtest du die teuerste Flasche kaufen?«

»Weil ein verantwortungsbewußter Mann an allem sparen darf, nur nicht an seinen Katzen«, erwiderte ich.

So komisch es klingt: beinahe jeder erwachsene Mensch ist irgendwann einmal ein Kind gewesen. Dem Autor dieser Geschichte widerfährt etwas noch Komischeres: seit seine eigenen Kinder erwachsen werden, verwandelt er sich selbst wieder in ein Kind

Das Geheimnis der Redekunst

Es verstand sich von selbst, daß wir über die Feiertage an den Tiberias-See fahren würden, die ganze Familie. Pappi saß am Steuer, die beste Ehefrau von allen saß neben ihm und döste, die Knaben Rafi und Amir betätigten sich im Fond als Tierstimmen-Imitatoren. Als sie bei der Hyäne angelangt waren, bat ich um Ruhe.

Sie blieb nur für eine kurze Weile gewahrt. Dann schlug Amir seinem älteren Bruder vor, das Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß-Spiel zu spielen.

»Laß mich in Ruh«, sagte Rafi. »Das ist ein Spiel für kleine Kinder.«

Amir, in seiner Eigenschaft als kleines Kind, begann zu heulen.

Ich griff beruhigend ein:

»Gut, gut, gut. Pappi wird mit euch dieses… na, wie heißt es denn… also dieses Spiel spielen.«

»Es heißt das Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß-Spiel«, belehrte mich Amir und gab mir die Spielregeln bekannt.

»Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß. Du darfst keines dieser Wörter gebrauchen. Wenn du trotzdem eines gebrauchst, bist du ein Idiot. Es ist ein sehr hübsches Spiel.« Wir fingen an.

»Bist du bereit?« fragte mein Sohn.

»Ja«, antwortete ich — und hatte damit auch schon den ersten Punkt verloren.

»Idiot«, sagte Amir und wiederholte die verhängnisvolle Frage: »Du bist also bereit?«

»Vollkommen.«

Mit diabolischem Scharfblick hatte ich die Falle erkannt und vermieden.

»Ist Amir ein schönes Kind?« fragte lauernd mein Sohn. »Möglich.«

»So kann man nicht spielen«, tadelte Amir. »Du mußt in ganzen Sätzen antworten.«

»Gut. Also: es sieht ganz danach aus, als wärest du ein schönes Kind, Amir, mein Sohn.«

»Was für eine Farbe hat der Schnee?«

Das war abermals eine Falle, und ich wußte ihr abermals zu entgehen: »Der Schnee hat eine außerordentlich helle Farbe.«

Jetzt versuchte es Amir auf andre Weise:

»Möchtest du gerne singen?«

Ohne Zweifel erwartete er eine Antwort, in der zumindest das Wörtchen »ich« vorkäme. Nun, da hatte er sich verrechnet.

»Es bereitet mir kein Vergnügen, dich zu enttäuschen«, sagte ich. »Aber meine Stimme ist leider nicht so geartet, daß sie sich zum Singen eignen würde.«

»Warum sprichst du so langsam?«

»Im allgemeinen ist das nicht meine Gewohnheit. Im vorliegenden Fall jedoch erscheint es mir als der einzige Weg, die von euch gestellten Fallen zu umgehen.«

»In Ordnung, Pappi. Du hast das Spiel erlernt.«

»Allerdings. Niemand wird bestreiten, daß meine Bemühungen um die Bewältigung der Schwierigkeit, auf bestimmte Wörter zu verzichten, sich als erfolgreich erwiesen haben.«

»Welche Wörter meinst du?« Amir unternahm einen letzten, verzweifelten Ausfall.

»Es handelt sich um bestimmte Schlüsselwörter, die auf Grund einer für alle Beteiligten bindenden Übereinkunft von mir nicht verwendet werden dürfen, um meinen Partnern keine Gelegenheit zu bieten, mich als Verlierer zu bezeichnen. Wie sich zeigt, hat die Fähigkeit meines Intellekts, sich an gegebene Umstände anzupassen, das gewünschte Resultat gezeitigt, sie ist sogar, so darf man füglich annehmen, bereits zu einem integralen Bestandteil meines geistigen Habitus geworden, ohne meine rhetorischen Qualitäten nachteilig zu beeinflussen…«

Ich verstummte. Ein Schauer des Entsetzens kroch meinen Rücken hoch. Was für eine Ausdrucksweise war das? Woher kannte ich sie? Wer sprach da aus meiner Kehle? Nein! Um Gottes willen: nein!

Es war — und der Wagen wäre fast ins Schleudern geraten, als mir das innewurde — es war Abba Eban.

Genau so spricht er, unser Außenminister. Genau mit dieser Technik ist er in den Ruf gekommen, einer der größten lebenden Redner zu sein, genau damit beeindruckt er die Generalversammlung der Vereinten Nationen: mit Amirs Ja-Nein-Ich-Schwarz-Weiß-Spiel.

Zugegeben: er beherrscht die Regeln des Spiels ganz hervorragend.

Wenn im Fernsehen ein Wildwestfilm gezeigt wird, sieht man immer einen Bösen, der einen Guten tückisch niederschießt. In unserer eigenen orientalischen Wildwestsituation weigert sich der Gute, dem Bösen entgegenzukommen und sich von ihm erschießen zu lassen. Seither gilt er als der Böse, und das ist gut. Sogar im britischen Fernsehen.

Die Guten und die Bösen

Wenn Sie ein Fernsehreporter, ein Freund des Vorderen Orients und ein richtiger Engländer sind, brauche ich Ihnen nichts über den Begriff der Fairness zu erzählen und nichts über das noble englische Prinzip, immer und unter allen Umständen unparteiisch zu bleiben. Wie sehr es Sie auch locken mag, aus jenem sportlichen Geist, der für Ihr Volk so typisch ist, die Partei des Schwächeren zu ergreifen — Sie werden sich nie dazu hergeben, Ägypten, Jordanien, Irak, Syrien, Saudi-Arabien, Kuweit, Algerien, Marokko, Libyen, den Sudan und Süd-Jemen offen zu unterstützen. Vielmehr erblicken Sie Ihre Aufgabe darin, dem britischen Fernsehpublikum die nüchternen Tatsachen zu präsentieren — und die Schlußfolgerungen dem persönlichen Urteil des Betrachters zu überlassen. Daher ist es unumgänglich geboten, daß Sie in Ihren Fernseh-Reportagen die Zustände auf beiden Seiten der Waffenstillstandslinie zeigen, ohne jedes Vorurteil, ohne zu manipulieren, von nichts anderem geleitet als vom Streben nach objektiver Berichterstattung.

Das darf Sie natürlich nicht hindern, jede sich bietende Gelegenheit zu eindrucksvollen Effekten und Kontrasten wahrzunehmen. Zum Beispiel könnten Sie die dramatische Situation im Nahen Osten auf folgende Weise aufrollen:

Ein paar armselige, halb zerfallene Zelte inmitten der Wüste. Da und dort heulen hungrige Schakale durch den Sandsturm. Die gebückte Gestalt eines greisen Arabers tappt zwischen den Zelten umher, an der Hand seine kleine Enkeltochter. Das Kind weint. Kurz vor der Kamera bleibt das bejammernswerte Paar stehen. Eine lähmende Minute lang sieht man nichts als den stummen, unendlich traurigen Blick der beiden Augenpaare.

Schnitt.

Ein Sommerhaus in Herzliah, Israel. Auf dem gepflegten Rasen des luxuriösen Gartens spielen wohlgenährte, gutgekleidete jüdische Kinder. Ihr Lachen klingt durch das ganze Villenviertel… Zwar könnten Sie auch die Kinder eines Grenz-Kibbuz zeigen, die jede Nacht im Bunker schlafen müssen, weil der Kibbuz jede Nacht beschossen wird. Aber da ergäbe sich keine richtige Kontrastwirkung zum vorangegangenen Bild, weil auch die jüdischen Kinder traurige Augen haben.

Kontrastwirkungen gehören zu den wichtigsten Errungenschaften der Filmreportage. Sie ermöglichen es dem Kameramann, die Unterschiede zwischen zwei rivalisierenden Parteien herauszuarbeiten, ohne daß er selbst Stellung beziehen müßte. Wieder ein Beispiel:

Eine Beduinenkarawane zieht am Horizont dahin. Abgezehrte Kamele, kleine, halbverhungerte Esel. Über dem Ganzen liegt dumpfe, angstgeschwängerte Stille… Gleich darauf zeigen Sie das Stadion von Tel Aviv während der zweiten Halbzeit eines Fußballspiels. Schwitzende, brüllende Fanatiker, auch solche weiblichen Geschlechts. Nächster Kontrastschnitt: auf der einen Seite scharrt ein bis auf die Knochen abgemagerter arabischer Hund in den Abfallkübeln eines Flüchtlingslagers nach Nahrung, auf der andern Seite die Nahaufnahme einer gefleckten Dogge, die soeben auf der Hundeausstellung in Ramat-Gan preisgekrönt wurde; ihr Besitzer nimmt den Pokal entgegen.

An der Sachlichkeit dieser Gegenüberstellungen wird niemand zweifeln.

Die bekanntlich höchst fotogenen arabischen Kinder dürfen von Ihnen ebensowenig vernachlässigt werden, wie auf der andern Seite die gleichfalls höchst fotogenen israelischen Soldaten. Der Kameramann wird ohne Mühe einen Einstellungswinkel finden, der die Soldaten beim Marschieren zeigt, und zwar so, daß man ihre schweren Nagelschuhe sieht. Das wirkt, mein Junge, das wirkt. Und dann vielleicht noch einmal arabische Kinder, diesmal auf ähnlicher Nahrungssuche wie zuvor der verhungerte Hund. Am besten in einem Dorf, das den Terroristen als Stützpunkt gedient hat und von der israelischen Artillerie beschossen wurde. Ruinen und rauchende Trümmer. Auch die nicht getroffenen Hütten sehen aus wie knapp vor dem Einsturz. Eine räudige Katze huscht in einen Granattrichter.

Schnitt.

Ein israelischer Militärfriedhof mit Hunderten von Grabsteinen. Hunderte von jungen Juden, die nichts andres wollten als ihr Land aufbauen, haben mit ihrem Leben dafür gebüßt… Na ja. Das wäre, besonders in der Totale, nicht schlecht. Gibt es nichts Besseres?

Doch:

Ein Geschäftsmann in Tel Aviv, fett, glatzköpfig, mit Brille, der sich gerade an einer Schokoladetorte gütlich tut. Eigentlich müßte die Schokoladetorte genügen. Der Fresser müßte nicht unbedingt eine Brille tragen und fett sein. Aber da die Terroristenkatze mager war und keine Brille trug, kommt die Kontrastwirkung auf diese Weise schärfer heraus. Der fette Brillenträger sitzt also in einem weich gepolsterten Fauteuil seiner weiträumigen Wohnung in Tel Aviv und beantwortet Ihre Fragen, während er — nach dem Genuß der Torte — an einer dicken Zigarre pafft und von Zeit zu Zeit einen Blick auf das Aktbild an der gegenüberliegenden Wand wirft. Sie fragen den Brillenwanst:

»Sind Sie der Meinung, daß die israelischen Vergeltungsaktionen etwas erreichen?«

»Ganz entschieden«, antwortet Fatty. »Die arabischen Sabotageakte haben seither merkbar abgenommen. Gewiß, jede Art der Vergeltung widerspricht der jüdischen Tradition und widerspricht unserem aufrichtigen Wunsch, mit allen unseren Nachbarn in Frieden zu leben. Aber wenn das Leben unserer Kinder auf dem Spiel steht — da muß uns jedes Mittel recht sein, lieber Herr!«

Eine ausgezeichnete Antwort. Nur leider zu lang. Ein routinierter Fernsehreporter wird auch das Zeitelement einkalkulieren, wird notfalls einen Teil der Antwort herausschneiden und nur die Essenz übriglassen:

»Vergeltung widerspricht der jüdischen Tradition… Die arabischen Sabotageakte haben merkbar abgenommen… da muß uns jedes Mittel recht sein, lieber Herr.« — halt, das ist der geeignete Satz. Präzise und treffend. Die Dialogfassung, die im britischen Fernsehen gezeigt wird, hört sich folgendermaßen an:

»Sind Sie der Meinung, daß die israelischen Vergeltungsaktionen etwas errreichen?«

»Da muß uns jedes Mittel recht sein, lieber Herr.«

Kürze — Würze. Nachdem Sie die Antwort richtig gesiebt und die Akzente richtig verteilt haben, ist es hoch an der Zeit, einen arabischen Freischärler zu Wort kommen zu lassen. Sie finden ihn am besten in einem Trainingslager, und er ist am besten ein junger, sehniger Typ, dessen lockiges Haar — anders als die Glatze des Tel-Aviver Tortenfressers — im Wüstenwind flattert.

»Dies ist mein Land«, sagt er mit großem Nachdruck. »Ich wurde hier geboren, mein Vater wurde hier geboren, mein Großvater, meine ganze Familie. Die Juden haben uns verjagt und beraubt. Sie wollen keinen Frieden, sie wollen Krieg. Uns bleibt keine Wahl als zu kämpfen…«

An dieser Stelle können Sie, verehrter britischer Fernsehreporter, Ihr Talent beweisen. Dem Gespräch, das Sie mit jenem glatzköpfigen Fettwanst in Tel Aviv geführt hatten, ging eine informale Plauderei voraus, die nicht für Sendezwecke gedacht war, bei der aber Bild und Ton schon mitliefen. Und da hatte Ihr Gesprächspartner unter anderem gesagt: »Schauen Sie sich doch einmal die Landkarte an — wir hätten Kairo einnehmen können.« Den zweiten Teil dieses Satzes schneiden Sie heraus und blenden ihn in Ihr Gespräch mit dem Al-Fatach-Mann ein.

Haben Sie mich richtig verstanden? Auf die Worte des jungen Arabers: »Uns bleibt keine Wahl als zu kämpfen« antworten nicht Sie, sondern es antwortet der Dicke mit der Glatze, bequem in seinen Fauteuil hineingegossen und eine Zigarre paffend: »Wir hätten Kairo einnehmen können.« Damit ersparen Sie sich auch die restlichen Sätze, mit denen Ihr Araber seine Aussage schloß. Er hat da noch irgend etwas gesprochen, daß man die Juden ins Meer werfen wird und daß die einzige Lösung des Konflikts in der vollkommenen Vernichtung Israels besteht… Aber das ist sowieso ein alter Hut und das will niemand hören.

So erscheint denn zum Schluß Ihr eigenes, sorgenvolles Gesicht auf dem Bildschirm, und Ihrer sind die nachdenklichen Worte:

»Es scheint keinen Ausweg zu geben. Solange beide Seiten es hartnäckig ablehnen, sich gemeinsam an den Verhandlungstisch zu setzen, bleibt der Nahe Osten ein Pulverfaß, dessen Explosion die Welt in Brand setzen würde…«

Sollte ein Anruf oder eine Zuschrift Sie darauf hinweisen, daß es sich bei den von Ihnen erwähnten »beiden Seiten« offenbar um einen Irrtum handelt; daß die eine Seite, nämlich die israelische, sehr wohl bereit ist, sich an den Verhandlungstisch zu setzen; daß sie diese Bereitschaft nach der siegreichen Beendigung des Sechstagekriegs proklamiert hat und sie bis heute ebenso anhaltend wie vergeblich proklamiert — dann antworten Sie dem betreffenden Rufer oder Schreiber, daß für derlei tendenziöse Schattierungen in einer objektiven Reportage kein Platz ist.

Israel ist das einzige Land der Welt, in dem die armen Einwanderer eine solide Mehrheit bilden. Deshalb halten wir unsere Arme weit offen zum Empfang unserer Brüder, die aus der Zerstreuung zu uns kommen. Und das ist sehr anstrengend: die Arme weit offen zu halten

Die Russen kommen

»Lassen Sie mich der erste sein, der Ihnen die gute Nachricht bringt. Sie kommt direkt aus Regierungskreisen. Eine Sensation.«

»Einwanderung aus Rußland?«

»Ja! Im Rahmen der Zusammenführung der getrennten Familien dürfen ab sofort 200 Personen monatlich nach Israel kommen. Man erwartet den ersten Transport bereits für nächsten Donnerstag.«

»Endlich! Endlich! Ich möchte Sie am liebsten umarmen.«

»Nur zu. Gott segne Sie. Diese Sache lag Ihnen ja schon immer am Herzen.«

»Das kann man wohl sagen. Keine Petition, die ich nicht unterschrieben hätte, keine Versammlung, in der ich nicht aufgestanden wäre, um die Heimkehr unserer in Rußland schmachtenden Brüder zu fordern.«

»Sie sind russischer Herkunft?«

»Nein. Ich bin ein Sympathisierender. Was für ein großartiges Material sind die doch! Groß, stark, gesund, essen gern, trinken gern, leben gern.«

»Ja, es sind wunderbare Menschen.«

»Man muß sie nur tanzen sehen. Oder singen hören. Otschi tschornaja, otschi krasnaja. Und was die Hauptsache ist: jede Familie hat mindestens drei bis vier Kinder.«

»Unsere Zukunft! Ein fleißiger, disziplinierter Menschenschlag. Da sie unter kommunistischem Regime aufgewachsen sind, haben sie gelernt, in aller Herrgottsfrühe aufzustehen und hart zu arbeiten. Es ist eine neue Pioniergeneration. Die Auswirkungen dieses ungeheuerlichen Ereignisses auf die Entwicklung unseres Landes lassen sich noch gar nicht absehen.«

»Drei Millionen neue Menschen!«

»Und was für Menschen!«

»Grüßen Sie sie von mir!«

»Nun, das können Sie persönlich tun.«

»Leider. Mein Wagen ist in Reparatur.«

»Kein Wagen nötig. Sie kommen her.«

»Wer kommt her?«

»Die aus Rußland.«

»Zu wem?«

»Zu Ihnen. Natürlich nicht alle drei Millionen. Nur eine Familie.«

»Ich habe keine Familie in Rußland.«

»So ist es nicht gemeint. Jeder israelische Haushalt wird eine russische Familie aufnehmen. Ich bin gekommen, um Sie davon in Kenntnis zu setzen.«

»Ist das eine gesetzliche Maßnahme?«

»Vorläufig nicht. Wir versuchen es zuerst auf freiwilliger Basis.«

»Also was heißt dann: ›in Kenntnis setzen‹? Da müßten Sie mich doch zuerst fragen.«

»Nach Ihrem Freudenausbruch habe ich das eigentlich für überflüssig gehalten.«

»Freudenausbruch, Freudenausbruch… Natürlich freue ich mich. Das ist ja ganz klar. Mich brauchen Sie nicht zu belehren, worüber ich mich freuen soll. Mein Haus steht dem mächtigen Strom der Sowjetjudenschaft immer offen. Allerdings…«

»Allerdings?«

»Dworahs Musik.«

»Ich verstehe nicht…«

»Das werde ich Ihnen sofort erklären. Der einzige freie Raum in unserem Haus ist das Gastzimmer. Und im Gastzimmer steht der Flügel. Und meine Tochter Dworah nimmt dort dreimal in der Woche Privatstunden bei Frau Pressburger. Frau Pressburger unterrichtet auch am Konservatorium. Wir mußten jahrelang warten, ehe sie sich bereit erklärte, Dworah als Schülerin zu akzeptieren. Ich kann das alles jetzt nicht so einfach über den Haufen werfen.«

»Vielleicht läßt sich der Flügel anderswo unterbringen?«

»Daran haben wir schon gedacht. Aber wo? Mein Arbeitszimmer ist zu klein, das Speisezimmer ist zu voll, und überhaupt ist es keine Kleinigkeit, einen Konzertflügel zu übersiedeln.«

»Nur für eine begrenzte Zeitdauer…«

»Wenn Sie zwei Wochen früher gekommen wären, bevor Dworah mit den Klavierstunden anfing! Ich hätte gerne etwas für unsere russischen Brüder getan. Aber jetzt ist es zu spät. Haben Sie schon in der Nachbarschaft herumgefragt?«

»Ja.«

»Und?«

»Ihre Nachbarn sind sehr musikalische Menschen. Alle. Violine. Trompete. Klarinette. Waldhorn.«

»Ja, so geht’s. Die Leute haben sich eben aus kleinen Anfängen emporgearbeitet. Ich selbst — was hatte ich denn schon, als ich herkam?«

»Eine Dreizimmerwohnung.«

»Nur zweieinhalb Zimmer, bitte. Aber Ihre Russen sind ja an ganz andere Wohnverhältnisse gewöhnt. Sie sind in größter Not und unter ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, das ist eine allgemein bekannte Tatsache.«

»Also nichts zu machen?«

»Das habe ich nicht gesagt! Ich bin immer zu Opfern bereit, wenn es unbedingt nötig ist. Warten Sie. Ich zahle schon seit Jahren die Bewässerungsabgabe, die von der Regierung teilweise zurückerstattet wird, sobald der regionale Aufteilungsschlüssel feststeht. Damit Sie sehen, wozu ich fähig bin: ich verzichte auf meinen Anteil. Geben Sie ihn den Russen.«

»Und bis dahin?«

»Bis dahin möchte ich in meinem eigenen Hause wenigstens Ruhe haben. Diese Menschen stehen in aller Herrgottsfrühe auf und machen einen fürchterlichen Wirbel. Ich kenne sie. Nichts als tanzen, nichts als singen, otschi tschornaja, otschi krasnaja, es ist zum Verrücktwerden. Und alle haben drei bis vier Kinder. Sie kommen eben aus einer andern Welt, da hilft nichts.«

»Also was soll geschehen?«

»Tja, das ist ein schwieriges Problem. Bekommt man einen Zuschuß, wenn man die Leute aufnimmt?«

»Nein.«

»Dann bin ich ratlos.«

»Sollen wir sie zurückschicken?«

»Ich weiß nicht… ich fürchte… unter den derzeitigen Umständen…«

»Schade. Wirklich schade.«

»Nur für eine begrenzte Zeitdauer. In ein paar Jahren wird meine Tochter mit dem Klavierunterricht hoffentlich fertig sein. Oder Frau Pressburger geht in Pension. Dann sieht alles gleich ganz anders aus. Man muß Geduld haben.«

Seit Jahren beschäftigt uns eine bange Frage: wie lange werden es die Vereinigten Staaten noch zulassen, daß wir der sowjetrussischen Expansion im Nahen Osten den Weg verstellen? Jetzt, so scheint’s, ist die Geduld, die unsere amerikanischen Freunde mit uns hatten, am Ende… Schon ein altes griechisches Sprichwort sagt: »Wen die Götter strafen wollen, den machen sie zum Verbündeten Amerikas.«

Folterkammer Washington, D.C.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Präsident Nixon, schüttelte meine Hand und lächelte sein breites, fernsehbekanntes Lächeln. »Wie geht’s zu Hause?«

»Danke«, sagte ich, indem ich mich in dem Lehnsessel gegenüber seinem Schreibtisch niederließ. »In der letzten Zeit hat es oft geregnet, aber das Flugwetter ist noch immer ganz gut.«

»Das freut mich zu hören. Über das Weekend gehe ich angeln.«

»Ja?«

»Ja.«

An dieser Stelle trat in unserem lebhaften Gespräch eine Pause ein. Der Präsident, mit abermals breitem Lächeln, deutete durch das Fenster zum Rosengarten des Weißen Hauses hinaus.

»Ich glaube, der Rasen müßte wieder einmal gemäht werden. Glauben Sie nicht auch?«

»Unbedingt«, antwortete ich und fügte blitzschnell hinzu: »Ich will Phantomflugzeuge haben.«

Der Präsident kehrte mir sein Gesicht zu, auf dem das Lächeln, ob man’s glaubt oder nicht, noch um eine Kleinigkeit breiter geworden war:

»Sie brauchen die Flugzeuge dringend, wie?«

»Jawohl, Mr. President.«

»Zu meiner Freude kann ich Ihnen mitteilen, daß ich diesem Problem meine volle Aufmerksamkeit zugewandt habe. Die Entscheidung ist bereits gefallen.«

»Gefallen?«

»Gefallen. Tee oder Kaffee?«

»Ja.«

»Ich für meine Person mag den Tee nicht allzu stark. Wie viele Löffel Zucker?«

»Mindestens fünfundzwanzig.«

»Ich nehme Sacharin. Es spielt keine große Rolle, aber Mrs. Nixon achtet scharf auf mein Gewicht. Jeden Freitag spiele ich Golf mit Senator Fullbright. Kommen Sie doch gelegentlich einmal mit.«

»Danke.«

»Es war schön, mit Ihnen gesprochen zu haben. Wir sehen uns bestimmt wieder.«

Nixon schüttelte mir die Hand und lächelte breit.

»Mr. President«, sagte ich, »diese Flugzeuge sind für uns eine Frage von Leben oder Tod…«

»Ja, den Eindruck habe ich auch. Deshalb werde ich meine Antwort nicht länger hinauszögern.«

»Dank. Innigen Dank.«

»Bitte, bitte. Sie kennen ja mein Motto: wenn du eine Antwort weißt, gib sie sofort, auf der Stelle, ohne Verzögerung, ohne überflüssige Spannung zu erzeugen. Mit anderen Worten: wenn man sich nicht entscheiden kann, soll man den Mund halten, aber wenn man einmal eine Entscheidung getroffen hat, so wie ich, dann soll man sie ungesäumt bekanntgeben. Jede Minute zählt. Manchmal sogar jede Sekunde. Man darf seine Mitmenschen nicht auf die Folter spannen. Stimmt’s?«

»Stimmt.«

»So hab’ ich’s seit jeher gehalten. Ich bin von Geburt ein Mann der raschen Entschlüsse. Übrigens fällt mir da ein sehr guter Witz ein. Kennen Sie diesen? Ein jüdischer Wähler in New York sagt: ›Mein Vater hat demokratisch gewählt, mein Großvater hat demokratisch gewählt, folglich werde auch ich demokratisch wählen.‹ Daraufhin fragt ihn einer meiner Parteifreunde, ein Republikaner: ›Wenn ihr Vater ein Pferdedieb gewesen wäre und ihr Großvater ein Pferdedieb gewesen wäre — wären Sie dann auch ein Pferdedieb?‹ ›Nein‹, antwortet der jüdische Wähler, ›dann wäre ich ein Republikaner.‹ Hahaha.«

»Ha.«

»Eine köstliche Anekdote. Ich hörte sie vor ein paar Tagen von einem unserer Ölmagnaten.«

»Kommen Sie mit denen häufig zusammen?«

»Sie leben hier. Worüber haben wir vorhin gesprochen?«

»Von den Phantomflug —«

»Richtig!« Der Präsident lächelte, und sein Lächeln ging unwillkürlich in die Breite. »Glauben Sie mir, es war keine leichte Entscheidung. Alle möglichen Erwägungen mußten erwogen werden, innen- und außenpolitisch, pro und kontra. Beispielsweise, um Ihnen ein Beispiel zu geben: ihr Israelis seid die einzige echte Demokratie in dieser ganzen Gegend dort unten, andererseits seid ihr aber auch Freunde der Vereinigten Staaten. Gewiß, ihr stemmt euch ganz allein gegen das Vordringen der Sowjetunion, aber man muß sich vor Augen halten, daß die Araber mit den Sowjets gemeinsame Sache machen. Ihr braucht Waffen, um zu überleben, das ist klar. Nur darf man darüber nicht vergessen, daß ihr alles, was ihr kauft, bar bezahlt. Ihr braucht Flugzeuge, aber es läßt sich nicht bestreiten, daß ich euch öffentlich zugesagt habe, sie zu liefern.

Aus allen diesen Widersprüchen ergibt sich, wie Sie sehen, eine sehr komplizierte Situation. Ich habe dessenungeachtet meinen Entschluß gefaßt. Und wenn ich einen Entschluß fasse, dann ist er gefaßt, dann ist er endgültig, dann steht er außer jedem Zweifel.«

»Dann also, Mr. President —«

»Mein Entschluß ist eindeutig und unwiderruflich. Er spricht für sich selbst. Wollen Sie ihn schriftlich haben?«

»Nein danke, Ihr Wort genügt mir.«

»So ist’s richtig. Sie haben hundertprozentig recht. Man muß zu seinem Wort stehen. Wenn man Ja sagt, dann ist es Ja. Wenn man Nein sagt, dann ist es Nein. Wenn man sagt: wir werden sehen, dann werden wir sehen. Wenn man Rühreier sagt, dann sind es Rühreier. Und genau das gleiche gilt für Krautsalat. Ich könnte Ihnen noch unzählige Beispiele anführen, aber ich möchte Ihre wertvolle Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Wollen Sie nächste Woche wieder einmal vorbeikommen? Oder besser in vierzehn Tagen?«

»Ich möchte lieber jetzt… ich beschwöre Sie, Mr. President… jetzt gleich…«

»Kann ich verstehen. Einen Augenblick.«

Damit begab sich Präsident Nixon zu seinem Sekretär und veranlaßte die kostenlose Lieferung von 1000 Flugzeugen an Süd-Vietnam, 60 an Persien, 100 an Saudi-Arabien und — ein Irrtum, wie er einem so überlasteten Menschen leicht unterlaufen kann — 70 an die Volksrepublik China.

Hierauf nahm er eine leichte Mahlzeit ein, schlief ein wenig und hatte anschließend ein Gespräch mit dem Marquis de Sade, der in Washington einen Kurs für fortgeschrittene Politiker leitet.

»Entschuldigen Sie, bitte, daß ich Sie warten ließ«, sagte er, als er mit breitem Lächeln zu mir zurückkehrte. »Was kann ich für Sie tun?«

»Die Phantomflugzeuge, Mr. President, die Phan —«

»Ach ja, ich erinnere mich. In sechs Minuten haben Sie meine endgültige Antwort.«

Er legte seine Armbanduhr vor sich auf den Schreibtisch und fixierte die Zeiger, was ihn aber nicht hinderte, mir von Zeit zu Zeit ein breites Lächeln zu schenken.

»Es wird spät«, sagte er nach etwa fünfzehn Minuten. »Möchten Sie sich etwas im Fernsehen anschauen?«

»Die Flugzeuge…«

»Natürlich! Habe ich Ihnen schon gesagt, daß die Entscheidung gefallen ist?«

»Ja.«

»Und daß ich nicht die Absicht habe, Sie länger hinzuhalten?«

»Auch das, danke vielmals.«

»Also, um es kurz zu machen…«

»Ja, bitte…«

»Offen und unter Freunden gesprochen…«

»Ja, danke…«

»Die Flugzeuge, die Sie haben wollen…«

»Oj weh…«

»… würden, soweit ich die Lage beurteilen kann…«

»Oj weh…«

»Um es ohne Scheu zu sagen…«

»Ohne, ohne…«

»Mit vollem gegenseitigem Vertrauen…«

»Mit mit…«

»Kurzum…«

»Ja…«

»Was macht Golda?«

An dieser Stelle des Gesprächs rutschte ich im Zustand völliger Erschöpfung auf den Teppich und kroch zur Türe.

»Wohin gehen Sie?« fragte mich der Präsident mit breitem Lächeln. »Haben Sie nicht gemerkt, daß ich drauf und dran bin, Ihnen einen günstigen Bescheid über die Phantomflugzeuge zu geben?«

»Danke«, sagte ich schon von der Türe her. »Die sind inzwischen veraltet.«

Politik und Geographie haben etwas gemeinsam: wer sich auf den Weg macht, weiß nie, wo er ankommen wird. Christoph Columbus, zum Beispiel, wollte Indien erreichen und landete in Amerika. Der Columbus des Vorderen Orients ist Jassir Arafat, Häuptling der »Al Fatach«. Sein Kompaß scheint unterwegs in Unordnung geraten zu sein.

Allein gegen die ganze arabische Welt

Meine Damen und Herren, wir befinden uns im Hauptquartier der »Al Fatach«, irgendwo im Mittelländischen Raum. Das unterirdische Gewölbe, das in einem der großen Apartmenthäuser des Stadtzentrums eingerichtet wurde, ist dicht gefüllt mit den Angehörigen bewaffneter Kommandos. Ihr Führer, Jassir Arafat, studiert gerade eine Generalkarte von Amman, während ihm einer seiner Leibwächter mit einer Schere den Bart stutzt. Die revolutionären Stoppeln des Guerillaführers müssen ständig eine bestimmte Länge aufweisen, und das erfordert sorgfältigste Behandlung. Auch jetzt trägt Arafat die für ihn so typische dunkle Brille, die er nur abnimmt, wenn er etwas sehen will. Er hat die Situation sicher in der Hand. Die Befehle, die er mit scharfer Stimme erteilt, werden sofort ausgeführt. Wie man weiß, sind die von ihm geführten Terroristen nach dem Debakel des Sechstagekrieges zu einem Faktor geworden, mit dem die Weltpresse rechnen muß. Pausenlos attackieren die Freischärler den Feind und ebenso pausenlos laufen ihre Siegesmeldungen ein:

»DER KöNIGSPALAST WURDE MIT HANDGRANATEN ANGEGRIffEN.«

»UNSERE STREITKRäFTE HABEN DEN KOCH DER AMERIKANISCHEN BOTSCHAFT GEFANGENGENOMMEN.«

»EIN VERKEHRSPOLIZIST IN BEIRUT WURDE DURCH UNSERE BAZOOKA-FEUER LIQUIDIERT.«

»EINEM JEEP DER REGIERUNGSTREUEN LEGION WURDEN DIE REIFEN AUFGESCHNITTEN.«

»DIE IRAKISCHE ARTILLERIE WURDE NACH EINEM AUSTAUSCH SCHWERER FLüCHE ZUM SCHWEIGEN GEBRACHT.«

Die mehr als dreihundert westlichen Journalisten hier im Keller starren gebannt auf den Guerillaführer. Er ist tatsächlich eine legendäre Figur. Noch vor wenigen Jahren war er ein kleiner, unbekannter Schnittwarenhändler — heute ist er der rettende Engel der Palästinenser, vor dem die libanesischen Dorfbewohner ebenso zittern wie die herrschende Clique in Jordanien.

»Es gibt keinen Frieden«, lautet einer der Glaubenssätze Jassirs. »Es gibt kein Zurückweichen und keine Verhandlungen.«

Draußen auf dem Paradeplatz vor dem Hauptquartier üben sich Jassirs Männer in Bajonettangriffen. Dazu verwenden sie ausgestopfte Puppen mit Kronen auf dem Kopf. Ihr wildes Kampfgeschrei läßt die Fensterscheiben erklirren. Diese erprobten Freiheitskämpfer kennen jeden Pfad und jeden Hügel im feindlichen Gebiet. In dunklen Nächten, am liebsten bei Neumond, schlüpfen sie gespenstergleich durch die Barrikaden der pakistanischen Einheiten und legen die Beduinen um, die dort Wache stehen. Die Al-Fatach-Leute haben sich die Taktik des Vietkong zu eigen gemacht; bald erobern sie in heftigem Nahkampf ein Flüchtlingslager, bald lassen sie eine Meldestelle der Regierungstruppen in Flammen aufgehen. Nicht einmal in Kairo fühlen sich die arabischen Machthaber sicher. Der lange Arm von Al Fatach reicht überall hin.

»Wir sind gläubige Moslems«, erklärt Jassir. »Es ist unsere Pflicht, mit der Macht des Schwertes den Islam zu verbreiten. Demnächst beginnen wir einen Heiligen Krieg gegen den christlichen Feind in Beirut.«

Er erhebt sich und tritt an die große Wandkarte, um den Auslandskorrespondenten mit Hilfe kleiner Steckfähnchen die strategische Lage zu erklären. Die Freiheitskämpfer haben das gesamte Territorium des Nahen Ostens infiltriert, die Berge so gut wie die Wüste, die Städte so gut wie die Dörfer. Nur ein einziges Gebiet ist ihnen verschlossen. Es erstreckt sich von den Golan-Höhen zum Suezkanal und weist kein einziges Steckfähnchen auf. Von dieser einen Ausnahme abgesehen, sind die Freiheitskämpfer überall zu finden, lodert überall die heilige Flamme der Befreiung.

»Wir werden« — so schwört Jassir Arafat — »die Waffen nicht niederlegen, ehe alle unsere Stützpunkte zu einer einzigen, gewaltigen Front zusammengeschmolzen sind…«

»Und was ist mit Israel?« fragt ein taktloser Journalist.

Jassir nimmt die dunkle Brille ab: »Wie bitte?«

»Israel.«

»Ja? Was soll damit sein?«

Einer seiner Adjutanten neigt sich zu Jassirs Ohr und flüstert ihm zu, daß es in der Nähe einen Staat dieses Namens gibt, der vor langer Zeit irgendeinmal mit irgendwelchen Plänen der Befreiungsarmee in Zusammenhang gebracht wurde.

Nachdenklich reibt Jassir seine Bartstoppeln. Er versucht sich zu erinnern.

Offenbar ist ihm dieses kleine Detail in der Hitze seiner vielen Gefechte aus dem Gedächtnis entschwunden.

»Schließlich und endlich«, äußert er nach einer kleinen Pause, »kann ich ja nicht allein gegen die ganze Welt kämpfen.«

Damit überläßt er sich aufs neue der Schere seines Leibwächters, weil seine Bartstoppeln inzwischen wieder gewachsen sind.

Von draußen hört man eine motorisierte Kolonne heranrumpeln. Sie kehrt von einem verwegenen nächtlichen Angriff auf das Gefängnisgebäude zurück. Die Befreiung der Palästinenser schreitet fort. Wenn nötig, wird Jassir das Führer-Hauptquartier an das Westufer des Jordan verlegen, um von dieser sicheren Basis aus den Kampf gegen das arabische Gesindel fortzusetzen.

Der heiß ersehnte Friede in unseren Gegenden wird weder durch die vier Großmächte zustandegebracht werden noch durch den Generalsekretär der UNO, sondern durch die Sexbombe, die im jordanischen Fernsehen als Sprecherin tätig ist. Sie betreibt ihre Hetze gegen Israel so charmant, daß man der jungen Dame am liebsten um den Hals fallen möchte. Wenn wir ihre reizenden Grübchen öfter auf unseren Bildschirmen zu sehen bekämen, würden wir uns über kurz oder lang in die arabische Freiheitsbewegung eingliedern.

Assimilation via Bildschirm

Wir haben für unser Kind einen Fernsehapparat gekauft.

Als wir vor ein paar Tagen die Stocklers besuchten, hatten sie gerade den Sender Kairo eingestellt, der einen von Katzenmusik nicht übermäßig weit entfernten Chorgesang in den Äther schickte. Die beste Ehefrau von allen setzte sich mit Amir auf den Knien vor den Bildschirm, und es gelang ihr, unserem gebannt zusehenden Liebling, einem der bewährtesten Veranstalter von Hungerstreiks, zwei Butterbrote in den offenen Mund zu stopfen.

»Na, Amirlein?« fragte sie nachher. »Möchtest du, daß Pappi dir auch so einen schönen Apparat kauft?«

»Nein«, antwortete Amir. »Ich will ein Fahrrad.«

Es ist kaum zu glauben. Dieser verzogene Bengel macht mir Vorschriften, was ich kaufen oder nicht kaufen soll. Fahrräder sind bekanntlich zur Förderung der Nahrungsaufnahme völlig ungeeignet. Der Bub würde stundenlang im Garten oder gar auf der Straße herumradeln und wir könnten ihn nur mit größter Mühe wieder ins Haus locken. Außerdem gibt es im Fernsehen das sogenannte »Erziehungs-Programm«. Aber wer hat je von erzieherischen Fahrrädern gehört?

Wir kauften dem Kind einen Fernsehapparat. Wir kauften das neueste und teuerste Modell, mit einer großen Zahl von Knöpfen, Tasten und Monatsraten. Dazu verlangte ich eine entsprechende Antenne und machte dem Verkäufer klar, daß ich ausschließlich das heimische Programm zu empfangen wünschte; an den arabischen Horror-Sendungen wäre ich nicht interessiert.

»Ausgezeichnet, mein Herr«, dienerte der Verkäufer. »Wie recht Sie doch haben. Dann brauchen Sie nur eine kleine einarmige Zimmerantenne.«

Ich entschied mich für eine große fünfarmige Dachantenne. Wer weiß, vielleicht besetzen wir eines Tages Kairo, und da möchte ich für unseren kleinen Liebling das Erziehungsprogramm empfangen können. Vorläufig sind wir auf die israelischen Versuchssendungen angewiesen, die den Fehler haben, sehr kurz zu sein. Am ersten Abend, als wir den Apparat einweihten, wurde im Erziehungsprogramm eine Szene aus einem Theaterstück übertragen. Kaum hatte sie begonnen, läutete draußen der Telegrammbote, und als ich nach Unterzeichnung des Empfangsscheins ins Zimmer zurückkam, war das Erziehungsprogramm vorbei.

Um die fünfarmige Dachantenne zu erproben, schalteten wir einen arabischen Sender ein. Auf dem Bildschirm erschien eine dunkelhäutige, leicht schielende Frauengestalt, die mit schriller Stimme in ihrer Muttersprache darauf loszeterte. In solchen Fällen macht es sich nachteilig bemerkbar, daß ich europäischer Herkunft und mit der führenden Sprache des Vorderen Orients nicht vertraut bin. Meine Sabra-Gattin hingegen lauschte der Sendung fasziniert bis zum Ende. Dann sagte sie: »Ich habe kein Wort verstanden. Es war leider Schriftarabisch.«

Als nächstes bekamen wir einen gutaussehenden Herrn vorgesetzt, der zur Begleitung eines vielköpfigen Orchesters und unter leichtem Schielen unausgesetzt schluchzte, immer auf dem gleichen Ton, nur mit gelegentlichem Wechsel der Lautstärke. Ich kam mir allmählich ein wenig idiotisch vor. Was trieb mich denn, mich, einen von abendländischer Kultur geprägten Intellektuellen, meine kostbare Zeit an kreischende Eingeborene zu verschwenden? Ich verließ den Apparat und den Raum, zog mich in mein Arbeitszimmer zurück und kam erst zur Nachrichtensendung wieder. Jetzt zeigte sich, daß wir eine Sendung aus Amman, der Hauptstadt des haschemitischen Königreichs, erwischt hatten. Wir erkannten das daran, daß der Sprecher mehrmals mit devotem Aufschlag seiner schielenden Augen den Namen König Husseins erwähnte. Dann schien er sich an uns zu wenden, denn er gebrauchte häufig das Wort »Yezrailin« und bei jedem Gebrauch sprühten Flammen des Hasses aus seinen Augen. Dabei sah er mir direkt ins Gesicht, oder vielleicht jemandem hinter mir, es war schwer zu entscheiden.

»Was sagt er denn?« fragte ich meine Frau.

»Keine Ahnung«, erklärte sie. »Ich verstehe ihn nicht. Er spricht Schriftarabisch.«

Rätselhaft, warum sie unter solchen Umständen nun schon stundenlang vor dem Bildschirm saß. Wahrscheinlich war der weiche, bequeme Armstuhl daran schuld. Der meinige hatte auf mich die Wirkung, daß ich einschlief.

Ich erwachte mitten in eine Burleske hinein, die ebenso primitiv wie langweilig war. Sie zeigte einen als Frau verkleideten Mann und einen nicht verkleideten im Pyjama, dessen Gattin bald darauf nach Hause kam, worauf der Verkleidete etwas sagte und der im Pyjama auf den Mann, der in Begleitung der Frau gekommen war, heftig einschrie, worauf die beiden — der mit der Frau und der im Pyjama — zusammen abgingen; dann erschien eine ungemein beleibte Dame und rief dem als Frau verkleideten Mann etwas zu, dann kam der Mann im Pyjama zurück, umkreiste die dicke Dame und verfluchte sie fäusteschüttelnd, dann sagte sie etwas, was den als Frau Verkleideten zu einem Sprung aus dem Fenster veranlaßte, und dann verlor ich den Überblick.

Nach zwei Stunden war die Qual ausgestanden. Der Sender Amman entließ mich zu den Klängen der jordanischen Hymne und zeigte mir noch rasch ein überlebensgroßes Portrait von König Hussein. Da es mittlerweile recht spät geworden war, ging ich zu Bett. Im Traum hörte ich das gutturale Schluchzen des schielenden Sängers und sah mich selbst in einer ganz kurzen Sequenz, wie ich die dunkelhaarige Sexbombe verfolgte und immer wieder »Abadan, Abadan!« rief, ich weiß nicht warum, denn ich kenne kein solches Wort.

Am nächsten Tag stellte ich versuchsweise denselben Kanal ein, um meinem Söhnchen die dunkelhaarige Sprecherin zu zeigen. Zu meiner Enttäuschung kam eine andere Dame, die nicht annähernd so überzeugend wirkte, zumal auf ein kleines Kind. Auch sie sprach allerlei unverständliches Zeug und wurde von einer jungen, kaum merklich schielenden Sängerin abgelöst, die mit einschmeichelnder Stimme anti-israelische Wiegenlieder sang, wobei sie auf einer Art plastischer Landkarte stand und das als Israel kenntliche Gebiet mit Füßen trat. Jedes ihrer Wiegenlieder endete mit dem sogar mir verständlichen Ausruf: »Inschallah, töte sie alle!« der von einem unsichtbaren Männerchor lautstark wiederholt wurde:

»Töte sie alle, töte sie alle!«

Zugegeben, der Text war nicht besonders einfallsreich, aber die Melodie ging ins Ohr. Ich versank in tiefen Schlummer, aus dem ich von meiner Frau geweckt wurde. Sie wollte wissen, warum ich im Schlaf immer wieder »Töte sie alle!« gerufen und nachher die Melodie eines Kinderliedes gesummt hätte.

»Wer summt? Ich summe?« antwortete ich in begreiflichem Ärger. »Daschrini, ya hamra!« Das ist arabisch und heißt »Halt den Mund!«

Die arabischen Sender beginnen ihr Programm um 9 Uhr. Am nächsten Tag erschien um diese Zeit der jordanische Ministerpräsident — ein eleganter Mann, ungeachtet seines Schielens —, der mit gutturaler Stimme eine Ansprache an die Beduinengewerkschaft hielt. Er sprach ungefähr eine Stunde, und zwar gegen den Feind, also gegen uns; jedesmal, wenn er »Falastin biladna, vaal Yachud kiladna!« ausrief (was soviel heißt wie »Palästina gehört uns, Tod den Juden!«), fiel ich begeistert in den Applaus ein. Anschließend nahm ich mit großer Freude die Darbietungen eines Streichorchesters entgegen. Jeder dieser Geiger ist ein Virtuose seines Fachs. Und sie alle — einige von ihnen schielen — sind wunderbar aufeinander abgestimmt. Keiner fällt aus dem Rhythmus, der für ungeübte Hörer ohne Dachantenne vielleicht etwas eintönig klingt, aber für Zwecke der Einschläferung geradezu ideal ist. Mit halb offenem Mund und halb geschlossenen Augen saß ich da und merkte gar nicht, daß meine Frau vor mir stand:

»Ephraim«, flüsterte sie angsterfüllt. »Um Himmels willen, Ephraim! Was machst du da?«

Was mache ich da? Ich hielt ein Perlenhalsband in der Hand und ließ die einzelnen Perlen durch meine Finger gleiten, eine nach der andern. Wann ich es meiner Frau vom Hals gerissen hatte, wußte ich nicht mehr. Aber es beruhigt die Nerven…

Seit neuestem ertappe ich mich dabei, wie ich etwas Gutturales vor mich hinsumme. Mein Gewicht nimmt zu. Gestern, während der Rede von Nasser, verzehrte ich mehrere Portionen Humuss mit Burgul und einen Korb Pistazien. Die Rede gefiel mir. Auch Nasser gefällt mir. Mir ist, als wäre er mein Bruder. Dennoch sehnte ich mich nach dem Anblick der Dunkelhaarigen mit den Grübchen, schon um sie endlich meinem kleinen Sohn zu zeigen. Leider erschien an ihrer Stelle abermals die schielende Sprecherin, die ein lustiges Lustspiel ankündigte. Ich lachte mich krank und wollte auch meine Frau an dem Vergnügen teilhaben lassen.

»Weib«, rief ich. »Yah, Weib! Schlabi ktir!«

Ihre Antwort lautete:

»Aiuah!«

In der letzten Zeit schielt sie ein wenig, die Süße. Mich stört es nicht. Wir kommen besser miteinander aus als je zuvor. Vor ein paar Tagen allerdings schrie sie mich zornig an, als ich meine Wasserpfeife auf den neuen Teppich ausleerte. Macht nichts. Dafür beherrscht sie die schwierigsten arabischen Brettspiele. Gestern abend, als wir uns mangels eines arabischen Programms vom Bildschirm abwandten, wo ein dummer amerikanischer Krimi lief, besiegte sie mich dreimal hintereinander.

Ich gehe nur noch in Pantoffeln und sitze mit Vorliebe auf bunten, weichen Kissen.

Meine europäische Herkunft macht es mir schwer, mich richtig und rasch zu assimilieren. Aber mit Allahs Hilfe…

Ich hoffe es.

Zu den Ursachen der schweren Existenzkrise, in die sich die Menschheit verstrickt sieht, gehört der Mangel an Parkplätzen. Eine Lösung dieses Problems ist — abgesehen von den Staaten des Ostblocks — noch nirgends geglückt. Im Gegenteil, die Situation verschärft sich von Tag zu Tag. In Amerika ist jede fünfte Person ein Autobesitzer. In Israel ist jede fünfte Person ein Verkehrspolizist.

Wie rächt man sich an Verkehrspolizisten?

Wir saßen auf der Terrasse unseres Lieblings-Cafés, Jossele und ich, schlürften unseren Lieblings-Espresso und warfen sehnsüchtige Blicke auf die Parkverbotstafeln entlang des Gehsteigs. Um diese dämmerige Abendstunde pflegten wir das »Espresso-Gambit« zu eröffnen, auch »Auto-Adoptivspiel« genannt. Aber noch wollte sich kein Verkehrspolizist zeigen. Es dauerte eine gute Stunde, ehe der erste Vertreter dieser liebenswerten Spezies auftauchte, schlank, rank, schlenkernden Schritts und gestutzten Schnurrbarts.

In fiebriger Anspannung warteten wir, bis er vor einem knallroten, zwischen zwei Parkverbotstafeln parkenden Sportwagen halt machte und den Strafzettelblock aus seiner Brusttasche zog. Als er den Bleistift ansetzte, also genau im richtigen Augenblick, sprang Jossele auf und stürzte hinzu:

»Halt, halt!« keuchte er. »Ich bin da nur für eine Minute hineingegangen… nur um rasch einen Espresso zu trinken…«

»Herr«, antwortete das Gesetz, »erzählen Sie das dem Verkehrsrichter.«

»Wenn ich doch aber wirklich nur für eine Minute…«

»Sie stören eine Amtshandlung, Herr!«

»Wirklich nur für einen raschen Espresso… Wie wär’s und Sie drücken ausnahmsweise einmal ein Auge zu, Inspektor?«

Der Polizist füllte mit genießerischer Langsamkeit den Strafzettel aus, befestigte ihn am Scheibenwischer und sah Jossele durchdringend an:

»Können Sie lesen, Herr?«

»Gewiß.«

»Dann lesen Sie, was auf dieser Tafel steht!«

»Parken verboten von 0 bis 24 Uhr«, murmelte Jossele schuldbewußt. »Aber wegen einer lächerlichen Minute… wegen einer solchen Lappalie…«

»Noch eine einzige derartige Bemerkung, Herr, und ich bringe auch den Paragraph 17 in Anwendung, weil Sie zu weit vom Randstein geparkt haben.«

»Sehen Sie?« fragte Jossele. »Das ist der Grund, warum die Menschen Sie hassen.«

»Paragraph 17«, antwortete der Ordnungshüter, während er ein neues Strafmandat ausschrieb. »Und wenn Sie mich noch lange provozieren, verhafte ich Sie.«

»Warum?«

»Ich schulde Ihnen keine Erklärungen, Herr. Ihre Papiere!«

Jossele reichte sie ihm.

»Herr! Ihre Krankenkasse interessiert mich nicht! Wo ist Ihr Führerschein?«

»Ich habe keinen.«

»Sie haben keinen?! Paragraph 23. Haben Sie einen Zulassungsschein? Eine Steuerkarte? Eine Unfallversicherung?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Ich habe ja auch keinen Wagen.«

Stille. Lastende, lähmende Stille.

»Sie haben… keinen… Wagen?« Das Auge des Gesetzes zwinkerte nervös. »Ja, aber… wem gehört dann dieses rote Cabriolet?«

»Wie soll ich das wissen?« replizierte Jossele, nun schon ein wenig verärgert. »Ich bin ja nur für einen raschen Espresso hier ins Café gegangen. Das ist alles und das versuche ich Ihnen die ganze Zeit zu erklären. Aber Sie hören ja nicht zu…«

Das Amtsorgan erbleichte. Seine Kinnladen bewegten sich lautlos, wenn auch rhythmisch. Langsam zog er das zweite Strafmandat hinter dem Scheibenwischer hervor und zerriß es in kleine Teilchen, einen Ausdruck unendlicher Trauer in seinem Gesicht. Dann verschwand er in der Dunkelheit.

Alles in allem: ein vergnüglicher Abend.

Außer auf der schon früher erwähnten Bio-Placenta-Creme beruht die Schönheit der israelischen Frauen noch auf einer andern großen Erfindung unseres Jahrhunderts: auf den Kontaktlinsen. Sie verwandeln eine brillentragende Hausfrau pfeilschnell in eine blinde Sexbombe.

Kontakt mit Linsen

»Ephraim«, sagte meine Frau, die beste Ehefrau von allen, »Ephraim — bin ich schön?«

»Ja«, sagte ich. »Warum?«

Es zeigte sich, daß die beste Ehefrau von allen sich schon seit geraumer Zeit mit diesem Problem beschäftigt hatte. Sie weiß natürlich und gibt auch zu, daß nichts besonderes an ihr dran ist. Trotzdem jedoch und immerhin: irgend etwas, so meint sie, sei doch an ihr dran. Das heißt: wäre an ihr dran, wenn sie keine Brille tragen müßte.

»Eine Frau mit Brille«, sagte sie, »ist wie eine gepreßte Blume.«

Dieser poetische Vergleich war nicht auf ihrem Mist gewachsen. Sie mußte den Unsinn irgendwo gelesen haben. Wahrscheinlich in einem Zeitungsinserat, das die gigantischste Erfindung seit der Erfindung des Rades anpries: die Kontaktlinsen. Die ganze zivilisierte Welt ist voll damit. Zwei winzige, gläserne Linsen, höchstens 5 Millimeter im Durchmesser, die man ganz einfach auf den Augapfel aufsetzt — und schon ist alles in Ordnung. Deine Umgebung sieht nichts, die menschliche Gesellschaft sieht nichts, nur dein scharf bewehrtes Auge sieht alles. Es ist ein Wunder und eine Erlösung, besonders für kurzsichtige Schauspielerinnen, Korbballspieler und alte Jungfern.

Auch über unser kleines Land hat der Zauber sich ausgebreitet. »Ein Mannequin aus Haifa«, so hieß es auf einem der jüngsten Werbeplakate, »begann Kontaktlinsen zu tragen — und war nach knapp drei Monaten bereits die geschiedene Frau eines gutaussehenden südamerikanischen Millionärs.«

Eine sensationelle Erfindung. Es lebe die Kontaktlinse! Nieder mit den altmodischen, unbequemen Brillen, die eine starre Glaswand zwischen uns und die Schönheit weiblicher Augen schieben!

»Ich habe mir die Adresse eines hervorragenden Experten verschafft«, informierte mich meine Gattin. »Kommst du mit?«

»Ich?«

»Natürlich du. Du bist es ja, für den ich schön sein will.«

Im Wartezimmer des hervorragenden Experten warteten ungefähr tausend Patienten. Die meisten von ihnen waren mit dem Gebrauch von Kontaktlinsen bereits vertraut. Einige hatten sich so sehr daran gewöhnt, daß nicht einmal sie selbst mit Sicherheit sagen konnten, ob sie Kontaktlinsen trugen oder nicht. Das war offenbar der Grund, warum sie den hervorragenden Experten aufsuchten.

Ein Herr in mittleren Jahren demonstrierte gerade die Leichtigkeit, mit der sich die Linse anbringen ließ. Er legte sie auf die Spitze seines Zeigefingers, dann, bitte aufzupassen, hob er den Finger direkt an seine Pupille — und ohne mit der Wimper zu zucken — halt — wo ist die Linse?

Die Linse war zu Boden gefallen. Achtung! Vorsicht! Bitte um Ruhe! Bitte um keine wie immer geartete Bewegung!

Wir machten uns das entstandene Chaos zunutze und schlüpften ins Ordinationszimmer des Spezialisten, eines netten jungen Mannes, der seinen Beruf als Optiker mit enthusiastischer Gläubigkeit ausübte.

»Es ist ganz einfach«, verkündete er. »Das Auge gewöhnt sich nach und nach an den Fremdkörper, und in erstaunlich kurzer Zeit —«

»Verzeihung«, unterbrach ich ihn. »In wie erstaunlich kurzer Zeit?«

»Das hängt davon ab.«

»Wovon hängt das ab?«

»Von verschiedenen Umständen.«

Der Fachmann begann eine Reihe fachmännischer Tests durchzuführen und erklärte sich vom Ergebnis hoch befriedigt. Die Beschaffenheit des Okular-Klimas meiner Gattin, so erläuterte er, sei für Kontaktlinsen ganz besonders gut geeignet. Dann demonstrierte er, wie einfach sich die Linse auf die Pupille placieren ließ und wie einfach sie sechs Stunden später wieder zu entfernen war.

Ein kleines Schnippen des Fingers genügte.

Die beste Ehefrau von allen erklärte sich bereit, die riskante Prozedur auf sich zu nehmen.

Eine Woche später wurden ihr die perfekt zugeschliffenen Linsen in einem geschmackvollen Etui zugestellt, wofür ich einen geschmackvollen Scheck in Höhe von 300 Pfund auszustellen hatte.

Noch am gleichen Abend, im Rahmen einer kleinen Familien-Reunion, begann sie mit dem Gewöhnungsprozeß, streng nach den Regeln, an die sie sich fortan halten wollte: erster Tag — 15 Minuten, zweiter Tag — 26 Minuten, dritter Tag —

Dritter Tag? Was für ein dritter Tag, wenn ich fragen darf? Genauer gefragt: was für ein zweiter? Und ganz genau: was für ein erster?

Kurzum: nachdem sie die beiden mikroskopisch kleinen, unmerklich gewölbten Dinger vorschriftsmäßig gesäubert hatte, legte sie die eine Linse auf ihre Fingerspitze und bewegte ihren Finger in Richtung Pupille. Der Finger kam näher, immer näher — er wurde größer, immer größer — er wuchs — er nahm furchterregende Dimensionen an —

»Ephraim, ich habe Angst!« schrie sie in bleichem Entsetzen.

»Nur Mut, nur Mut«, sagte ich beruhigend und aufmunternd zugleich. »Du darfst nicht aufgeben. Schließlich habe ich für das Zeug 300 Pfund gezahlt. Versuch’s noch einmal.«

Sie versuchte es noch einmal. Zitternd, mit zusammengebissenen Zähnen, führte sie den Finger mit der Linse an ihr Auge heran — näher als beim ersten Versuch — schon war er ganz nahe vor dem Ziel — schon hatte er das Ziel angepeilt — und schwupps! war er im Weißen ihres Auges gelandet.

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis die Linse richtig auf der Pupille saß. Aber dann war’s herrlich! Keine Brillen — das Auge bewahrt seine natürliche Schönheit — seinen Glanz — sein Glitzern — es ist eine wahre Pracht. Natürlich gab es noch kleine Nebeneffekte und Störungen. Zum Beispiel waren die Nackenmuskeln zeitweilig paralysiert und der Ausdruck des ständig nach oben gekehrten Gesichts war ein wenig starr. Aber anders hätte das bejammernswerte Persönchen ja überhaupt nichts gesehen, anders hätte sie unter ihren halb geschlossenen Augenlidern auch noch zwinkern müssen. Und mit dem Zwinkern wollte es nicht recht klappen. Es tat weh. Es tat, wenn sie es auch nur ansatzweise versuchte, entsetzlich weh. Deshalb versuchte sie es gar nicht mehr. Sie saß da wie eine tiefgekühlte Makrele, regungslos gegen die Rückenlehne des Sessels gelehnt, und die Tränen liefen ihr aus den starr zur Decke gerichteten Augen. Volle fünfzehn Minuten lang. Dann ertrug sie es nicht länger und entfernte die Linsen.

Das heißt: sie würde die Linsen entfernt haben, wenn sich die Linsen hätten entfernen lassen. Sie ließen sich aber nicht. Sie trotzten den immer verzweifelteren Versuchen, sie zu entfernen. Sie rührten sich nicht.

»Steh nicht herum und glotz nicht so blöd!« winselte die beste Ehefrau von allen. »Tu etwas! Rühr dich!«

Ich konnte den tadelnden Unterton in ihrer Stimme wohl verstehen. Schließlich hatte sie all diese Pein nur meinetwegen auf sich genommen. Ich suchte in meinem Werkzeugkasten nach einem geeigneten Instrument, mit dem sich die tückischen kleinen Gläser hätten entfernen lassen, schüttete den gesamten Inhalt des Kastens auf den Boden, fand aber nur eine rostige Beißzange, und mußte zwischendurch immer wieder die Schmerzensschreie meiner armen Frau anhören. Schließlich rief ich telefonisch eine Ambulanz herbei.

»Hilfe!« schrie ich ins Telefon. »Ein dringender Fall! Zwei Kontaktlinsen sind meiner Frau in die Augen gefallen! Es eilt!«

»Idiot!« rief die Ambulanz zurück. »Gehen Sie zu einem Optiker!«

Ich tat, wie mir geheißen, hob die unausgesetzt Jammernde aus ihrem Sessel, wickelte sie um meine Schultern, trug sie zum Auto, raste zu unserem Spezialisten und stellte sie vor ihn hin.

In Sekundenschnelle, mit einer kaum merklichen Bewegung zweier Finger, hatte er die beiden Linsen entfernt.

»Wie lange waren sie denn drin?« erkundigte er sich.

»Eine Viertelstunde freiwillig, eine Viertelstunde gezwungen.«

»Nicht schlecht für den Anfang«, sagte der Experte und händigte uns als Abschiedsgeschenk eine kleine Saugpumpe aus Gummi ein, ähnlich jenen, die man zum Säubern verstopfter Abflußrohre in der Küche verwendet, nur viel kleiner. Diese Miniaturpumpe sollte man, wie er uns einschärfte, direkt auf die Miniaturlinse ansetzen, und zwar derart, daß ein kleines Vakuum entsteht, welches bewirkt, daß die Linse von selbst herausfällt. Es war ganz einfach.

Man würde kaum glauben, welche Mißhandlungen das menschliche Auge erträgt, wenn es nur will. Jeden Morgen, pünktlich um 9.30 Uhr, überwand die beste Ehefrau von allen ihre panische Angst und preßte die beiden Glasscherben in ihre Augen. Dann machte sie sich mit kleinen, zögernden Schritten auf den Weg in mein Zimmer, tastete sich mit ausgestreckten Armen an meinen Schreibtisch heran und sagte:

»Rate einmal, ob ich jetzt die Linsen drin habe.«

Das stand im Einklang mit dem Text des Inserats, demzufolge es völlig unmöglich war, das Vorhandensein der Linsen mit freiem Auge festzustellen. Daher ja auch die große Beliebtheit dieses optischen Wunders.

Den Rest der täglichen Prüfungszeit verbrachte meine Frau mit leisem, aber beständigem Schluchzen. Bisweilen schwankte sie haltlos durch die Wohnung, und über ihre vertrockneten Lippen kamen ein- übers andremal die Worte: »Ich halt’s nicht aus… ich halt’s nicht aus…«

Sie litt, es ließ sich nicht leugnen. Auch ihr Äußeres litt. Sie wurde, um es mit einem annähernd zutreffenden Wort zu sagen, häßlich. Ihre geröteten Augen quollen beim geringsten Anlaß über, und das ständige Weinen machte sich auch in ihren Gesichtszügen nachteilig geltend. Obendrein dauerte die Qual von Tag zu Tag länger. Und dazu die täglichen Eilfahrten zum Optiker, damit er die Linsen entferne. Denn die kleine Gummipumpe war ein Versager, das zeigte sich gleich beim ersten Mal, als meine Frau sie in Betrieb nahm. Das Vakuum, das programmgemäß entstand, hätte ihr fast das ganze Auge herausgesaugt.

Niemals werde ich den Tag vergessen, an dem das arme kleine Geschöpf zitternd vor mir stand und verzweifelt schluchzte:

»Die linke Linse ist in meinen Augenwinkel gerutscht. Wer weiß, wo sie sich jetzt herumtreibt.«

Ich erwog ernsthaft, eine Krankenschwester aufzunehmen, die im Entfernen von Kontaktlinsen spezialisiert wäre, aber es fand sich keine. Auch unsere Gespräche über die Möglichkeit einer Emigration oder einer Scheidung führten zu nichts.

Gerade als ich alle Hoffnung aufgeben wollte, buchstäblich im letzten Augenblick, erfolgte die Wendung zum Besseren: die beiden Linsen gingen verloren. Wir wissen bis heute nicht, wie und wo. Sie sind ja so klein, diese Linslein, so rührend klein, daß sie augenblicklich im Großstadtverkehr verschwinden, wenn man sie zufällig aus dem Fenster gleiten läßt…

»Und was jetzt?« jammerte die beste Ehefrau von allen. »Jetzt, wo ich mich gerade an sie gewöhnt habe, sind sie weg. Was soll ich tun?«

»Willst du das wirklich wissen?« fragte ich.

Sie nickte unter Tränen, und nickte abermals, als ich sagte:

»Trag wieder deine Brille.«

Es geht ganz leicht. Am ersten Tag 15 Minuten, am zweiten 20 — und nach einer Woche hat man sich an die Brille gewöhnt. Deshalb kann man aber trotzdem von Zeit zu Zeit ohne Brille zu einer Party gehen und vor aller Welt damit prahlen, wie großartig diese neuen Kontaktlinsen sind. Man sieht sie gar nicht. Wenn man nicht gerade das Pech hat, den Buffettisch umzuwerfen, glaubt’s einem jeder und man wird zum Gegenstand allgemeinen Neides.

»Wen hast du lieber — Mutti oder Vati?« Diese Idiotenfrage bekommen kleine Kinder, besonders solche, die noch nicht sprechen können, immer wieder zu hören. Unserm Sohn Amir ergeht es nicht anders. Könnte er schon sprechen, so würde er antworten: »Mir ist es gleich. Ich bemühe mich, beide in Atem zu halten.«

Die Stimme des Blutes

Es ist eine weithin bekannte Tatsache, daß wir beide, meine Frau und ich, unsere Familienangelegenheiten streng diskret behandeln und daß ich mir niemals einfallen ließe, sie etwa literarisch auszuwerten. Es kann ja auch keinen Menschen interessieren, was bei uns zu Hause vorgeht.

Nehmen wir beispielsweise unser jüngstes Kind, den Knaben Amir, der in Wahrheit noch ein Baby ist, und zwar ein außerordentlich gut entwickeltes Baby. Nach Ansicht der Ärzte, die wir gelegentlich zu Rate ziehen, liegt sein Intelligenzniveau 30-35% über dem absoluten Minimum, und die restlichen 65-70% werden mit der Zeit noch hinzukommen. Amir hat blaue Augen, wie König David sie hatte, und rote Haare, ebenfalls wie König David. Das mag ein faszinierendes Zusammentreffen sein — für die Öffentlichkeit ist es uninteressant.

Manchmal allerdings kommt es im Leben des Kleinkinds zu einem Ereignis, über das man unmöglich schweigend hinweggehen kann. So auch hier. Amir stand nämlich eines Tages auf und blieb stehen. Auf beiden Beinen.

Man glaubt es nicht? Nun ja, gewiß, früher oder später lernen alle Kinder, auf beiden Beinen zu stehen. Aber Amir stand auf beiden Beinen, ohne es jemals gelernt zu haben, ohne Ankündigung oder Vorbereitung.

Es war ungefähr fünf Uhr nachmittag, als aus dem Baby-Trakt unserer Wohnung ein völlig unerwartetes, sieghaftes Jauchzen erklang — wir stürzten hinzu — und tatsächlich: klein Amir stand da und hielt sich am Gitter seiner Gehschule fest. Tatsächlich, er stand fest auf beiden Beinen, sehr zum Unterschied von der Exportwirtschaft des Staates Israel. Unsere Freude war grenzenlos.

»Großartig!« riefen wir. »Gut gemacht, Amir! Bravo! Mach’s noch einmal!«

Hier ergaben sich nun einige Schwierigkeiten. Das Kind hatte erstaunlich frühzeitig, oder in jedem Fall nicht zu spät, das Geheimnis des Aufstehens ohne Hilfe erforscht, aber die Technik des Wiederhinsetzens war ihm noch nicht geläufig. Und da ein Kleinkind unmöglich den ganzen Tag lang stehen kann, gab der kleine Liebling deutliche Zeichen von sich, daß wir ihm beim Niederlassen behilflich sein sollten. Was wir auch taten.

Amir steht sehr gerne auf. Er ist, wenn man so sagen darf, darauf versessen, zu stehen. Mindestens siebzigmal am Tag erklingt aus seiner Ecke der Ruf:

»Pappi! Pappi!«

Ich bin es, den er ruft. Ich, sein Vater, der ihn gezeugt hat. Darin liegt etwas zutiefst Bewegendes. Seine Mutter beschäftigt sich mit ihm fast ununterbrochen, sie füttert ihn mit allerlei Milch und verschiedenen Sorten von Brei, sie hegt und pflegt ihn nach besten Kräften — aber der wunderbare, fast atavistische Urinstinkt des Kindes spürt ganz genau, wer der Herr im Haus ist und wem er vertrauen darf. Deshalb bricht Amir jedesmal, wenn er aufsteht und sich nicht wieder hinsetzen kann, in den gleichen Ruf aus, in den Ruf:

»Pappi! Pappi!«

Und Pappi kommt. Pappi eilt herbei. Gleichgültig, was ich gerade tue und in welcher Lage ich mich befinde, vertikal oder horizontal — wenn mein Kind nach mir ruft, lasse ich alles stehen und liegen und bin an seiner Seite. Zugegeben: es ist ein schwerer Schlag für das Selbstbewußtsein meiner Frau. Es bringt selbst mich in eine gewisse Verlegenheit, daß das Kind, obwohl es in gewissem Sinn auch das ihre ist, sich so klar und eindeutig für seinen Vater entscheidet. Zum Glück ist meine Frau eine intelligente, aufgeklärte Person und weiß ihre Eifersucht zu verbergen. Vor ein paar Tagen gab sie mir sogar ausdrücklich zu verstehen, daß ich mir keine Sorgen machen müsse:

»Es ist alles in Ordnung, Ephraim«, sagte sie, als ich wieder einmal von einer der Niederlassungs-Zeremonien zurückkam. »Amirs Liebe gehört dir. Damit muß ich mich abfinden.«

So etwas kann einem richtig wohltun.

Andererseits möchte man von Zeit zu Zeit auch schlafen.

Solange das Kind nur während des Tags aufstand, war es mir eine frohe Selbstverständlichkeit, ihm beim Niedersetzen zu helfen. Aber als ich ihm immer öfter bis in die frühen Morgenstunden zu Hilfe eilen mußte, hätte ein scharfer Beobachter bei mir gewisse Anzeichen von Nervosität entdecken können. Ich brauche mindestens drei Stunden Schlaf, sonst beginne ich zu stottern. Und nicht einmal diese drei Stunden wollte der Balg mir gönnen.

In jener unvergeßlichen Bartholomäusnacht hatte ich zwecks Ableistung erster Hilfe schon dreißigmal mein Lager verlassen, während die beste Ehefrau von allen friedlich auf dem ihren ruhte, in tiefem Schlaf, mit regelmäßigen Atemzügen, und manchmal mit einem sanften Lächeln um ihre Lippen, wenn sie, in den Schlummer hinein, den fernen »Pappi!«-Ruf vernahm. Ich verargte ihr dieses Lächeln nicht. Mein Sohn hatte ja schließlich mich gerufen und nicht sie. Trotzdem empfand ich es irgendwie als ungerecht, daß ich, der überarbeitete, abgeschundene Vorstand des Haushalts, zwischen meinem Bett und dem Baby-Winkel pausenlos hin- und herflitzen mußte, während die hauptberufliche Mutter ungestört neben mir dahinschnarchte.

Ein leiser Groll gegen Amir keimte in meinem Innern auf. Erstens hätte er schon längst gelernt haben können, sich ohne Hilfe hinzusetzen, wie die anderen erwachsenen Kinder. Und zweitens war es kein schöner Zug von ihm, sich seiner lieben Mutter gegenüber, die ihn aufopfernd und unermüdlich hegte, so schlecht zu benehmen. Er ist eben rothaarig, wie ich schon sagte.

Als die beste Ehefrau von allen wieder einmal ihre Zeit beim Friseur vergeudete, nahm ich Amir auf meine Knie und sprach langsam und freundlich auf ihn ein:

»Amir — ruf nicht immer ›Pappi‹, wenn du etwas brauchst. Gewöhn dir an, ›Mammi‹ zu rufen. Mammi, Mammi. Hörst du, mein kleiner Liebling? Mammi, Mammi, Mammi.«

Amir, auch das glaube ich schon gesagt zu haben, ist ein sehr aufgewecktes Kind. Und die beste Ehefrau von allen ist sehr oft beim Friseur.

Nie werde ich den historischen Augenblick vergessen, als mitten in der Nacht zum ersten Mal aus Amirs Ecke der revolutionäre Ruf erklang:

»Mammi! Mammi!«

Ich griff mit starkem Arm nach meiner Ehefrau und rüttelte sie so lange, bis sie erwachte.

»Mutter«, flüsterte ich in die Dunkelheit, »dein Sohn steht auf beiden Beinen.«

Mutter brauchte einige Zeit und einige weitere Rufe, ehe sie die Situation erfaßte. Schwerfällig, um nicht zu sagen: widerwillig, erhob sie sich, schlaftrunken torkelnd kam sie nach einer Weile zurück. Aber sie sagte nichts und streckte sich wieder hin, wie jemand, der aus dem Halbschlaf wieder in den ganzen zu verfallen plant.

»Mach dich darauf gefaßt, Liebling«, raunte ich ihr zu, »daß unser Sohn dich noch öfter rufen wird.«

Und so geschah es.

In den folgenden Wochen durfte ich mich nach langer, langer Zeit wieder eines völlig ungestörten Schlummers erfreuen. Unser kleines, süßes, blauäugiges Wunder hatte unter meiner Führung den richtigen Weg gefunden und hatte die Bedeutung der Mutterschaft vollauf begriffen. Die Lage normalisierte sich. Mutter bleibt Mutter, so will es die Natur. Und wenn ihr Kind nach ihr ruft, dann muß sie dem Ruf folgen. In einer besonders gesegneten Nacht stellte sie mit zweiundvierzig Ruf-Folgeleistungen einen imposanten Rekord auf.

»Ich bin von Herzen froh, daß Amir zu dir zurückgefunden hat«, sagte ich eines Morgens beim Frühstück, als sie endlich so weit war, die Augen halb offen zu halten. »Findest du nicht auch, daß die Mutter-Kind-Beziehung das einzig Natürliche ist?«

Leider nahm die einzig natürliche Situation ein jähes Ende. Es mochte vier Uhr früh sein, als ich mich unsanft wachgerüttelt fühlte.

»Ephraim«, flötete die beste Ehefrau von allen, »dein Sohn ruft dich.«

Ich wollte es zuerst nicht glauben. Aber da klang es aufs neue durch die Nacht.

»Pappi! Pappi!«

Und dabei blieb es. Amir hatte wieder zu mir herübergewechselt. Sollte das etwa daran liegen, daß ich um diese Zeit beinahe täglich in der Stadt zu tun hatte und oft viele Stunden lang von zu Hause wegblieb?

Möge niemand auf den absurden Gedanken verfallen, daß wir gegen die Haarfarbe unseres kleinen Amir etwas einzuwenden hätten. Gehört es doch zu den Eigenheiten echtbürtiger Vorderorientalen, daß sie manchmal eine gewisse Neigung zur Rothaarigkeit aufweisen. Menschen mit roten Haaren sind ein schöner, farbenfroher Anblick. Meine kleine Frau und ich haben uns nichts sehnlicher gewünscht als ein rothaariges Kind. Leider haben wir drei.

Rote Haare sind Ansichtssache

Die wahre Sachlage ist mit der Bezeichnung »rot« nur unzulänglich charakterisiert. Amir ist nicht eigentlich rot —, er ist purpurhaarig. Als wäre in seinem Schädeldach Feuer ausgebrochen. Man findet dieses Rot gelegentlich auf den Bildern des frühen Chagall, dort, wo die fliegenden Hähne den Kamm haben. Mir persönlich macht das nichts aus. Das Phänomen der Rothaarigkeit hat, finde ich, auch seine guten Seiten. Wenn Amir uns beispielsweise in einem Gedränge abhanden kommt, können wir ihn binnem kurzem dank seiner Haarfarbe orten, selbst in der größten Menschenmenge. Schlimmstenfalls wird er also kein Stierkämpfer werden. Na wenn schon. Ist das ein Gesprächsthema?

Ich muß zugeben, daß auf dem ganzen, weit verzweigten Stammbaum meiner Familie kein einziger Rotkopf hockt, nicht einmal irgendein entfernter Urgroßonkel. Wieso gerade mein Sohn… Aber schließlich waren einige der bedeutendsten Männer der Weltgeschichte rothaarig, zum Beispiel fällt mir jetzt kein Name ein. Churchill, heißt es, kam sogar mit einer Glatze zur Welt.

»In meinen Augen«, pflegt die beste Ehefrau von allen zu sagen, »ist Amir das schönste Kind im ganzen Land.«

Amir selbst scheint der gleichen Ansicht zu sein. Noch bevor er richtig gehen konnte, nahm er jede Gelegenheit wahr, sich in einem Spiegel anzuschauen und verzückt auszurufen:

»Ich bin lothaalig, ich bin lothaalig!«

Er fühlte sich von Herzen froh und glücklich. Wir, seine klugen, erfahrenen Eltern, wußten freilich nur allzu gut, was ihm bevorstand. Schon im Kindergarten würde das kleine, grausame Pack ihn wegen seiner Haarfarbe necken und hänseln. Armer Rotkopf, wie wirst du das Leben ertragen.

Unsere Sorgen erwiesen sich als gerechtfertigt. Amir besuchte erst seit wenigen Wochen den Kindergarten, als er eines Tages traurig und niedergeschlagen nach Hause kam. Auf unsere Frage, ob ihm jemand etwas Böses getan hätte, begann er zu schluchzen:

»Ein Neuer… heute… er sagt… rot… rote Haare…«

»Er sagt, daß du rote Haare hast?«

»Nein… er sagt… seine Haare sind röter.«

Ein Kind, und vollends schluchzendes Kind, kann sich nicht immer verständlich ausdrücken. Deshalb riefen wir den Leiter des Kindergartens an, um die Sachlage zu klären. Er bestätigte, daß ein neu hinzugekommener Junge ebenfalls rothaarig sei und daß unser empfindsamer Sohn offenbar unter dem Verlust seiner Monopolstellung litt.

Amir hatte mittlerweile die ganze Geschichte vergessen und ging in den Garten, um sich vor der Katze zu fürchten.

»Jetzt ist er noch im seelischen Gleichgewicht«, erklärte mir seine Mutter. »Er hält rote Haare für schön und freut sich ihrer. Aber wie wird’s in der Schule weitergehen?«

Im Verlauf unseres Gesprächs gestand sie mir, daß sie in ihren Träumen von einer stereotypen Schreckensvision heimgesucht würde: Amirlein rennt auf seinen kleinen Beinchen eine Straße entlang, verfolgt von einer brüllenden Kohorte (meine Frau träumt immer so extravagante Ausdrücke), die mit dem Ausruf: »Karottenkopf, Karottenkopf!« hinter ihm herhetzt.

Und wirklich, ein knappes Vierteljahr später kam Amir atemlos nach Hause gerannt.

»Pappi, Pappi!« rief er schon von weitem. »Heute haben sie mich ›Karottenkopf‹ gerufen!«

»Hast du dich mit ihnen geprügelt?«

»Geprügelt? Warum?«

Es ist ihm immer noch nicht klar, dem Ärmsten, daß man ihn vorsätzlich kränken will. Wahrscheinlich stellt er sich unter einem Karottenkopf ein besonders schmackhaftes Gemüse vor. Manchmal stolziert er siegestrunken auf der Straße auf und ab, deutet auf seinen Kopf und jauchzt:

»Karottenkopf, Karottenkopf!«

Wie lange sollen wir ihn seinem seligen Irrtum belassen? Ist es nicht unsere Pflicht, ihn rechtzeitig aufzuklären, ihn auf die Erniedrigungen und Beleidigungen vorzubereiten, von denen seine kleine Kinderseele nichts ahnt und die dennoch unaufhaltsam auf ihn zukommen? Wird er gewappnet sein?

»Du bist der Vater«, entschied die beste Ehefrau von allen. »Sprich du mit ihm.«

Ich nahm Amir auf die Knie:

»Es ist keine Schande, rote Haare zu haben, mein Sohn«, begann ich. »Niemand kann sich die Farbe seiner Haare aussuchen, stimmt’s? König Davids Haar war flammend rot, und trotzdem hat er Goliath besiegt. Wenn also irgendein Idiot eine dumme Bemerkung über deine Haarfarbe macht, dann sage ihm geradeheraus: ›Jawohl, ich bin rothaarig, aber mein Pappi nicht!‹ Hast du verstanden?«

Amir hörte mir nicht besonders aufmerksam zu. Er wollte längst hinausgehen und den Hund unseres Nachbarn mit Steinen bewerfen. Ein wenig abwesend streichelte er mich und murmelte ein paar Worte, die ungefähr besagten, daß ich mir nichts daraus machen sollte, keine roten Haare zu haben. Dann ließ er mich sitzen.

Nun, jedenfalls war er das schönste rothaarige Kind im ganzen Kindergarten. Er bestand darauf, seine roten Haare als Auszeichnung zu empfinden. Rothaarige sind sehr eigensinnig. Man muß sich nicht selten über sie ärgern. Es ist kein Zufall, daß man rothaarige Menschen nicht mag. Ich persönlich verstehe das sehr gut.

Meine Frau und ich beschlossen, die Sache nicht weiter zu verfolgen, zumindest nicht mit Gewalt. Wir ließen das Schicksal an uns herankommen.

Als draußen vor dem Haus die Rauferei ausbrach, wußten wir, daß es soweit war.

Ich stürzte hinaus. Mein Sohn Amir saß auf einem Fahrrad und heulte herzzerreißend, während die anderen Kinder — sofern man diese wilde Meute als »Kinder« bezeichnen konnte — von allen Seiten auf ihn eindrangen. Ich brach durch den stählernen Ring und drückte meinen kleinen Liebling ans Herz.

»Wer hat dich einen Rotkopf geheißen?« brüllte ich. »Wer wagt es, meinen Sohn zu beschimpfen?«

Die minderjährigen Monster blinzelten in die Luft und zogen es vor, nicht zu antworten.

Es war Amir selbst, der die klärenden Worte fand:

»Was Rotkopf, wer Rotkopf?« fragte er. »Ich hab mir Gillis Fahrrad ausgeborgt und er will es zurückhaben. Aber ich kann viel besser radeln als er. Warum läßt er mich nicht?«

»Das ist mein Rad«, stotterte einer der Knaben, wahrscheinlich Gilli. »Und ich hab’s ihm nicht geborgt.«

»So, du hast es ihm nicht geborgt? Weil er rote Haare hat, nicht wahr?«

Und ohne mich mit der widerwärtigen Brut weiter abzugeben, trug ich Amir auf starken Armen ins Haus. Während ich ihm das Gesicht wusch, tröstete ich ihn mit all meiner väterlichen Liebe:

»Du bist kein Rotkopf, mein Herzblättchen. Deine Haare spielen ins Rötliche, aber sie sind nicht wirklich rot. Bei richtigen Rotköpfen ist die ganze Nase mit Sommersprossen bedeckt. Du hast höchstens vier, und auch die nur im Sommer. Kränk dich nicht. Es hat rothaarige Könige gegeben. Und die schönsten Tiere, die Gott geschaffen hat, sind rothaarig. Zum Beispiel der Fuchs. Oder der Wiedehopf, wenn er zufällig rote Federn hat. Du aber bist nicht rothaarig, Amir. Glaub ihnen nicht, wenn sie dich Rotkopf nennen. Sei nicht traurig. Hör ihnen gar nicht zu, mein kleiner Rotkopf…«

Es half nichts. Die Überzeugung, daß rote Haare etwas Schönes wären, hatte sich in Amir festgesetzt und ließ sich nicht verdrängen. Er meint, daß Rothaarige anders seien als die anderen.

Daran ist nur der Kindergarten schuld, wo man den Kleinen solchen Unsinn beibringt.

Gestern ertappte ich ihn dabei, wie er vor dem Spiegel stand und seine Sommersprossen zählte. Meine Frau behauptet, daß er sich heimlich kämmt und bürstet und alle möglichen Frisuren für seine Haare entwirft.

»Warum?« seufzte sie. »Warum läßt man ihn nicht in Ruhe? Warum reibt man ihm ununterbrochen unter die Nase, daß er rothaarig ist?«

Ich weiß auf diese Frage keine Antwort. Aber ich hege das tiefste Mitgefühl für alle rothaarigen Kinder, besonders für jene, deren Eltern nichts dazu tun, um sie von ihrem Rothaar-Komplex zu befreien.

Nun ja. Nicht jedes Kind hat das Glück, solche Eltern zu haben wie unser Amir.

Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Das israelische Kleinkind ist absolut korrumpiert. Es beherrscht den Haushalt und die Familie mit uneingeschränkter Macht, ohne jede Angst vor Konkurrenz und unter raffiniertem Einsatz seiner Fähigkeit, laut zu heulen.

Durch den Kakao gezogen

Amir, unser rothaariger Tyrann, ißt nicht gerne und hat niemals gerne gegessen. Wenn er überhaupt kaut, dann nur an seinem Schnuller.

Erfahrene Mütter haben uns geraten, ihn hungern zu lassen, das heißt: wir sollten ihm so lange nichts zu essen geben, bis er reumütig auf allen Vieren zu uns gekrochen käme. Wir gaben ihm also einige Tage lang nichts zu essen, und davon wurde er tatsächlich so schwach, daß wir auf allen Vieren zu ihm gekrochen kamen, um ihm etwas Nahrung aufzudrängen.

Schließlich brachten wir ihn zu einem unserer führenden Spezialisten, einer Kapazität auf dem Gebiet der Kleinkind-Ernährung. Der weltberühmte Professor warf einen flüchtigen Blick auf Amir und fragte, noch ehe wir eine Silbe geäußert hatten:

»Ißt er nicht?«

»Nein.«

»Dabei wird’s auch bleiben.«

Nach einer kurzen Untersuchung bestätigte der erfahrene Fachmann, daß es sich hier um einen völlig aussichtslosen Fall handelte. Amirs Magen besaß die Aufnahmefähigkeit eines Vögleins. Die finanzielle Aufnahmefähigkeit des Professors war ungleich größer. Wir befriedigten sie.

Seither versuchen wir mehrmals am Tag, Amir mit Gewalt zu füttern, ganz im Geiste jenes Bibelworts, das da lautet: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen«. Ich muß allerdings gestehen, daß weder ich selbst noch die beste Ehefrau von allen die für solche Betätigung erforderliche Geduld aufbringen.

Zum Glück hat sich mein Schwiegervater der Sache angenommen und seinen ganzen Ehrgeiz dareingesetzt, Amir zur Nahrungsaufnahme zu bewegen. Er erzählt ihm phantastische Geschichten, über die Amir vor Staunen den Mund aufreißt — und dabei vergißt er, daß er nicht essen will. Ein genialer Einfall, aber leider keine Dauerlösung.

Eines der Hauptprobleme hört auf den Namen »Kakao«. Dieses nahrhafte, von Vitaminen und Kohlehydraten strotzende Getränk ist für Amirs physische Entwicklung unentbehrlich. Deshalb schließt Großpapa sich abends mit Amir im Kinderzimmer ein, und wenn er nach einigen Stunden erschöpft und zitternd herauskommt, kann er stolz verkünden:

»Heute hat er’s schon fast auf eine halbe Tasse gebracht.«

Die große Wendung kam im Sommer. Eines heißen Abends, als Großpapa das Kinderzimmer verließ, zitterte er zwar wie gewohnt, aber diesmal vor Aufregung:

»Denkt euch nur — er hat die ganze Tasse ausgetrunken!«

»Nicht möglich!« riefen wir beide. »Wie hast du das fertiggebracht?«

»Ich hab’ ihm gesagt, daß wir Pappi hineinlegen werden.«

»Wie das? Bitte sei etwas deutlicher.«

»Ich hab’ ihm gesagt: wenn er brav austrinkt, füllen wir nachher die Tasse mit lauwarmem Leitungswasser und erzählen dir, daß Amir schon wieder alles stehengelassen hat. Daraufhin wirst du wütend und machst dich selbst über die volle Tasse her. Und dann freuen wir uns darüber, daß wir dich hineingelegt haben.«

Ich fand diesen Trick ein wenig primitiv. Auch halte ich es in pädagogischer Hinsicht für verfehlt, wenn ein Vater, der ja schließlich eine Respektsperson sein soll, sich von seinem eigenen Kind zum Narren machen läßt. Erst auf mütterlichen Druck (»Hauptsache, daß der Kleine seinen Kakao trinkt«) entschloß ich mich, auf das Spiel einzugehen. Großpapa begab sich ins Badezimmer, füllte den Becher mit lauwarmer Flüssigkeit und hielt ihn mir hin:

»Amir hat schon wieder keinen Tropfen getrunken!«

»Das ist ja unerhört!« schrie ich in hervorragend gespielter Empörung. »Was glaubt der Kerl? Er will diesen herrlichen Kakao nicht trinken? Gut, dann trink’ ich ihn selbst!«

Amirs Augen hingen erwartungsvoll glitzernd an meinem Mund, als ich den Becher ansetzte. Und ich täuschte seine Erwartung nicht:

»Pfui Teufel!« rief ich nach dem ersten Schluck. »Was ist das für ein abscheuliches Gesöff? Brrr!«

»Reingefallen, reingefallen!« jauchzte Amir, tat einen Luftsprung und konnte sich vor Freude nicht fassen. Es war ein wenig peinlich aber, um seine Mutter zu zitieren: »Hauptsache, daß er seinen Kakao trinkt.«

Am nächsten Tag war’s die gleiche Geschichte: Opa brachte mir einen Becher Leitungswasser, Amir hat nichts getrunken, was glaubt der Kerl, herrlicher Kakao, pfui Teufel, brrr, reingefallen, reingefallen. Und von da an wiederholte sich die Prozedur Tag für Tag.

Nach einiger Zeit funktionierte sie sogar ohne Großpapa. Amirs Entwicklung macht eben Fortschritte. Jetzt kommt er schon selbst mit dem Leitungswasserbecher, unerhört, herrlicher Kakao, pfui Teufel, reingefallen, Luftsprung…

Mit der Zeit begann ich mir Sorgen zu machen:

»Liebling«, fragte ich meine Frau, »ist unser Kind vielleicht dumm?«

Es war mir nämlich nicht ganz klar, was sich in seinem Kopf abspielte. Vergaß er jeden Abend, was am Abend zuvor geschehen war? Hielt er mich für schwachsinnig, daß ich seit Monaten demselben Trick aufsaß?

Die beste Ehefrau von allen fand wie immer die richtigen Trostworte: was der Kleine denkt, ist unwichtig, wichtig ist, was er trinkt.

Es mochte ungefähr Mitte Oktober sein, als ich — vielleicht aus purer Zerstreutheit, vielleicht aus unterschwelligem Protest — die üble Flüssigkeit ohne jedes »unerhört« und »brrr« direkt in die Toilette schüttete.

Das sehen und in Tränen ausbrechen, war für Amir eins:

»Pfui, Pappi«, schluchzte er. »Du hast ja nicht einmal gekostet.«

Jetzt war es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei:

»Ich brauche nicht zu kosten«, herrschte ich meinen Nachkommen an. »Jeder Trottel kann sehen, daß es nur Wasser ist.«

Ein durchdringender Blick Amirs war die Folge:

»Lügner«, sagte er leise. »Warum hast du dann bisher immer gekostet?«

Das war die Entlarvung. Amir wußte, daß wir Abend für Abend ein idiotisches Spiel veranstalteten. Wahrscheinlich hatte er’s von allem Anfang an gewußt.

Unter diesen Umständen bestand keine Notwendigkeit mehr, die lächerliche Prozedur fortzusetzen.

»Doch«, widersprach die beste Ehefrau von allen. »Es macht ihm Spaß. Hauptsache, daß er…«

Im November führte Amir eine kleine Textänderung ein. Wenn ich ihn bei der Überreichung des Bechers fragte, warum er seinen Kakao nicht getrunken hätte, antwortete er:

»Ich habe nicht getrunken, weil das kein Kakao ist, sondern Leitungswasser.«

Eine weitere Erschwerung trat im Dezember auf, als Amir sich angewöhnte, die Flüssigkeit vor der Kostprobe mit dem Finger umzurühren. Die Zeremonie widerte mich immer heftiger an. Schon am Nachmittag wurde mir übel, wenn ich mir vorstellte, wie das kleine, rothaarige Ungeheuer am Abend mit dem Leitungswasser angerückt kommen würde. Alle anderen Kinder trinken Kakao, weil Kinder eben Kakao trinken. Nur mein eigenes Kind ist mißraten…

Gegen Ende des Jahres geschah etwas Rätselhaftes. Ich weiß nicht, was da in mich gefahren war: an jenem Abend nahm ich aus meines Sohnes Hand den Becher entgegen — und statt den eklen Sud in weitem Bogen auszuspucken, trank ich ihn bis zur Neige. Ich erstickte beinahe, aber ich trank.

Amir stand entgeistert daneben. Als die Schrecksekunden vorüber waren, schaltete er höchste Lautstärke ein:

»Wieso?« schrillte er. »Warum trinkst du das?«

»Was heißt da Warum und Wieso?« gab ich zurück. »Hast du mir nicht gesagt, daß du heute keinen Tropfen Kakao getrunken hast? Und hab’ ich dir nicht gesagt, daß ich den Kakao dann selbst trinken werde? Also?«

In Amirs Augen funkelte unverkennbarer Vaterhaß. Er wandte sich ab, ging zu Bett und weinte die ganze Nacht.

Es wäre wirklich besser gewesen, die Komödie vom Spielplan abzusetzen. Aber davon wollte meine Frau nichts wissen:

»Hauptsache«, erklärte sie, »daß er seinen Kakao trinkt.«

So vollzog sich denn das Kakao-Spiel erbarmungslos Abend für Abend, immer zwischen sieben und halb acht…

Als Amir seinen fünften Geburtstag feierte, ergab sich eine kleine Zeitverschiebung. Wir hatten ihm erlaubt, ein paar seiner Freunde einzuladen, mit denen er sich unter Mitnahme des Bechers ins Kinderzimmer zurückzog. Gegen acht Uhr wurde ich ungeduldig und wollte ihn zwecks Abwicklung des Rituals herausrufen. Als ich mich der Tür näherte, hörte ich ihn sagen:

»Jetzt muß ich ins Badezimmer gehen und lauwarmes Wasser holen.«

»Warum?« fragte sein Freund Gilli.

»Mein Pappi will es so haben.«

»Warum?«

»Weiß nicht. Jeden Abend dasselbe.«

Der gute Junge — in diesem Augenblick wurde es mir klar — hatte die ganze Zeit geglaubt, daß ich es sei, der das Kakao-Spiel brauchte. Und er hat nur um meinetwillen mitgespielt.

Am nächsten Tag zog ich Amir an meine Brust und ins Vertrauen:

»Sohn«, sagte ich, »es ist Zeit, von diesem Unsinn zu lassen. Schluß mit dem Kakao-Spiel! Wir wissen beide, woran wir sind. Komm, laß uns etwas anderes erfinden.«

Das Schrei- und Heulsolo, das daraufhin einsetzte, widerhallte im ganzen Wohnviertel. Und was ich erst von meiner Frau zu hören bekam!

Die Ensuite-Vorstellung geht weiter. Es gibt keine Rettung. Manchmal ruft Amir, wenn die Stunde da ist, aus dem Badezimmer: »Pappi, kann ich dir schon das Leitungswasser bringen?« und ich beginne daraufhin sofort meinen Teil des Dialogs herunterzuleiern, unerhört, herrlicher Kakao, pfui Teufel, brrr… Es ist zum Verzweifeln. Als Amir eines Abends ein wenig Fieber hatte und im Bett bleiben mußte, ging ich selbst ins Badezimmer, füllte meinen Sud in den Becher und trank ihn aus.

»Reingefallen, reingefallen«, rief Amir durch die offene Türe.

Seit neuestem hat er meinen Text übernommen. Wenn er mit dem gefüllten Becher aus dem Badezimmer herauskommt, murmelt er vor sich hin:

»Amir hat schon wieder keinen Tropfen getrunken, das ist ja unerhört, was glaubt der Kerl…« und so weiter bis brrr.

Ich komme mir immer überflüssiger vor in diesem Haus. Wirklich, wenn es nicht die Hauptsache wäre, daß Amir seinen Kakao trinkt — ich wüßte nicht, wozu ich überhaupt gut bin.

Jedes Volk schart sich um die Erinnerung an seine großen Männer wie um eine Flagge. Und kein Volk hat ein so heftiges Bedürfnis nach Nationalhelden wie das unsere. Bei aller historischen Arroganz, die wir uns im Lauf der Jahrtausende erworben haben: für einen echten, notariell beglaubigten Nationalhelden sind wir bereit, uns mit dem Teufel zu verbünden. Notfalls sogar mit dem Druckfehlerteufel.

Titel, Tod und Teufel

»Dieser Jankel bringt mich noch ins Grab!« fluchte Herr Grienbutter, Chefredakteur des »Täglichen Freiheitskämpfers«, lautlos in sich hinein. »Hundertmal hab’ ich ihm schon gesagt, daß bei verschiedenen Nachrichten auch die Titel verschieden gesetzt werden müssen, besonders wenn sie auf dieselbe Seite kommen. Und was macht Jankel? Er setzt die Titel ›Gewerkschaft kündigt Neuwahlen an’ und ‘USA von Teuerungswelle bedroht‹ in gleicher Größe und in gleicher Type nebeneinander! Es ist zum Verrücktwerden…«

Herr Grienbutter riß ein Blatt Papier an sich, um eine eilige Kurznachricht an Jankel hinzuwerfen — wobei er ihn, wie immer in Fällen offiziellen Ärgers, nicht mit dem kosenden Diminutiv anredete, sondern mit der korrekten Namensform: »Jakob — Titel verschieden (USA, Gewerkschaft)!« Und um sicherzugehen, daß der solchermaßen zurechtgewiesene Jakob die Botschaft auch wirklich bemerken und berücksichtigen würde, rahmte sie Herr Grienbutter mit dicken, schwarzen Strichen seines Filzschreibers ein. Dann warf er das Blatt zusammen mit dem Bürstenabzug in den Abgangs-Korb für die Setzerei und eilte aus dem Haus. Er war bei Spiegels zum Nachtmahl eingeladen und schon eine Viertelstunde verspätet.

Als Herr Grienbutter am nächsten Morgen — wie üblich noch im Bett — die Zeitung öffnete, sank er, vor Schrecken fast vom Schlag gerührt, in die Kissen zurück. Von der ersten Seite des »Freiheitskämpfers« glotzte ihm in dickem, schwarzem Rahmen die folgende Todesanzeige entgegen:

JAKOB TITEL

ist plötzlich verschieden.

Er starb auf einer Reise in den USA.

Der Vorstand des Jüdischen Gewerkschaftsbundes

Zornbebend stürzte Herr Grienbutter in die Redaktion, wutschnaubend fiel er über Jankel her. Jankel hörte sich die Schimpftirade ruhig an und verwies auf Grienbutters eigenhändige Arbeitsnotiz, die er für den Druck ja nur geringfügig eingerichtet hatte.

Der unterm Keulenschlag eines irreparablen Schicksals wankende Chefredakteur suchte das Büro des Herausgebers auf, um mit ihm eine Möglichkeit zu besprechen, wie man sich bei den Lesern des »Freiheitskämpfers« für den skandalösen Mißgriff entschuldigen könnte.

Zu seiner Überraschung empfing ihn der Herausgeber in strahlender Laune. Er hatte soeben von der Annoncenabteilung erfahren, daß bereits 22 hochbezahlte Traueranzeigen eingelaufen waren, die das unerwartete Hinscheiden Jakob Titels beklagten.

Herr Grienbutter wollte kein Spaßverderber sein und empfahl sich schleunig.

Am nächsten Tag wimmelte es im »Freiheitskämpfer« von schwarzumrandeten Inseraten. Da hieß es etwa: »Gramgebeugt geben wir den allzu frühen Tod unseres teuern Jakob Titel bekannt. Die Konsumgenossenschaften Israels.« Oder: »Leitung und Belegschaft der Metallröhrenwerke Jad Eliahu betrauern das tragische Ableben Jakob Titels, des unerschrockenen Pioniers und Kämpfers für unsere Sache.«

Aber das alles hielt keinen Vergleich mit der folgenden Nummer aus, die um vier Seiten erweitert werden mußte, um die Zahl der Trauerkundgebungen zu bewältigen. Allein die »Landwirtschaftliche Kooperative« nahm eine halbe Seite in Anspruch: »Der Verlust unseres teuern Genossen Jakob (Jankele) Titel reißt eine unersetzliche Lücke in unsere Reihen. Ehre seinem Andenken!« Die Beilage brachte ferner das aufrichtige Mitgefühl der Drillbohrer zum Ausdruck: »Wir teilen euern Schmerz über den Verlust dieses besten aller Arbeiterfunktionäre«, und enthielt überdies einen peinlichen Irrtum: »Den Titels alle guten Wünsche zur Geburt des kleinen Jakob. Familie Billitzer«.

Auch die anderen Morgenblätter waren mit entsprechenden Anzeigen gesprenkelt, ohne indessen dem »Freiheitskämpfer« Konkurrenz machen zu können. Der Chef des hochangesehenen »Neuen Vaterlands«, verärgert darüber, daß sein Blatt den Tod einer so hervorragenden Persönlichkeit des öffentlichen Lebens nicht als erstes gemeldet hatte, überließ den Nachruf seinem Sportredakteur. Dieser erfahrene Reporter durchstöberte ebenso gründlich wie erfolglos den Zettelkasten, stellte alle möglichen Recherchen an, die ihm von Seiten der Befragten nur dunkle Erinnerungen an den verewigten Jakob Titel einbrachten, und behalf sich schließlich mit einem sogenannten »Allround«-Nekrolog, der erfahrungsgemäß immer paßte:

»Jakob (Jankele) Titel, der zur Generation der ›alten Siedler‹ unseres Landes gehörte, wurde während eines Besuchs in den Vereinigten Staaten plötzlich vom Tod ereilt und auf dem örtlichen Friedhof zur letzten Ruhe gebettet.

Titel, ein Haganah-Kämpfer der ersten Stunde, hatte sich praktisch in sämtlichen Sparten der Arbeiterbewegung betätigt. Schon auf der Jüdischen Hochschule in Minsk (Rußland), die er mit vorzüglichem Erfolg absolvierte, galt er als einer der führenden Köpfe der Studentenschaft und rief eine geheime zionistische Jugendgruppe ins Leben.

Ungefähr um die Jahrhundertwende kam ›Jankele‹ mit seiner Familie ins Land, ging als Kibbuznik nach Galiläa und wurde einer der Gründer der damaligen Siedler-Selbstwehren. Später bekleidete er verschiedene Funktionen im Staatsdienst, sowohl daheim wie im Ausland. Nach einer erfolgreichen öffentlichen Laufbahn zog er sich ins Privatleben zurück und widmete sich den Problemen der Arbeiterorganisation. Er gehörte bis zu seinem Ableben der Verwaltungsbehörde seines Wohnortes an.«

Bekanntlich ehrt das Vaterland seine bedeutenden Männer immer erst, wenn sie tot sind. So auch hier. Auf einer Gedenk-Kundgebung zu Ehren Jakob Titels nannte ihn der Unterrichtsminister »einen tatkräftigen Träumer, einen Bahnbrecher unseres Wegs, einen Mann aus dem Volke und für das Volk«. Als der Männerchor von Givat Brenner zum Abschluß der Feier Tschernikowskys ‘Zionsliebe’ anstimmte, wurde unterdrücktes Schluchzen hörbar.

Das bald darauf fertiggestellte Gebäude der Gewerkschaftszentrale erhielt den Namen »Jakob-Titel-Haus«; da sich trotz längerer Nachforschungen kein lebender Angehöriger Titels gefunden hatte, übernahm der Bürgermeister von Tel-Aviv anstelle der Witwe den symbolischen Schlüssel. Unter dem Portrait des Verstorbenen in der großen Eingangshalle häuften sich die von den führenden Körperschaften des Landes niedergelegten Kränze. Das Bildnis selbst war ein Werk des berühmten Malers Bar Honig. Als Vorlage hatte ihm ein 35 Jahre altes Gruppenfoto aus den Archiven des Gewerkschaftsbundes gedient, auf dem Jakob Titel, halb verdeckt in der letzten Reihe stehend, von einigen Veteranen der Bewegung identifiziert worden war. Besonders eindrucksvoll fanden zumal die älteren Betrachter das von Bar Honig täuschend ähnlich getroffene Lächeln »unseres Jankele«. Mit der Herausgabe der Gesammelten Schriften Jakob Titels wurde ein führender Verlag betraut, dessen Lektoren das Material in mühsamer Kleinarbeit aus alten, vergilbten Zeitungsbänden herausklaubten; die betreffenden Beiträge waren anonym erschienen, aber der persönliche Stil des Verfassers sprach unverwechselbar aus jeder Zeile.

Dann allerdings geschah etwas, woran der ganze, vielfältige Nachruhm Jakob Titels beinahe zuschanden geworden wäre:

Als die Straße, in der sich die Redaktion des »Freiheitskämpfers« befand, auf allgemeinen Wunsch in »Jakob-Titel-Boulevard« umbenannt wurde, brach Herr Grienbutter zusammen und klärte in einem Leitartikel die Entstehung der Titel-Legende auf.

Ein Sturm des Protestes erhob sich gegen diesen dreisten historischen Fälschungsversuch. Auf der Eröffnungsfeier des »Jakob-Titel-Gymnasiums« erklärte der Regierungssprecher unter anderem: »Jakob Titel ist schon zu Lebzeiten diffamiert worden, und gewisse Taschenspieler der öffentlichen Meinung diffamieren ihn auch nach seinem Tod. Wir aber, wie alle ehrlichen Menschen, stehen zu Jakob Titel!«

Herr Grienbutter, der unter den geladenen Gästen saß, ließ sich durch diese persönliche Attacke zu einem Zwischenruf hinreißen; es sei lächerlich, rief er, das Geschöpf eines Druckfehlers zu feiern. Daraufhin wurde er von zwei Ordnern mit physischer Gewalt aus dem Saal entfernt und in Spitalspflege überstellt, wo er jedoch alsbald in Trübsinn verfiel, weil auch das Krankenhaus nach Jakob Titel benannt war. Nachdem er eines Nachts einen Tobsuchtsanfall erlitten hatte, mußte man ihn in eine Nervenheilanstalt einliefern.

Unter der geduldigen Obsorge der Psychiater trat allmählich eine Besserung seines Zustands ein. Er begann sich mit den gegebenen Tatsachen abzufinden und wurde nach einiger Zeit als geheilt entlassen.

In Würdigung seiner großen journalistischen Verdienste erhielt er im folgenden Jahr den »Jakob-Titel-Preis für Publizistik«.

Zwecks Verbesserung der israelischen Außenhandelsbilanz haben wir mit dem Export von Schauspielern begonnen. Sie sind auf der ganzen Welt sehr gefragt, nicht nur weil sie Talent haben, sondern — mehr noch — weil sie die betreffenden Theater allabendlich mit reisenden Israelis füllen.

Des Fiedlers Fluch

Im Mittelpunkt Londons, genauer: im Mittelpunkt der Welt, erhebt sich »Her Majesty’s Theatre«. Dortselbst geht allabendlich, als wäre das etwas ganz Natürliches, das jüdische Musical »Fiddler on the Roof« vor sich (das in deutschsprachigen Gegenden »Anatevka« heißt). Die Hauptrolle spielt der berühmte israelische Schauspieler Chaim Topol, unterstützt vom einem größtenteils israelischen Ensemble. Topol hat einen Vertrag mit dem Theater, der ihn verpflichtet, jeden Abend persönlich aufzutreten. Das israelische Ensemble hingegen wechselt je nach Zahl und Zusammensetzung der israelischen Touristen, die sich gerade in London aufhalten. Die Bande zwischen dem Star und dem Ensemble wurden noch in Israel geknüpft, beispielsweise als das Ehepaar Billitzer aus Tel Aviv eine Reise nach London vorbereitete, wobei Frau Billitzer sich mit folgenden Worten an Herrn Billitzer wandte: »Und vergiß nicht die Eintrittskarten zu ›Fiddler on the Roof‹!«

Daraufhin schickte Herr Billitzer ein dringendes Telegramm an CHAIM TOPOL LONDON mit folgendem Text: »BRAUCHE ZWEI GUTE SITZE WOMöGLICH MITTE FüR 22. JULI BILLITZER.«

Sofort nach ihrer Ankunft begaben sich die Billitzers zum Theater. Eine enorme Schlange von Wartenden empfing sie. Die Schlange ringelte sich um zwei Häuserblocks, ungeachtet des Plakats vor dem Theatereingang, das in großen Lettern verkündete: »Bis 31. Dezember vollständig ausverkauft. Einige Karten für nächstes Jahr noch erhältlich.«

Unter solchen Umständen erhebt sich die Frage, warum trotzdem so viele Leute allabendlich Schlange stehen.

Die Antwort ist einfach. Sie stehen Schlange, um zu Chaim Topol vorzudringen und mit seiner Hilfe ins Theater zu gelangen. Der betagte Bühnenportier stemmt sich der Masseninvasion tapfer entgegen und fragt jeden einzelnen der Herandrängenden, ob er von Herrn Topol eingeladen sei. Auch Herrn Billitzer fragte er. Da kam er aber schön an:

»Was heißt ›eingeladen‹? Wozu brauche ich eine Einladung? Ich bin mit Herrn Topol befreundet!«

Mit diesen Worten stürmen Herr Billitzer, seine Gattin und seine zufällig in London anwesende Schwester die Garderobe des berühmten Schauspielers und teilen ihm mit, daß sie nicht, wie telegrafisch angefordert, zwei Billets brauchen, sondern drei, womöglich Mitte.

Topols Garderobe ist in zwei Flügel geteilt, wie es sich für einen internationalen Star gehört. Topol selbst führt soeben ein Ferngespräch.

»Sie kennen mich nicht persönlich«, brüllt die Stimme am andern Ende des Drahts. »Wir haben uns zwar einmal in Natania getroffen, aber daran werden Sie sich wahrscheinlich nicht mehr erinnern. Macht nichts. Ich habe zwei guten Freunden in London versprochen, daß ich ihnen für nächste Woche zwei Karten zum ›Fiddler‹ verschaffe. An irgendeinem Abend der nächsten Woche. Wir richten uns nach Ihnen.«

»Nächste Woche…«, antwortet Topol, während er in seinem Vormerkkalender blättert. »Nächste Woche wird es sehr schwer sein…«

»Wieso schwer? Für Sie als Star der Aufführung ist das doch eine Kleinigkeit! Deshalb wende ich mich ja direkt an Sie. Wir haben uns in Natania kennengelernt. Also wann?«

»Das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Ich telegrafiere Ihnen, sobald ich es weiß.«

»Gut. Aber vergessen Sie nicht: vorne und Mitte.«

Topol legt den Hörer auf. Er hat sich, seit er in London gastiert, kaum verändert, nur sein Haar ist von silbrigen Fäden durchzogen. Auch kann er ein nervöses Augenzwinkern nicht immer unterdrücken. Im übrigen hört er geduldig zu, wie ihm jetzt Herr Avigdor, der Inhaber des Büffets in der Autobuszentrale von Tel-Aviv, die Sachlage erklärt.

»Sie haben einen großen Erfolg«, erklärt Herr Avigdor, »und den müssen Sie ausnützen. Glauben Sie mir. Ich weiß, wovon ich spreche. Sie dürfen sich nicht zu billig verkaufen. Sie müssen Geld machen, solange Sie noch berühmt sind. Wenn Sie wünschen, nehme ich das selbst in die Hand…«

»Nach der Vorstellung, bitte«, fleht Topol ihn an. »Jetzt muß ich mich für meinen Auftritt fertigmachen.«

Er wendet sich ab und versucht ein paar Worte mit Danny Kaye zu wechseln, der in eine Ecke des andern Garderobenflügels geflüchtet ist und angstvoll die Szenerie beobachtet. Gerade als Topol sich zu ihm durchgeschlagen hat, wird die Türe aufgestoßen und eine Gruppe von Touristen, die von einem Reisebüro in Tel-Aviv betreut werden, ergießt sich in den Raum. Sie schwingen Prospekte, in denen ganz deutlich steht: »Donnerstag: Spaziergang durch den Hyde Park, Besuch im Parlament und in der Garderobe von Chaim Topol, gemütliches Beisammensein mit dem Schauspieler nach Schluß der Vorstellung, gemeinsames Abendessen.« Der Fotograf, der die Gruppe begleitet, schickt sich an, die denkwürdige Begegnung im Bild festzuhalten. Während er Topol auffordert, einem der ihn Umringenden mit freundlichem Lächeln die Hand zu schütteln, ertönt das zweite Klingelsignal, welches anzeigt, daß der Vorhang in zehn Minuten aufgehen wird.

»DOPPELZIMMER MIT BAD UND ZWEI TICKETS FüR 27. JULI GRUSS DR FRIEDMANN«, lautet der Text des Telegramms aus Haifa, das dem Schauspieler soeben eingehändigt wird.

Gleich darauf erscheint der Garderobier, der von einem Schwarzhändler vor dem Theater die dritte Karte für Billitzers Schwester erworben hat. Topol zahlt, da Billitzer sich in der fremden Währung nicht auskennt. Billitzer verspricht, den Betrag morgen zu retournieren, oder, noch besser, ihn aus Tel-Aviv zu überweisen. Unterdessen bestellt Topol das von Dr. Friedmann gewünschte Doppelzimmer mit Bad und versucht gleichzeitig, der hartnäckig an seiner Seite verbleibenden Frau Wexler etwas klarzumachen:

»Es geht nicht, Madame. Wirklich nicht. Alle Schauspieler sind für die Laufzeit des Stückes fix engagiert. Die Theaterleitung kann Ihretwegen nicht kontraktbrüchig werden…«

Die Sache ist die, daß Frau Wexler die Rolle der Heiratsvermittlerin übernehmen möchte. Sie hat in Polen große schauspielerische Erfahrung gesammelt, von der sie leider in Israel bisher noch keinen Gebrauch machen konnte, da sie nicht Hebräisch spricht. Sie spricht auch nicht Englisch, aber das kann man ja lernen, was zahlen die hier?

Topol verteilt Autogramme an einen Trupp englischer Pfadfinder und lehnt mit der andern Hand das Angebot einer jüdischen Delegation aus Birmingham ab, die ihn zum Gemeindevorsteher ernennen will, vorausgesetzt, daß er den führenden Tanz- und Gesangspart in ihrer Weihnachtspantomime übernimmt. Gestern haben sie einen ähnlichen Vorschlag dem Bischof von Liverpool gemacht, der jedoch wegen Arbeitsüberlastung ablehnen mußte. Also darf Topol sie jetzt unter gar keinen Umständen enttäuschen.

Topol enttäuscht sie und wird im gleichen Augenblick von einer blonden Flugzeug-Stewardess umarmt, die morgen mit sämtlichen Besatzungsmitgliedern den »Fiddler« sehen will. Neun Karten, womöglich Mitte.

Topol sitzt vor dem Spiegel und schmiert sich schwarze Tusche unter die Augen, um älter auszusehen. Eine überflüssige Maßnahme. Er schaut viel älter aus, als er ahnt. Der Buffetbesitzer Avigdor steht hinter ihm und zeigt ihm, wo noch etwas Schwarz hingehört.

Drittes Klingelzeichen. Zweites Kabel von Dr. Friedmann: »EILSENDET ZWEI ROUNDTRIP TICKETS TOURISTENKLASSE FÜR 27. JULI.«

Ein würdig aussehender Herr in Cut und Zylinder versucht an Topol heranzukommen, der ihm aber schon von weitem in hebräischer Sprache zuruft, daß es für heute wirklich keine Karten mehr gibt, Ehrenwort. Der würdig aussehende Herr wendet sich achselzuckend ab, weil er kein Wort verstanden hat. Er ist der Lord Mayor von London.

»Kommen Sie morgen zu mir ins Hotel«, ruft Topol hinter ihm her, immer noch hebräisch. Seine Stimme klingt heiser.

»Er sollte besser auf sich aufpassen«, flüstert Billitzer seiner Schwester ins Ohr und läßt eine Mentholtablette in Topols Mund gleiten. »Übrigens — wie hoch ist Ihre Gage? Angeblich 10 000 Dollar pro Abend. Stimmt das?«

Letztes Signal.

Bald darauf durchflutet Topols männlicher Baßbariton das Haus: »Tradition, Tradition…« Die Vorstellung hat begonnen. Das als kühl verschrieene englische Publikum tobt vor Begeisterung, applaudiert nach jeder Gesangsnummer Topols minutenlang und vergießt Tränenströme bei der Szene, in der sich Topol von seiner Tochter, die einen Christen heiraten will, lossagt. Tradition.

Die Israelis unter den Zuschauern informieren den jeweils zunächstsitzenden Engländer, daß sie aus Israel kommen und mit Topol persönlich befreundet sind.

Nach Schluß der Aufführung gibt es zahllose Vorhänge und Hervorrufe für Topol, der sich schließlich allein verbeugt. Einigermaßen befremdend wirkt, daß er bei seiner zweiten Verbeugung von Herrn Avigdor und Frau Wexler flankiert wird. Die übrigen Israelis erwarten ihn in der Garderobe.

»Ich habe geweint«, eröffnet ihm Herr Billitzer. »Geweint wie ein kleines Kind. Auch einige Engländer habe ich weinen sehen. Daß Gott uns so etwas erleben läßt! Sie haben wirklich einen Riesenerfolg, Topol. Aber ganz unter uns: Shmuel Rodensky ist besser…«

Einer der tiefbewegten israelischen Besucher weist darauf hin, daß es mit Topols Erfolg nicht gar so weit her sei, weil ja der größte Teil des Publikums aus Israelis bestanden hätte, und Landsleute applaudieren immer.

»Ich finde, daß er sehr gut war«, weist der Büffet-Avigdor die Kritiker zurecht und schlägt dem erschöpften Topol ein neues Geschäft vor: einen hebräischen Stadtplan von London zu drucken, für die Besucher aus Israel. Er, Avigdor, würde dem Unternehmen seinen Namen zur Verfügung stellen, Topol das Geld.

»Unsinn«, widerspricht Billitzer, der sich einen Platz an Topols Seite erkämpft hat. »Für ihn darf es jetzt nichts andres geben als den Film. Solange er noch berühmt ist, muß er das ausnützen. Mein Schwager kennt einen Filmproduzenten in Brasilien…«

Ein Team des britischen Fernsehens bemüht sich vergebens, die Kamera in Stellung zu bringen. Das britische Fernsehen möchte den »König des Musicals«, wie er von der Presse genannt wird, beim Abschminken in seiner Garderobe zeigen, kann aber infolge technischer Schwierigkeiten nicht bis zu ihm vordringen.

»Ich habe Topols Vater gekannt, als Sie, Mister, noch gar nicht wußten, daß es einen Topol gibt.« Mit diesen Worten weist Frau Wexler einen Kameramann zurück, der sie beiseiteschieben wollte. »Also seien Sie gefälligst etwas bescheidener und erzählen Sie mir nicht, wo ich stehen soll.«

Topol öffnet die inzwischen eingetroffenen Telegramme. »BESORGT BABYSITTER FüR 27. JULI FRIEDMANN«, lautet das erste.

Topol reicht den Auftrag an seinen Garderobier weiter und macht einen unvermuteten Panthersatz in Richtung Badezimmer, wo er endlich ungestört ein paar Worte mit Danny Kaye wechseln kann. Einige Israelis fühlen sich durch sein Benehmen gekränkt und verlassen demonstrativ den Raum, um Verstärkung zu holen.

»Er ist wirklich nicht schlecht«, wendet sich Herr Billitzer an einen neben ihm stehenden Herrn. »Nur der Akzent stört ein bißchen.«

»Finden Sie?« erwidert kühl und abweisend der Herzog von Kent, der mit der Herzogin gekommen ist, um dem Star der Aufführung zu gratulieren. Billitzer — nachdem ihm klar geworden ist, mit wem er es zu tun hat — stellt sich vor und fragt das herzogliche Paar, ob man für ihn vielleicht eine Audienz bei der Königin arrangieren könnte, oder etwas Ähnliches.

Ein Anruf von der Israelischen Botschaft, dessen Inhalt der Garderobier durch die Badezimmertür an Topol weitergibt, kündigt für den 8. August eine Gruppe von vierzehn Parlamentariern aus Jerusalem an, und Herr Topol möchte so freundlich sein, die nötigen Vorkehrungen zu treffen, womöglich Mitte.

Avigdor berät sich mit einem Anwalt, den er aus Tel-Aviv kennt, und ist einverstanden, die Partnerschaft mit Topol auf eine neue Grundlage zu stellen: 45% für ihn und 55% für Topol, der aber unverzüglich das Investitionskapital flüssig machen muß.

Topol erscheint in der Badezimmertür. Siebzehn Fotografen lassen gleichzeitig ihre Blitzlichter aufflammen, die übrigen Anwesenden stürzen auf Topol zu und verlangen Autogramme in ihre Programmhefte, in ihre Notizbücher oder auf ein von Topol bereitzustellendes Blatt Papier.

Der Bürgermeister von London verabredet für Donnerstag ein Rendezvous mit Frau Wexler.

Der Herzog von Kent sucht vergebens nach seinem Theaterglas, das ihm im Gedränge entfallen ist.

Die von einem israelischen Reisebüro organisierte Gruppe macht sich zum Abendessen mit Topol bereit. Es ist eine in Großbritannien, Irland und dem gesamten Commonwealth wohlbekannte Tatsache, daß ein Teil des Publikums nach jeder Vorstellung auf Topols Kosten in einem der besseren Restaurants diniert. Tradition, Tradition. Sogar die Taxichauffeure wissen das und empfangen die aus der Bühnentür Hervorquellenden mit dem Ruf: »Topol-Tour! Topol-Tour!«

Topol schwingt sich in das erste Taxi, die Mitglieder der israelischen Dinnergesellschaft verteilen sich auf die nächsten neun Fahrzeuge und folgen dem ersten.

Der Konvoy schlägt die Richtung zum Viertel der teuersten Abendrestaurants ein. Topol sieht in seiner Brieftasche nach, ob er genug Bargeld bei sich hat, um für 40 Personen zu zahlen (36 Israelis und 4 Engländer, die sich der Gruppe auf gut Glück angeschlossen haben). Er zeigt leise Anzeichen von Müdigkeit, die sich niemand erklären kann.

»Na ja«, bemerkt Billitzer zu seiner Schwester. »Der Erfolg steigt ihm eben zu Kopf. Das ist nicht mehr der alte, freundliche Topol, wie wir ihn aus Tel-Aviv kennen. Schade.«

Da wir schon in London sind, machen wir einen kleinen Sprung über den Ozean nach New York, dieser Brutstätte des israelischen Imperialismus. Die Gemeinsamkeiten, die Israel mit Amerika verbinden, sind ja wirklich nicht zu leugnen. Nur, daß die Juden dort viel mehr Einfluß haben.

New York ist nicht Amerika

Wenn irgendwo in unserer immer kleiner werdenden Welt ein Staat im Staate innerhalb eines Staates existiert, dann ist es die Stadt New York im Staat New York in den Vereinigten Staaten von Amerika. New York hat mehr Einwohner, mehr Verkehrsunfälle, mehr Ausstellungen, mehr Neubauten und mehr Laster als jede andre Stadt der Welt. Außerdem residieren dort die Vereinten Nationen, Barbara Streisand und der König von Saudi-Arabien. New York reicht bis an die Wolken und ist 24 Stunden am Tag geöffnet. Es gibt nur ein New York. Gott sei Dank.

Die Amerikaner sind auf New York sehr stolz. Kaum hat man es verlassen, um den Rest des Kontinents kennenzulernen, wird man von jedem Menschen, dem man unterwegs begegnet, sofort gefragt:

»Wie gefällt Ihnen Amerika? Und was halten Sie andererseits von New York?«

»Amerika ist reizend«, pflegte ich auf solche Fragen zu antworten, »und New York ist eine liebe, freundliche Stadt.«

Damit wäre das Thema erschöpft und meine amerikanische Karriere so gut wie ruiniert gewesen, hätte sich nicht in Washington, D. C., ein neuer Aspekt ergeben.

Ein gastfreundlicher Bürger dieser verhältnismäßig kleinen und verhältnismäßig schönen Stadt hatte mich in ein Restaurant mit Klimaanlage eingeladen und stellte die unausbleibliche Frage nach meiner Meinung über Amerika und New York.

»New York ist lieb«, antwortete ich, »wenn auch für meinen Geschmack ein wenig zu lärmend.«

»Augenblick«, bremste mein Gastgeber. »Das muß ich meiner Frau erzählen.«

Er ließ sich das Telefon an den Tisch bringen und kam nach einigen Einleitungsphrasen auf mich zu sprechen: »Sehr nett«, hörte ich ihn sagen. »Und er kann New York nicht ausstehen. Der Lärm dort macht ihn wahnsinnig.« Dann, den Hörer abwartend in der Hand, wandte er sich an mich: »Jeanette will wissen, ob Ihnen nicht auch der Schmutz in New York aufgefallen ist?«

»Und wie! Er ist ekelerregend.«

»Und die nächtlichen Schießereien?«

»Erinnern Sie mich nicht.«

»Meine Frau möchte Sie zum Dinner einladen«, gab er mir nach wenigen Sekunden bekannt.

Das war der Augenblick der Erkenntnis. Sie wurde am Abend, im Hause meines neu gewonnenen Freundes Harry, von den vielen distinguierten Gästen bestätigt, die er mir zu Ehren eingeladen hatte und die mich lauernd umringten, Cocktailgläser in der Hand, stumme Gier in den Augen. »Sagen Sie uns etwas Häßliches über New York«, beschworen mich ihre Blicke. »Sie als Ausländer brauchen keine Rücksicht zu nehmen. Schimpfen Sie!«

Nun, das konnten sie haben. »New York geht einem entsetzlich auf die Nerven«, bemerkte ich leichthin. »Ich könnte es dort keine zwei Jahre aushalten.«

»Noch«, hauchte mit geschlossenen Augen eine der herandrängenden Damen, und »Weiter, weiter!« gurrte eine andere.

»Die New Yorker Männer sind unelegant, unrasiert und geizig. New York ist nicht Amerika.«

»Genial«, stöhnt ein junger Reporter. »Das wird meine Schlagzeile!« Und er enteilte.

Am nächsten Tag sah ich’s balkendick in der führenden Zeitung der Stadt neben meinem Bild prangen:

»ISRAELISCHER GELEHRTER VERABSCHEUT NEW YORKS HYSTERIE«, und als Untertitel: »BEWUNDERT EXQUISITE SCHöNHEIT WASHINGTONS«.

Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer von Küste zu Küste. Als ich in Houston, Texas, aus dem Flugzeug stieg, erwartete mich eine Schar von minderwertigkeitskomplexzerfressenen Cowboys. Der Führer der Delegation, 1.98 hoch, trat auch mich zu:

»Hey! Sind Sie der tolle Kerl, der überall auf New York schimpft?«

»Hängt davon ab«, antwortete ich. »Was wird hier geboten?«

Geboten wurde eine Suite im Hilton, eine Limousine mit Chauffeur und unbegrenzte Quantitäten von Whisky mit Eis. Dem Gala-Diner, das der Bürgermeister für mich gab, wohnten sämtliche Ölmagnaten der Gegend bei. Sie berührten kaum ihre Steaks. Sie hielten nur ihre Blicke auf mich gerichtet, wortlos, reglos, erwartungsvoll. Ich ließ die Spannung genüßlich ansteigen, ehe ich das Verfahren eröffnete:

»Meine Herren«, sagte ich, »ich möchte Sie keineswegs kränken — aber mit New York stimmt etwas nicht. Es ist keine Stadt, sondern eine riesige, übelriechende Haschischkneipe. Es sollte polizeilich gesperrt werden.«

Der donnernde Applaus, der daraufhin losbrach, machte die Rinderherden ringsum erzittern. Und nach meinem Fernseh-Interview (»Der durchschnittliche New Yorker Riese ist 3 Inches kleiner als der durchschnittliche Zwerg in Texas«) konnte ich mich der Einladungen von allen Seiten nach allen Staaten kaum noch erwehren.

Der Mann, der die Sache jetzt in die Hand nahm, hieß Charlie und stellte sich mir mit folgenden Worten vor: »Du bist Olympiaklasse. Höchster Himalaya! Deine New Yorker Masche kommt ganz groß an. Was du brauchst, ist ein Agent. Ich heiße Charlie.«

Wir schlossen einen Vertrag für die Dauer eines Jahres. Charlie ließ sofort einen Prospekt mit Preisliste drucken, der in übersichtlicher Form alles Wissenswerte über mich enthielt:

»Allgemeine Bemerkungen zur Übervölkerung New Yorks: Einladung zum Dinner (sechs Gänge).

Detaillierte Beschreibung des moralischen Zusammenbruchs: Wohnung und Verpflegung für zwei Tage in einem erstklassigen Hotel.

Ausgewählte Beispiele nächtlicher Verbrechen (mit Lichtbildern): sechs Tage in einem Hotel der Luxusklasse.

Ermäßigte Gebühren für Vereine.

Jeden Mittwoch Matinee.

Anmeldung jetzt!«

Das städtische Baseball-Stadion in Los Angeles, wo Billy Graham seine Predigten hält, konnte die Menge kaum fassen. Um die Geduld der Leute nicht unnötig auf die Probe zu stellen, beschränkte sich der Gouverneur von Kalifornien zur Begrüßung auf zwei kurze Sätze: »Unser weltberühmter, weitgereister Freund ist erst vor wenigen Tagen der Hölle von New York entronnen. Hören wir, was er zu sagen hat.«

Ich trat ans Mikrofon:

»Liebe Freunde, beneidenswerte Bewohner der Westküste! Nicht einmal die unvergleichliche Schönheit Ihrer Stadt ist imstande, mich die Qualen vergessen zu lassen, die ich in New York zu erdulden hatte. Aber seit ich hier bei Ihnen bin, empfinde ich keinen Haß mehr gegen dieses moderne Sodom, nur noch Mitleid. Was ist denn New York in Wahrheit? Ein Wolkenkratzer-Slum, ein Asphalt-Dschungel, durchsetzt von stinkenden Sümpfen, in denen die wilden Alligatoren des Gelderwerbs skrupellos über den ahnungslosen Besucher herfallen und ihn zerfleischen, wenn er nicht schon vorher den Giftpflanzen der Korruption und Brutalität zum Opfer gefallen ist…«

So wurde ich zum Dichter. Und als ich noch einige leicht ins Ohr gehende Strophen über die New Yorker Lasterhöhlen und Perversitäten zugab, schloß die Elite von Los Angeles mich vollends ins Herz. Die vornehmsten Kreise rissen sich um mich und hörten mir so lange zu, bis sie meine Texte auswendig konnten und nach New York flogen, um sich ein paar Nächte gut zu unterhalten. Aber ich war längst nicht mehr auf sie angewiesen. Ich war auf Monate ausgebucht.

Eine Schallplattenfirma in San Francisco schlug mir vor, ein Album mit den markantesten Passagen meiner Vorträge herauszubringen, betitelt:

»Ich will New York begraben, nicht es preisen.«

Charlie war dagegen. Unsere Tournee, so fand er, würde an einer Langspiel-Verfluchung New Yorks schweren Schaden nehmen, weil sich dann jeder Amerikaner für $ 2.99 zu Hause seinen Orgasmus verschaffen könnte. »Die sollen nur schön dafür zahlen«, sagte er.

Ich bereicherte meine Vortragsfolge durch Zitate aus Dantes »Inferno« mit Orgelbegleitung und Schaum vor dem Mund (Technicolor). In Chicago gerieten sie außer Rand und Band über meine apokalyptischen Visionen.

»Die Hölle wird diese Gangsterbrut verschlingen«, jubelten sie. Eine fanatische religiöse Sekte, die sich »The Yorks« nannte, bat mich, die Ehrenpräsidentschaft zu übernehmen. Auch der »United Jewish Appeal« zeigte Interesse an einem Vortragszyklus. Und die Einladungen wollten nicht abreißen.

Bei alledem konnte ich mir im stillen Kämmerlein die Wahrheit nicht verhehlen. In Wahrheit finde ich nämlich New York sehr interessant und reizvoll. Eine wirkliche Weltstadt. Lustig und lebensfroh. Nicht so wie diese armseligen Provinznester, wo der Tag endet, wenn die Sonne untergeht. Wie bitte? Es gibt Gangster und Mörder in New York? Wo, wenn ich fragen darf, gibt es keine? Von einer Stadt mit 12 Millionen Einwohnern kann man nicht verlangen, daß sie ausschließlich von Heiligen und Nonnen bevölkert sei. Natürlich leben dort auch ein paar asoziale Elemente, Rechtsanwälte und Huren. Macht nichts. Sie gehören mit zur vitalen Atmosphäre dieser einmaligen Stadt. Um es rund heraus zu sagen: ich liebe New York.

»New York ist der Mittelpunkt der Welt!« rief ich laut und freudig zur Sonne hinauf. »New York ist großartig! New York ist nicht Amerika!«

»Augenblick«, sagte der freundliche Herr, der neben mir auf der Bank im Central Park saß. »Das muß ich meiner Frau erzählen.«

»Ein Musical am Broadway«, fuhr ich fort (und der herrliche Großstadtverkehr hinter uns auf der wunderbaren Fifth Avenue skandierte meine Worte), »ist mehr wert als sämtliche Rinderherden von Texas und Arizona zusammengenommen!«

»Unsere Frauen«, sagten die New Yorker, »möchten Sie zum Dinner einladen…«

Alle Rechte vorbehalten.

Nirgends ist New York so sehr New York wie auf und um den Broadway. Auf dieser nur wenige Quadratkilometer großen Fläche machen mehr Produzenten Bankrott als irgendwo sonst auf der Welt. Darwin muß den Broadway gemeint haben, als er vom »Kampf ums Dasein« sprach. Er hat allerdings nicht geahnt, wie grausam dieser Kampf werden kann.

Der Broadway ist off

Das Wichtigste für eine Off-Broadway-Theaterproduktion ist das Theater selbst. Diese verhältnismäßig kleinen Kunststätten stehen niemals leer. Sie werden ständig von produktionsgierigen Unternehmern belagert und, kaum daß sich die geringste Chance bietet, geschnappt, ohne daß der betreffende Produzent im voraus wüßte, ob das zu seinem Selbstmord führen wird oder zu einem rauschenden Erfolg. Mit Zwischenstadien hält man sich in New York nicht auf. Entweder kratzt man Wolken oder man macht gleich am Premierenabend Pleite.

Meine eigene Situation war unter den damals gegebenen Umständen verhältnismäßig aussichtsreich. Der Produzent meines Stücks, wir nennen ihn der Einfachheit halber Joe, trug in seiner Tasche einen Mietvertrag mit der Verwaltung einer Methodistenkirche, ein signiertes, offizielles, fast schon historisches Dokument, das uns für eine unbegrenzte Dauer von drei Monaten den Gebrauch des im Kirchengebäude befindlichen Theatersaals sicherte. Es war eine reizende kleine Bühne, die Atmosphäre war intim und puritanisch zugleich, und die Proben waren im üblichen, verrückten Gang. Es war also alles in bester Ordnung.

Und dann schlug die Steuerbehörde zu.

An jenem schicksalsträchtigen Abend traf bei unseren Methodisten ein amtliches Zirkular ein, demzufolge die Kirche (wie alle gleichartigen Institute auch) von jetzt an die bisherige Steuerfreiheit nur dann genießen würde, wenn sie »in keiner Weise mit einer auf Profit berechneten Organisation« zu tun hätte.

Die Kirchenverwaltung wurde von Panik befallen. Nicht wegen der Steuer, die sie vielleicht zu entrichten hätte, sondern bei dem bloßen Gedanken, daß jeder beliebige Steuerbeamte fortan in den Büchern herumschnüffeln könnte. Das durfte nicht sein. Das nicht.

Am nächsten Tag berief der Methodisten-Erzbischof, der gerade an der Reihe war, den Produzenten Joe zu sich und teilte ihm mit, daß unsere Abmachungen null und nichtig seien, und zwar infolge »höherer Gewalt« (in Amerika »Act of God« genannt), siehe §106 des Vertrags. Joe taumelte, fiel auf die Knie und beschwor den Erzbischof, ihn nicht zu ruinieren. Als er damit nichts erreichte, brachte er in seiner Verzweiflung ein Argument vor, das er für besonders raffiniert hielt: die Show, so sagte er, würde ohnehin keinen Profit machen, sondern durchfallen und zusperren wie die meisten ihrer Art. Um den Kirchenfürsten zu überzeugen, daß es sich wirklich so verhielte, lud er ihn — allerdings erfolglos — zu den Proben ein. Zugleich übergab er die Angelegenheit einem Rechtsanwalt, der nach sorgfältiger Prüfung des umfangreichen Vertragswerkes erklärte, daß er nichts machen könne, da eine Klage gegen Gott wenig Chancen hätte. Daraufhin verdächtigte Joe die Methodistenkirche des Antisemitismus, zog diesen Verdacht jedoch alsbald zurück und erklärte sich bereit, Methodist zu werden. Aber auch das half nichts.

Wir mußten also ein anderes Theater finden.

Wie macht man das? Ganz einfach: man geht die Liste der bevorstehenden Premieren durch und versucht zu erraten, welche von ihnen mit größter Wahrscheinlichkeit durchfallen wird. Es gibt sogenannte »Fiasko-Experten«, die gegen entsprechendes Honorar nach Durchfällen Ausschau halten (den abgerichteten Polizeihunden vergleichbar, denen es obliegt, Haschisch-Verstecke aufzuspüren).

Die Wahl unseres Expertenteams fiel auf das Corona-Theater, eines der bekannteren Off-Broadway-Häuser. »Gehen wir’s uns anschauen«, sagte Joe.

Wir drangen durch eine Hintertür in das kleine Gebäude ein, unsere Hüte tief ins Gesicht gezogen und unsere Füße in schalldämpfenden Gummischuhen. Ich kam mir vor wie ein Berufsgeier, der über einem werdenden Kadaver schwebt, um im richtigen Augenblick auf ihn hinabzustoßen. Aber so ist das Leben.

Auf der kleinen Bühne ging gerade eine der letzten Proben zu einem offenbar ganz netten Musical vonstatten. Sehnige Tänzer beiderlei Geschlechts erzeugten ein rhythmisches Durcheinander, der Bühnenbildner legte die letzte Hand ans Bühnenbild, die Musiker stimmten ihre Instrumente, der Regisseur brüllte sich heiser und der Choreograph versuchte ihn zu überschreien. Wir standen in einer dunklen Ecke und beobachteten die Vorgänge.

Nach einer Weile holte der oberste Leichenfledderer tief Atem, schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein, die kommen über die Premiere nicht hinaus. Ein sicherer Durchfall.«

Joe und ich wollten vor Freude laut aufjauchzen, unterließen das aber, um kein Aufsehen zu erregen.

Wie sich zeigte, hatten wir es bereits erregt. Aus dem halbdunklen Zuschauerraum kam ein Mann auf uns zu und fragte, wer zum Teufel wir wären und was zum Teufel wir hier suchten.

Statt irgendwelche Ausreden zu stottern, die unser nicht würdig gewesen wären, enteilten wir schnellen Schritts, rannten um das Theatergebäude herum und durch einen anderen Eingang in den zweiten Stock hinauf, wo sich das Privatbüro des Hauseigentümers befand.

Er schien bereits auf uns gewartet zu haben.

»Wann wollen Sie Ihre Show herausbringen?« fragte er zur Begrüßung.

»Was ist die jetzige Lage?« lautete Joes Gegenfrage.

»Am Mittwoch haben die don unten Premiere. Wenn Sie wollen, können Sie Donnerstag mit den Proben anfangen.«

»Bestimmt?«

»Totsicher. Wir können sofort Vertrag machen.«

»Entschuldigen Sie«, unterbrach ich, »warum müssen wir bis Donnerstag warten? Die Premiere wird ungefähr um halb elf zu Ende sein, so daß wir noch am Mittwoch abend um elf anfangen können.«

»Halten Sie den Mund«, zischte mir einer der Experten zu. »Man muß die doch wenigstens die Kritiken lesen lassen.«

Mittlerweile hatte Joe mit dem Hausbesitzer durch Handschlag einen Vorvertrag abgeschlossen und durch eine Anzahlung bekräftigt. Von der Bühne hörten wir hoffnungsvolle Musik und die optimistischen Stimmen der Sänger…

Ein paar spannungsgeladene Tage folgten. Schon zur Hauptprobe schickten wir einen Spion in den Zuschauerraum. Er berichtete, daß die Show nicht gut sei, aber auch nicht katastrophal schlecht. Joe erbleichte.

»Herr im Himmel«, stöhnte er, »wenn das ein Erfolg wird, sind wir verloren.«

Ich schlug vor, den Star der Show zu vergiften oder bei der Premiere unsere Leute hinter die wichtigsten Kritiker zu placieren, um sie durch Ausrufe des Ekels zu beeinflussen. Meine Vorschläge wurden abgelehnt. Nur die Kritiken in der Presse und im Fernsehen konnten uns helfen.

Am Mittwochabend versammelten wir uns in unbeschreiblicher Nervosität vor dem Bildschirm. Endlich war es so weit. Kanal II meldete sich als erster mit einer lauwarmen, aber nicht wirklich mörderischen Kritik. Auf einem andern Kanal wußte irgendein Idiot sogar von »amüsanten Stellen« zu berichten. Sollte am Ende…? Man kann sich heutzutage auf nichts mehr verlassen.

Gegen Mitternacht brachte uns einer der Experten die noch druckfeuchte Morgenausgabe der »Post«. Wieder kein echter Verriß. Wenn das so weitergeht, können wir unsere Show nicht herausbringen.

Joe ertrug es nicht länger. Er ging selbst hinunter, um die »New York Times« abzufangen.

Wir warteten mit zum Bersten angespannten Nerven. Wo bleibt er so lange. Die Morgenausgabe der ‘Times’ müßte doch schon längst draußen und Joe schon längst hier sein.

Die Türe fliegt auf. Joe, ein Lächeln überirdischer Glückseligkeit im Antlitz, schwenkt die ‘Times’:

»Wir sind gerettet! Ein mörderischer Verriß! Halleluja!«

Seit Donnerstag probieren wir im Corona-Theater. Es hat eine wunderbar intime Atmosphäre, nicht zu vergleichen mit der puritanischen Kühle der Methodistenkirche. Auch die Akustik ist hervorragend. Dementsprechend schreiten unsere Proben in bester Stimmung voran. Es wimmelt von neuen Regieeinfällen. Unsere Hoffnung auf einen durchschlagenden Erfolg steigert sich von Tag zu Tag.

Das einzige, was uns ein wenig stört, ist eine geheimnisvolle Gruppe dunkel gekleideter Männer, die mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten in einer Ecke stehen und miteinander flüstern. Einer unserer Bühnenarbeiter will gesehen haben, daß sie in den zweiten Stock hinaufgegangen sind, wo sich das Privatbüro des Hauseigentümers befindet.

Was mögen sie dort zu suchen haben? Oder gar zu besprechen? Was?

Aus dem Sündenbabel New York zurück ins sittenstrenge Hamburg, dessen wohlsituierte Einwohner von Jahr zu Jahr um eine Kleinigkeit früher schlafen gehen. Noch vor zwei Jahren wurde in den Hamburger Bürgerhäusern das Licht erst um 21.30 Uhr abgedreht. Heute tritt bereits um 19.45 Uhr vollständige Verdunkelung ein. Wenn das so weitergeht, wird man an der Waterkant über kurz oder lang am Nachmittag mit der Nachtruhe beginnen und nach einiger Zeit überhaupt nicht mehr aufstehen.

Fremd in St. Pauli

Der Fremde, der in Hamburg nach neun Uhr abends durch die Straßen geht, hat das dumpfe Gefühl, der einzige Überlebende in einer ausgestorbenen Stadt zu sein. Vielleicht stößt er an einer Ecke mit ein paar schwankenden Gestalten in Matrosenkleidung zusammen, aber das sind ja gleichfalls Fremdlinge. Irgendwelche Anzeichen eines organischen Lebens gibt es in dieser Zweimillionenstadt nach neun Uhr abends nicht. Ausgenommen…

Ausgenommen St. Pauli. Dort konzentriert sich alles, was sich in anderen Großstädten auf verschiedene Viertel oder Straßenzüge verteilt. Dort gibt es Menschen, Lärm und Musik bis in die frühen Morgenstunden.

St. Pauli ist eine interessante Mischung von Las Vegas und Sodom. Blühende Spielcasinos wechseln mit Striptease-Lokalen, deren sexuelle Aufklärungs-Akte selbst dem abgebrühtesten Eunuchen aus Singapur die Schamröte ins gelbe Gesicht treiben. Opiumhöhlen für Transvestiten, Transvestitenhöhlen für Opiumraucher und fachmännisch geleitete Massenorgien für gestrandete Seefahrer vervollständigen das Programm.

Die ehrsamen Hamburger Bürger wollen natürlich von St. Pauli nichts wissen und sprechen nie davon. Dem Fremden, der das dennoch tut, begegnen sie mit väterlicher Nachsicht und dem entschuldigenden Hinweis auf den leider nicht wegzuleugnenden Umstand, daß Hamburg eine Hafenstadt ist. Das hat nun einmal gewisse Entartungserscheinungen zur Folge, mit denen man sich wohl oder übel abfinden muß.

Nehmen wir etwa den Manager des Hotels, in dem ich abgestiegen war:

»Ich für meine Person«, sagte er, »würde für nichts in der Welt die Reeperbahn aufsuchen. Bei Ihnen, mein Herr, ist das natürlich etwas andres. Sie als ausländischer Journalist sind geradezu verpflichtet, alles kennenzulernen, was unsere Stadt zu bieten hat. Sie dürfen aber«, fügte er mahnend hinzu, »unter gar keinen Umständen allein nach St. Pauli gehen. Die Gangster und Unterwelttypen, von denen es dort nur so wimmelt, würden Sie in den erstbesten dunklen Hausflur zerren und Sie bis zum letzten Pfennig ausrauben.«

Ich dankte ihm mit bewegten Worten und fragte, ob und wo ich vielleicht jemanden finden könnte, der mich begleiten würde.

»Hm. Das ist ein schwieriges Problem. Es kommt natürlich nur ein erfahrener Weltmann als Begleitperson in Betracht. Einer, der sich wirklich auskennt. So wie ich.« Er überlegte einige Sekunden und wandte sich an seine Gattin. »Was meinst du, Liebling?«

»Ich meine, daß du den Herrn begleiten solltest«, lautete die prompte Antwort.

»Nein, Gertrude, nein!« Der Manager schüttelte sich vor Widerwillen. »Alles, nur das nicht!«

»Manchmal«, widersprach Gertrude, »muß man für seine Gäste auch ein Opfer bringen können.«

Nach einigem Hin und Her ließ der Manager sich erweichen, konsultierte sein Vormerkbuch, ob er irgendwo ein Stündchen oder zwei zur freien Verfügung hätte, und teilte mir mit: ja, er hätte.

»Wann?« fragte ich.

»Jetzt gleich.«

Und er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Auf eine so rasend schnelle Entwicklung der Dinge war ich nicht gefaßt. Außerdem mußte ich erst die Hemmungen überwinden, die ich von meiner humanistischen Erziehung mitbekommen habe. Männliche Lesbier in Frauenkleidung, weibliche in gar keiner und opiumspielende Rouletteraucher sind nicht mein Fall. Ich ließ meinen Wohltäter wissen, daß ich mir die Sache noch überlegen würde.

»Wie Sie wünschen«, sagte er. »Also morgen? Oder übermorgen? Wann? Wann?«

In diesem Augenblick wurde ich glücklicherweise zum Telefon gerufen. Der Mann am andern Ende der Leitung gab sich als Israeli zu erkennen: er halte sich geschäftlich in Hamburg auf, und zwar schon seit längerer Zeit, so daß er füglich von sich behaupten dürfe, die Stadt zu kennen. »Sicherlich wollen auch Sie die Stadt kennenlernen«, fuhr er fort. »Hören Sie auf die Stimme der Erfahrung und gehen Sie nicht allein nach St. Pauli! Erst gestern habe ich mit meiner Frau darüber gesprochen. Sie ist ganz meiner Meinung. Wir dürfen nicht zulassen, daß ein Landsmann in die Klauen der Hamburger Unterwelt gerät. Nicht solange ich hier bin. Ich habe zwar entsetzlich viel zu tun und komme kaum zu Atem — aber wenn Sie darauf bestehen, daß ich Sie begleite…«

»Vielen Dank«, sagte ich, »irgendwie werde ich mich schon durchbringen.«

»Ausgeschlossen! Sie dürfen die unverschämten Weiber, die Ihnen dort auflauern werden, nicht unterschätzen. Die ziehen sich plötzlich nackt aus und schreien, daß Sie ihnen die Kleider vom Leib gerissen haben. Und schon sind ihre Zuhälter da, diese Gangster und Messerstecher — nein, ich kann Sie unmöglich allein lassen! Sind Sie heute abend frei?«

Wir kamen überein, in viertelstündigen Intervallen miteinander zu telefonieren. Der Hotelmanager blieb in der Nähe und legte mir immer wieder ans Herz, daß ich keinem Menschen außer ihm vertrauen sollte. Nach dem vierten Anruf kam ein Page aus der Hotelhalle herbeigeeilt: es wären Leute vom Rundfunk da, die ein originelles Interview mit mir machen wollten, nämlich nicht im Hotel, sondern während wir spazierengingen, irgendwo in der Stadt, gleichgültig wo, vielleicht in St. Pauli, wir könnten dort auch eines oder das andere dieser dreckigen Striptease-Lokale aufsuchen und bekämen eine lebendige Geräuschkulisse aufs Band.

Ich fand den Vorschlag ganz hübsch, wurde jedoch — diesmal nicht vom Manager, sondern vom Portier — eindringlich gewarnt, daß es diesen Gesellen vom Rundfunk doch nur darauf ankäme, unter irgendeinem Vorwand ein Bordell aufzusuchen, und dazu sollte ich mich nicht hergeben. Er, der Portier, beende seinen Dienst um elf Uhr nachts, und das sei genau die richtige Zeit für einen Besuch in St. Pauli.

»Sie müssen unbedingt eine vertrauenswürdige Begleitung haben« , sagte er. »Ich rufe nur noch rasch meine Frau an, um ihr beizubringen, daß ich von einem ausländischen Journalisten dringend als Führer angefordert bin und erst eine halbe Stunde später nach Hause komme…«

Das Blitztelegramm meines israelischen Landsmannes, das mir in diesem Augenblick überreicht wurde, hatte folgenden Wortlaut:

»bin notfalls bereit sie sofort aus ihrem hotel abzuholen stop komme in zehn minuten«.

Die stummen Blicke des Hotelmanagers beschworen mich, ihm treu zu bleiben.

Die Redaktion einer führenden Tageszeitung stellte mir den Besuch eines Interviewers und eines Fotoreporters in Aussicht: die beiden Herren würden mich durch einen interessanten Stadtteil Hamburgs führen, am besten durch St. Pauli, und würden in Wort und Bild festhalten, was ich dort erlebe. Auch der Chefredakteur würde mitkommen. Und der Leiter der Sportrubrik. Und der Herausgeber der Literaturbeilage mit seinem Stab. Zufällig sei auch der Druckereibesitzer gerade anwesend und freue sich, seinen Stiefsohn mitzubringen.

Die Situation wurde nach und nach bedrohlich. Ich wußte nicht, für wen ich mich entscheiden und auf wen ich verzichten sollte. Am Hoteleingang hatte sich bereits eine ansehnliche Menge von opferwilligen Begleitpersonen angesammelt.

Ich trat vor sie hin:

»Wie wär’s und Sie gingen ohne mich nach St. Pauli?« fragte ich.

»Unmöglich«, antwortete der Sprecher der Delegation. »Wir sind anständige Bürger und haben nicht das geringste Interesse an den Dingen, die angeblich in St. Pauli vorgehen. Wir möchten bloß vermeiden, daß ein prominenter Gast wie Sie einen falschen Eindruck von unserer Stadt bekommt.«

Aus der Limousine, die rechts vom Hoteleingang geparkt hatte, winkte mir mein unbekannter israelischer Freund und gab mir durch Zeichensprache zu verstehen, daß wir sofort losfahren könnten. Es half nichts — ich mußte eine Entscheidung treffen, sonst wäre halb Hamburg lahmgelegt.

»Also gut«, rief ich. »Donnerstag.«

Die Menge brach in Hochrufe aus und mein Entschluß verbreitete sich mit Windeseile durch die Stadt. Fernschreiber tickten, chiffrierte Meldungen wurden durchgegeben, und der Norddeutsche Rundfunk verlautbarte in seinen Abendnachrichten eine Reihe von Verkehrsbeschränkungen für den kommenden Donnerstag.

Der Konvoy, der sich zur vereinbarten Zeit auf den Weg machte, bestand aus etwa einem Dutzend Privatautos und einigen Autobussen mit mutigen Bürgern, die entschlossen waren, über mein Wohl zu wachen. Einigen von ihnen merkte man ganz deutlich an, daß sie St. Pauli zum ersten Mal sahen und keine Ahnung hatten, was sie tun sollten. Ich führte sie durch dunkle Straßen, unbekümmert um die ausschwärmenden Dirnen und Zuhälter, die mich jedoch in kein wie immer geartetes Haustor zerrten, weil ich so gut bewacht war. Der Hotelmanager an meiner Seite klatschte beim Anblick jeder weiblichen Gestalt vor Vergnügen in die Hände und hatte Freudentränen in den Augen. Meine übrigen Begleiter verloren sich allmählich je nach Neigung.

Als wir uns wieder bei unserer Wagenkolonne versammelten, zeigte sich, daß uns einige Teilnehmer abhanden gekommen waren, darunter ein Musikkritiker und sein Cousin, die in einem Striptease-Lokal für Transvestiten ein lohnendes Engagement gefunden hatten. Ich selbst wurde von einem Reisebüro unter Vertrag genommen und fungiere seither unter der Chiffre »Eine Nacht in St. Pauli« als Fremdenführer für Einheimische.

Auch das israelische Theater steht im Zeichen der Avantgarde und erntet damit den Beifall vor allem jener Zuschauer, die kein Wort von dem verstehen, was auf der Bühne vorgeht. Sie haben auch schon vor fünf Jahren kein Wort verstanden. Aber damals haben sie wenigstens noch geschimpft. Heute applaudieren sie. Man nennt das »Fortschritt«.

Podmanitzki hat endlich Erfolg

Gestern habe ich meinen alten Freund, den Schauspieler Jarden Podmanitzki, wiedergesehen. Er saß im Kaffeehaus, an einem Tisch ganz für sich allein, und forderte mich nicht auf, bei ihm Platz zu nehmen. Der Grund seiner ungewöhnlichen Zurückhaltung war mir natürlich bekannt: vorige Woche, nach der Premiere von »Wolkenbruch aus blauem Himmel«, war ihm in der Presse endlich jenes enthusiastische Lob zuteil geworden, auf das er jahrzehntelang vergebens gewartet hatte.

Podmanitzki gab in diesem außerordentlich modernen Drama einen alternden Bordellbesitzer und Inhaber eines Call-Girl-Rings für männliche Prostituierte. Seine hemmungslos natürliche Darstellungskunst begeisterte in gleicher Weise Publikum und Kritik. Kein Geringerer als I. L. Kunstetter, der Doyen unserer Rezensenten, stellte fest: »Die Überraschung dieses bemerkenswerten Abends war zweifellos Jarden Podmanitzki, von dem eine geradezu diabolische Überzeugungskraft ausging. Sein Alfonso war ein Meisterstück theatralischer Animalität. Jedes Schnaufen, jedes Keuchen, jede seiner bedeutungsschweren, unnachahmlichen Pausen ließ den großen Charakterdarsteller erkennen…«

»Kunstetter hat eher zuwenig als zuviel gesagt, Maestro«, äußerte ich, während ich mich neben ihn setzte. »Ihr Schweigen, als Sie sich im dritten Akt unter dem schweren Barocktisch verbargen, machte mich erschauern.«

»Das bekomme ich immer wieder zu hören«, stimmte Podmanitzki bereitwillig zu. »Grünstein zum Beispiel hat in seiner Premierenkritik geschrieben, daß die Art, wie ich da unter dem Tisch lag, in ihm spiralenförmige Assoziationen eines verschwörerischen Nihilismus erweckt hat, oder so ähnlich.«

»Ja. Allerdings. Hat das auch der Regisseur zum Ausdruck bringen wollen, wenn ich fragen darf?«

»Natürlich dürfen Sie fragen. Ich habe ihn ja auch gefragt.«

»Und was war seine Antwort?«

»Daß alles schon in der Rolle steht. Also habe ich ihn durch eines von den Mädeln, die Französisch können, noch weiter fragen lassen: Entschuldigen Sie, Boulanger, in der Regiebemerkung heißt es, daß ich unter den Tisch kriechen soll, aber es ist keine Rede davon, daß ich bis zum Ende des Stücks dort bleiben muß. Daraufhin hat er auf Französisch zu toben angefangen, daß mich das angeblich nichts angeht, und wenn er verlangt, daß ich zwei Monate unter dem Tisch liegen bleibe, dann habe ich zwei Monate lang unter dem Tisch liegen zu bleiben, Punkt. Daraufhin bin ich sofort zur Direktion gegangen und habe mit aller Schärfe festgestellt, daß man mich mit meinen achtunddreißig Jahren Bühnenerfahrung nicht so behandeln darf, und daß ich mir so etwas nicht gefallen lasse, das kann er vielleicht in einem Flohzirkus machen, aber nicht mit mir, Jarden Podmanitzki, ich denke gar nicht daran, stundenlang auf den bekannt dreckigen Brettern unserer Notbehelfsbühne liegen zu bleiben und mir womöglich einen Span einzuziehen. Die Direktion war außer sich und hat mich kniefällig gebeten, diesem französischen Kretin ausnahmsweise den Gefallen zu tun, er wird sowieso nie wieder engagiert. Damals wußten sie allerdings noch nicht, was für gute Kritiken er haben wird.«

»Richtig, richtig. Die haben sich ja geradezu überschlagen vor Begeisterung. Wenn man den Kritikern glauben darf, hat Boulangers Regie das Marionettenhafte unserer zerrissenen Nachkriegsgeneration universell zum Ausdruck gebracht.«

»Das sieht ein Blinder.«

»Besonders hingerissen waren sie von der Szene, wo Sie und die fünf männlichen Prostituierten auf einer Nähmaschine sitzen, jeder mit einem anders gefärbten Taschentuch vor dem Gesicht. Übrigens — was bedeutet das?«

»Ein Taschentuch ist ein kleines Tuch, das man in der Tasche trägt, und wenn man sich Gott behüte erkältet, dann —«

»Was ein Taschentuch ist, weiß ich, Herr Podmanitzki. Ich möchte wissen, was diese Szene auf der Nähmaschine bedeuten soll.«

»Haben Sie die Kritik von Avigdor ben Parrot nicht gelesen? Warten Sie, ich habe sie zufällig bei mir. Da, hören Sie: ›Die Orgie der Taschentücher auf der Nähmaschine weitet sich zu einem Kaleidoskop unseres paradoxen Bewußtseinszustands.‹ Klar?«

»Vollkommen. Aber warum bedecken Sie die Augen?«

»Warum, warum! Diskutieren Sie mit einem französischen Goj, der keine anständige Sprache kann, nicht einmal Russisch. Da muß man nachgeben. Er will ein Taschentuch haben — bekommt er ein Taschentuch. Was mich wirklich ärgert, ist etwas andres. Mundek, wie immer. Meinem ärgsten Feind wünsche ich keinen solchen Requisiteur. Ich habe ihm gesagt, ich habe ihn gebeten, ich habe ihn angefleht, die Taschentücher zu waschen, damit der Kampfergeruch herausgeht. Glauben Sie, er wäscht? Schon bei der zweiten Vorstellung sagt Honigmann mitten auf der Nähmaschine: ›Großer Gott, ich muß niesen!‹ Wir haben es alle gehört. Dann geh du hin und spiel eine tragische Szene…«

In diesem Augenblick trat eine alte, vornehm gekleidete Dame an unseren Tisch, küßte Podmanitzki auf beide Wangen und wisperte:

»Ich danke Ihnen, Herr Podmanitzki. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen.«

Und mit vor Erschütterung bebender Stimme erzählte sie, daß sie den »Wolkenbruch« schon dreimal gesehen habe, einzig und allein wegen der Szene zwischen Podmanitzki und seiner sterbenden Frau, die sich plötzlich im Sarg aufrichtet und ihm gesteht, daß das Kind gar nicht von ihr ist, sondern von einer andern… Noch als die alte Dame sich verabschiedete, schluchzte sie haltlos vor sich hin.

»Eine sympathische, intelligente Person«, bemerkte Podmanitzki. »Aber welche Frau in dem Stück meint sie eigentlich?«

»Die Hinkende. Die von einem Ziegenbock vergewaltigt wird. Ihre Frau.«

»Die ist meine Frau?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Nun ja, ich wußte, daß sie irgendeine Verwandte von mir spielt, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine. Augenblick… aha, jetzt fällt mir ein, wo der Irrtum liegt.«

»Wo?«

»Am Beginn des zweiten Akts. Da hat sie mir zu sagen: ›Alfonso, du bist wie eine Schwester zu mir!‹ Deshalb.«

»Ich entsinne mich dunkel. Was antworten Sie ihr darauf?«

»Ich antworte: ›Du Hure!‹ und beiße sie ins Knie. Auf das hinauf soll ich wissen, daß sie meine Frau ist? Und sie… lassen Sie mich nachdenken… ja. Sie sagt, daß sie ja nur zuschauen will, wie sich die Molche begatten. Was, ich bitte Sie, sind Molche?«

»Eine Art Eidechsen.«

»Hab’ ich mir gleich gedacht. Das ist ja auch einer meiner stärksten Augenblicke. Dov Schlufer in den ›Nachrichten‹ vertritt die Meinung, daß mir da die perfekte Transparenz eines Nihilisten geglückt ist, der das Göttliche in sich selbst entdeckt. Sie erinnern sich, wie ich am Schluß dieser Szene halb torkelnd und halb aufrecht unter dem Tisch hervorkrieche?«

»Ich erinnere mich. Da waren Sie tatsächlich ganz groß, Herr Podmanitzki! Wie Sie da mit weit aufgerissenen, fragenden Augen in die grausame Unendlichkeit starren und schweigen…«

»Das habe ich nur bei der Premiere gemacht. Ich hatte den Text vergessen und starrte in den Souffleurkasten um Hilfe. Von der zweiten Vorstellung an sagte ich wörtlich das, was ich zu sagen habe: ›Nur die Toten sind lebendig, Rappaport!‹ sage ich und gehe ab. Bei der Samstag-Nachmittagvorstellung bekomme ich an dieser Stelle immer Szenenapplaus.«

»Was wollen Sie damit eigentlich sagen, Herr Podmanitzki?«

»Daß die Leute in die Hände klatschen, weil —«

»Nein, ich meine: mit dem Satz von den Toten.«

»Fragen Sie den Autor. Ich bin für diesen Blödsinn nicht verantwortlich. Zuerst haben wir’s für einen Druckfehler gehalten, aber dann hat der Regisseur im Original nachgeschaut, und dort steht’s auch. Boulanger hat mich gebeten, den Satz mit einem philosophischen Unterton zu sprechen, vom Fußboden halbhoch hinauf, den Blick starr in den Zuschauerraum gerichtet. Sein Regieeinfall, daß ich während des Hinauskriechens ausspucken soll, hat sehr gut gewirkt. Tamar Blumenfeld schreibt, daß sich hier die Kontaktlosigkeit der menschlichen Seele manifestiert. Das trifft genau, was ich mir die ganze Zeit über Boulanger gedacht habe. Ich kann mit diesem Mann nicht arbeiten. Entschuldigen Sie, es ist 12 Uhr 30.«

Jarden Podmanitzki zog aus der Tasche ein kleines Transistorgerät hervor, stellte es auf den Tisch und lauschte hingebungsvoll der wöchentlichen Theater-Rückschau. Als der Rundfunksprecher ihn lobend erwähnte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Man merkte ihm an, daß er den Satz am liebsten auf Band aufgenommen hätte: »Jarden Podmanitzki als hinkender Witwer offenbarte besonders in seinem stummen Spiel den unerschütterlichen Optimismus einer Lebensverneinung, die nichts von sich weiß und eben darum jeder menschlichen Regung, die von außen her auf sie zukommt, ein verinnerlichtes Crescendo auftut…«

In unseren Tagen der Mondflüge und der Theaterkrisen hat der technische Fortschritt ein neues Ergebnis gezeitigt: die ferngesteuerte Theaterkritik.

Ein weitblickender Theaterleiter

»Dort läuft Kunstetter! Sehen Sie ihn? Vor fünf Minuten ist der Vorhang gefallen, und schon saust er zum Telefon, um seine Kritik durchzugeben. Er wird wieder der einzige sein, der noch den Redaktionsschluß für die Morgenausgabe erreicht.«

»Machen Sie sich Sorgen?«

»Keine Spur. Er wird uns eine phantastische Kritik schreiben.«

»Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig.«

»War die Vorstellung denn so gut?«

»Welche Vorstellung?«

»Nun, Ihre Premiere. Die Aufführung, über die Kunstetter schreiben wird?«

»Was hat die Aufführung mit der Kritik zu tun?«

»Ich dachte… vielleicht…«

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Die Zeiten, in denen ein Theaterdirektor für gute Vorstellungen sorgen mußte, sind längst vorbei. Heute, im Zeitalter der ferngesteuerten Kritik, zählt nur noch eiskalte, genau berechnende Überlegung.«

»Ich verstehe Sie nicht. Was meinen Sie mit Überlegung?«

»Ich meine zum Beispiel die Wahl des Stückes. Warum, glauben Sie, habe ich diesmal eine rumänische Tragödie aus dem 13. Jahrhundert gewählt?«

»Weil Kunstetter…?«

»Richtig. Weil Kunstetter Präsident der Rumänisch-Israelischen Freundschaftsgesellschaft ist.«

»Und das sichert Ihnen eine gute Kritik?«

»Nicht unbedingt. Von Zeit zu Zeit will er seinen Lesern beweisen, daß er ungeachtet seiner Präsidentschaft auch der rumänischen Kunst gegenüber objektiv bleibt, und dann ist alles möglich.«

»Sie müssen sich also doch Sorgen machen?«

»Nein. Denn ich vertraue nicht dem blinden Zufall, sondern meiner Weitsicht. Ich kann warten. Vor zwei Monaten hat bei uns eine rumänische Tanzgruppe gastiert. Sie wurde von Kunstetter fürchterlich verrissen. Jetzt, dachte ich mir, ist es soweit. Jetzt kann ich ruhig mit einem rumänischen Stück herauskommen, ohne daß mir von Kunstetter Gefahr droht. Zweimal hintereinander wird er nicht auf Rumänien losgehen.«

»Das ist allerdings eine glatte Rechnung.«

»Gar so glatt ist sie nicht. Eine Kritik hängt von hundert Kleinigkeiten ab. Kunstetter könnte zum Beispiel das Stück loben und die Inszenierung grauenhaft finden.«

»Und dagegen wären Sie machtlos.«

»Keineswegs. Ich halte mich an das bewährte Roulettesystem. Wenn fünfmal hintereinander Schwarz gekommen ist, muß einmal Rot kommen. Verstehen Sie?«

»Nein.«

»Hier, in diesem kleinen Notizbuch, verzeichne ich mit kurzen Schlagworten, was Kunstetter über die Premieren der letzten Monate geschrieben hat. Passen Sie auf. 23. März: ›Ein idiotisches Gefasel‹. 7. April: ›Drei Stunden Langeweile‹. 23. April: ›Eine Beleidigung des Publikums‹. 4. Mai: ›Das darf doch nicht wahr sein‹. 18. Mai: ›Wie lange noch?‹ Fünfmal Schwarz. Nach dem Gesetz der Serie ist jetzt eine gute Kritik fällig. Sonst würde man ihn für alt und verbittert halten. Ich rechne also mindestens auf ›Eine gut ausgewogene Ensembleleistung, die vom Publikum mit freundlichem Beifall bedacht wurde‹. Oder so ähnlich.«

»Das wäre nicht schlecht.«

»Für die nächste Saison habe ich bereits einen Computer bestellt, der diese Berechnungen durchführen wird. Aber vorläufig muß ich das noch selbst machen. Übrigens wird Kunstetter auch die Regie und das Bühnenbild loben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Wegen Plotkin.«

»Wie bitte?«

»Ich setze meine Premieren immer so an, daß sie unmittelbar nach einer Premiere in den Kammerspielen herauskommen, bei der Gerschom Plotkin Regie geführt hat. Kunstetter haßt Plotkin. Das ist allgemein bekannt. Plotkin hat ihn einmal in einer Rundfunkdiskussion einen Analphabeten genannt, und seither zerfleischt ihn Kunstetter bei jeder Gelegenheit. Eine vollkommen natürliche Reaktion. Aber es hat zur Folge, daß Plotkin sich mittlerweile an die Verrisse gewöhnt hat. Sie regen ihn nicht mehr auf. Was ihn wirklich trifft, ist etwas anderes: Wenn in der gleichen Zeitung und womöglich auf derselben Seite, wo er verrissen ist, ein anderer Regisseur gelobt wird. Das ist Kunstetters süßeste Rache. Und deshalb folge ich Plotkins Inszenierungen auf dem Fuß. Damit habe ich einen Schwall von Superlativen für meinen Regisseur sicher. Wenn Kunstetter jemanden lobt, muß er zugleich jemand anderem eins auswischen.«

»Und wieso das Bühnenbild?«

»Eine Art Sippenhaftung. Vor ein paar Wochen hat der Vater unserer Bühnenbildnerin, ein bekannter Bildhauer, Kunstetter öffentlich geohrfeigt — wegen irgendeiner abfälligen Bemerkung, die Kunstetter über eine Plastik des Meisters fallen ließ. Kunstetter kann jetzt unmöglich auch noch die Bühnenbilder der Tochter verreißen, wenn er nicht in den Ruf kommen will, die ganze Familie aus persönlichen Gründen zu hassen.«

»Ein Glück für Sie, daß der Papa ihn rechtzeitig geohrfeigt hat!«

»Was heißt da Glück? Ich selbst habe den Zwischenfall arrangiert. Ich ging zum Papa und sagte ihm: ›Wollen Sie, daß Ihr Fräulein Tochter eine gute Kritik von Kunstetter bekommt? Dann hauen Sie ihm ein paar Ohrfeigen herunter!‹ Ja, mein Lieber, es ist nicht leicht, alle Faktoren im Auge zu behalten und zu koordinieren. Nehmen Sie zum Beispiel die Besetzung. Ich habe die Hauptrolle mit Jarden Podmanitzki besetzt, einem mittelmäßigen Schauspieler, dem aber die Namensgleichheit zugute kommt.«

»Welche Namensgleichheit?«

»Der Verleger, der alljährlich Kunstetters gesammelte Theaterkritiken herausbringt, heißt ebenfalls Podmanitzki.«

»Aha. Und er ist mit dem Schauspieler verwandt.«

»Nicht im entferntesten. Aber Kunstetter glaubt, daß die beiden miteinander verwandt sind, und deshalb hat er auch für den Schauspieler nichts als Lob und Preis. Hier, sehen Sie. 7. April: ›Podmanitzkis scharfe Charakterzeichnung hat mich angenehm überrascht.‹ 16. Mai: ›Die große Überraschung des Abends war Podmanitzki.‹ 2. Juni: ›In einer kurzen Szene kam Podmanitzki zu überraschend kräftiger Geltung.‹ Und so weiter. Um ganz sicher zu gehen, habe ich kurz vor der Premiere Podmanitzki auf Wache in das Verlagshaus geschickt, wo er sich im obersten Stockwerk versteckt hielt. Als er Kunstetter kommen sah, stieg er langsam die Treppe hinunter und wußte es so einzurichten, daß er mit ihm knapp vor dem Verlagsbüro zusammenstieß. Das sollte für eine ›überraschend nuancierte Leistung‹ reichen.«

»Sie sorgen aber wirklich für alles.«

»Nicht für alles. Es ist mein Bestreben, dem Kritiker immer ein Ventil offenzuhalten, durch das er seinen Zorn auspuffen kann. Sonst erstickt er und vernichtet etwas wirklich Wertvolles. Man muß ihm sein Opfer griffbereit servieren. In unserem Fall ist es der Komponist der Begleitmusik.«

»Wie das?«

»Ganz einfach. Ich habe einen Komponisten engagiert, der aus Ungarn stammt. Kunstetter — denken Sie nur an seine rumänischen Beziehungen — ist allergisch gegen alles Ungarische. Infolgedessen wird die Bühnenmusik unseres Komponisten ›banal, einfallslos und der geistigen Atmosphäre unseres Landes völlig fremd‹ sein. Der arme Kerl muß alles auf sich nehmen, was Kunstetter an Galle auszuscheiden wünscht.«

»Ich bewundere Ihren Überblick.«

»Selbst das kleinste Detail will berücksichtigt sein. Wir hätten ebensogut schon vor zwei Monaten Premiere haben können, aber damals war es zu heiß. Besser gesagt: der Feuchtigkeitsgehalt der Luft war zu hoch. Kunstetter verträgt das nicht. Wenn’s über fünfundachtzig Prozent geht, schlägt er wahllos um sich. Auch das habe ich einkalkuliert. Und die ihm zunächst liegenden Sitze habe ich ausnahmslos an Verwandte von Schauspielern vergeben, die ihn vor Beginn der Vorstellung und während der Pause mit Schmeicheleien überschütten werden. Auf den Eckplatz drei Reihen hinter ihm habe ich seinen schärfsten Konkurrenten gesetzt, den Kritiker Gurewitsch.«

»Was wird Gurewitsch über das Stück schreiben?«

»Gurewitsch wird gar nichts schreiben, weil er das Stück übersetzt hat. Kunstetter ist diesmal konkurrenzlos.«

»Eine wirklich perfekte Planung.«

»Ich tue, was ich kann. Schließlich steht bei so einer Premiere das Wohl und Wehe von ungefähr sechzig Menschen auf dem Spiel, und da muß man auf Nummer Sicher gehen. Werden Sie sich das Stück anschauen?«

»Wahrscheinlich.«

»Wann?«

»Das weiß ich nicht. Ich warte auf die Kritik von Kunstetter.«

Die nächste Etappe in der schwindelerregenden Karriere von Jarden Podmanitzki war der Film. Natürlich ist er dem Theater deshalb nicht untreu geworden. In unserem kleinen Land muß jeder alles können, und die Gage ist dementsprechend gering. Damit steht es auch im Zusammenhang, daß die Drehbücher unserer Filme allmorgendlich vor Drehbeginn umgeschrieben werden.

Das Geisterkommando

Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle. Ich mache einen israelischen Abenteuerfilm, betitelt »Wo sich die Adler paaren«. Es ist eine der kühnsten Unternehmungen in der Geschichte der heimischen Filmindustrie, geschrieben und inszeniert von mir, finanziert von ausländischem Geld, nämlich durch eine Subvention der Regierung. Die Handlung beruht auf einer wahren Geschichte meiner Phantasie: Ein israelischer Kommandotrupp sprengt die Raketenbasis von Tanger und kehrt ohne Verluste ins Atelier zurück, was gar nicht so einfach ist, denn die Schauspieler müssen Ägypten, Libyen und Algerien zu Fuß durchqueren. Aber dafür zahle ich ihnen ja auch ein Vermögen.

Bei den ersten Szenen ging alles glatt ab. Der Kommandant des Kommandotrupps — Jarden Podmanitzki in der Rolle des grimmigen Grischka — rief seine Leute zusammen, führte sie durch die Sahara (für die drei Tage und drei Nächte lang der im Negev gelegene Kibbuz Ejn-Schachar als Double einsprang), kam am vierten Tag vor meiner Hütte an und trat ein und sagte:

»Morgen muß ich nach Tel-Aviv zurück.«

»Verrückt geworden? Morgen geraten Sie in einen feindlichen Hinterhalt, das wissen Sie doch.«

»Tut mir leid. Die Sekretärin der Theaterdirektion hat vorhin eigens angerufen. Wir beginnen morgen mit den Proben zu ›Hamlet‹. Ich spiele den Geist des Vaters. Auf diese Rolle habe ich mein Lebtag gewartet.«

»Sie wollen also kontraktbrüchig werden?«

»Ich will nicht, ich muß. Ich bin Mitglied eines Kollektivs. Wenn ich kann, komme ich wieder. Alles Gute!«

Damit entfernte er sich in nördlicher Richtung.

Ich beschloß, die Dreharbeiten planmäßig weiterzuführen und nur in den Dialog einen Satz einzufügen, eine kurze Erklärung für das plötzliche Verschwinden des Truppenkommandanten infolge plötzlicher Hamlet-Proben. Der Dialog fand zwischen einem Sergeanten namens Trippoli und dem Funker statt.

Funker: »Wir nähern uns Tanger. Aber Grischka ist nirgends zu sehen. Wo steckt er?«

Trippoli (mit vielsagendem Lächeln): »Er wird rechtzeitig da sein, verlaß dich auf ihn…«

Leider konnte man sich nicht auf ihn verlassen. Noch in der Nacht rief Podmanitzki mich an: das Kollektiv hatte eine zusätzliche Rolle für ihn erarbeitet, und zwar den Geist des Großvaters, für den er den Text selbst schreiben sollte. Damit war sein Wochenende ausgelastet.

»Podmanitzki«, sagte ich, »Sie sind entlassen.«

Er wollte noch wissen, wieviel Pönale ich ihm zahlen würde, aber ich ließ mich auf keine Debatte ein und hängte ab.

Die Lage, in der ich mich befand, war selbst für israelische Begriffe schwierig. Laut Drehbuch sollte die ganze Einheit ohne Verluste zu ihrer Ausgangsstellung zurückkehren, aber als ich das schrieb, hatte ich nicht mit Hamlet-Proben gerechnet.

Es gab nur eine einzige Lösung: Grischka mußte sterben. Um seinen Tod künstlerisch zu verbrämen, forderte ich von der Produktionsleitung einen jungen Aasgeier an, der schaurig krächzend in den Lüften kreisen und bei Gelegenheit herabstoßen sollte.

Podmanitzkis Tod wurde vom Sergeanten Trippoli in einer neuen Dialogwendung gemeldet:

»Sie haben Grischka getötet… das werden sie teuer bezahlen!« Und dazu hob er wie zum Schwur seine nervige Rechte.

Dann setzte der Kommandotrupp den im Drehbuch vorgezeichneten Weg durch die Wüste fort, geführt von der Tochter des Beduinenscheichs, Zipi Weinstein, die sich ursprünglich in Grischka und unter den jetzt gegebenen Umständen in Trippoli verliebt hatte. Der Trupp durchquerte die Sahara und war — erschöpft, aber mit unvermindertem Kampfesmut — soeben im Kibbuz angekommen, als auf dem Kamm eines nahegelegenen Sandhügels Grischka erschien und uns schon von weitem zurief:

»Das Ganze halt! Der Regisseur hat Grippe! Ich bin bis Dienstag beurlaubt!«

»Ihr Pech, Podmanitzki!« brüllte ich zurück. »Sie sind gestern gefallen. Der Aasgeier ist schon bestellt!«

Indessen überlegte ich, daß Podmanitzki für seine Mitwirkung an diesem Film eine enorme Gage bekam und daß es pure Geldverschwendung wäre, ihn nicht voll auszunützen. Da die Nachricht von seinem Tod bereits abgedreht war, würde er, so entschied ich, auch für uns einen Geist spielen, würde als solcher das Lagerfeuer seiner einstigen Kameraden umschweben und ihnen den richtigen Weg durch die Sahara weisen. Im übrigen hatte sich Podmanitzki genau im richtigen Augenblick eingefunden, denn Trippoli war noch nicht aus Ejlat zurückgekommen. Dieser überaus gesuchte Schauspieler wirkt immer gleichzeitig an mindestens drei Filmen mit. Im vorliegenden Fall begann er seine Tätigkeit kurz vor Mitternacht in Galiläa, traf in der Morgendämmerung bei uns ein, drehte bis Mittag und wurde dann vom Jeep eines amerikanischen Fernsehteams nach Ejlat abgeholt, wo er bis Mitternacht vor der Kamera stand. Heute war er auf dem Weg von Galiläa zu uns in Verlust geraten, vielleicht eingeschlafen oder von Beduinen entführt worden, wer konnte das wissen. Jedenfalls mußten wir ohne ihn weitermachen.

Ein Mitglied der Kommando-Einheit — im Hauptberuf Kuhhirt und vom Kibbuz zur Verfügung gestellt — übernahm die dialogische Aufklärung:

»Leute«, sagte er mit gepreßter Stimme in Großaufnahme, »Trippoli ist gefallen.«

»Er hat unsern Rückzug gedeckt«, setzte gleichfalls in Großaufnahme ein anderer hinzu. »Er ganz allein. Er hat bis zur letzten Kugel gekämpft.«

Erst jetzt fiel mir auf, daß ich nach Grischkas und Trippolis letalem Abgang keinen einzigen namhaften Schauspieler in meinem Kommando hatte. Aber dagegen ließ sich nichts mehr machen.

Die nächste Szene erwies sich als sehr wirkungsvoll. Zipi Weinstein trat hinter einem Sandhügel hervor und stellte sich den führerlos dahinmarschierenden Soldaten in den Weg: »Ich bin auf eurer Seite und übernehme die Führung«, sagte sie in militärisch knappem Ton.

Damit war das Führerproblem gelöst, nicht aber das Problem ihres Vaters, des edlen Beduinenscheichs. Kurz entschlossen, ließ ich auch ihn hinter dem Hügel hervortreten.

»Kapitän Lollik Tow, Jerusalem«, stellte er sich vor und nahm die Kefiah vom Kopf. »Gegenspionage. Mir nach!«

Und an dem allem war Trippoli schuld, der vermutlich auf irgendeiner Tankstation schnarchte.

Immerhin waren die Reihen der tapferen Krieger jetzt wieder aufgefüllt, an ihrer Spitze marschierte der neue Kommandant. Die Wüstensonne brannte herab und am Abend hatte er einen Sonnenstich.

»Für den Film«, entschied ich, »hat er keinen Sonnenstich, sondern Malaria. Er wird dem Trupp auf einer Bahre vorangetragen.«

Der Kuhhirt und der Funker übernahmen diesen anstrengenden Part und teilten mir nach Beendigung der Aufnahmen mit, daß sie ihn nicht mehr übernehmen würden. Der Gegenspionage-Kapitän war ihnen zu schwer. Obendrein aß er die ganze Zeit.

Was tun? Es half nichts — auch Lollik mußte dran glauben. Ein Dumdum-Geschoß erledigte ihn aus dem Hinterhalt.

Die Tochter des emeritierten Scheichs warf sich über die väterliche Leiche und schluchzte herzzerreißend.

Das heißt, zu diesem Zweck wurde sie von den verzweifelten Rufen eines plötzlich herbeieilenden Managers aufgestöbert:

»Fräulein Weinstein! Wo stecken Sie, Fräulein Weinstein? Ihr Solo kommt dran! Wir warten auf Sie! Schnell, schnell!«

Wie sich herausstellte, wirkte Zipi Weinstein inzwischen bei den Darbietungen einer neuen jemenitischen Tanzgruppe in Haifa mit. Auch sie, das sagte mir eine innere Stimme, würde ich bei unseren Dreharbeiten nie wieder zu sehen bekommen. Folklore schlägt Film.

Ich beförderte sie durch einen tödlichen Sturz von einem nahegelegenen Felsen ins Jenseits. Natürlich konnte man sie nicht wirklich stürzen sehen, weil sie ja nach ihrem Solo mit den Jemeniten weiterzog. Also verlegte ich die Kamera ins Kommando-Zelt, wo man von fern den Todesschrei einer weiblichen Stimme hörte. Bald darauf trat mit gesenktem Kopf und sichtlich gebrochen der Kuhhirt ein:

»Sie hat sich zu weit vorgewagt… aber sie mußte nicht lange leiden… ihr letztes Wort war Tanger.«

An dieser Stelle ließ sich der Funker zu einer Bemerkung hinreißen, die ich nur als zynisch empfinden konnte. Er behauptete, daß Tanger unter der Oberhoheit Spaniens stünde, dessen Regierung sich zu Israel wohlwollend neutral verhielte, weshalb es vielleicht ratsam wäre… Ich brachte den drittklassigen Komparsen, dem ich eine geradezu lächerlich hohe Gage zahlte, durch einen eisigen Blick zum Schweigen.

Für Zipi Weinstein flocht ich ein würdiges Begräbnis ins Drehbuch ein. Begräbnisse wirken im Film immer gut. Man kann sie auch ohne Schauspieler drehen. Grischkas Geist hielt die Grabrede, die ich, meine Schreibmaschine auf den Knien, noch rasch gedichtet hatte.

Nach dem Begräbnis nahm mich Grischka beiseite:

»Ich habe über meine Rolle nachgedacht«, erklärte er. »Mein jetziger Tod befriedigt micht nicht. Wer stirbt schon gerne unsichtbar. Es wäre sowohl vom dramatischen wie vom rein optischen Standpunkt besser, wenn ihr mich im Wüstensand begrabt. Eine Art neuer Moses, dem es nicht mehr vergönnt war —«

»Podmanitzki«, unterbrach ich ihn, »was soll das?«

»Ich hab’ das so im Gefühl. Mir ist nach Sterben und Begrabenwerden zumut.«

»Und warum?«

»Mein Sohn bekommt morgen vormittag das Abgangszeugnis vom Kindergarten, und ich habe ihm versprochen, dabei zu sein. Lassen Sie mich heute nacht sterben. Ich werden Ihnen mein Leben lang dankbar sein.«

»Möchten Sie mir«, brüllte ich ihn an, »vielleicht sagen, wer eigentlich Tanger erobern soll, wenn mir alle Eroberer wegsterben?!«

»Das Kind«, fuhr Podmanitzki unbeirrt fort, »hat eigens für diese Feier ein Gedicht auswendig gelernt.«

»Hol Sie der Teufel!«

Der Teufel holte ihn in Gestalt einer Mine, mit deren Hilfe ich Grischkas Geist endgültig explodieren ließ.

Als auch Podmanitzki von uns gegangen war, mußte ich die Sachlage neu überdenken. Suchend spähte ich umher. Mein Blick fiel auf den für insgesamt fünf Drehtage engagierten Funker. Es scheint ein unheilkündender Blick gewesen zu sein, denn jener verkroch sich zitternd hinter einem rostigen Weinfaß, das in der Ecke des Produktionsbüros stand. Und da kam mir ein genialer Einfall. Ich starrte den Funker an und trat langsam auf ihn zu.

»Nein«, flüsterte er mit angstverzerrtem Gesicht. »Das nicht. Das können Sie mir nicht antun… Ich habe noch für zwei Tage Vertrag… Ich bin jung… Ich will leben! Nein!« Und seine Stimme ging in ein unartikuliertes Wimmern über.

Am nächsten Tag ließ ich ihn in der Wüste verdursten. Ein grausamer Tod, gewiß, aber wer sich mir gegenüber auf Verträge beruft, verdient kein Mitleid.

Jetzt war nur noch der Kuhhirt übrig.

»Tanger!« stieß er hervor, während die Kamera aus gewagtem Schußwinkel sich auf den Wasserturm des Kibbuz richtete. »Tanger!« Und mit scharfer Kommandostimme rief er sich selber zu: »Mir nach!«

In diesem Augenblick, dicht vor der Einnahme der Raketenbasis, wurden wir von der Leitung des Kibbuz brutal unterbrochen: der Kuhhirt müsse unverzüglich in den Stall kommen, wo ihn zwei Kühe mit geschwollenen Bäuchen erwarteten.

»Freunde«, beschwor ich das Sekretariat, »laßt ihm doch wenigstens Zeit für einen ehrenvollen Abgang!«

Widerwillig erfüllte man meine Bitte. Eine der in Tanger so häufigen Giftschlangen biß meinen einzigen Überlebenden ins Bein. Ich selbst, als UNO-Beobachter verkleidet, gab ihm das letzte Geleit. Außer mir wohnte dem Begräbnis nur der Kibbuz-Koch bei, der zufällig einen freien Tag hatte.

Im Synchronraum mischte ich noch ein paar Kanonensalven dazu, auf dem Hügel oben stand Grischkas Geist hab acht (der Kindergarten hatte die Feier aufs Wochenende verschoben), und hoch in den Lüften kreiste ein schaurig krächzender Geier.

Ich änderte den Titel des Films in »Das Geisterkommando«. Der von mir dargestellte UNO-Beobachter blieb die Hauptrolle. Die Kritiker, die ich zu einer ersten Vorführung einlud, weinten den ganzen Film durch und konnten sich hernach an Lobpreisungen nicht genugtun. Daß kein einziger Mann das Ziel erreichte, zu dem sie alle aufgebrochen waren, gab — so formulierten es die Fachleute — dem Film einen geradezu symbolhaften Gehalt und machte ihn zu einem überwältigenden document humain.

Offen gestanden: auch ich hatte diesen Eindruck.

Offenbar aus Solidarität mit unseren Filmstars kommt auch das israelische Kinopublikum immer zu spät. Die Vorstellungen, die diese Leute geben, mit raschelnden Papiersäckchen als Begleitmusik, sind manchmal viel spannender als der Film.

Alles über Gerschon Messinger

Ich hatte einen angenehmen Eckplatz und konnte mich ungestört an den Untertiteln delektieren, die den Körper Sophia Lorens bedeckten. Plötzlich entstand vier Reihen hinter mir lebhafte Bewegung, unterstützt von geräuschvollem Klappen der Sitze nebst zahlreichem »Pardon« und »Danke sehr«. Ein Detachement von vier Zuspätkommenden war in die Reihe eingedrungen.

Kaum hatten sie ihr Niederlassungsrecht geltend gemacht, als sich einer von ihnen mit tiefer, emotionsgeladener Stimme wie folgt vernehmen ließ:

»Ihr könnt sagen, was ihr wollt — daß Gerschon Messinger so etwas tun würde, hat niemand erwartet.«

»Stimmt«, bestätigte eine Frauenstimme. »Ich bin doch wirklich kein Kind mehr, aber ich hätte nicht geglaubt, daß Gerschon Messinger dazu fähig wäre.«

»Warum er uns das nur angetan hat?« fragte eine dritte Stimme. »Ausgerechnet uns?«

Auch mich begann die Frage zu beschäftigen. Wirklich, aus welchem Grund mochte Gerschon Messinger so etwas getan haben? Ich versuchte mich krampfhaft auf die Leinwand und auf Sophia Lorens Untertitel zu konzentrieren. Vergebens. Das Gift, das Gerschon Messinger in meine Seele geträufelt hatte, wirkte weiter.

Und da hörte ich auch schon eine vierte Stimme:

»Wenn jemand andrer das gemacht hätte, irgend jemand — schön und gut. Aber ausgerechnet Gerschon Messinger?«

Meine sämtlichen elektronischen Gehirnpartikel waren auf die Wellenlänge »Messinger« eingestellt. Ich schloß die Augen, um mir Messingers Missetat möglichst genau vorstellen zu können. Die gewagtesten Kombinationen schossen mir durch den Kopf. Keine von ihnen erwies sich als haltbar. Ich schämte mich.

Im Mittelpunkt der Situation, wie verworren sie auch sein mochte, stand — soviel war klar — als Kernproblem und möglicherweise entscheidender Aspekt die Frage: Warum mußte es gerade Gerschon Messinger sein, dessen Benehmen allseits die größte Bitterkeit hervorrief? Wenn diese Frage erst einmal beantwortet war, konnte man darangehen, die übrigen Fäden zu entwirren, nämlich warum Gerschon Messinger sein empörendes Verhalten gerade diesen Menschen gegenüber an den Tag legte, warum er das, was er getan hatte, nicht hätte tun sollen, und warum gerade er es nicht hätte tun sollen, er und nicht etwa Stockler oder Felix Seelig oder, was am wahrscheinlichsten war, Eli Binder.

Schon für den geringsten Anhaltspunkt, der zu einer Lösung des Problems geführt hätte, wäre ich den Vieren hinter mir dankbar gewesen. Aber sie wußten ihr Geheimnis bei sich zu behalten. Über den Vorfall blieb dichtes Dunkel gelagert.

Auf die Dauer ertrug ich das nicht. Und als einer der Vier sich aufs neue lauthals zu wundern begann, wieso gerade Gerschon Messinger einer solchen Handlung fähig wäre, konnte ich mich nicht länger zurückhalten, wandte mich um und rief:

»Ich für meine Person kann Messinger sehr gut verstehen!«

Einer aus der Anti-Messinger-Gruppe sprang auf und traf Anstalten, sich über drei Reihen hinweg auf mich zu stürzen, aber da brach es im ganzen Haus los:

»Gerschon Messinger hat recht!« erklang es ringsum. »Er hat hundertprozentig recht! Ihr verdient nichts Besseres von ihm! Hände weg von Gerschon Messinger! Maul halten! Hoch Gerschon Messinger!«

Es war, nehmt alles nur in allem, wieder einmal ein erhebender Beweis dafür, daß wir Israelis — mögen uns sonst auch alle erdenklichen Konflikte und Meinungsverschiedenheiten voneinander trennen — in den Augenblicken der Entscheidung eisern zusammenstehen.

Der technische Fortschritt und besonders die immer neuen Kommunikationsmöglichkeiten haben auch in unserem Lande die Schranken zwischen Mensch und Mensch beiseitegefegt — besonders am Abend, solange die Vorhänge an den Fenstern noch nicht zugezogen sind.

Wie man Freunde gewinnt

Eines Abends klingelte es an unserer Tür. Sofort sprang die beste Ehefrau von allen auf, eilte quer durchs Zimmer und auf mich zu und sagte: »Geh aufmachen.«

Vor der Tür standen die Großmanns. Dov und Lucy Großmann, ein nettes Ehepaar mittleren Alters und in Pantoffeln. Da wir einander noch nie direkt begegnet waren, stellten sie sich vor und entschuldigten sich für die Störung zu so später Stunde.

»Wir sind ja Nachbarn«, sagten sie. »Dürfen wir für einen Augenblick eintreten?«

»Bitte sehr.«

Mit erstaunlicher Zielsicherheit steuerten die Großmanns in den Salon, umkreisten den Flügel und hielten vor dem Teewagen inne.

»Siehst du?« wandte sich Lucy triumphierend an ihren Gatten. »Es ist keine Nähmaschine.«

»Ja, ja, schon gut.« Dovs Gesicht rötete sich vor Ärger. »Du hast gewonnen. Aber vorgestern war ich im Recht. Sie haben keine Encyclopaedia Britannica.«

»Von Britannica war nie die Rede«, korrigierte ihn Lucy. »Ich sagte nichts weiter, als daß sie eine Encyclopädie im Haus haben und überhaupt sehr versnobt sind.«

»Schade, daß wir deine geschätzten Äußerungen nicht auf Tonband aufgenommen haben.«

»Ja, wirklich schade.«

Es blieb mir nicht verborgen, daß sich in dieses Gespräch eine gewisse Feindseligkeit einzuschleichen drohte. Deshalb schlug ich vor, daß wir alle zusammen Platz nehmen und uns aussprechen sollten, wie es sich für erwachsene Menschen geziemt.

Die Großmanns nickten — jeder für sich — zustimmend, Dov entledigte sich seines Regenmantels, und beide setzten sich hin. Dovs Pyjama war graublau gestreift.

»Wir wohnen im Haus gegenüber«, begann Dov und zeigte auf das Haus gegenüber. »Im fünften Stock. Voriges Jahr haben wir eine Reise nach Hongkong gemacht und haben uns dort einen hervorragenden Feldstecher gekauft.«

Ich bestätigte, daß die japanischen Erzeugnisse tatsächlich von höchster Qualität wären.

»Maximale Vergrößerung eins zu zwanzig«, prahlte Lucy und zupfte an ihren Lockenwicklern. »Mit diesem Glas sehen wir jede Kleinigkeit in Ihrer Wohnung. Und Dobby, der sich manchmal gern wie ein störrisches Maultier benimmt, hat gestern steif und fest behauptet, daß der dunkle Gegenstand hinter Ihrem Flügel eine Nähmaschine ist. Er war nicht davon abzubringen, obwohl man auf diesem Gegenstand ganz deutlich eine Blumenvase stehen sah. Seit wann stehen Blumenvasen auf Nähmaschinen? Eben. Aber Dobby wollte das nicht einsehen. Auch heute noch haben wir den ganzen Tag darüber gestritten. Schließlich sagte ich zu Dobby: ›Weißt du was? Wir gehen zu denen hinüber, um nachzuschauen, wer recht hat‹. Und hier sind wir«.

»Sie haben richtig gehandelt«, lobte ich. »Sonst hätte der Streit ja nie ein Ende genommen. Noch etwas?«

»Nur die Vorhänge«, seufzte Dov.

»Was ist’s mit den Vorhängen und warum seufzen Sie?« fragte ich.

»Weil, wenn Sie die Vorhänge vor Ihrem Schlafzimmer zuziehen, können wir gerade noch Ihre Füße sehen.«

»Das ist allerdings bitter.«

»Nicht daß ich mich beklagen wollte!« lenkte Dov ein. »Sie brauchen auf uns keine Rücksicht zu nehmen. Es ist ja Ihr Haus.«

Die Atmosphäre wurde zusehends herzlicher. Meine Frau servierte Tee und Salzgebäck.

Dov fingerte am Unterteil seiner Armlehne. »Was mich kolossal interessieren würde…«

»Ja? Was?«

»Ob hier noch der Kaugummi pickt. Er war rot, wenn ich nicht irre.«

»Blödsinn«, widersprach Lucy. »Er war gelb.«

»Rot!«

Die Feindseligkeiten flammten wieder auf. Können denn zwei zivilisierte Menschen keine fünf Minuten miteinander sprechen, ohne zu streiten? Als ob es auf solche Lappalien ankäme! Zufällig war der Kaugummi grün, ich wußte es ganz genau.

»Einer Ihrer Nachtmahlgäste hat ihn vorige Woche hingeklebt«, erläuterte Dov. »Ein hochgewachsener, gutgekleideter Mann. Während Ihre Frau in die Küche ging, nahm er den Kaugummi aus dem Mund, blickte um sich, ob ihn jemand beobachtete, und dann — wie gesagt.«

»Köstlich«, kicherte meine Frau. »Was Sie alles sehen!«

»Da wir kein Fernsehgerät besitzen, müssen wir uns auf andere Weise Unterhaltung verschaffen. Sie haben doch nichts dagegen?«

»Keine Spur.«

»Aber Sie sollten besser auf den Fensterputzer aufpassen, der einmal in der Woche zu Ihnen kommt. Auf den im grauen Arbeitskittel. Er geht dann immer in Ihr Badezimmer und benützt Ihr Deodorant.«

»Wirklich? Sie können sogar in unser Badezimmer sehen?«

»Nicht sehr gut. Wir sehen höchstens, wer unter der Dusche steht.«

Die nächste Warnung bezog sich auf unsern Babysitter. »Sobald Ihr Kleiner einschläft«, eröffnete uns Lucy, »zieht sich das Mädchen in Ihr Schlafzimmer zurück. Mit ihrem Liebhaber. Einem Studenten. Mit randloser Brille.«

»Wie ist denn die Aussicht ins Schlafzimmer?«

»Nicht schlecht. Nur die Vorhänge stören, das sagte ich Ihnen ja schon. Außerdem mißfällt mir das Blumenmuster.«

»Ist wenigstens die Beleuchtung ausreichend?«

»Wenn ich die Wahrheit sagen soll: nein. Manchmal sind überhaupt nur schattenhafte Konturen zu sehen. Fotografieren kann man so etwas nicht.«

»Die Beleuchtungskörper in unserem Schlafzimmer«, entschuldigte ich mich, »sind eigentlich mehr fürs Lesen gedacht. Wir lesen sehr viel im Bett, meine Frau und ich.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber manchmal kann einen das schon ärgern, glauben Sie mir.«

»Dov!« warf Lucy vorwurfsvoll dazwischen. »Mußt du denn auf die Leute immer gleich losgehen?«

Und wie zum Trost gab sie uns bekannt, was sie am liebsten sah: Wenn meine Frau zum Gutenachtsagen ins Kinderzimmer ging und unser Allerjüngstes auf den Popo küßte.

»Es ist eine wirkliche Freude, das mitanzusehen!« Lucys Stimme klang ganz begeistert. »Vorigen Sonntag hatten wir ein kanadisches Ehepaar zu Besuch, beide sind Innenarchitekten, und beide erklärten unabhängig voneinander, daß ihnen ein so rührender Anblick noch nie untergekommen sei. Sie versprachen, uns ein richtiges Teleskop zu schicken, eins zu vierzig, das neueste Modell. Übrigens hat Dov schon daran gedacht, an Ihrem Schlafzimmer eines dieser japanischen Mikrofone anzubringen, die angeblich bis auf zwei Kilometer Entfernung funktionieren. Aber ich möchte lieber warten, bis wir uns etwas wirklich Erstklassiges leisten können, aus Amerika.«

»Wie recht Sie doch haben. Bei solchen Sachen soll man nicht sparen.«

Dobby stand auf und säuberte seinen Pyjama von den Bröseln der belegten Brötchen, mit denen meine Frau ihn mittlerweile bewirtet hatte.

»Wir freuen uns wirklich, daß wir Sie endlich von Angesicht zu Angesicht kennengelernt haben«, sagte er herzlich. Hierauf versetzte er mir einen scherzhaften Rippenstoß und flüsterte mir zu: »Achten Sie auf Ihr Gewicht, alter Knabe! Man sieht Ihren Bauch bis ins gegenüberliegende Haus.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich darauf aufmerksam machen«, erwiderte ich ein wenig beschämt.

»Nichts zu danken. Wenn man einem Nachbarn helfen kann, dann soll man es tun, finden Sie nicht auch?«

»Natürlich.«

»Und finden Sie nicht, daß das Blumenmuster auf Ihren Vorhängen —«

»Sie haben vollkommen recht.«

Wir baten die Großmanns, recht bald wiederzukommen. Ein wenig später sahen wir im fünften Stock des gegenüberliegenden Hauses das Licht angehen. Im Fensterrahmen wurde Dobbys schlanke Gestalt sichtbar. Als er den Feldstecher aus Hongkong ansetzte, winkten wir ihm. Er winkte zurück.

Kein Zweifel: wir hatten neue Freunde gewonnen.

Daß die gesellschaftlichen Barrieren allmählich niedergerissen werden, zeitigt auch bei uns in Israel ermutigende Resultate. Nachdem die Menschen der Steinzeit Beute und Frauen miteinander geteilt hatten und die Kibbuz-Menschen ihre wirtschaftliche Arbeit und deren Ertrag, hat sich in Tel Aviv das radikalste aller Teilungsverfahren entwickelt. Es betrifft den Posteinlauf.

Klepto-Philatelie

Vor etwa einer Woche begann mir aufzufallen, daß ich keine Briefe mehr bekam. Ich glaubte zuerst, daß ein Postnovize die Briefe nach einem neuen, geheimnisvollen Schlüssel zustellte. Gestern entdeckte ich durch Zufall die wahre Ursache. Als ich zu ungewohnter Stunde das Haus verließ, sah ich einen minderjährigen Angler, den Sohn der im Nebenhaus lebenden Familie Ziegler, wie er mit zwei zarten Fingern in den Schlitz meines Briefkastens fuhr und gleich auf den ersten Griff drei oder vier Briefe hervorzog. Bei meinem Anblick ergriff er die Flucht.

Ich begab mich ebenso schnurstracks wie wutschnaubend zu Herrn Ziegler, der bereits an der Schwelle seines Hauses stand.

»Was los?« fragte er.

»Herr!« schleuderte ich ihm entgegen, »Ihr Sohn stiehlt meine Briefe!«

»Er stiehlt keine Briefe. Er sammelt Briefmarken.«

»Wie bitte?«

»Hören Sie«, holte Herr Ziegler aus. »Ich lebe mit Gottes Hilfe seit dreiunddreißig Jahren in diesem Land und habe einiges geleistet, wovon nur sehr wenige Menschen wissen, darunter ein paar Minister. Ich spreche aus Erfahrung. Und ich sage Ihnen: heutzutage ist es nicht mehr der Mühe wert, Briefe zu bekommen.«

»Und wenn einmal ein wichtiger Brief dabei ist?«

»Wichtig? Was ist schon wichtig? Ist die Steuervorschreibung wichtig? Ist eine Gerichtsvorladung wichtig? Ist es wichtig, was Ihre amerikanischen Verwandten Ihnen schreiben? Glauben Sie mir: es gibt keine wichtigen Briefe.«

»Entschuldigen Sie, aber —«

»Mein Bruder war Karate-Trainer in der Armee und bekam plötzlich einen Brief mit der Nachricht, daß er als Gesandter nach Sansibar zu gehen hätte. Er gab ein Vermögen für eine neue Garderobe aus und las eine Menge Bücher, um sich über seinen neuen Wirkungsbereich zu informieren. Nach einer Woche stellte sich heraus, daß es sich um einen Irrtum handelte, und jetzt arbeitet er als Rausschmeißer in der ›Sansi-Bar‹. Nur damit Sie wissen, was ein wichtiger Brief ist, Herr.«

»Wichtig oder nicht — ich möchte die an mich gerichteten Briefe ganz gerne lesen. Okay?«

»Okay. Ich werde meinen Sohn zu überreden trachten, daß er nur die Marken behält und Ihnen die wichtigen Briefe zurückgibt.«

»Vielen herzlichen Dank. Darf ich Ihrem Herrn Sohn einen Schlüssel zu meinem Postkasten überreichen?«

»Wozu? Der Bub soll nur schön lernen, wie man Marken sammelt.«

Damit war der philatelistische Privatdienst zwischen mir und Ziegler junior offiziell eröffnet.

Hiermit ersuche ich meine sämtlichen Korrespondenzpartner, vor allem die ausländischen, ihre Briefe mit besonders schönen Marken zu frankieren; sie haben dann eine größere Chance, mich zu erreichen.

Im Lande Israel — und unsere Touristen-Propaganda sorgt dafür, daß man das weiß — erinnert jeder Hügel, jeder Felsen, jeder Fußbreit Boden an unsere große biblische Vergangenheit. Wir stehen auf dem historischen Grund unserer Vorväter. Leider sitzen wir zugleich auf den modernen Rohrmöbeln unserer Nachkommen.

Aus Neu mach Alt

Es begann mit Chassia. Chassia ist eine Freundin meiner Frau und jagt nach Antiquitäten. Eines schwarzen Tages gingen sie mitsammen aus, und als sie nach Hause kamen, war es geschehen.

In der Mitte unseres Speisezimmers steht ein wunderschöner, moderner, aus Dänemark, dem Land der geschmackvollsten Möbel, importierter Speisezimmertisch. Nach diesem trat mein kleiner Liebling mit dem Fuße, was unverkennbar eine Regung des Abscheus bedeutete. »Grauenhaft. Von einer nicht zu überbietenden Geschmacklosigkeit. Kein Vergleich mit antiken Möbeln, wie sie bei kultivierten Menschen gang und gäbe sind. Ab heute werden antike Möbel gekauft.«

»Weib«, gab ich zurück, »was ficht dich an? Was fehlt dir in unserer Wohnung?«

»Atmosphäre«, sagte sie.

Am nächsten Tag zog sie mit Chassia los und brachte einen niedrigen Sessel angeschleppt, der statt einer Sitzfläche eine Art Anti-Sitz aus dünnen Stricken aufwies. Es war, Chassia zufolge, ein »ländliches Originalstück« und ein Gelegenheitskauf. Trotzdem wollte ich wissen, wozu es dienen sollte.

»Zu Dekorationszwecken«, belehrte mich meine Ehefrau. »Ich werde einen Toilettentisch daraus machen.«

Den Gelegenheitskauf verdankte sie Wexler. Es gibt in unserem Land insgesamt drei fachmännisch geschulte Antiquitätenhändler: Wexler, Joseph Azizao und den jungen Bendori in Jaffa, der zugleich ein fachmännischer Restaurator ist, das heißt: er verwandelt neue Möbelstücke fachmännisch in alte. Diese Großen Drei herrschen eisern und unerbittlich über die achtundzwanzig annähernd echten Stücke, die in Israel von Hand zu Hand und von Antiquitätenhändler zu Antiquitätenhändler gehen. Denn Israel ist nicht nur ein sehr junges, sondern auch ein sehr armes Land, und in bezug auf alte Stilmöbel ist es vermutlich das ärmste Land der Welt. Weder die illegalen Einwandererschiffe noch irgendwelche fliegenden Teppiche haben größere Bestände von Louis Quatorzen ins Land gebracht, geschweige denn von Louis Seizen. Wenn da und dort einmal ein Endchen Barock oder ein Eckchen Empire auftaucht, wissen es fünf Minuten später sämtliche Professionals. Man denke nur an das berühmte Florentiner Nähkästchen in Kirjat Bialik.

»Alle meine Freundinnen wollen das Kästchen haben«, flüsterte meine Frau, und ihre Augen funkelten. »Aber die Eigentümer verlangen 1.200 Pfund dafür. Das ist den Händlern zu teuer. Sie warten.«

»Und die Freundinnen?«

»Kennen die Adresse nicht.«

Hier liegt das Geheimnis des Antiquitätenhandels: in der Adresse. Hat man eine Adresse, dann hat man auch Antiquitäten. Ohne Adresse ist man erledigt. Ein echtblütiger Antiquitätenhändler wird sich eher zu Tode foltern lassen, ehe auch nur die Andeutung einer Adresse über seine Lippen kommt.

So werden wir zum Beispiel nie den Namen des ursprünglichen Eigentümers jener neapolitanischen Großvater-Standuhr erfahren (1873), die zugleich die Mondpositionen anzeigt. Während des letzten halben Jahrhunderts hat sie allerdings nur noch Mondfinsternisse angezeigt, weil ein Teil des Räderwerkes mittlerweile verrostet war und nicht ersetzt werden konnte, so daß die ganze Pracht zu überhaupt nichts mehr zu gebrauchen ist, außer vielleicht als Toilettentisch. Sei dem wie immer: die Freundinnen meiner Frau gieren nach dem Stück. Chassia ihrerseits bevorzugt den vergoldeten Vogelkäfig (1900). Dieser Gelegenheitskauf wurde uns von Bendori, dem bewährten »Aus Neu mach Alt«-Restaurator, auf Schleichwegen zugeschanzt. Er hat ihn einem Einwanderer aus Kenya abgenommen, der ihn zuerst an Azizao verkauft hatte, durch Wexler. Azizao hat meiner Frau auch ein original Windsor-Tischbein verschafft. Sehr groß, sehr dick, mit lockigen Intarsien, eine helle Freude, und schwer von Gewicht.

»Wozu brauchst du dieses einmalige Ersatzteil?« hatte ich meine Frau gefragt, nachdem die beiden Möbelpacker gegangen waren.

Ihre Antwort war unbestimmt. Sie hoffe, sagte sie, daß Azizao noch ein paar ähnliche Tischbeine auftreiben würde, und wenn sie genug beisammen hätte, könnte man vielleicht an die Herstellung eines Tisches denken.

Jedenfalls ist unsere Wohnung jetzt voll von Atmosphäre. Man kann kaum noch einen Schritt machen, ohne über Rokoko oder Renaissance zu stolpern. Besucher verlassen unsere Wohnung in gut gefirnißtem Zustand. Von Zeit zu Zeit geht das Telefon, und wenn ich »Hallo!« sage, wird am anderen Ende wortlos aufgelegt. Ich weiß: es ist Wexler. Und von Zeit zu Zeit spricht die beste Ehefrau von allen aus dem Schlaf. Es klingt wie »Kirjat Bialik« und »Nähkästchen«.

Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, war ein Biedermeier-Sekretär. Um diese Zeit hatte ich bereits eine schwere Allergie gegen Treppensteigen entwickelt. Immer, wenn ich Schritte auf der Treppe hörte, erlitt ich einen Schweißausbruch. Diesmal waren es besonders schwere Schritte, die besonders mühsam die Treppe emporstapften. Der Nachttisch, den sie transportierten, wog mindestens eine halbe Tonne. Als Draufgabe kam das zusammenklappbare Feldbett des Feldmarschalls Hindenburg (1917).

»Ich bin kein Feldmarschall«, brüllte ich. »Und wozu hast du den Nachttisch gekauft?«

»Um ihn neben mein Bett zu stellen.«

»So. Und was steht neben meinem Bett?«

Die beste Ehefrau von allen kauft immer nur Einzelstücke. Einen Stuhl, einen Kerzenhalter, einen Nachttisch. Als ob wir nicht zwei Betten besäßen und jetzt auch noch den zusammenklappbaren Hindenburg.

»Schon gut, schon gut«, tröstete sie mich. »Ich werde mich um Pendants umschauen.«

Am nächsten Morgen ging ich zu Wexler. Mein Entschluß stand fest. Wexler oblag gerade einer Art Innendekoration. Er griff wahllos nach antiken Gegenständen und warf sie durcheinander. Dieses Durcheinander gilt als Kennzeichen eines leistungsfähigen Antiquitätenladens. Je größer und unübersichtlicher es ist, desto größer ist die Chance, daß man lange suchen muß, um etwas zu finden, und desto größer die Freude des Finders. Des weiblichen Finders, versteht sich.

Ich bat Wexler, sich nicht stören zu lassen, und sah mich in seinem Privatgewölbe um. An der einen Wand hing eine Karte von Israel, die mit etwa zehn verschiedenfarbigen Papierfähnchen besteckt war. Die Fähnchen trugen Inschriften wie »Renaissance-Schemel«, »Spanischer Gobelin« (1602) und — natürlich in der Nähe Haifas — »Florentiner Nähkästchen«. Im Norden Tel Avivs steckte eine schwarze Flagge: »Neu installiert. Biedermeier-Sekretär, Louis XIV.-Käfig, Feldbett.«

Das Blut gefror mir in den Adern. Es war unsere eigene Wohnung.

Ich stellte mich unter dem Namen Zwi Weisberger vor. Wexler sah mich kurz an, blätterte ein wenig in einem Photoalbum und fragte mit maliziösem Lächeln:

»Wie geht es Ihrem Windsor-Tischbein, Herr Kishon?«

Man kann Wexler nicht betrügen. Wexler weiß alles.

»Und wie geht es der gnädigen Frau?« fragte er höflich.

»Herr Wexler«, sagte ich, »es geht ihr gut. Aber sie darf niemals erfahren, daß ich bei Ihnen war. Erwarten Sie ihren Besuch?«

Aus dem Fernschreiber in der Ecke des Raumes tickte eine Nachricht:

»Madame Recamier vor zehn Minuten bei Azizao eingetreten. Jagt hinter Barockharfe her. Schluß.«

Wexler vernichtete das Band und stellte seine Prognose: »Sie wird wahrscheinlich weiter zu Bendori gehen, weil er eine Barockharfenadresse hat. Das gibt uns noch ungefähr eine halbe Stunde. Was wünschen Sie?«

»Herr Wexler«, sagte ich, »ich verkaufe.«

»Ganz recht. Es hat keinen Sinn, monatelang auf Antiquitäten festzusitzen. Hoffentlich haben Sie noch niemandem etwas gesagt.«

»Nur Ihnen. Aber bitte, schicken Sie Ihren Einkäufer, wenn meine Frau nicht zu Hause ist.«

»Einen Einkäufer zu einer Adresse?! Das wäre Selbstmord! Wir sind sogar davon abgekommen, ihnen die Augen zu verbinden. Es ist zu unsicher. Überlassen Sie den Transport Ihrer Sachen mir.«

Das rote Telefon auf Wexlers Schreibtisch gab ein merkwürdiges Signal. Wexler hob den Hörer ab, lauschte ein paar Sekunden und legte auf. Dann trat er an die Karte heran und steckte das Fähnchen mit der Aufschrift »Barockharfe« nach Tel Aviv-Nord um. Madame Recamier hatte soeben die Harfe gekauft…

Die Organisation klappte hervorragend. Wexler verständigte Bendori von der bevorstehenden Adressen-Liquidation. Bendori gab die Nachricht unverzüglich an Azizao weiter, der soeben in Gestalt einer geistesschwachen Millionärsgattin aus Südamerika einen neuen Kundenfang getätigt hatte. Genau um 12 Uhr mittags begab sich die beste Ehefrau von allen auf ihre tägliche Inspektionstour, genau um 12.30 Uhr erschienen drei taubstumme Möbelpacker, die sich durch ein verabredetes Zeichen als Sendboten Wexlers zu erkennen gaben und mit dem Abtransport unserer Wohnungseinrichtung nach Jaffa begannen, zu Bendori. Punkt 13 Uhr war ich allein in der ausgeräumten Wohnung. Ich streckte mich auf eine verbliebene Couch (1962) und trällerte ein fröhliches Liedchen. Etwa eine halbe Stunde später hörte ich auf der Treppe wieder diese ominösen schweren Schritte. Ich stürzte zur Türe. Himmel, da war es wieder, das ganze Zeug: der Strickleiter-Sessel, das Windsor-Tischbein, der Hindenburg und die Harfe.

»Liebling!« erklang dahinter die jauchzende Stimme meiner Gattin. »Ich hatte phantastisches Glück! Denk dir nur, was ich gefunden habe: den zweiten Sekretär, und — und —«

An dieser Stelle brach sie in wildes Schluchzen aus. Sie hatte die ausgeräumte Wohnung betreten.

»Ihr Schlangen!« schluchzte sie. »Ihr scheinheiligen Betrüger! Azizao hat mir gesagt, daß es sich um die Adresse einer verrückten Millionärsgattin aus Südamerika handelt… Und ich… Und jetzt… Meine ganzen Ersparnisse sind beim Teufel… Oh, ihr Lumpen…«

Es war in der Tat bemerkenswert. Daß dieselben Antiquitäten unter denselben Käufern rotieren, hatte ich gewußt, aber daß meine eigene Frau die Möbel ihres Ehemannes kaufte… Tröstend legte ich meinen Arm um die haltlos Schluchzende.

»Beruhige dich, Liebling. Wir fahren jetzt sofort nach Kirjat Bialik und kaufen das Florentiner Nähkästchen…«

Wie wir die Adresse ausfindig gemacht hatten, gehört nicht hierher. Es wird noch auf Jahre hinaus Gegenstand heftiger Debatten in den Kreisen der Antiquitätenhändler sein. Chassia erzählte uns, daß Wexler meine Frau verdächtigte, sich eines Nachts bei ihm in einem Empire-Schrank versteckt zu haben, von wo aus sie ein Gespräch belauschte, das er mit einem seiner Geschäftspartner über das Nähkästchen geführt hat.

Das Prachtstück trägt jetzt sein Teil zur Atmosphäre unseres Haushalts bei, vorerst nur in der niedrigen Funktion eines Toilettentischchens. Und wir zählen heute zu den führenden Antiquitätenfachleuten des Landes. Alle Radarschirme und Fernschreiber sind auf uns eingestellt. Erst gestern fiel Azizao vor mir auf die Knie und beschwor mich, ihm irgend etwas zu verkaufen, damit er seinen Ruf als Fachmann wiederherstellen könne. Ich wies ihm die Türe. Das Nähkästchen bleibt bei uns. Dieses Wunderwerk florentinischer Möbeltischlerkunst hat die ganzen antiquitären Machtverhältnisse zu unseren Gunsten verschoben. Neun von den insgesamt achtundzwanzig echten Stücken des Landes befinden sich in unserem Besitz. Unsere Weigerung, etwas zu verkaufen, hat den Markt lahmgelegt. Wexler und Azizao stehen vor dem Ruin. Einzig der junge Bendori, der bewährte Restaurator und Alt-Neu-Verwandlungskünstler, macht uns noch ein wenig Konkurrenz.

Die ungemein glückliche geographische Lage unseres Landes bewirkt eine enge Zusammenarbeit zwischen der Feuchtigkeit des Meeres und der sengenden Hitze der Wüste. Diese beiden Faktoren treffen einander jeden Donnerstag vor dem Haus des Autors.

Hitze

»Weib«, sagte ich, »vor zehn Minuten ist mir der Kugelschreiber hinuntergefallen.« Die beste Ehefrau von allen lag auf der Couch und blinzelte mühsam unter ihren von Eiswürfeln überlagerten Augenbrauen hervor.

»Heb ihn auf«, murmelte sie. »Den Kugelschreiber.«

»Unmöglich. Zu heiß.«

Ich weiß nicht, auf welchem Breitengrad unsere Wohnung liegt. Es kann nicht sehr weit vom Äquator sein. Im Schlafzimmer haben wir 42 Grad gemessen, an der Nordwand unserer schattigen Küche 48 Grad. Um Mitternacht.

Seit den frühen Morgenstunden liege ich da, bäuchlings, die Gliedmaßen von mir gestreckt, wie ein verendendes Tier. Nur daß verendende Tiere kein weißes Schreibpapier vor sich haben, auf das sie etwas schreiben und mit ihrem Namen zeichnen sollen. Ich, leider, soll. Aber wie soll ich? Um den Kugelschreiber aufzuheben, müßte ich mich hinunterbeugen, in einem Winkel von 45 (45 Grad!), und dann würde der auf meinem Hinterkopf ruhende Eisbeutel zu Boden fallen, und das wäre das Ende.

Vorsichtig bewegte ich mein linkes Bein, in einem lendenlahmen Versuch, des Kugelschreibers mit meinen Zehen habhaft zu werden. Umsonst.

Meine Verzweiflung wuchs. Das war heute schon der fünfte Tag, an dem ich das weiße Schreibpapier vor mir anstarrte, und ich hatte noch nichts zustande gebracht als den einen Satz: »Um Himmels willen, diese Hitze!«

Tatsächlich, eine solche Hitze hat es nie zuvor gegeben. Nie. An einem bestimmten Tag des Jahres 1936 war es fast so heiß wie heute, aber nicht so feucht. Andererseits wurde im Jahre 1947 eine fast ebenso große Feuchtigkeit verzeichnet, aber dafür war die Hitze wesentlich geringer. Nur ein einziges Mal, 1955, war es genauso heiß und genauso feucht. Allerdings in Afrika.

Afrika. Was für ein sonderbares Wort. Meine Zunge versuchte es nachzuformen, erwies sich aber als zu schwer für diese Arbeit. Afrika. Was soll das? Afrika.

»Weib, was ist Afrika?«

»Afrika«, flüsterte sie. »Arfika…«

Jawohl, sie hat »Arfika« gesagt, es war ganz deutlich. Vielleicht ist es sogar richtig. Arfika. Warum nicht? Mir kann’s gleichgültig sein. Mir ist alles gleichgültig. Schon seit Tagen. Schon seit Beginn dieser noch nicht dagewesenen Hitzewelle sitze oder liege ich, genauer: bleibe ich sitzen oder liegen, wo ich gerade hinsinke, und habe keinen andern Wunsch, als mich nicht zu bewegen. Wenn ich in dieser ganzen Zeit öfter als dreimal gezwinkert habe, war’s viel. In meinem Kopf regt sich das absolute Nichts, sofern ein absolutes Nichts sich regen kann. Ich meinerseits kann das nicht. Aber ich wollte doch etwas sagen. Richtig: Diese Hitze. Um Himmels willen, diese Hitze…

Das Telefon läutet. Ein wahres Wunder, daß das Ding noch funktioniert. Mühsam strecke ich meine Hand aus und ergreife den Hörer.

»Hallo«, sagt eine heisere Stimme, die ich als die Stimme unseres Wohnungsnachbarn Felix Seelig erkenne. »Ich bin auf dem Dizengoff-Boulevard. Es ist entsetzlich. Kann ich mit meiner Frau sprechen?«

»Sicherlich. Du brauchst nur deine eigene Nummer zu wählen.«

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Danke —«

Ich höre noch das dumpfe Geräusch eines fallenden Körpers, dann ist es still. Um so besser. Das lange Gespräch hat mich ermüdet.

Mit einer Handbewegung deute ich meiner Ehegattin an, daß Felix Seelig allem Anschein nach tot sei. »Erna verständigen«, haucht sie. Im Sommer neigen wir mehr zu kurzen Sätzen. Und zur Lektüre von Krimis. Da überläuft uns doch wenigstens ab und zu ein kalter Schauer.

Was wollten wir? Ach ja. Wir wollten die Witwe Seelig benachrichtigen, daß ihr Mann bei der Verteidigung des Dizengoff-Boulevards gegen die Hitze gefallen war.

Die Witwe Seelig wohnt zwei Wände weit entfernt. Wie soll man sie erreichen?

Mit einer übermenschlichen Anstrengung erhebe ich mich und ziehe meinen gepeinigten Körper hinter mir her, bis ich die Tür unserer Wohnung erreicht habe. Durch diese Tür verlasse ich unsere Wohnung. Die Tür fällt hinter mir ins Schloß.

Erschöpft lehne ich mich ans Treppengeländer, um mit heraushängender Zunge ein wenig Luft zu schnappen, falls es eine solche gibt. Aber es gibt keine.

Es gibt nur Hitze. Großer Gott, was für eine Hitze. Sie dörrt einem das Hirn aus, falls man ein solches hat. Aber man hat keines. Man weiß nicht einmal, warum man hier am Treppengeländer lehnt.

Wirklich: Was suche ich hier? Warum habe ich meine Wohnung verlassen? Ich möchte in meine Wohnung zurück.

Geht nicht. Die Tür ist zu. Was nun. Ein Mann steht vor seiner eigenen Wohnung, in der sich seine eigene Frau befindet, und kann nicht hinein. Was tut man da?

Es ist heiß. Es wird immer heißer.

Ich werde die Stiegen hinuntergehen und jemanden bitten, meine Frau zu verständigen, daß ich draußen stehe. Ich könnte ihr auch telegrafieren. Ja, das ist die Lösung: ein Telegramm.

Aber wie komme ich aufs Postamt? Und natürlich ist niemand in der Nähe, den man fragen könnte.

Ein Autobus erscheint. Ich steige ein. Hinter mir die Hitze.

»Was?« fragt mit fieberglänzenden Augen der Fahrer.

In der Tasche meines Pyjamas entdecke ich eine Pfundnote und drücke sie ihm wortlos in die Hand. Dann wende ich mich an den mir Zunächststehenden:

»Entschuldigen Sie — wohin fährt dieser Bus?«

Der Mann kehrt mir langsam sein Gesicht zu, und ich werde den Ausdruck dieses Gesichts nie vergessen:

»Wohin fährt was?«

»Der Bus.«

»Welcher Bus?«

Damit stolpert er zur Ausgangstür und hinaus in den Schatten. Das war sehr vernünftig. Auch ich stieg aus.

»Heda, Sie!« hörte ich hinter mir die Stimme des Fahrers. »Sie bekommen noch auf Ihre zehn Pfund heraus!«

Ich drehte mich nicht einmal um. Widerwärtiger Pedant.

An der Straßenecke befiel mich unwiderstehliche Gier nach Eiscreme. Eine große Portion, gemischt, Vanille, Schokolade und Erdbeer. Und diese ganze Portion möchte ich mir auf einmal unters Hemd schütten, rückwärts durch den Kragen. Worauf warte ich noch?

Richtig. Die Wohnungstür ist ins Schloß gefallen.

Von fern her dämmert ein ungeheuerlicher Gedanke auf mich zu: Ich hätte an der Wohnungstür läuten können. Die beste Ehefrau von allen hätte sich dann möglicherweise gesagt, daß jemand hereinmöchte, und hätte geöffnet. Warum ist mir das nicht früher eingefallen?

Weil ich aufs Postamt gehen wollte, deshalb.

»Haben Sie zufällig hier in der Gegend ein Postamt gesehen?« frage ich einen Polizisten, der sich unter der Markise einer Küchen- und Heizwarenhandlung versteckt hält.

Der Polizist nestelt ein Büchlein aus seiner schweißverklebten Brusttasche und blättert lange hin und her, ehe er mir Auskunft gibt:

»Das Überschreiten der Straßen ist nur innerhalb der weißen Markierungen gestattet. Gehen Sie nach Hause.«

Seine roten Augen brennen wie langsam verlöschende Kohlen, und seine Stimme klingt sonderbar dumpf und gurgelnd. Ich habe in der letzten Zeit wiederholt feststellen müssen, daß auch ich gelegentlich solche Grunzlaute von mir gebe, besonders wenn ich zu Hause bin und besonders wenn ich nicht zu Hause bin. Es könnte an der Hitze liegen.

Aber das ändert nichts daran, daß ich jetzt nach Hause gehen muß. Anordnung des Polizisten. Der Staatsgewalt darf man sich nicht widersetzen. Schon gar nicht bei dieser Hitze. Und es wird immer noch heißer. Rasch nach Hause.

Wo wohne ich? Wo? Das ist das wahre Problem, das jetzt gelöst werden muß..

Wir werden es lösen. Nur keine Aufregung. Nur nicht nervös werden. Ruhe. Die Gedankenarbeit nimmt ihre Tätigkeit auf, und alles wird wundersam klar.

Ich wohne in einem dreistöckigen Haus, dessen Fenster nach außen gehen. Muß irgendwo hier in der Nähe sein. Eines von diesen Häusern, die alle gleich aussehen. Haustor, Stockwerke, Fernsehantenne auf dem Dach. Besondere Kennzeichen: Der Inhaber dieses Reisepasses hat bei der letzten Hitzewelle Verbrennungen dritten Grades über dem zweiten Stock erlitten. Wo wohne ich? Wo?!

Ruhig nachdenken. Nur die Ruhe kann es machen. Und die sonnendurchglühte Telefonzelle dort an der Ecke. Ganz einfach. Ein klein wenig gedankliche Konzentration genügt. Im Telefonbuch nachschauen. Hoffentlich ist die Seite mit meinem Namen noch nicht versengt.

Mit welchem Namen? Wie heiße ich? Vor ein paar Minuten habe ich es noch gewußt. Der Name liegt mir auf der Zunge. Aber ich habe ihn vergessen. Ich weiß nur noch, daß er mit einem S beginnt. S wie Sonne.

Es wird immer heißer. Und es fällt mir immer schwerer, meinen Körper aufrecht zu halten, in der für Menschen vorgeschriebenen Vertikale. Zum erstenmal im Leben sehe ich den Sharav, unser unvergleichliches heimisches Hitze-Erzeugnis, plastisch vor mir: ein purpurfarbenes Gebilde aus kleinen und großen Kreisen, die ineinander und gegeneinander rotieren, dazwischen dann und wann Diagonalen, Zickzacklinien und ein doppelter Whisky mit Eiswürfeln.

Aus der Richtung vom Dizengoff-Boulevard nähert sich eine Gestalt, die ich mit großer Mühe als menschliche Gestalt erkenne und mit noch größerer als Felix Seelig. Er lebt also noch, der arme Hund. Auf allen Vieren kommt er herangekrochen, ein dünnes Bächlein Schweiß zeichnet seine Spur. Jetzt hat er mich erreicht. Er glotzt mich aus hervorquellenden Augen an, er fletscht die Zähne, er knurrt:

»Grrr.«

»Grrr«, knurre ich zurück und bin auch schon an seiner Seite, auf allen Vieren. Wir brauchen unsere Rücken nur ganz kurz aneinanderzureiben, um volles Einverständnis darüber zu schaffen, daß wir jetzt gemeinsam weitertrotten werden, grunzend den Sümpfen zu.

»Rhinozeros! Rhinozeros!« klingt’s durch verschlossene Fensterläden hinter uns her. Was tut’s. Jeder sein eigener Ionesco. Rhinozeros hin, Rhinozeros her… Rhcrrr… crrr… grrr… es ist heiß… es wird immer heißer… es war noch nie so heiß…

Erfahrung lehrt, daß sich die meisten Dinge nach einer gewissen Zeit von selbst erledigen, sogar während einer Kabinettskrise. Echte Schwierigkeiten entstehen erst, wenn der Botenjunge ausbleibt. Anscheinend ist es leichter, Minister zu finden als einen Botenjungen. Sie müssen ja auch nicht radfahren können.

Wo steckt Tuwal?

Gottes unerforschlicher Ratschluß hatte entschieden, daß unser Kühlschrank in Streik treten sollte. Mich beunruhigte das in keiner Weise, denn ich besaß einen Garantieschein und brauchte nichts weiter zu tun, als ihn ausgefüllt an die Fabrik zu schicken. Dann lehnte ich mich zurück und wartete.

Nach einigen Tagen begannen die im ehemaligen Kühlschrank aufbewahrten Nahrungsmittel zu gären. Ich rief die Fabrik an.

»Sie sind nicht der einzige, Herr«, teilte mir der Manager bedauernd mit. »Wir bekommen schon seit drei Tagen keine Post.«

»Was heißt das? Warum?«

»Unser Botenjunge ist nicht gekommen.«

Ich erfuhr, daß Tuwal, der vierzehnjährige Botenjunge des Unternehmens, der am Morgen immer die Post holte, seit Sonntag ausgeblieben war und dadurch den ganzen Betrieb zum Stocken gebracht hatte. Das Postamt ist ziemlich weit von der Fabrik entfernt, und Tuwal hatte ein Fahrrad.

»Wir wissen nicht, was mit ihm los ist«, fuhr der Manager fort. »Er hat uns noch nie sitzen lassen. Vielleicht ist er krank.«

Da unser Eisschrank weiter vor sich hingärte, rief ich zwei Tage später den Manager abermals an.

»Nichts Neues«, sagte er bereitwillig. »Bei uns geht’s drunter und drüber. Briefe, Rechnungen, Bestellscheine und alle möglichen Schriftstücke, die schon längst unterwegs sein sollten, häufen sich auf meinem Schreibtisch, und ich habe keinen Botenjungen, der sie befördern würde. Auch die innerbetrieblichen Verbindungswege sind unterbrochen. Versuchen Sie sich das Chaos vorzustellen. Wir sind bekanntlich Armeelieferanten.«

Mir kam ein rettender Gedanke:

»Könnten Sie sich nicht erkundigen, was mit Tuwal geschehen ist?«

»Daran haben wir auch schon gedacht. Aber er wohnt weit außerhalb der Stadt und wir haben keinen Botenjungen…«

Um diese Zeit stank es aus unserem Kühlschrank schon so erbärmlich, daß man es nicht mehr riskieren konnte, ihn zu öffnen. Ich telefonierte dreimal täglich mit dem Manager, um mich nach Tuwal zu erkundigen. Er war immer noch nicht gekommen. Niemand wußte, was mit diesem sonst immer so verläßlichen Jungen los war. Eine typisch israelische Tragödie: wenn es feststünde, daß Tuwal nicht mehr zurückkäme, dann, so erläuterte mir der Manager, würde man die Fabrik vielleicht zusperren oder eine näher zum Postamt gelegene aufbauen. Aber so? Diese quälende Ungewißheit war entsetzlich. Das Direktorium hatte das Problem bereits dem Verteidigungsminister unterbreitet. Auf den Fließbändern herrschte die reinste Anarchie, denn es gab keinen Botenjungen, der die Anweisungen und Entwürfe ausgetragen hätte. Auch die Finanzgebarung stand vor einer Katastrophe, da Schecks weder ab- noch eingingen.

»Haben Sie«, erkundigte ich mich vorsichtig, »schon daran gedacht, einen anderen Botenjungen zu suchen?«

»Unmöglich. Diese jungen Bengel wollen ja nicht arbeiten. Sie lassen sich das Geld für zehn Busfahrten geben und verschwinden. Aber Tuwal hat ein Fahrrad. Wir müssen auf ihn warten…«

Auf der Börse fielen die Aktien der Gesellschaft um vier Punkte, als bekannt wurde, daß ihr Botenjunge sie verlassen hatte. Aus diesem Grund waren auch größere Unternehmen schon in Konkurs gegangen.

Wo steckte Tuwal? Warum kam er nicht?

Wir schoben den Kühlschrank, der nun schon ganz eindeutig ein Pestschrank geworden war, auf den Balkon hinaus und versperrten die Türe. In den Zeitungen lasen wir von neuen Spannungen an der syrischen Grenze. Sollten die Syrer beabsichtigen, Tuwals Erkrankung auszunützen?

Als ich gestern wieder den Manager anrief, meldete sich an seiner Stelle der Konkursverwalter, der zu retten versuchte, was noch zu retten war. Angeblich hat der Handelsminister einen genauen Bericht über den Hergang des Bankrotts angefordert. Der Bericht ist seit Tagen fertig, kann aber nicht zugestellt werden, weil kein Botenjunge da ist.

In seiner nächsten Sitzung wird sich der Ministerrat mit der Angelegenheit beschäftigen.

Jüdische Eltern sind bereit, alles zu opfern, damit ihre Kinder ein besseres Leben haben, als sie selbst es hatten. Das durchschnittliche Judenkind muß seine Eltern auf allen Gebieten übertreffen, ob es will oder nicht. Es ist ihnen hilflos ausgeliefert. Sein einziger Ausweg: rasch zu wachsen.

Das Wunderkind

Ich liebe es, auf Parkbänken zu sitzen, aber nur im Winter. Denn da sich während der kalten Monate nur ein Irrsinniger ins Freie setzen würde, kann ich in Ruhe meine Kreuzworträtsel und Quizfragen lösen und vielleicht ein wertvolles Buch gewinnen, ohne daß mich jemand stört. So saß ich auch gestern wieder im Dezembersonnenschein auf meiner Bank und stellte mit Genugtuung fest, daß mir kein Gespräch drohte.

Gerade als ich dabei war, 7 links senkrecht einzutragen, näherte sich von rechts waagrecht eine kümmerliche, farblose Erscheinung männlichen Geschlechts, blieb stehen, wandte sich zu mir und fragte:

»Ist hier frei?«

Mein »Ja« war kurz und alles eher als einladend, aber das hinderte den Störenfried nicht, sich auf das andre Ende der Bank niederzulassen. Ich vertiefte mich demonstrativ in meine senkrechten und waagrechten Probleme, wobei ich mittels gerunzelter Brauen anzudeuten versuchte, daß ich in meiner verantwortungsvollen Arbeit nicht gestört zu werden wünschte und daß niemand mich fragen sollte, ob ich diesen Park öfter besuche, ob ich verheiratet bin, was ich monatlich verdiene und was ich von unserer Regierung halte.

Der Mann neben mir schien meine isolationistischen Tendenzen zu wittern. Er übersprang die einleitenden Floskeln und ging sofort aufs Ganze. Mit einer einzigen, offenkundig routinierten Handbewegung schob er mir ein halbes Dutzend Fotos von Postkartengröße, einen Knaben darstellend, unter die Nase:

»Eytan wird übermorgen sechs Jahre«, gab mir der Begleittext bekannt.

Pflichtschuldig überflog ich sechs Bilder, lächelte milde über das eine, auf dem Eytan die Zunge herausstreckte, und retournierte die mobile Ausstellung an den Besitzer. Dann vertiefte ich mich wieder in mein Kreuzworträtsel. Aber ich spürte in jeder Faser meines Nervensystems, daß ich dem Schicksal nicht entrinnen könnte. Und da kam es auch schon:

»Ganz wie Sie wollen«, sagte der Mann und rief dem in einiger Entfernung herumtollenden Knaben durch den Handtrichter zu: »Eytan, komm schnell her. Der Herr möchte mit dir sprechen.«

Eytan kam widerwillig herangeschlurft und blieb vor der Bank stehen, die Hände mürrisch in den Hosentaschen. Sein Vater sah ihn mit mildem Tadel an:

»Nun? Was sagt man, wenn man einen fremden Herrn kennenlernt?«

Eytan, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, antwortete:

»Ich habe Hunger.«

»Das Kind lügt nicht«, wandte sich der Vater erklärend an mich. »Wenn Eytan sagt, daß er Hunger hat, dann hat er Hunger, da können Sie Gift darauf nehmen.«

Ich wies diese Zumutung energisch zurück und fragte den stolzen Erzeuger, warum er mir die Fotos gezeigt hätte, obwohl das Modell in Fleisch und Blut zugegen war.

»Die Fotos sind ähnlicher«, lautete die väterliche Antwort. »Eytan ist in der letzten Zeit ein wenig abgemagert.«

Ich brummte etwas Unverständliches und schickte mich an, die Bank und sicherheitshalber auch den Park zu verlassen. Mein Nachbar erstickte diese Absicht im Keim.

»Das Kind hat ein phantastisches Talent für Mathematik«, raunte er mir hinter vorgehaltener Hand aus dem Mundwinkel zu, so daß Eytan nichts davon hören und sich nichts darauf einbilden konnte. »Er geht erst seit ein paar Monaten in die Schule, aber der Lehrer hält ihn schon jetzt für ein Wunderkind… Eytan, sag dem Herrn eine Zahl.«

»1032«, sagte Eytan.

»Eine andre. Eine höhere.«

»6527.«

»Also bitte. Haben Sie so etwas schon erlebt? Im Handumdrehen! Und dabei ist er erst sieben Jahre alt! Unglaublich, wo er diese hohen Zahlen hernimmt. Und das ist noch gar nichts. Eytan, sag dem Herrn, er soll an eine Zahl denken!«

»Nein«, sagte Eytan.

»Eytaaan! Du wirst den Herrn sofort bitten, an eine Zahl zu denken!«

»Denken Sie an eine Zahl«, grunzte Eytan gelangweilt.

Jetzt machte mein Nachbar wieder von der vorgehaltenen Hand und vom Mundwinkel Gebrauch:

»Drei! Bitte denken Sie an drei!« Dann hob er den Finger und wandte sich dem Gegenstand seines Stolzes zu: »Und jetzt werden wir den Herrn bitten, die Zahl, die er sich gedacht hat, mit zehn zu multiplizieren, nicht wahr, Eytan?«

»Meinetwegen.«

»Was heißt ›meinetwegen‹? Sprich anständig und in ganzen Sätzen.«

»Multiplizieren Sie die Zahl, die Sie sich gedacht haben, mit zehn«, leierte Eytan den vorgeschriebenen Text herunter.

»Weiter«, ermahnte ihn sein Vater.

»Dann dividieren Sie die neue Zahl durch fünf, halbieren Sie die Zahl, die Sie dann bekommen — und das Resultat ist die Zahl, an die Sie zuerst gedacht haben.«

»Stimmt’s?« fragte mein Nachbar zitternd vor Aufregung; und als ich bejahend nickte, kannte seine Freude keine Grenzen. »Aber wir sind ja noch nicht fertig! Eytan, sag jetzt dem Herrn, an welche Zahl er gedacht hat.«

»Weiß ich nicht.«

»Eytan!«

»Sieben?« fragte das Wunderkind.

»Nein!«

»Eins?«

»Auch nicht!« brüllte der enttäuschte Papa. »Konzentrier dich!«

»Ich konzentrier’ mich ja.« Der Kleine begann zu weinen. »Aber woher soll ich wissen, an welche Zahl ein fremder Mann denkt?«

Mit der Selbstbeherrschung des Vaters war es vorbei:

»Drei!« Seine Stimme überschlug sich. »Drei, drei, drei! Wie oft soll ich dir noch sagen, daß die Leute immer an drei denken?!«

»Und wenn schon«, quakte das gepeinigte Kind. »Was gehen mich Zahlen an? Immer nur Zahlen, immer nur Zahlen! Wer braucht das?«

Aber da hatte mein Nachbar ihn schon am Kragen und beutelte ihn in erhabenem Vaterzorn.

»Was sagen Sie dazu?« keuchte er unter Verzicht auf Mundwinkel und vorgehaltene Hand. »Haben Sie schon jemals ein achtjähriges Kind gesehen, das sich nicht einmal eine einzige Ziffer merken kann? Gott hat mich hart geschlagen…«

Damit machte er sich davon, den heulenden Eytan hinter sich herziehend. Ich sah ihm nach, bis seine gramgebeugte Gestalt im winterlichen Mittagssonnenschein verschwand.

Welch ein Fluch für einen Vater, wenn er erkennen muß, daß er dem eigenen Sohn rein gar nichts von seinem Genius vererbt hat.

Ist unser alter Pioniergeist noch lebendig? Zwischen Cocktailparties und Banketten stellt sich der israelischen Bevölkerung immer wieder diese Frage, über die man nicht leichtfertig hinweggehen soll. Es ist eben schwer, im Alter reich zu werden und dabei noch jung und arm zu bleiben.

Aus der Gründerzeit

Die Idee ging von Jakov aus. Wir saßen in seinem Atelier, Chaim, Uri und ich, und machten uns Sorgen über Israels Niedergang.

»Die kulturelle Lage in unserem Land ist katastrophal«, stellte Chaim fest. »Unsere Jugend ist verrückt nach dem Fernsehen, und ihr einziger Lesestoff sind amerikanische Magazine. Die hebräische Literatur stagniert.«

Wir anderen nickten trübe. Ohnmächtige Wut und eine wilde Sehnsucht, die Misere zu ändern, fochten in unserem Inneren einen erbitterten Kampf aus.

Uri sprang auf: »Worte, Worte, Worte«, brach es aus ihm hervor. »Wir müssen handeln. Wir sind jung, stark und schön. Wir glauben an eine bessere Zukunft. Retten wir die israelische Kultur!«

Über unsere weichen, flaumigen Wangen legte sich die zarte Röte der Unternehmungslust, unsere Augen blitzten, unsere schlanken Gestalten strafften sich:

»Wir müssen eine Art Cercle bilden«, schlug ich vor. »Wir müssen all die jungen, lebendigen, selbstlosen Kräfte sammeln, denen das geistige Ansehen unseres Landes noch etwas gilt.«

»So ist es!« rief Jakov begeistert. »Gründen wir einen Kreis der Freunde hebräischer Kultur. Er lebe hoch!«

Bis zum Morgendämmer saßen wir beisammen und besprachen unsern kühnen Plan. Wir beschlossen, ein Lokal zu mieten, das wir in uneigennütziger Weise behaglich einrichten würden, als eine intime Oase der Begegnung für alle, die jungen Herzens und schöpferischen Geistes sind. Dort wollten wir auch unsere literarischen Abende veranstalten, mit deren Reinertrag wir die jungen Talente zu fördern gedachten. Immer höher flogen unsere hochfliegenden Gedanken, und in dieser Höhe blieben sie auch.

Sofort am nächsten Tag machten wir uns auf die Suche nach einem geeigneten Heim für unser Vorhaben und fanden tatsächlich einen gut geeigneten Kellerraum. Aber der Eigentümer, ein aus Griechenland eingewanderter Gemüsehändler, wollte ihn nicht an uns vermieten. »Erstens: wer sind Sie?« fragte er. »Zweitens: was sind Sie? Drittens: was für ein Kreis ist das? Und viertens: wo sind die schriftlichen Unterlagen?«

Wir brachen in ein lautes, aber keineswegs verletzendes Gelächter aus. Schriftliche Unterlagen! Wozu brauchen wir schriftliche Unterlagen? Unser gemeinsames Ziel und unsere glühende Liebe zur hebräischen Kultur sind doch wohl mehr wert als ein albernes Stück Papier! Aber der Grieche bestand darauf, nur mit einem eingetragenen Verein zu unterhandeln, sonst würde er ja niemals wissen, bei wem er die rückständige Miete einkassieren sollte.

Wir mußten uns wohl oder übel entschließen, einen Rechtsanwalt aufzusuchen, dem wir die Erledigung dieser läppischen Formalitäten übertragen könnten.

Der Rechtsanwalt, ein gewisser Dr. Shay-Sonnenschein, empfing uns in seiner Kanzlei, die einen ausgezeichneten Eindruck auf uns machte, obwohl sie im früheren Lichtschacht des Hauses untergebracht war und keine Fenster besaß.

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Dr. Shay-Sonnenschein. »Wer sind Sie eigentlich und womit kann ich dienen?«

»Wir sind junge Menschen, Herr Doktor, und haben noch Ideale«, belehrte ihn Jakov. »Wir brennen darauf, unsere ganze Kraft in den Dienst der geistigen Regeneration Israels zu stellen, damit künftige Generationen die Früchte unseres Tuns und Trachtens genießen können.«

»Ich verstehe«, nickte der Anwalt. »Sie haben die Absicht, eine nicht auf Profit abzielende Gesellschaft mit beschränkter Haftung zu bilden.«

»Profit? Sagten Sie Profit?« fragte Chaim. »Wir denken nicht an Profit und werden auch keinen haben.«

»Das kann man im voraus nie wissen«, replizierte der Jurist. »Heute sind Sie noch jung und naiv, aber in zehn Jahren werden Sie über manche Dinge anders denken. Ich würde Ihnen empfehlen, eine sogenannte ›ottomanische Gesellschaft‹ zu gründen.«

Damit erklärten wir uns einverstanden, schon weil wir nicht wußten, was sich hinter dieser Bezeichnung verbarg. Als wir aufstanden, um uns zu verabschieden, hielt uns Dr. Shay-Sonnenschein zurück. Er wollte noch eine Reihe von Details geklärt wissen.

»Zum Beispiel muß in den Statuten genau festgelegt sein, unter welchen Umständen die Auflösung der Gesellschaft erfolgt«, sagte er.

Ein gelinder Zorn begann in uns hochzukeimen. Wovon sprach der Mann? Weshalb sollten wir an unsere Auflösung denken, da wir doch nichts andres im Sinn hatten als unsere Gründung? Und das gaben wir ihm auch deutlich zu verstehen.

»So einfach ist das alles nicht.« Der Vereinsexperte schüttelte den Kopf. »Heute vertragen Sie sich noch miteinander, aber wer weiß, wie das in zehn Jahren sein wird. Es ist jedenfalls besser, wenn man von Anfang an mit jeder Möglichkeit rechnet. Ich schlage vor, daß die Liquidation des Vereins nur durch einstimmigen Beschluß der Generalversammlung herbeigeführt werden kann.«

»Ganz wie Sie wünschen«, sagte ich sarkastisch.

»Gut. Und jetzt müssen wir uns noch darüber einigen, wie in einem solchen Fall das Eigentum des Vereins aufgeteilt wird.«

»Was für ein Eigentum?« Uri machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Warten Sie ab. In zehn Jahren sieht alles anders aus. Üblicherweise erhalten die Mitglieder der Generalversammlung zu gleichen Teilen den Grundbesitz und das bewegliche Eigentum der aufzulösenden Körperschaft. Im Streitigkeitsfall wird die Entscheidung von einem Schiedsgericht getroffen.«

»Streitigkeitsfall? Schiedsgericht? Was soll das?«

»Das werden Sie dann schon sehen. Es tut mir leid, aber ich muß Sie auf alle diese Dinge hinweisen. Das ist meine Pflicht als Anwalt. Heute sind Sie noch jung, aber so jung werden Sie nicht bleiben. Übrigens müssen wir auch stipulieren, wen Sie eigentlich als Mitglied aufnehmen wollen.«

»Jeden Menschen mit echter Schöpferkraft und wahrer Liebe zur hebräischen Kultur.«

»Das ist keine legale Definition. In solchen Fällen würde also das Präsidium die Entscheidung treffen.«

»Welches Präsidium?«

»Nach ottomanischem Gesetz, das bekanntlich noch nicht in allen Belangen aufgehoben oder revidiert wurde, muß jede Vereinigung ein dreiköpfiges Präsidium haben.«

»Zu dumm«, scherzte Uri. »Wir sind vier.«

»Dann ist einer überflüssig«, konstatierte trocken der Rechtsgelehrte.

Wir lachten einander lustig zu. Es war aber auch zu komisch.

»Na schön«, ließ Chaim sich vernehmen, »dann sagen wir, daß Ephraim dem Präsidium nicht angehören wird.«

Abermals brachen wir in stürmisches Gelächter aus, obwohl wir eigentlich wütend waren, daß wir unsere kostbare Zeit auf derlei kindische Bagatellen verschwenden mußten. Besonders wütend war ich. Wie kam Chaim dazu, mich aus dem Präsidium auszuschließen? Warum gerade mich? Das werde ich ihm so bald nicht vergessen.

»Die Frage des Präsidenten wäre also geklärt.« Dr. Shay-Sonnenschein waltete seines Amtes. »Jetzt müssen wir noch festlegen, unter welchen Umständen der Ausschluß eines Mitglieds erfolgen soll.«

»Das ist doch…«, unterbrach Jakov.

»Natürlich ist das heute noch nicht aktuell. Aber in zehn Jahren könnte es doch sehr leicht geschehen, daß Sie mit irgendeinem Ihrer Mitglieder nicht mehr auskommen, daß der Mann sich eines kriminellen Vergehens schuldig gemacht hat oder daß Sie ihn aus persönlichen Gründen draußen haben wollen.«

Ich merkte deutlich, daß mich alle ansahen. Mich und nur mich.

Dr. Shay-Sonnenschein kehrte zum Gegenstand zurück: »Ich halte es für ratsam, den Ausschluß eines Mitglieds vom einstimmigen Beschluß des Präsidiums abhängig zu machen.«

»Kommt nicht in Frage!« rief ich mit lauter Stimme. »Ich habe kein Vertrauen zum Präsidium. Über einen Ausschluß kann nur die Generalversammlung entscheiden.«

»Es wäre viel zu kompliziert, wegen eines einzigen Mitglieds eine Generalversammlung einzuberufen«, protestierte Jakov. »Auf diese Weise könnten wir praktisch niemanden loswerden.«

Ich wollte mich nicht so leicht mundtot machen lassen und stellte eine hypothetische Frage:

»Nehmen wir an, daß beispielsweise Jakov ausgeschlossen werden soll. Müßten wir ihm dann etwas zahlen, Herr Doktor?«

»Auch darüber hätte das Präsidium zu entscheiden.«

»Unmöglich!« Jetzt war es Uri, der Widerstand leistete. »Ich, wenn man zum Beispiel mich hinausekeln wollte, würde mich mit den Präsidialidioten gar nicht herstellen. Die Höhe meiner Entschädigung müßte statutarisch verankert sein.«

»Das läßt sich regeln«, entschied Dr. Shay-Sonnenschein. »In den Statuten ist Platz für alles. Vielleicht sollten wir zur Erleichterung des Steuerbetrugs die Formulierung gebrauchen, daß ein ausscheidendes Mitglied statt einer Abfindung das Gehalt für sechs Monate ausbezahlt erhält.«

»Welches Gehalt?«

»Das von Ihnen festgesetzte. Bedenken Sie, daß es sich um einen nicht auf Profit berechneten Verein handelt. Das heißt, daß Sie alle Gewinne unter sich aufteilen müssen.«

»Diese paar Pfund sind doch wirklich nicht der Rede wert.«

»Heute sind es nur ein paar Pfund, in zehn Jahren können es Hunderte oder Tausende sein. Sie müssen sich immer die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten eines solchen Unternehmens vor Augen halten. Sie können in Ihren Räumlichkeiten eine Snack-Bar einrichten. Sie können die größeren Säle für Hochzeiten, Bar-Mizwah-Feiern und Gedenkabende vermieten. Sie können musikalische Tees veranstalten. Neuerdings sind Tanzfeste am Sabbatausgang sehr beliebt. Wenn Sie es geschickt anstellen, können Sie mit dem Hinweis, daß Sie nicht auf Gewinn arbeiten, eine Steuerbefreiung herausschinden. Der trotzdem erzielte Gewinn muß dann eben unter der Bezeichnung ›Gehalt‹ an die Mitglieder verteilt werden.«

»Aber nicht an alle«, verwahrte sich Uri. »Nur an die vier Gründungsmitglieder, die hier anwesend sind.«

Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Dann kam Jakov auf eine noch schwebende Frage zurück:

»Was die Zulassung zur Mitgliedschaft betrifft, müssen wir vorsichtig sein. Ich bin für strenge Ballotage und hohe Mitgliedsbeiträge. Da sind wir sicher, daß wirklich nur Leute von Kultur und Niveau zu uns kommen.«

Dr. Shay-Sonnenschein servierte Kaffee und leerte die Aschenbecher aus.

Jakov war unverkennbar von mir abgerückt. Ich behielt den schäbigen Opportunisten scharf im Auge.

Chaim und Uri flüsterten miteinander und zeigten abwechselnd auf Jakov und mich. Ich schwor mir zu, den Verkehr mit diesen beiden hinterhältigen Gesellen so bald wie möglich abzubrechen.

»Wie, Herr Doktor, ist die Rechtslage«, fragte ich, »wenn sich herausstellt, daß einer von uns sich heimlich über die Vereinskasse hergemacht hat?«

»Es müßte, je nach statutarischer Vorschrift, entweder ein Schiedsgericht zusammentreten oder eine außerordentliche Vollversammlung einberufen werden.«

»Und wenn die betreffende Person sich als Spitzel in unsern Kreis eingeschlichen hat?« fragte Uri und warf mir einen haßerfüllten Blick zu. »Was macht man mit so einem Lumpen?«

»Man übergibt ihn der Polizei und wählt einen Ersatzmann.«

»Und wenn er Haschisch raucht und Amok läuft? Oder sich als gemeingefährlicher Irrer entpuppt?«

»Sie haben ganz recht, diese Fragen zu stellen. Das alles muß in den Statuten berücksichtigt werden. Das Präsidium muß auch berechtigt sein, alte oder kranke Mitglieder in ihrem eigenen Interesse ohne weitere Begründung auszuschließen.«

»Sehr richtig«, krächzte Jakov. »Wir brauchen keine Krüppel.«

Chaim, der an Magengeschwüren leidet, erbleichte und griff nach einer schweren bronzenen Löschblattwiege:

»Und was«, fragte er mit drohend gesenkter Stimme, »was geschieht, wenn einer von uns einen andern umbringt?«

»Dann hätte vor allem ein innerhalb des erweiterten Präsidiums zu konstituierender Rechnungsausschuß über die Höhe der Entschädigung zu beraten, die an die Witwe zu zahlen wäre. Aber auf solche Details brauchen wir heute noch nicht einzugehen, glaube ich.«

Dr. Shay-Sonnenschein schloß die Aktenmappe mit der Aufschrift »Kreis der Freunde der hebräischen Kultur« und erhob sich. »Ich schlage vor, daß wir in einer Woche wieder zusammenkommen, um über Investitionen, Dividenden und Einfuhrlizenzen zu beraten.«

Uri interessierte sich hauptsächlich für den Import schwedischer Pornofilme, ich legte größeres Gewicht auf englische Jagdmesser. Beim Verlassen des Hauses achtete ich darauf, nicht an der Spitze der Gruppe zu gehen. Es ist kein gutes Gefühl, diese Mafiosi im Rücken zu haben, wenn es dunkel wird.

»Also auf Wiedersehen nächste Woche«, murmelte Uri und war verschwunden.

Auch wir anderen gingen ohne Abschied auseinander.

Wir fühlten uns um zehn Jahre gealtert.

»Meine besten Freunde sind Juden«, pflegt der Antisemit zu sagen und will damit andeuten, daß er alle übrigen Juden nicht ausstehen kann. Bei uns, in Anbetracht unseres unverkennbar semitischen Charakters, liegen die Dinge ein wenig anders: Unsere Freunde sind unsere besten Feinde.

Ein wirklich guter Freund

Im allgemeinen gelte ich als verschlossen, fast schon als mürrisch. Aber das stimmt nicht. Was so mürrisch wirkt, ist in Wahrheit meine Seriosität. Ich plappere kein dummes Zeug, meine Ansichten sind wohlfundiert und gemäßigt, ich grinse nicht vor mich hin — ich bin, kurz gesagt, ein erwachsener Mensch, abhold allen Exzessen.

Trotzdem: an jenem Tag hatte ich das Gefühl, als gehörte mir die Welt. Ich weiß nicht warum. Vielleicht hatte ich infolge eines Irrtums gut geschlafen, oder der Feuchtigkeitsgehalt der Luft hatte nachgelassen, oder mein Blutdruck war plötzlich in Ordnung — jedenfalls fühlte ich mich schon am Morgen ganz großartig. Die Sonne schien, die Bäume blühten, die Vögel zwitscherten nicht, es herrschte angenehme Ruhe, und ich war sowohl mit mir selbst wie mit dem Leben im allgemeinen zufrieden.

Und dann kam der Anruf von Schlomo, meinem besten Freund.

Ich hob den Hörer ab und sagte: »Hallo.«

»Ephraim«, antwortete Schlomo, »was ist los mit dir?«

»Mit mir? Gar nichts. Was soll mit mir los sein?«

»Ephraim«, wiederholte Schlomo, »ich kenne dich. Ich kenne dich in- und auswendig. Ich brauche am Telefon nur deine Stimme zu hören und weiß sofort, daß irgend etwas bei dir nicht stimmt. Was ist los?«

»Es ist alles in bester Ordnung.«

»Ephraim!«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Was willst du?«

»Du klingst, als ob du schrecklich nervös wärst.«

»Ich bin nicht nervös. Aber wenn du mich noch lange fragst, warum ich nervös bin, dann werde ich’s.«

»Ich dachte, es würde dir guttun, dich mit jemandem über deinen Kummer auszusprechen.«

»Ich habe keinen Kummer, verdammt noch einmal.«

»Gut für dich, daß du deine Stimme nicht hören kannst. Du hast die Stimme eines Hysterikers. Ich hoffe nur, daß es nichts Ernstes ist.«

»Bitte reden wir von etwas anderem.«

»Du glaubst, damit wäre das Problem gelöst?«

»Ja.«

»Also schön. Was machst du heute abend? Willst du auf einen Sprung zu uns kommen?«

»Gerne, Schlomo.«

»Hör zu, Ephraim.« In der Stimme meines Freundes schwang ein Unterton leiser Gekränktheit mit. »Das kann jetzt endlos so weitergehen, dieser Austausch von Platitüden. ›Willst du zu uns kommen gerne — was ist los — nichts ist los -‹. Stundenlang. Ich war immer der Meinung, daß wir das nicht nötig hätten. Und jetzt sag schon endlich, was dir über die Leber gekrochen ist.«

»Wenn du mich noch einmal fragst, wem ich über die Leber gekrochen bin, hänge ich ab.«

»Weißt du, was du jetzt gesagt hast? Habe ich dich gefragt, wem du über die Leber gekrochen bist? Ich habe gefragt, was dir —«

»Das habe ich ja auch gemeint.«

»Gemeint, aber nicht gesagt. Du weißt nicht mehr, was du sprichst. Du bist völlig durcheinander.«

Damit hatte Schlomo nicht ganz unrecht. Er sprach ruhig, gelassen, gesammelt — ich hingegen stotterte herum wie ein verängstigtes Kind.

»Nimm’s nicht zu schwer«, fuhr Schlomo fort. »Glaub mir, solange du gesund bist und atmen kannst, besteht kein Grund zur Verzweiflung. Scher dich nicht drum. Manchmal geht’s hinauf, manchmal hinunter, so ist das Leben. Ich kenne dich. Du wirst schon wieder in Ordnung kommen. Kopf hoch, alter Junge! Keep smiling!«

»Aber ich schwöre dir —«

»Ephraim!«

Außer der Frage »Was ist los mit dir?« macht mich nichts so rasend, wie wenn jemand mit tiefer Stimme und tiefer Anteilnahme meinen Namen ruft. Es macht mich rasend und zugleich lähmt es mich.

Ich schwieg.

»Vor allem«, nahm Schlomo wieder das Wort, »mußt du dir selbst gegenüber ehrlich sein. Du mußt dir sagen: das und das ist geschehen, das und das könnte geschehen, das und das habe ich zu tun.«

»Das und das und das«, hörte ich mich murmeln. Mein Blick fiel in den Spiegel. Ein aschgraues, von Falten durchzogenes Gesicht glotzte mir entgegen. Und da kam abermals Schlomos Stimme:

»Warst du schon beim Arzt?«

»Wieso? Bei welchem Arzt?«

»Ich bitte dich, Ephraim, nimm dich zusammen. Für einen Freund ist es schrecklich, beobachten zu müssen, wie du aus dem Leim gehst.«

»Aber ich hab’ dir doch schon gesagt, daß bei mir alles in Ordnung ist. Das hab’ ich dir doch schon gesagt. Oder?«

Schlomo antwortete nicht. Wahrscheinlich mußte er seine Tränen niederkämpfen. Wir sind sehr gute Freunde. Endlich sagte er:

»Ephraim, was ist los mit dir?«

Jetzt war es an mir, nicht zu antworten.

»Ephraim, laß dich um Himmels willen zu keinen übereilten Schritten hinreißen. Du bist noch jung, wenigstens geistig, das Leben liegt noch vor dir. Verscheuch die finsteren Gedanken, frag nicht viel warum, wozu, für wen. Das Leben ist schön. Wirf’s nicht von dir, Ephraim…«

Ich erhob mich und überlegte, ob ich mich aufhängen sollte, entschloß mich aber, statt dessen ins Kino zu gehen. Noch an der Türe glaubte ich Schlomos Stimme zu hören:

»Ephraim, Ephraim! Warum antwortest du nicht?

E-p-h-r-a-i-m…!«

___________

Dieses Gespräch hat vor ungefähr einer Woche stattgefunden. Gestern abend läutete das Telefon. Ich hob ab und sagte:

»Hallo.«

»Ephraim«, sagte Schlomo, »deine Stimme klingt sehr merkwürdig.«

»Kein Wunder«, antwortete ich. »Unser Haus ist abgebrannt.«

»Wie bitte?«

»Außerdem wurde ich auf der Dizengoff-Straße von einem Dreirad überfahren.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Und meine Frau ist mir mit dem Seiltänzer vom japanischen Zirkus davongelaufen.«

»Macht nichts«, sagt Schlomo. »Das geht vorbei. Willst du abends auf einen Sprung zu uns kommen? Wiedersehen.«

Vermutlich wird die folgende paramedizinische Abhandlung nur von jenen verstanden werden, die mit unserer Wesensart intim vertraut sind. Die Diagnose der in Rede stehenden Krankheit lauteta: »Pathologische Neigungen des durchschnittlichen israelischen Bürgers zur Erzeugung wuchernder Abmachungen ohne Substanz«. Es scheint, daß die Keime dieser Krankheit noch im vorigen Jahrhundert von den ersten Siedlern eingeschleppt wurden, und sie haben sich seither prächtig entwickelt.

Ein Vorschlag, Vorschläge zu machen

Wenn ich nicht irre, geschah es während einer Theaterpremiere der Saison 1954/55. Ich stand während der Pause am Büffet, als Stockler auf mich zukam:

»Hören Sie«, sagte er. »Wir müssen uns unbedingt treffen. Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Wenn’s Ihnen recht ist, rufe ich Sie morgen an. Oder besser Dienstag. Okay?«

»Okay«, gab ich gelassen zurück, ohne ernsthaft damit zu rechnen, daß er mich anrufen würde. Ich kenne Stockler nur flüchtig, eigentlich nur dem Namen nach. Er steht im Ruf, ein Schnittlauch auf allen möglichen Suppen zu sein, alle möglichen Leute zu kennen und alle möglichen Geschäfte zu machen. Mehr weiß ich nicht von ihm. Wenn er mir etwas vorschlagen will und wenn’s ein guter Vorschlag ist — warum nicht.

Aber es kam kein Anruf von Stockler.

Einen Monat später sahen wir einander durch Zufall auf der Straße. Sofort hielt er mich fest:

»Für Sie habe ich etwas sehr Interessantes. Wir müssen zusammenkommen und die Sache in Ruhe besprechen. Stehen Sie im Telefonbuch?«

»Ja.«

»Fein. Dann rufen Sie mich Mitte nächster Woche an.«

Daß ich ihn Mitte nächster Woche nicht anrief, lag an technischen Ursachen, deren Schilderung hier zu weit führen würde. Hier ist lediglich zu vermerken, daß ich Stockler mitsamt seinen Vorschlägen längst vergessen hatte, als er, im August 1956, unvermutet bei mir anrief:

»Ich wollte Sie schon die ganze Zeit anrufen, um Ihnen etwas vorzuschlagen. Sind Sie um die Mittagszeit erreichbar?«

»Immer.«

»Gut, dann werde ich Sie anrufen.«

Da ich am nächsten Tag für eine Woche verreiste, weiß ich nicht, ob er mich wirklich angerufen hat. Jedenfalls war es erst gegen Ende 1957, daß er sich auf einer Cocktailparty bei Zieglers an mich heranpirschte.

»Ich bin soeben aus Frankreich zurückgekommen«, raunte er, während er mich in eine stille Ecke zog. »Ich habe einen interessanten Vorschlag für Sie. Wir müssen irgendwo eine stille Ecke ausfindig machen und über die Details sprechen.«

»Wie Sie meinen.«

»Einverstanden. Wir telefonieren noch miteinander.«

Es folgte eine Zeit völliger Kontaktlosigkeit. Sie dauerte bis zum Herbst 1959. Dann meldete sich plötzlich Stockler am Telefon und wollte meine Telefonnummer wissen, weil er etwas Wichtiges mit mir zu besprechen hätte. Ich stimmte zu. Wir vereinbarten, daß an einem der nächsten Tage entweder er mich oder ich ihn anrufen würde, um eine Zusammenkunft zu verabreden. Damit verlor sich seine Spur aufs neue.

Um die Mitte des Jahres 1963 sah ich Stockler auf einer Kaffeehausterrasse sitzen, offenbar in Gedanken versunken und den vor ihm stehenden Tee pausenlos umrührend. Ich trat auf ihn zu und stellte mich vor. Er freute sich, meine Bekanntschaft zu machen und gab mir zu verstehen, daß er mich ohnedies hätte anrufen wollen, um mir eine sehr interessante Sache vorzuschlagen. Am besten, sagte er nach kurzer Überlegung, am besten wäre es wohl, wenn wir uns auf einer Kaffeehausterrasse zusammensetzen und die Angelegenheit in Ruhe besprechen könnten. Wir müßten nur noch einen geeigneten Zeitpunkt fixieren. Zum Schluß verblieben wir so, daß er mich am Freitag anrufen würde. Bis dahin war er beschäftigt und hatte keine Zeit.

Im Mai 1966 begegneten wir einander in einem Philharmonischen Konzert, konnten aber nur wenige Worte wechseln, weil die Musik zu laut war.

Einigen Andeutungen, die er mir voriges Jahr machte, entnahm ich, daß er mich mehrmals angerufen hätte, aber meine Nummer sei immer besetzt gewesen. Ich empfahl ihm, es in den frühen Abendstunden zu versuchen, womöglich zwischen 6 und 7. Er versprach, sich diesen Zeitpunkt zu merken und fügte hinzu, daß sein Vorschlag mich bestimmt interessieren würde.

Das ist eigentlich das Ende der Geschichte. Kurz nach unserem letzten Gespräch wurde Stockler krank, und etwas später starb er. Ich erhielt die traurige Nachricht durch einen Brief seiner Witwe. Sie berichtete, daß ihr verstorbener Mann noch auf dem Totenbett an mich gedacht und immer wieder von den großen Plänen gesprochen hätte, die er mit mir und nur mit mir verwirklichen wollte.

Gestern nacht, zu ungewohnter Stunde, ging mein Telefon. Ein Fernruf. Es war Stockler.

»Ich habe jetzt etwas mehr freie Zeit«, sagte er mit Grabesstimme. »Und ich möchte Ihnen einen sehr interessanten Vorschlag machen.«

»Ausgezeichnet«, antwortete ich. »Rufen Sie mich bald einmal an.«

Während der zwei Jahrtausende des Exils und der Verfolgung haben die Juden sich in einen intellektuellen Elfenbeinturm eingeschlossen und ihre körperliche Ertüchtigung arg vernachlässigt. Unser wiedererstandenes Heimatland hat uns endlich wieder einen simplen, kräftigen, erdnahen Menschentyp geschenkt. Und dieses Geschenk müssen wir teuer bezahlen.

Die vier apokalyptischen Fahrer

Wann schläft der Mensch am besten? Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen bis 5.25 Uhr am Morgen. Um 5.25 Uhr am Morgen fährt der Durchschnittsbürger aus dem besten Schlafe hoch. Der höllische Lärm, der über ihn hereinbricht, weist eine vielfältige Zusammensetzung auf und läßt sich am ehesten mit dem Klangbild mehrerer Tonbänder vergleichen, die zur selben Zeit verkehrt abgespielt werden. Es klingt nach Fliegeralarm, nach einer stampfenden Büffelherde, nach einem Sturmangriff mit schweren Panzern und nach dem Dschungelschrei eines wildgewordenen Tarzans.

Um 5.25 Uhr am Morgen.

Die Reaktion der Menschen, die von dieser Naturkatastrophe betroffen werden, ist unterschiedlich. Manche vergraben sich in ihre Kissen und beginnen zu beten. Andere — zumeist diejenigen, die vor Schreck aus dem Bett gefallen sind — sausen ziellos zwischen Schlafzimmer und Badezimmer hin und her. Schreiber dieses wirft sich bei den ersten Donnerschlägen wortlos auf seine neben ihm schlummernde Gattin und würgt sie so lange, bis es ihr gelingt, die Nachttischlampe anzuknipsen und ihm vorsichtig beizubringen, daß ihn niemand ermorden will. »Wie um des Himmels willen ist es möglich«, fragte mein Nachbar Felix Seelig, als er sich einmal um 5.25 Uhr am Morgen aus dem Fenster beugte, »daß vier Männer einen so ungeheuerlichen Krach erzeugen?«

Wir beobachteten die Vier von oben. Es handelte sich um den Fahrer des städtischen Müllabfuhrwagens, um seinen Mitfahrer, der meistens auf dem Trittbrett steht, und um die beiden Kerle, die sich der wartenden Koloniakübel bemächtigen und sie mit Getöse ausleeren. Auf den ersten Blick sehen diese Vier wie einfache Sendboten des Gesundheitsamtes aus, aber hinter ihrem unauffälligen Äußeren verbergen sich vier Weltmeister der Höllenlärm-Technik. Zum Beispiel benützt der Fahrer grundsätzlich nur den ersten Gang, um seinen Motor auf höchste Diesellautstärke zu bringen, während die beiden Zubringer jeden einzelnen Koloniakübel polternd über das Pflaster schleifen und dabei so laut und lästerlich fluchen, als stünde der Ausbruch von Tätlichkeiten unmittelbar bevor.

In Wahrheit haben sie keinerlei Streit miteinander. Hört man mit den Restbeständen von Membranen, über die man noch verfügt, etwas genauer hin, so kann man feststellen, daß sie sich auf ihre Weise über ganz alltägliche Dinge unterhalten. Diese ihre Weise besteht darin, daß die Unterhaltung grundsätzlich immer dann beginnt, wenn der eine von ihnen mit dem schon entleerten Koloniakübel im Hausflur angelangt ist und der andre in 20-30 Meter Entfernung seinen noch gefüllten Kübel auf die Kippe niederkrachen läßt.

»Hey!« brüllt der eine. »Hey! Was hast du gestern abend gemacht, gestern abend?«

Darauf antwortet jedoch nicht der andre, sondern der Fahrer steckt den Kopf aus seinem Gehäuse hervor, legt die Hände an den Mund und brüllt:

»Hey! Wir sind zu Hause geblieben! Zu Hause! Und du?« Jetzt erst ist es so weit, daß der ursprünglich Angesprochene oder besser Angebrüllte zurückbrüllt:

»Hey! Wir waren im Kino! Im Kino waren wir! Bei diesem Wildwestfilm! Großartig! Alle haben sehr gut gespielt haben alle!«

Auch wenn die Dialogpartner dicht nebeneinander stehen, ändert sich nichts an der Lautstärke ihres Geplauders:

»Hey! Kommen dir diese verdammten Kübel heute nicht verdammt schwer vor?«

»Verdammt schwer heute! Wo es noch dazu so verdammt heiß ist! Verdammt!«

Frau Kalaniot, der das Schicksal ein Schlafzimmer direkt oberhalb des Haustors zugewiesen hat und die infolgedessen ständig am Rande eines Nervenzusammenbruchs wandelt, riß in ihrer Verzweiflung einmal das Fenster auf und rief hinunter:

»Bitte Ruhe! Ich flehe Sie an: Ruhe! Müssen Sie denn jede Nacht solchen Lärm machen?«

»Nacht? Wieso Nacht?« Der Angeflehte wieherte fröhlich. »Es ist ja schon halb sechs vorbei ist es schon!«

»Wenn Sie mit diesem Lärm nicht aufhören, hole ich die Polizei!« Das war Benzion Ziegler, der sein Fenster gleichfalls aufgerissen hatte. Die vier apokalyptischen Fahrer krümmten sich vor Lachen:

»Polizei! Hohoho! Hol doch einen Polizisten hol ihn doch! Wenn du in der Nacht einen findest! Hohoho…«

Ja, so sind sie, unsere stämmigen, breitschultrigen, von keiner Hemmung belasteten Naturburschen, die neue Generation, die neue Rasse, der neue Mensch. Man hat den Eindruck, daß keine Macht der Welt mit ihnen fertigwerden könnte.

Dieser Eindruck wird durch die Tatsachen erhärtet.

Auf dem letzten Protestmeeting unseres Häuserblocks betraute man mich mit der ehrenvollen Aufgabe, vom Städtischen Gesundheitsamt die Einstellung der allnächtlichen Erdbebenkatastrophen zu verlangen. Ich rief den Abteilungsvorstand an und begann meine wohlvorbereitete Anklagerede.

Noch ehe ich beim ersten meiner bildkräftigen Vergleiche angelangt war, unterbrach er mich:

»Mir brauchen Sie nichts zu erzählen. Ich bekomme das jeden Morgen zu hören. Sie werden verrückt, sagen Sie? Ich werde verrückt…«

Der Sommer kam, und mit ihm kamen die Nächte, in denen man wenn überhaupt — nur bei offenem Fenster schlafen kann. Wir schickten eine von allen schreibfähigen Anrainern unterzeichnete Petition an die Behörde, blieben jedoch ohne Antwort. Die Aufräumefrau, die dreimal wöchentlich zu den Zieglers kommt und eine Wohnungsnachbarin des Trittbrett-Tarzans ist, empfahl uns, nichts zu unternehmen, weil die Vier davon Wind bekommen und dann noch größeren Lärm machen würden. Auch der Rechtsanwalt, den wir heranzogen, wußte uns nichts Besseres zu raten, als daß wir das Wochenende in Jerusalem verbringen sollten, weil dort die Müllabfuhr häufig durch Streiks lahmgelegt ist.

Wir versuchten es mit Wattebäuschen, die wir uns in die Ohren stopften und die anfänglich einen gewissen Sordino-Effekt bewirkten. Aber schon das erste »Hey!« schnitt durch sie hindurch wie ein scharfes Messer durch weiche Butter.

Auf unserer letzten Protestversammlung hielt der angesehene Mediziner Dr. Wasserlauf einen visionären Vortrag:

»Die chronische Schlaflosigkeit und die traumatischen Schocks, unter denen wir zu leiden haben, werden früher oder später die Funktionsfähigkeit unserer Gehirnganglien beeinträchtigen. Ich bin überzeugt, daß bei unseren Kindern und in noch höherem Maß bei unseren Enkeln bestimmte Degenerationserscheinungen nicht aufzuhalten sind und daß die Müllabfuhr letzten Endes eine bedrohliche Senkung des allgemeinen intellektuellen Niveaus zur Folge haben wird…«

Vor unserem geistigen Auge erschienen Scharen von Enkelkindem, sahen uns stumm und vorwurfsvoll an und verschwanden mit kuriosen Bocksprüngen im nahen Wald.

Es mußte etwas geschehen.

Wäre es nicht am besten, mit den Leuten zu reden? Das entspräche nicht nur unseren demokratischen Grundsätzen, sondern vor allem der menschlichen Würde, die ja auch dem Müllabfuhr-Personal als unveräußerliches Recht eingepflanzt ist. Ganz im geheimen empfanden wir tiefe Bewunderung für jene vier Aufrechten, die schon im frühen Morgendämmer ihre schwere Arbeit verrichteten, während wir nichtsnutzige Schmarotzer in unseren weichen, weißen Betten wohlig bis 5.25 Uhr schnarchten… Es wurde beschlossen, die Sache psychologisch anzugehen. Wir mußten zu den Herzen der Vier einen Weg finden. Geld spielt keine Rolle.

An einem der nächsten Tage enthielt der Text der allmorgendlichen Lärmsendung eine Variante:

»Hey!« dröhnte es vom Trittbrett zu den Kübeln. »Langsam wird’s kalt! Kalt wird’s langsam!«

»Hey!« donnerte es zur Antwort. »Kauf dir einen Pullover! Kauf dir einen!«

»Pullover? Sagst du Pullover hast du gesagt? Hey! Wo soll ich einen Pullover hernehmen, wo?«

Wir handelten unverzüglich. Wir handelten im Interesse unserer Nachkommen, im Interesse der Zukunft späterer Generationen, im Interesse des Friedens im Nahen Osten. Aus den Geldern des eigens für diese Zwecke angelegten »Reinigungs-Fonds« kaufte Frau Kalaniot einen knallroten Pullover (Übergröße), und Felix Seelig begab sich an der Spitze einer Delegation zum Wohnhaus des Trittbrett-Tarzans, der seine Rührung kaum verheimlichen konnte. Er zeigte volles Verständnis für den von Felix Seelig vorsichtig formulierten Hinweis, daß warme Kleider bekanntlich zur Schaffung einer ruhigeren Atmosphäre beitrügen, dankte der Delegation in stockenden, ungefügen Worten und versprach, auch seine Mitarbeiter entsprechend zu informieren.

Am nächsten Morgen um 5.25 Uhr wurde Frau Kalaniot durch ein Gebrüll von noch nicht dagewesener Unmenschlichkeit aus ihrem Bett geschleudert:

»Hey! Die haben mir diesen Pullover gekauft haben sie! Diesen roten Pullover!«

»Sind nette Leute«, brüllte es zurück. »Nette Leute sind sie! Wirklich nett!«

Hierauf erfolgte eine Explosion, die alle bisherigen übertraf: in seiner Freude über den roten Pullover schleuderte der Trittbrett-Tarzan einen eben entleerten Kübel in so kunstvoller Schleife zurück, daß zwei andere Kübel mitgerissen wurden und insgesamt drei Granateneinschläge zur gleichen Zeit stattfanden.

Seither höre ich schlecht auf dem linken Ohr. Dafür schlafe ich sehr gut auf der rechten Seite. Eine exzellente und im Grund ganz einfache Lösung. Ich muß mich wundern, daß ich nicht schon früher an sie gedacht habe.

In unserem Land besteht große Nachfrage nach Facharbeitern jeder Art, ausgenommen Skilehrer, Rauchfangkehrer und Dichter. Die Repräsentanten des zuletzt genannten Berufs legen eine geradezu bewundernswerte Hartnäckigkeit an den Tag und fahren fort, hebräisch zu dichten. Einigen wenigen gelingt es sogar, das Gedichtete zu verkaufen. Aber sie wissen, daß sie zugleich auch ihre Seele verkaufen müssen.

Buchwerbung

Der Verleger holte das Manuskript aus der Lade und wandte sich zu Tolaat Shani:

»Ich habe sie gelesen.«

Der Dichter rutschte auf die Sesselkante vor.

»Ja?« flüsterte er. »Ja?«

»Es sind wunderschöne Gedichte. Ich finde, daß in den letzten zweihundert Jahren nichts geschrieben wurde, was sich mit Ihrem ›Ich liebte dich, dich liebte ich‹ vergleichen könnte.«

»Danke«, kam es kaum hörbar von Tolaat Shanis Lippen. »Seien Sie bedankt, Herr Blau.«

»Ich gehe noch weiter und sage, daß der ganze Band zu den lyrischen Gipfeln der Weltliteratur gehört.«

»Ich danke Ihnen. Und ich werde trotzdem versuchen, an diesen Gedichten bis zur äußersten Vollendung zu feilen, bevor Sie den Band veröffentlichen.«

»Bevor ich den Band — was?«

»Veröffentlichen… den Band… Herr Blau… Ich liebte dich, dich liebte ich…«

»Wann habe ich von Veröffentlichung gesprochen?«

»Aber Sie sagten doch… wunderschöne Gedichte…«

»Wer kauft heutzutage Gedichte?«

»Niemand?«

»Nicht direkt niemand. Vierzig bis fünfzig Sonderlinge werden sich finden.«

»Ich bin bereit, auf jedes Honorar zu verzichten, Herr Blau.«

»Das versteht sich von selbst.«

»Ich bin ferner bereit, zu den Herstellungskosten beizutragen.«

»Auch schon was. Lassen Sie mich nachdenken…Leiden Sie an einer unheilbaren Krankheit?«

»Warum?«

»Dann könnte ich das Buch mit einer schwarzen Trauerschleife herausbringen: ‘Das letzte Werk des Dichters’ oder so ähnlich. Das würde vielleicht den Verkauf ankurbeln.«

»Es tut mir aufrichtig leid, Herr Blau, aber ich bin gesund. Allerdings… wenn die Regenzeit beginnt…«

»Darauf kann ich mich nicht verlassen.«

»Dann sagen Sie mir bitte, was ich tun soll.«

»Ich möchte Sie nicht beeinflussen. Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß der bekannte Maler Zungspitz, nachdem er das Augenlicht verloren hatte, phantastische Preise für seine Bilder erzielen konnte.«

»Leider bin ich Brillenträger.«

»Tolaat, Sie scheinen nicht zu begreifen, um was es hier geht. Ohne Reklame und Skandal ist Kunst heutzutage unverkäuflich.«

»Mir fällt etwas ein, Herr Blau! Ich werde nackt auf der Dizengoff-Straße spazierengehen, mit einem Exemplar von ›Ich liebte dich, dich liebte ich‹ unterm Arm.«

»Ein alter Hut. Die Bildhauerin Gisela Glick-Galgal hat sich auf dem Rothschild-Boulevard zweimal nackt ausgezogen, um Besucher in ihre Ausstellung zu locken. Angeblich hat sie dann wirklich ein paar Plastiken verkauft. Und jedenfalls ist der Trick schon abgebraucht. Spielen Sie Trompete?«

»Noch nicht.«

»Schade. Dann bleibt nichts andres übrig als Brutalität. Nach dem ersten Verriß Ihres Buches schlagen Sie dem Kritiker alle Zähne ein. Einverstanden?«

»Gewiß, Herr Blau. Aber ich fürchte, daß niemand meine Gedichte verreißen wird.«

»Denken Sie nach, ob sie nicht doch irgendeine Krankheit haben.«

»Leider… wie ich schon sagte…«

»Vielleicht hat es in Ihrer Familie einen Fall von Wahnsinn gegeben? Das wäre brauchbar. Als Josef Melamed-Becker nach seinem Wahnsinnsausbruch in eine geschlossene Anstalt eingeliefert wurde, hat sein Roman drei Neuauflagen erreicht!«

»Der Glückspilz.«

»Es war nicht nur Glück. Es war die Erkenntnis, daß ein Buch auf Publicity angewiesen ist, wenn es gehen soll. Gibt es in Ihrem Band auch Liebeslyrik?«

»Aber Herr Blau! Erinnern Sie sich nicht?«

»Ich habe Ihre Gedichte noch nicht gelesen. Wenn sie wirklich realistisch und offenherzig sind… sozusagen nackte Tatsachen… Sie verstehen was ich meine…«

»Nein, Herr Blau! Nein und abermals nein! Da springe ich lieber aus dem fünften Stock auf die Straße.«

»Das ist eine Idee. ›Von der Liebe enttäuschter Dichter begeht Selbstmord‹. Nicht schlecht. Sie könnten Brigitte Bardot eines Ihrer Gedichte widmen.«

»Gerne. Wer ist das?«

»Spielt keine Rolle. Sie haben nichts weiter zu tun, als irgendeinem Gedicht die Widmung voranzusetzen: ›Meiner ewigen Liebe B.B.‹. Das genügt.«

»In Ordnung.«

»Na sehen Sie. Langsam beginnt mir Ihr Buch zu gefallen, Tolaat! Wir lassen an die Presse durchsickern, daß Sie zwei Jahre wegen Bigamie —«

»Lieber nicht. Das stimmt nämlich.«

»Dann also nicht. Kommen in Ihren Gedichten auch antireligiöse Motive vor? Vielleicht eine beleidigende Stelle über Moses? Sie wissen doch, wie empfindlich unsere Orthodoxen sind.«

»So etwas könnte ich mühelos einfügen.«

»Großartig. Wenn wir das Oberrabbinat dazu bringen, Ihr Buch mit einem Bannfluch zu belegen, ist die erste Auflage so gut wie verkauft.«

»Ich bewundere Ihre Erfindungsgabe, Herr Blau. Und ich danke Ihnen von Herzen.«

»Danken Sie mir noch nicht. Sie haben noch eine Menge zu tun. Heute nacht werden Sie sich wegen öffentlicher Gewalttätigkeit verhaften lassen. Dazu müssen Sie mindestens ein paar Fenster einschlagen. Dann verbarrikadieren Sie sich in der Damentoilette des Dan-Hotels, blasen Trompete, entkleiden sich, gehen auf die Straße und ziehen sich eine Lungenentzündung zu.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Nachher versuchen Sie ein Bombenattentat auf die Regierung, lassen sich griechisch-orthodox taufen und wandern aus.«

»In Ordnung.«

»Und kommen Sie mir nicht unter die Augen, bevor Sie komplett wahnsinnig sind.«

»Das wird ganz leicht sein, Herr Blau.«

Die folgende Geschichte handelt von einem lieben kleinen Jungen, der für die israelische Schlosser-Innung mehr getan hat als alle Einbrecher zusammen.

Verschlüsselt

Zum Nachmittagstee kamen die Lustigs, die wir eingeladen hatten, und brachten ihren sechsjährigen Sohn Schragele mit, den wir nicht eingeladen hatten. Offen gesagt: wir schätzen es nicht besonders, wenn Eltern immer und überall mit ihrer keineswegs immer und überall erwünschten Nachkommenschaft auftreten. Indessen erwies sich Schragele als ein netter, wohlerzogener Knabe, obwohl es uns ein wenig enervierte, daß er sich pausenlos in sämtlichen Räumen unseres Hauses herumtrieb.

Wir saßen mit seinen Eltern beim Tee und unterhielten uns über alles mögliche, angefangen von den amerikanischen Mondflügen bis zur Krise des israelischen Theaters. Es waren keine sehr originellen Themen, und die Konversation plätscherte eher mühsam dahin.

Plötzlich hörten wir — ich möchte mich gerne klar ausdrücken, ohne den guten Ton zu verletzen — hörten wir also, daß Schragele, nun ja, die Wasserspülung unserer Toilette in Betrieb setzte.

An sich wäre das nichts Außergewöhnliches gewesen. Warum soll ein gesundes Kind im Laufe eines Nachmittags nicht das Bedürfnis verspüren, auch einmal… man versteht, was ich meine… und warum soll es nach vollzogenem Bedürfnis nicht die Wasserspülung… wie gesagt: das ist nichts Außergewöhnliches.

Außergewöhnlich wurde es erst durch das Verhalten der Eltern. Sie verstummten mitten im Satz, sie verfärbten sich, sie sprangen auf, sie schienen von plötzlichen Krämpfen befallen zu sein, und als Schragele in der Tür erschien, brüllten sie beide gleichzeitig:

»Schragele — was war das?!«

»Der Schlüssel zum Kleiderschrank vom Onkel«, lautete die ruhig erteilte Auskunft des Knaben.

Frau Lustig packte ihn an der Hand, zog ihn unter heftigen Vorwürfen in die entfernteste Zimmerecke und ließ ihn dort mit dem Gesicht zur Wand stehen.

»Wir sprechen nur ungern darüber.« Herr Lustig konnte dennoch nicht umhin, sein bekümmertes Vaterherz mit gedämpfter Stimme zu erleichtern: »Schragele ist ein ganz normales Kind — bis auf diese eine, merkwürdige Gewohnheit. Wenn er einen Schlüssel sieht, wird er von einem unwiderstehlichen Zwang befallen, ihn… Sie wissen schon… in die Muschel zu werfen und hinunterzuspülen. Nur Schlüssel, nichts anderes. Immer nur Schlüssel. Alle unsere Versuche, ihm das abzugewöhnen, sind erfolglos geblieben. Wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen. Freunde haben uns geraten, gar nichts zu unternehmen und das Kind einfach nicht zu beachten, dann würde es von selbst zur Vernunft kommen. Wir haben diesen Rat befolgt — mit dem Ergebnis, daß wir nach einiger Zeit keinen einzigen Schlüssel mehr im Haus hatten…«

»Komm einmal her, Schragele!« Ich rief den kleinen Tunichtgut zu mir. »Nun sag doch: warum wirfst du alle Schlüssel ins Klo?«

»Weiß nicht«, antwortete Schragele achselzuckend. »Macht mir Freude.«

Jetzt ergriff Frau Lustig das Wort:

»Wir haben sogar einen Psychiater konsultiert. Er verhörte Schragele zwei Stunden lang und bekam nichts aus ihm heraus. Dann fragte er uns, ob wir den Buben nicht vielleicht als Baby mit einem Schlüssel geschlagen hätten. Natürlich ein Blödsinn. Schon deshalb, weil ja ein Schlüssel für so etwas viel zu klein ist. Das sagten wir ihm auch. Er widersprach und es entwickelte sich eine ziemlich lebhafte Diskussion. Mittendrin hörten wir plötzlich die Wasserspülung… also was soll ich Ihnen viel erzählen: Schragele hatte uns eingesperrt, und erst als nach stundenlangem Telefonieren ein Schlosser kam, konnten wir wieder hinaus. Der Psychiater erlitt einen Nervenzusammenbruch und mußte einen Psychiater aufsuchen.«

In diesem Augenblick erklang abermals das ominöse Geräusch. Unsere Nachforschungen ergaben, daß der Schlüssel zum Hauseingang fehlte.

»Wie tief ist es bis in den Garten?« erkundigten sich die Lustigs.

»Höchstens anderthalb Meter«, antwortete ich.

Die Lustigs verließen uns durch das Fenster und versprachen, einen Schlosser zu schicken.

Nachdenklich ging ich auf mein Zimmer. Nach einer Weile stand ich plötzlich auf, versperrte die Tür von außen, nahm den Schlüssel und spülte ihn die Klosettmuschel hinab.

Die Sache hat etwas für sich. Macht mir Freude.

Während dieses Buch entstand, wurde unser Sohn Amir allmählich älter und größer — allen gegenteiligen Anzeichen zum Trotz. Er ist nun einmal ein trotziges Kind. Und davon handelt die folgende Geschichte.

Die Kraftprobe

Wenn Sie dieser Tage zufällig durch unsere Gegend kommen und auf der Straße zwei oder mehrere in hitzigem Gespräch begriffene Menschen sehen, können Sie jeden Betrag darauf wetten, daß über das derzeit wichtigste Thema gesprochen wird, nämlich: »Geht Amir Kishon in den Kindergarten oder nicht?«

Die Quote steht 3:1 für »nicht«.

Wir bekommen im Durchschnitt zehn Anrufe täglich, alle mit der Frage: »Bleibt er zu Hause?«

Amir bleibt.

Das war nicht immer so. Als wir ihn zum erstenmal in den Kindergarten brachten, schien er sich dort ungemein wohlzufühlen, fand sofort Anschluß an die anderen Rangen, tollte fröhlich mit ihnen umher, baute Plastikburgen und tanzte zu den Weisen einer Ziehharmonika. Aber schon am nächsten Morgen besann er sich auf sich selbst:

»Ich will nicht in den Kindergarten gehen«, plärrte er. »Bitte nicht! Pappi, Mammi, bitte keinen Kindergarten! Nein, nein, nein!«

Wir fragten ihn nach den Gründen des plötzlichen Umschwungs gestern hätte es ihm doch so gut gefallen, warum wollte er plötzlich nicht mehr, was ist denn los? Amir ließ sich auf keine Diskussion ein. Er wollte ganz einfach nicht, er weigerte sich, er war bereit, überall hinzugehen, nur nicht in den Kindergarten. Und da er in der Kunst des Heulens meisterhaft ausgebildet ist, setzte er auch diesmal seinen Willen durch.

Das Ehepaar Seelig bemängelte unverhohlen unsere Schwäche, und als wir Amir — der ja schließlich uns gehörte und nicht den Seeligs — in Schutz zu nehmen versuchten, bekamen wir’s mit Erna Seelig zu tun:

»Lauter Unfug«, keifte sie. »Man darf einem kleinen Kind nicht immer nachgeben. Man muß es vor vollendete Tatsachen stellen. Nehmen Sie den Buben bei der Hand, liefern Sie ihn im Kindergarten ab, und fertig.«

Wir konnten nicht umhin, den Mut dieser energischen Person zu bewundern. Endlich ein Mensch, der sich von Kindern nichts vorschreiben läßt! Wirklich schade, daß Erna Seelig keine Kinder hat.

Mit ihrer Hilfe zerrten wir Amir in den Wagen und unternahmen eine Spazierfahrt, die zufällig vor dem Eingang des Kindergartens endete. Amir begann sofort und im höchsten Diskant zu heulen, aber das kümmerte uns nicht. Wir fuhren ab. Der Fratz soll nur ruhig heulen. Das kräftigt die Stimmbänder.

Nach einer Weile, vielleicht eine volle Minute später, wurden wir trotzdem nachdenklich. In unseren Herzen stieg die bange Frage auf, ob er denn wohl noch immer weinte.

Wir fuhren zum Kindergarten zurück. Amir hing innen am Gitter, die kleinen Händchen ins Drahtgeflecht verklammert, den kleinen Körper von konvulsivischem Schluchzen geschüttelt, aus dem die Rufe »Mammi« und »Pappi« klar hervordrangen.

Die Politik der Stärke hatte kläglich versagt. Gewalt erzeugt Gewalt, das ist eine altbekannte Tatsache. Eine Stunde später wußte man in der ganzen Nachbarschaft, daß Amir zu Hause war und nicht im Kindergarten.

Und dann, wie immer im Leben, trat eine Wendung ein. Wir verbrachten den Abend bei den Birnbaums, zwei netten Leuten gesetzten Alters, keine außergewöhnlichen Erscheinungen, aber sehr sympathisch. Im Lauf der Unterhaltung kamen wir auch auf Amir und das Kindergartenproblem zu sprechen und schlossen unsern Bericht mit den Worten:

»Kurz und gut — er will nicht.«

»Natürlich nicht«, sagte Frau Birnbaum, eine sehr kultivierte, feingebildete Dame. »Sie dürfen ihm Ihren Willen nicht aufnötigen, als wäre er ein dressierter Delphin. So kommt man kleinen Kindern nicht bei. Auch unser Gabi wollte anfangs nicht in den Kindergarten gehen, aber es wäre uns nie eingefallen, ihn zu zwingen. Hätten wir das getan, dann wäre aus seiner Abneigung gegen den Kindergarten späterhin eine Abneigung gegen die Schule geworden und schließlich gegen das Lernen überhaupt. Man muß Geduld haben. Zugegeben, das hat gewisse Schwierigkeiten im Haushalt zur Folge, es kostet auch Zeit und Nerven, aber die seelische Ausgeglichenheit eines Kindes ist jede Mühe wert.«

Meine Frau und ich wurden gelb vor Neid:

»Und hat Ihr System Erfolg?«

»Das will ich meinen! Wir fragen Gabi von Zeit zu Zeit ganz beiläufig: ›Gabi, wie wär’s morgen mit dem Kindergarten?‹ Und das ist alles. Wenn er Nein sagt, dann bleibt’s eben beim Nein. Früher oder später wird er schon einsehen, daß man nur sein Bestes will.«

In diesem Augenblick steckte Gabi den Kopf durch die Türe: »Pappi, bring mich ins Bett.«

»Komm doch erst einmal her, Gabi«, forderte ihn mit freundlichem Lächeln Herr Birnbaum auf. »Und gib unseren Freunden die Hand. Auch sie haben einen kleinen Sohn. Er heißt Amir.«

»Ja«, sagte Gabi. »Bring mich ins Bett.«

»Gleich.«

»Sofort.«

»Erst sei ein lieber Junge und begrüße unsere Gäste.«

Gabi reichte mir flüchtig die Hand. Er war ein hübscher Kerl, hochgewachsen und wohlgebaut, von frappanter Ähnlichkeit mit Rock Hudson, allerdings etwas älter.

»Jetzt müssen Sie uns entschuldigen«, sagte Vater Birnbaum und verließ mit seinem Sohn das Zimmer.

»Gabi!« rief Frau Birnbaum hinterher. »Möchtest du morgen nicht in den Kindergarten gehen?«

»Nein.«

»Ganz wie du willst, Liebling. Gute Nacht.«

Wir blieben mit der Mutter allein.

»Es stört mich nicht im geringsten, daß er nicht in den Kindergarten gehen will«, sagte sie. »Er ist ohnehin schon zu alt dafür. Nächstes Jahr wird er zum Militärdienst einberufen. Was soll er da noch unter den Kleinchen?«

Ein wenig betreten verließen wir das Birnbaumsche Haus. Bei allem Respekt vor den erzieherischen Methoden unserer Gastgeber schien uns das Resultat denn doch ein wenig anfechtbar.

Ich wurde nachdenklich. Immer dieser dumme Kindergarten. Was der nur für Komplikationen verursacht! Als wäre das Leben nicht schon schwer genug. Wo steht denn eigentlich geschrieben, daß es Kindergärten geben muß? Bin ich als kleines Kind vielleicht in den Kindergarten gegangen?

Jawohl. Also?

Wir mußten den Albdruck endlich loswerden. Am nächsten Tag suchten wir unsern Hausarzt auf, um uns mit ihm zu beraten.

Er teilte unsere Bedenken und fügte abschließend hinzu: »Außerdem ist es gar nicht ungefährlich, den Kleinen jetzt in den Kindergarten zu schicken. Wir haben den Erreger dieser neuen Sommerkrankheit noch nicht entdeckt — aber es besteht größte Infektionsgefahr. Besonders wenn viele Kinder beisammen sind.«

Das war die Entscheidung. Das war die Erlösung. Zu Hause angelangt, machten wir Amir sofort mit der Sachlage vertraut:

»Du hast Glück, Amirlein. Der Onkel Doktor erlaubt nicht, daß du in den Kindergarten gehst, weil du dir dort alle möglichen Krankheiten holen könntest. Die Bazillen schwirren nur so in der Luft herum. Das war’s. Den Kindergarten sind wir los.«

Seither gibt es mit Amir keine Schwierigkeiten mehr. Er sitzt den ganzen Tag im Kindergarten und wartet auf die Bazillen. Und er würde um keinen Preis auch nur eine Minute früher nach Hause gehen, als er muß.

Wenn unsere Nachbarn uns fragen, wie wir das zustande gebracht haben, antworten wir mit undurchdringlichem Lächeln:

»Durch medizinische Methoden.«

Wie zu erwarten, hat sich Amirs Einstellung zum Fernsehen erheblich geändert, seit wir zuletzt in diesem Zusammenhang von ihm berichtet haben. Heute ist der regsame Knabe ohne weiteres bereit, jeden, der sich zwischen ihn und den Bildschirm stellt, niederzumachen. Voraussichtlich wird er auch seine Eltern liquidieren, wenn er erst einmal groß genug ist, um die Türklinke zu erreichen.

Das Fernsehen als moralische Anstalt

»Wunder dauern höchstens eine Woche«, heißt es im Buche Genesis. Wie wahr!

Nehmen wir zum Beispiel das Fernsehen: Während der ersten Wochen waren wir völlig in seinem Bann und saßen allnächtlich vor dem neu erworbenen Gerät, bis die letzte Versuchsstation im hintersten Winkel des Vorderen Orients ihr letztes Versuchsprogramm abgeschlossen hatte. So halten wir’s noch immer — aber von »gebannt« kann keine Rede mehr sein. Eigentlich benützen wir den Apparat nur deshalb, weil unser Haus auf einem freiliegenden Hügel steht; und das bedeutet guten Empfang von allen Seiten.

Dieser Spielart des technischen Fortschritts ist auch Amir zum Opfer gefallen. Es drückt uns das Herz ab, ihn zu beobachten, wie er fasziniert auf die Mattscheibe starrt, selbst wenn dort eine Stunde lang nichts andres geboten wird als das Inserat »Pause« oder »Israelische Television«. Etwaigen Hinweisen auf sein sinnloses Verhalten begegnet er mit einer ärgerlichen Handbewegung und einem scharfen »Psst!«

Nun ist es für einen Fünfjährigen nicht eben bekömmlich, Tag für Tag bis Mitternacht vor dem Fernsehkasten zu hocken und am nächsten Morgen auf allen Vieren in den Kindergarten zu kriechen. Und die Besorgnisse, die er uns damit verursachte, sind noch ganz gewaltig angewachsen, seit der Sender Zypern seine lehrreiche Serie »Die Abenteuer des Engels« gestartet hat und unsern Sohn mit schöner Regelmäßigkeit darüber unterrichtet, wie man den perfekten Mord begeht. Amirs Zimmer muß seither hell erleuchtet sein, weil er sonst vor Angst nicht einschlafen kann. Andererseits kann er auch bei heller Beleuchtung nicht einschlafen, aber er schließt wenigstens die Augen — nur um sie sofort wieder aufzureißen, weil er Angst hat, daß gerade jetzt der perfekte Mörder erscheinen könnte.

»Genug!« entschied eines Abends mit ungewöhnlicher Energie die beste Ehefrau von allen. »Es ist acht Uhr. Marsch ins Bett mit dir!«

Der als Befehl getarnte Wunsch des Mutterherzens ging nicht in Erfüllung. Amir, ein Meister der Verzögerungstaktik, erfand eine neue Kombination von störrischem Schweigen und monströsem Gebrüll.

»Will nicht ins Bett!« röhrte er. »Will fernsehen. Will Fernsehen sehen!«

Seine Mutter versuchte ihn zu überzeugen, daß es dafür schon zu spät sei. Umsonst.

»Und du? Und Pappi? Für euch ist es nicht zu spät?«

»Wir sind Erwachsene.«

»Dann geht arbeiten!«

»Geh du zuerst schlafen!«

»Ich geh schlafen, wenn ihr auch schlafen geht.«

Mir schien der Augenblick gekommen, die väterliche Autorität ins Gespräch einzuschalten:

»Vielleicht hast du recht, mein Sohn. Wir werden jetzt alle schlafen gehen.«

Ich stellte den Apparat ab und veranstaltete gemeinsam mit meiner Frau ein demonstratives Gähnen und Räkeln. Dann begaben wir uns selbdritt in unsere Betten. Natürlich hatten wir nicht vergessen, daß Kairo um 8.15 Uhr ein französisches Lustspiel ausstrahlte. Wir schlichen auf Zehenspitzen ins Fernsehzimmer zurück und stellten den Apparat vorsichtig wieder an.

Wenige Sekunden später warf Amir seinen Schatten auf den Bildschirm:

»Pfui!« kreischte er in nicht ganz unberechtigtem Zorn. »Ihr habt ja gelogen!«

»Pappi lügt nie«, belehrte ihn seine Mutter. »Wir wollten nur nachschauen, ob die Ampexlampe nach links gebündelt ist oder nicht. Und jetzt gehen wir schlafen. Gute Nacht.«

So geschah es. Wir schliefen sofort ein.

»Ephraim«, flüsterte nach wenigen Minuten meine Frau aus dem Schlaf, »ich glaube, wir können hinübergehen…«

»Still«, flüsterte ich ebenso schlaftrunken. »Er kommt.«

Aus halbgeöffneten Augen hatte ich im Dunkeln die Gestalt unseres Sohnes erspäht, der sich — offenbar zu Kontrollzwecken — an unser Zimmer herantastete.

Er nahm mein vorbildlich einsetzendes Schnarchen mit Befriedigung zur Kenntnis und legte sich wieder ins Bettchen, um sich vor dem perfekten Mörder zu fürchten. Zur Sicherheit ließen wir noch ein paar Minuten verstreichen, ehe wir uns abermals auf den Schleichweg zum Fernsehschirm machten.

»Stell den Ton ab«, flüsterte meine Frau.

Das war ein vortrefflicher Rat. Beim Fernsehen, und daher der Name, kommt es ja darauf an, was man sieht, nicht darauf, was man hört. Und wenn’s ein Theaterstück ist, kann man den Text mit ein wenig Mühe von den Lippen der Agierenden ablesen. Allerdings muß dann das Bild so scharf wie möglich herauskommen. Zu diesem Zweck drehte meine Frau den entsprechenden Knopf, genauer: den Knopf, von dem sie glaubte, daß er der entsprechende wäre. Er war es nicht. Wir erkannten das daran, daß im nächsten Augenblick der Ton mit erschreckender Vollkraft losbrach.

Und schon kam Amir herbeigestürzt:

»Lügner! Gemeine Lügner! Schlangen! Schlangenlügner!« Und sein Heulen übertönte den Sender Kairo.

Da unsere Befehlsgewalt für den heutigen Abend rettungslos untergraben war, blieb Amir nicht nur für die ganze Dauer des dreiaktigen Lustspiels bei uns sitzen, sondern genoß auch noch, leise schluchzend, die Darbietungen zweier Bauchtänzerinnen aus Amman.

Am nächsten Tag schlief er im Kindergarten während der Gesangstunde ein. Die Kindergärtnerin empfahl uns telefonisch, ihn sofort in ein Spital zu bringen, denn er sei möglicherweise von einer Tse-Tse-Fliege gebissen worden. Wir begnügten uns jedoch damit, ihn nach Hause zu holen.

»Jetzt gibt’s nur noch eins«, seufzte unterwegs meine Frau.

»Nämlich?«

»Den Apparat verkaufen.«

»Verkauft ihn doch, verkauft ihn doch!« meckerte Amir.

Wir verkauften ihn natürlich nicht. Wir stellten ihn nur pünktlich um 8 Uhr abends ab, erledigten die vorschriftsmäßige Prozedur des Zähneputzens und fielen vorschriftsmäßig ins Bett. Unter meinem Kopfkissen lag die auf 9.30 eingestellte Weckeruhr.

Es klappte. Amir konnte auf seinen zwei Kontrollbesuchen nichts Verdächtiges entdecken, und als der Wecker um 9.30 Uhr sein gedämpftes Klingeln hören ließ, zogen wir leise und behutsam die vorgesehenen Konsequenzen. Der dumpfe Knall, der unsere Behutsamkeit zuschanden machte, rührte daher, daß meine Frau mit dem Kopf an die Türe gestoßen war. Ich half ihr auf die Beine:

»Was ist los?«

»Er hat uns eingesperrt.«

Ein begabtes Kind, das muß man schon sagen; wenn auch auf andrer Linie begabt als Frank Sinatra, dessen neuester Film vor fünf Minuten in Zypern angelaufen war.

»Warte hier, Liebling. Ich versuch’s von außen.«

Durchs offene Fenster sprang ich in den Garten, erkletterte katzenartig den Balkon im ersten Stock, zwängte meine Hand durch das Drahtgitter, öffnete die Türe, stolperte ins Parterre hinunter und befreite meine Frau. Nach knappen zwanzig Minuten saßen wir vor dem Bildschirm. Ohne Ton, aber glücklich.

In Amirs Region herrschte vollkommene, fast schon verdächtige Ruhe.

Auf der Mattscheibe sang Frank Sinatra ein lautloses Lied mit griechischen Untertiteln.

Und plötzlich…

»Achtung, Ephraim!« konnte meine Frau mir gerade noch zuwispern, während sie das Fernsehgerät ins Dunkel tauchen ließ und mit einem Satz hinter die Couch sprang. Ich meinerseits kroch unter den Tisch, von wo ich Amir, mit einem langen Stock bewehrt, durch den Korridor tappen sah. Vor unserem Schlafzimmer blieb er stehen und guckte, schnüffelnd wie ein Bluthund, durchs Schlüsselloch.

»Hallo!« rief er. »Ihr dort drinnen! Hallo! Schlaft ihr?«

Als keine Antwort kam, machte er kehrt, und zwar in Richtung Fernsehzimmer. Das war das Ende. Ich knipste das Licht an und empfing ihn mit einem lauten Lachen:

»Hahaha«, lachte ich, und abermals: »Hahaha! Jetzt bist einmal du hereingefallen, Amir, mein Sohn, was?«

Die Details sind unwichtig. Seine Fausthiebe taten mir nicht weh, die Kratzer schon etwas mehr. Richtig unangenehm war, daß man in den Nachbarhäusern alles hörte. Dann holte Amir sein Bettzeug aus dem Kinderzimmer und baute es vor dem Fernsehapparat auf.

Irgendwie konnten wir ihn verstehen. Wir hatten ihn tief enttäuscht, wir hatten den Glauben an seine Eltern erschüttert, wir waren die eigentlich Schuldigen. Er nennt uns seither nur »Lügenpappi« und »Schlangenmammi« und zeltet vor dem Bildschirm, bis der Morgen dämmert. In den ersten Nächten sah ich noch ein paarmal nach, ob er ohne uns fernsieht, aber er schlief den Schlaf des halbwegs Gerechten. Wir ließen es dabei. Wir machten erst gar keinen Versuch, ihn zur Übersiedlung in sein Bett zu bewegen. Warum auch? Was tat er denn Übles? Fliegenfangen oder Katzenquälen wäre besser? Wenn er fernsehen will, soll er fernsehen. Morgen verkaufen wir den verdammten Kasten sowieso. Und kaufen einen neuen.

Die hebräische Telefonistin ist in der Regel ein stämmiges Sabra-Mädchen mit Basiliskenblick und drei Armen. Sie trägt dunkle Pullover, hustet am Morgen und haßt mich. Gegen Mittag spitzt sich die Situation so heftig zu, daß es beinahe zu Verbalinjurien kommt. Vermittlungsversuche enden mit einem Fiasko, als hätten die Vereinten Nationen interveniert. Mit knapper Not einigen sich beide Seiten auf Feuereinstellung und eine Waffenstillstandslinie.

Ich rufe noch einmal an

Die Kampfhandlungenbeginnen, sobald ich eine Nummer wähle. Auf der andern Seite der Barrikade, am Schaltbrett eines Apartmenthauses, hebt die Telefonistin den Hörer ab und sagt:

»…«

Sie sagt, anders ausgedrückt, nichts. Sie hebt nur ab. Sie erzeugt Stille, hörbare, laute, trommelfellzerreißende Stille. Bestenfalls vernimmt man irgendwo im Hintergrund ganz leise die Stimme des Transportunternehmers Silbermann, der einen seiner Geschäftspartner beschwört, um Himmels willen auf die neue Adresse zu achten, nicht so wie letzte Woche, als eine dringend erwartete Lieferung…

An dieser Stelle fahre ich dazwischen und rufe:

»Hallo! Hallo!«

Die Telefonistin empfängt meine Stimme, tut jedoch nichts dergleichen, sondern deponiert sie in der Tiefkühlanlage, voll Hoffnung, daß ich aus einem Münzfernsprecher spräche, also nicht willens wäre, ganz einfach abzuhängen und solcherart die Fernsprechmünzen zu opfern. Im Eigenheim ist das natürlich anders. Da kann man sich frei bewegen, kann die hebräische Stille sich selbst überlassen, kann in die Küche gehen, ein Sandwich zurechtmachen, eine Flasche Bier öffnen und zum Telefon zurückkehren, gerüstet für eine lange Belagerung.

»Hallo«, sage ich nach neuerlichem Abheben des Hörers, und wiederhole, mein Sandwich kauend: »Hallo.«

Jetzt kann es geschehen, daß eine Antwort kommt. Der elementare Haß der Telefonistin hat ja im Grunde nichts Persönliches an sich. Es ist ein ganz allgemeiner, ein kollektiver Haß. Er richtet sich gegen die gesamte Umwelt, die mit allen erdenklichen Tücken und Listen versucht, bis zum Schaltbrett vorzustoßen.

Einen persönlichen Anstrich bekommt die Sache erst, wenn die Telefonistin sich meldet:

»72 95 56, guten Morgen.«

Namen oder Adressen werden prinzipiell nicht genannt. Sie gehören zu jenen Geheimnissen, die nur einem erwählten Kreis von Intimen offenstehen. Wer diesem Kreis nicht angehört, wird mit der Nummer abgespeist.

Immerhin — die Verbindung ist hergestellt.

»Hallo«, sage ich nochmals. »Kann ich mit Herrn Zerkowitz sprechen?«

»Mit wem?!«

Sicherheitshalber werfe ich einen raschen Blick auf den Zettel, wo ich die Nummer notiert habe: ja, es stimmt, 72 95 56.

»Mit Herrn Zerkowitz.«

»Augenblick.«

Das dumpfe Knacken herausgezogener und hineingesteckter Stöpsel wird hörbar und verstummt alsbald. Wieder kehrt majestätische Stille ein.

Gibt es überhaupt einen Herrn Zerkowitz? Und wenn ja, hat er überhaupt ein Telefon? Und wenn er eins hat, ist es diese Nummer?

Nichts. Kein Laut. So muß den Astronauten hinter der dunklen Seite des Mondes zumute gewesen sein. Vollkommen abgeschnitten von aller Welt.

Ab und zu rufe ich ein hoffnungsloses »Hallo« in den Hörer, ab und zu beklopfe ich ihn und versuche ihm Leben einzublasen. Nichts.

Nach ungefähr fünfzehn Minuten finde ich mich damit ab, daß dies die Antwort ist: nichts. Denn keine Antwort ist bekanntlich auch eine Antwort. Und die habe ich jetzt bekommen. Ich lege auf.

Da ich aber unbedingt mit Zerkowitz sprechen muß, um die Telefonnummer seines Schwagers zu erfahren, hebe ich nach einer Weile den Hörer wieder ab und wähle die Nummer 72 95 56. Diesmal, Wunder über Wunder, höre ich sofort die Stimme der Telefonistin:

»Naftali soll das Paket spätestens um vier Uhr abholen«, sagt sie. »Ich denke nicht daran, mich damit abzuschleppen, jetzt mußt du mich entschuldigen, hallo, 72 95 56, guten Morgen.«

Nur mit Mühe gelingt es mir, die Spinnweben von meinem Gedächtnis zu entfernen. Ich kann mich nicht erinnern, das Telefonfräulein jemals um den Transport eines Pakets gebeten zu haben. Das ist Naftalis Sache. Er soll es um vier Uhr abholen oder meinetwegen um halb fünf, mich geht das nichts an. Ich beherrsche mich und sage abermals:

»Hallo, ich warte auf Herrn Zerkowitz.«

»Auf wen?!«

»Zer-ko-witz.«

»Und wer wünscht mit ihm zu sprechen?«

Jetzt will sie es plötzlich wissen. Beim ersten Anruf bin ich ihr noch durchs Netz geschlüpft, jetzt aber muß irgend etwas in meiner Stimme ihr immer waches Mißtrauen erregt haben. Ich überlege, womit ich sie beeindrucken könnte. Vielleicht: »Hier spricht die Elektrizitätszentrale, Dr. Schönfeld, Herr Zerkowitz wird sich erinnern, ich bin einer seiner ältesten Jugendfreunde…« Und ich sage: »Hier Amnon.«

Amnon kommt immer durch. Ich habe keine Erklärung dafür, aber es ist so. Man kann sich ja auch andere Dinge nicht erklären. Zum Beispiel: wie es möglich ist, daß dann und wann trotz allem eine Telefonverbindung zustande kommt.

Diesmal kommt keine zustande. Alles, was ich höre, sind wieder die Stöpsel und anschließend die absolute Stille.

»Hallo«, rufe ich. »Hallo.«

Weit, weit entfernt, vielleicht auf einem andern Kontinent, zwitschert eine Frauenstimme auf Jiddisch. Ihr hat die Allgewaltige am Schaltbrett eine Chance gegeben. Mir nicht. Ich bin schlechter dran als Naftali. Ich bin verloren. Die Telefonistin hat mich hinter den Mond verbannt. Wären wir doch nur ein einziges Mal persönlich zusammengekommen, nach den Bürostunden, Hulda und ich — wir hätten uns sicherlich sehr gut miteinander verständigt, wir hätten eine gemeinsame Sprache gefunden, wohl auch gemeinsame Interessen, sie sieht ja ganz nett aus, wenn auch ein bißchen mager, wir würden uns gut miteinander vertragen, Heirat nicht ausgeschlossen, nur die Zeit kann es lehren… Aber wie die Dinge jetzt liegen, haben wir weder Gegenwart noch Zukunft. Sie ist eine Telefonistin und ich bin ein Telefonierer, sonst nichts. Einer von vielen. Es ist das reinste Katz- und Mausspiel. Nicht, als wollte ich ihr das übelnehmen, warum denn auch, im Gegenteil, ich hege für Hulda die größte Hochachtung, ihre Macht imponiert mir, nur schade, daß es zwischen uns keine Verständigungsmöglichkeiten gibt. Da kann man nichts andres tun, als den Hörer wieder auflegen, ein paar gotteslästerliche Flüche ausstoßen, den Hörer wieder abheben und die vierte, entscheidende Runde starten.

»Fräulein«, sage ich mit spitzer Stimme, als Hulda nach einiger Zeit sich meldet. »Fräulein, warum lassen Sie mich eine halbe Stunde lang vergebens warten?«

»Wer spricht?«

»Amnon. Vor ungefähr einer Stunde habe ich Sie zum erstenmal gebeten, mich mit Herrn Zerkowitz zu verbinden.«

»Er ist nicht hier.«

»Warum sagen Sie mir das nicht?«

»Ich sage es Ihnen ja.«

»Warum haben Sie es mir nicht früher gesagt?«

»Weil er früher noch hier war.«

»Und jetzt ist er weg?«

»Ja.«

»Wann kommt er zurück?«

»Weiß ich nicht.«

»Wo ist er?«

»Weiß ich nicht.«

»Kann ich eine Nachricht für ihn zurücklassen?«

»Es wäre besser, wenn Sie später noch einmal anrufen.«

Das war zuviel für mich.

»Was?« brüllte ich. »Was sagen Sie da?! Es wäre ‘besser’?! Mit Ihnen am Telefon etwas zu tun haben, ist das überhaupt Schlimmste auf Erden. Es würde mit meinem Selbstmord enden. Wenn ich Sie nicht vorher umbringe. Hören Sie?!«

Aber es war wieder die vollkommene Stille, die mir aus dem Hörer entgegenschlug. Na schön. Dann werde ich eben später noch einmal anrufen.

Noch um die Jahrhundertwende waren ein dicker Bauch und eine dicke goldene Uhrkette das Status-Symbol des Bürgers. Heute wünscht er nichts sehnlicher, als so mager zu sein, daß ihm die Armbanduhr ums Handgelenk schlottert. Das ist nicht leicht im Land wo Milch und Honig fließt. Von Palatschinken mit Schokoladefüllung ganz zu schweigen.

Die Rache des Kohlrabi

»Ephraim«, fragte mich eines Tages die beste Ehefrau von allen. »Ephraim, bin ich dick?«

»Nein, Frau«, antwortete ich, »du bist nicht dick.«

»Aber du bist dick!«

»Ach so? Dann muß ich dir allerdings sagen, daß du noch viel dicker bist.«

In Wahrheit ist niemand von uns beiden »dick« im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die beste Ehefrau von allen mag vielleicht an einigen Ecken und Enden ihres Körpers gewisse Rundungen aufweisen, und was mich betrifft, so sehe ich im Profil manchmal ein wenig schwammig aus. Aber das sind mehr persönliche Eindrücke als das Verdikt der Waage.

Trotzdem und für alle Fälle traten wir mit einer der Gewichtsüberwachungsstellen in Verbindung, wie sie heute im Schwange sind. Die Freundinnen meiner Frau wissen wundersame Geschichten von diesen Kontrollstationen zu erzählen, die dem leichten Leben der Schwergewichtler ein Ende setzen. Zum Beispiel haben sie das Gewicht eines stadtbekannten Friseurs derart verändert, daß er jetzt 40 kg wiegt statt 130, und ein Theaterdirektor soll in zwei Monaten von 90 kg auf den absoluten Nullpunkt gesunken sein.

An einer Zweigstelle der erwähnten Organisation wurden wir von einer Direktrice und einem spindeldürren Dozenten in Empfang genommen. Noch wenige Monate zuvor — so berichteten seine hingerissenen Schüler — wurden zwei Sitzplätze frei, wenn er aus dem Autobus ausstieg; heute tritt er gelegentlich in einem »Grand Guignol«-Stück als Gespenst auf…

Der Dozent gab uns ohne Umschweife die Grundlagen des Kommenden bekannt: Über jeden Abmagerungskandidaten wird ein eigenes Dossier angelegt. Gegen geringes Aufgeld wird er einmal wöchentlich einer mündlichen Gehirnwäsche unterzogen und bekommt ein schriftliches Menü. Man muß nicht gänzlich auf Nahrungszufuhr verzichten, man muß nur bestimmte Dinge aufgeben, einschließlich der Geschmacksnerven. Kein Brot, kein Weißgebäck, keine Teigwaren, keine Butter. Nichts, was Fett, Stärke oder Zucker enthält. Statt dessen Kohlrabi in jeder beliebigen Menge, ungesäuertes Sauerkraut und aus dem Wasser gezogenen Fisch. Zwei Gläser Milch pro Tag. Keinerlei sportliche Betätigung, weil sie den Appetit anregt. Besonders empfohlen: einmal wöchentlich eine Stunde lang ausgestreckt auf dem Boden liegen und dazu lauwarmes Wasser trinken. Nach Ablauf von sieben Tagen wird man auf der Kontrollstelle gewogen, und wenn man kein Gewicht verloren hat, ist man selber schuld und soll sich schämen. Hat man Gewicht verloren, wird man anerkennend gestreichelt.

»Ausgezeichnet«, sagte ich. »Wir sind sehr zärtlichkeitsbedürftig.«

Die Direktrice führte uns in einen andern Raum, wo wir eine Waage besteigen mußten, ohne Schuhe, aber mit dem kompletten Inhalt unserer Taschen. Das Resultat war niederschmetternd:

»Es tut mir leid«, sagte die Direktrice. »Sie können das erforderliche Übergewicht nicht beibringen.«

Mir wurde es schwarz vor den Augen. Nie hätte ich geglaubt, daß man uns einer solchen Formalität halber des Rechts auf Abmagerung berauben würde. Schließlich fehlten mir nur drei Kilo zu einem amtlich beglaubigten Fettwanst, und meine Frau, obschon von kleiner Statur, wäre mit einem Zuschlag von eineinhalb Kilo ausgekommen. Aber die Gewichtsüberwacher ließen nicht mit sich handeln.

So kehrten wir denn nach Hause zurück und begannen alles zu essen, was verboten war. Zwei Wochen später meldeten wir uns abermals auf der Kontrollstation, mit der begründeten Hoffnung, daß unserer Aufnahme nun nichts mehr im Wege stünde. Zur Sicherheit hatte ich meine Taschen mit 50 Pfund in kleinen Münzen vollgestopft.

»Herzlich willkommen«, sagte die Direktrice nach der Abwaage. »Jetzt kann ich ein Dossier für Sie anlegen.«

Hierauf erteilte uns der Dozent seine Instruktionen:

»Drei große Mahlzeiten täglich. Sie dürfen sich nicht zu Tode hungern. Sorgen Sie für Abwechslung! Wenn Ihnen das Sauerkraut zu widerstehen beginnt, wechseln Sie zum Kohlrabi, und umgekehrt. Hauptsache: kein Fett, keine Stärke, kein Zucker. Kommen Sie in einer Woche wieder.«

Sieben Tage und sieben Nächte lang hielten wir uns sklavisch an diese Vorschriften. Unser Käse war weiß und mager, unser Brot war grün von den Gurken, die es durchsetzten, unser Sauerkraut war bitter.

Als wir am achten Tag die Waage bestiegen, hatten wir beide je 200 g zugenommen, und das mit leeren Taschen. »So etwas kann passieren«, äußerte der Dozent. »Sie müssen etwas strenger mit sich sein.«

In der folgenden Woche aßen wir ausschließlich Kohlrabi der uns in eigenen Lieferwagen direkt vom Güterbahnhof zugestellt wurde. Und wirklich: wir hatten keine Gewichtssteigerung zu verzeichnen Allerdings auch keine Abnahme. Wir stagnierten.

Der Zeiger der kleinen Waage, die wir für den Hausgebrauch angekauft hatten, blieb immer an derselben Stelle stehen. Es war ein wenig enttäuschend.

In einer alten Apotheke in Jaffa entdeckte die beste Ehefrau von allen eine schlecht funktionierende Waage, aber dort stand die halbe weibliche Bevölkerung von Tel Aviv Schlange. Außerdem käme auf der Kontrollstation ja doch die Wahrheit heraus.

Allmählich begann ich zu verzweifeln. Sollten wir für alle Ewigkeit bei unserem jetzigen Gewicht steckenbleiben? Wieso hatte meine Frau nicht abgenommen? Für mich selbst gab es ja eine Art Erklärung dieses Phänomens: mir war ein Gerücht zu Ohren gekommen, daß ich allnächtlich in die Küche ging, um mich dort über größere Mengen von Untergrund-Käsen und Resistence-Würstchen herzumachen…

Die Rache des Kohlrabi, zu dem ich in den folgenden Wochen zurückkehrte, ließ nicht lange auf sich warten.

In der siebenten Woche unserer Qual — die siebente Woche ist bekanntlich die kritische — fuhr ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf hoch. Ich verspürte ein unwiderstehliches Bedürfnis nach dem betörenden Geruch und Geräusch von brutzelndem Fett. Ich mußte unbedingt sofort etwas Gebratenes essen, wenn ich nicht verrückt werden wollte. Ich war bereit, für ein paar lumpige Kalorien einen Mord zu begehen. Der bloße Gedanke an die Buchstabenfolge »Baisers mit Cremefüllung« ließ mich erzittern. Fiebervisionen von »Stärke« suchten mich heim. Ich glaubte den Begriff der »Stärke« in körperlicher Gestalt zu sehen: ein süßes, anmutiges Mädchen, das in einem weißen Brautkleid und mit wehendem Goldhaar über eine Wiese lief.

»Stärke!« rief ich hinter ihr her. »Warte auf mich, Stärke! Ich liebe dich! I love you! Je t’aime! Ja tibja ljublju! Entflieh mir nicht, Stärke!«

In der nächsten Nacht hatte ich sie tatsächlich eingeholt. Ich glitt aus dem Bett, schlich in die Küche, leerte einen vollen Sack Popcorn in eine Pfanne mit siedendem Öl, streute Unmengen von Zucker darüber und verschlang das Ganze auf einen Sitz. Und das war nur der Beginn des Kalorien-Festivals. Gegen Mitternacht stand ich am Herd, um Birnen zu braten, als plötzlich neben mir die fragile Gestalt der besten Ehefrau von allen auftauchte. Mit geschlossenen Augen strebte sie dem Wäschekorb zu und entnahm ihm etwa ein Dutzend Tafeln Schokolade, die sie sofort aus der Silberpapierhülle zu lösen begann. Auch mir bot sie davon an, und ich machte von ihrem Anerbieten wohlig grunzend Gebrauch.

Mittendrin erwachte mein Abmagerungsinstinkt. Ich kroch zum Telefon und wählte mit letzter Kraft die Nummer der Überwachungs-Zweigstelle:

»Kommen Sie schnell… schnell… sonst essen wir… Schokolade…«

»Wir kommen sofort!« rief am andern Ende der Dozent. »Wir sind schon unterwegs…«

Bald darauf hielt mit kreischenden Bremsen das Auto der Gewichtsüberwacher vor unserem Haus. Sie brachen durch die Tür und stürmten die Küche, wo wir uns in Haufen von Silberpapier, gebratenen Obstüberbleibseln und flüssiger Creme herumwälzten. Eine halbe Tafel Schokolade konnten sie noch retten. Alles andre hatte den Weg in unsere Mägen gefunden und hatte uns bis zur Unkenntlichkeit aufgebläht.

Der Dozent nahm uns auf die Knie, rechts mich, links die beste Ehefrau von allen.

»Macht euch nichts draus, Kinder«, sprach er in väterlich tröstendem Ton. »Ihr seid nicht die ersten, denen das zustößt. Schon viele unserer Mitglieder haben in wenigen Stunden alles Gewicht, das sie in Jahren verloren hatten, wieder zugenommen. Lasset uns von vorne anfangen.«

»Aber keinen Kohlrabi!« flehte ich mit schwacher Stimme.

»Ich beschwöre Sie: keinen Kohlrabi!«

»Dann sei es«, entschied der Dozent, »nur grüner Salat…«

Wir haben die Reihen der überwachten Gewichtsabnehmer verlassen. Wir waren völlige Versager.

Manchmal sehe ich im Profil wieder ein wenig schwammig aus, und die beste Ehefrau von allen weist an einigen Stellen ihres Körpers wieder gewisse Rundungen auf. Na und? Gut genährte Menschen haben bekanntlich den besseren Charakter, sie sind freundlich, großzügig und den Freuden des Daseins zugetan, sie haben, kurzum, mehr vom Leben. Was sie nicht haben, ist Kohlrabi und Sauerkraut. Aber das läßt sich verschmerzen.

Simson war der erste und letzte Hippie unter den Kindern Israels. Auch er endete, wie man weiß, bei einem gründlichen Haarschnitt. Im folgenden wird der Nachweis versucht, warum im Land unserer Väter kein Platz für lange Haare ist.

Hair

Der Friseurladen, in dem ich Stammkunde bin, zählt vielleicht nicht zu den luxuriösesten im Küstengebiet des Mittelmeeres, aber er hat alles, was man für einen erfolgreichen Haarschnitt braucht: drei Sessel, drei Waschbecken und ein kleines Glöckchen, welches klingelt, wenn man die Türe öffnet. Als ich dieses Glöckchen das erste Mal zum Klingeln brachte, empfing mich ein ältlicher Haarkünstler mit 98-prozentiger Glatze, deutete auf einen der drei leeren Sessel und sagte:

»Bitte sehr.«

Ich gab mich in seine Hände, nicht ohne ihm mitzuteilen, daß ich keinen richtigen Haarschnitt wünschte, sondern lediglich »Façon«, da ich mein Haar lang und seidig zu tragen liebe. Das nahm er mit verständnisvollem Nicken zur Kenntnis.

Fünfzehn Minuten später sah ich aus wie ein Rekrut am Beginn der Ausbildung. Die Füße des kahlen Figaro versanken bis zu den Knöcheln in meinen massakrierten Locken, und sein Gesicht strahlte vor Befriedigung über die geleistete Arbeit. Er ließ mich wissen, daß er nicht der Chef sei, strich das Trinkgeld ein und öffnete mir die Türe. Ich hegte keinen wirklichen Groll gegen ihn. Es war klar, daß er unter einem unwiderstehlichen psychologischen Zwang gehandelt hatte. Er hieß, auch das war klar, Grienspan.

Ungefähr zwei Monate später, als ich mein menschliches Aussehen halbwegs zurückgewonnen hatte, kam ich wieder. Grienspan war mit einem anderen Kunden beschäftigt, aber sein neben ihm stehender Kollege, ein dürrer Mann mit dicken Brillengläsern, deutete auf einen leeren Sessel und sagte:

»Bitte sehr.«

Ich war entschlossen, mich auf keine Experimente einzulassen und dem kahlköpfigen Grienspan treu zu bleiben. Da ich mit seinen Komplexen bereits vertraut war, konnte ich sie diesmal vielleicht neutralisieren.

»Vielen Dank«, beschied ich den Dürren, indem ich mich niederließ. »Ich warte auf Ihren Freund.«

Daraufhin stopfte mir der Dürre einen Frisierumhang in den Kragen und griff zur Schere.

Ich wiederholte, daß ich auf seinen Freund warten wollte.

»Jawohl«, nickte er und grinste sein freundlichstes Grinsen. »Jawohl, okay.«

»Er ist erst vorige Woche eingewandert«, erläuterte Grienspan. »Er spricht noch nicht hebräisch.«

Mein Widerstand war im Augenblick gebrochen. Hier ging es darum, einem neuen Bürger des Landes die Wege zu ebnen, hier ging es um Schmelztiegel und Heimatgefühl, und ich wäre der letzte, der einen strebsamen Handwerker darunter leiden lassen wollte, daß er noch mit Sprachschwierigkeiten zu kämpfen hatte. Ich überließ mich also dem Einwanderer und versuchte ihm unter Aufbietung meiner gesamtrumänischen Sprachkenntnisse klarzumachen, daß ich mein Haar, weil es sehr schön ist, lieber lang trage als kurz. Hier, so bedeutete ich ihm mit unmißverständlichen Gebärden, sollte er nur eine Kleinigkeit wegschnipseln, hier eine noch kleinere, und hier überhaupt nichts. Dabei sprach ich so langsam, wie jemand, der nicht rumänisch kann, rumänisch spricht.

Der Immigrant hörte mir aufmerksam zu, denn er kam aus Polen. Infolge dieses geographischen Irrtums verwandelte er mich in einen stoppelhaarigen Matrosen, verpaßte er mir eine völlig überflüssige Shampoo-Massage und entleerte eine halbe Flasche Kölnischwasser auf mich. Von einem Normalfriseur hätte ich mir so etwas nie gefallen lassen. Aber Taddeusz, wie gesagt, war erst seit einer Woche im Lande und hätte jede Mißfallensäußerung von meiner Seite mit Recht als feindseliges, unjüdisches Verhalten empfunden.

Die dritte Runde, abermals einige Wochen später, startete verheißungsvoll. Als ich eintrat, war der Neueinwanderer damit beschäftigt, die Barthaare eines anonymen Patriarchen zu stutzen, während Grienspan, der verläßliche Glatzkopf, vollkommen frei danebenstand. Schon hatte ich mich in seinen Sessel gesetzt, als Grienspan sich unvermittelt seines weißen Kittels entledigte und »Schluß für heute« sagte. Er wurde, wie ich im Spiegel sah, durch einen mir bisher unbekannten Dritten ersetzt, einen jungen Orientalen, der auf den Namen Schabbataj hörte.

»Was ist gefällig?« fragte er in gutturalem Hebräisch. »Ein Haarschnitt, der Herr?«

Ich befand mich in einer zwiespältigen Lage. Eigentlich hätte ich den Einwanderer Taddeusz vorgezogen, der sich ja schon als schweigsamer Handwerker bewährt hatte, und Schweigsamkeit ist eine von mir sehr geschätzte Eigenschaft. Andererseits hätte mein Beharren auf seine Dienste sehr leicht als Vorurteil gegen die orientalische Bevölkerungsgruppe unseres Landes wirken können, und nichts lag mir ferner. Grienspan, den ich in der Hoffnung auf einen Vermittlungsvorschlag flehend ansah, vertiefte sich in die Lektüre der Abendzeitung. Ich war allein auf mich gestellt.

»Ich trage mein Haar eher lang«, informierte ich Schabbataj. »Tun Sie Ihr Bestes.«

»In Ordnung, Boss, ich verstehe, Ihr Wunsch ist mir Befehl«, sprudelte Schabbataj, und sein Redefluß versiegte auch während der Behandlung nicht. Doch siehe da: nachdem ich über seinen Lebenslauf und über die wichtigsten Phasen der Geschichte Marokkos unterrichtet war, hatte er mehr Haar auf meinem Haupt gelassen als irgendeiner seiner Vorgänger in den letzten Jahren. Es war, alles in allem, eine angenehme Überraschung.

Anfang April kam ich wieder und fand mich einer Situation ausgesetzt, die ich sofort als höchst gefährlich durchschaute: Grienspan war intensiv mit der Lockenpracht eines jugendlichen Avantgardisten beschäftigt, und ebenso intensiv lagen Taddeusz und Schabbataj auf Auslug nach einem Opfer. Tatsächlich deuteten sie beide gleichzeitig auf ihre leeren Sessel und ließen im Duett ihr »Bitte sehr« hören.

Mit einem derart gordischen Knoten hatte ich es noch nie im Leben zu tun gehabt. Vom humanistischen Standpunkt aus gab es hier überhaupt keine Lösung. Wen immer ich wählte — dem andern bliebe nichts übrig als der Selbstmord.

Nun, einer von beiden mußte es sein, oder eigentlich werden.

Es wurde Schabbataj.

Kaum saß ich in seinem Sessel, als ich meine Wahl auch schon bitter bereute. Taddeusz krümmte sich wie unter der Einwirkung eines elektrischen Schocks, obwohl er vermutlich gar nicht wußte, was das war. Mit kleinen, schlurfenden Schritten zog er sich in den Hintergrund des Gewölbes zurück, von wo alsbald ein leises Schluchzen erklang. Ich tat, als hörte ich nichts. Aber vor meinen geschlossenen Augen erstand die Vision von der Heimkehr des Taddeusz, und es umringten ihn seine Kinder und fragten:

»Papo, dlazsego plączesz?«

Und aber es antwortete ihnen Taddeusz:

»Er hat den andern gewählt…«

Im übrigen schien auch Schabbataj unter der von mir so brutal herbeigeführten Entscheidung zu leiden. Er schnitt mein Haar, wie Taddeusz es geschnitten hätte: stoppelkurz.

Diesen tragischen Zwischenfall galt es möglichst bald wieder gutzumachen. Möglichst bald war allerdings sehr lange, weil ich warten mußte, bis mein Haar nachgewachsen war, damit ich Taddeusz für die ausgestandene Unbill entschädigen könnte.

Als ich den Zeitpunkt endlich gekommen sah, machte ich mich auf den Weg. Mein Schlachtplan war wohlberechnet. Ich ging so lange vor dem Laden auf und ab, bis ich sicher sein konnte, daß Taddeusz als einziger frei war. In diesem Augenblick stürzte ich hinein und direkt auf den Sessel des Einwanderers zu — aber ein bärtiger Gnom, den ich von außen unmöglich hatte sehen können, kam mir zuvor und schnappte mir den Polen weg.

Schabbataj schärfte sein Rasiermesser an dem hierfür bestimmten Lederriemen mit grausamer Langsamkeit und behielt mich dabei ständig im Auge. Nicht so Taddeusz, der meinen Blicken auswich, als fürchtete er eine neuerliche Erniedrigung. Grienspan tat, als ginge ihn das alles nichts an.

So saß ich auf der Wartebank, mit angehaltenem Atem und angespanntem Nervensystem. Wer würde als erster fertig sein, Schabbataj oder Taddeusz? Sollte Schabbataj mich gewinnen, so wäre es das Ende meines eingewanderten Bruders aus Polen, daran gab es keinen Zweifel. Angeblich lebte im Katharinen-Kloster auf dem Berge Sinai ein Mönch, der früher einmal ein erfolgreicher Friseur auf der Dizengoff-Straße gewesen war…

Um Haaresbreite — und das ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen — kam Marokko zuerst ans Ziel. Dem Gnom in Taddeusz’ Sessel fehlte noch die Beseitigung einiger Flaumhaare zum Ende der Prozedur, als Schabbataj seine Kundschaft abzubürsten begann. Dann wandte er sich zu mir und deutete auf den leeren Sessel:

»Bitte sehr.«

Ich nahm alle meine Kraft zusammen:

»Danke«, sagte ich. »Ich warte auf Ihren Kollegen.«

Auf dem Antlitz des ehemaligen Polen erschien ein leuchtendes, glückseliges Lächeln. Schabbataj taumelte und mußte sich an seinem Sessel festhalten.

»Aber warum…« flüsterte er mit ersterbender Stimme. »Ich bin doch fertig… was habe ich Ihnen getan… warum…«

In diesem Augenblick entließ Taddeusz seinen Gnom, staubte ihn ab und geleitete ihn hinaus. Wir waren allein.

Noch nie zuvor hatte ich so klar erkannt, daß der Mensch ein Spielball in der Hand des Schicksals ist. Es erschien mir durchaus vorstellbar, daß dies alles mit Mord und Totschlag enden könnte, ohne irgend jemandes Verschulden, ganz wie in der griechischen Tragödie. Unerträgliche Spannung lag im Raum. Die Lippen des Neueinwanderers bewegten sich in lautlosen Konvulsionen. Auch seine Nase bebte. Täte ich jetzt nur den kleinsten Schritt zu Schabbataj hin — kein Zweifel: Taddeusz würde zusammenbrechen.

Schabbataj hielt seine brennenden orientalischen Augen regungslos auf mich gerichtet. Das Rasiermesser zitterte in seiner Hand.

Grienspan hatte uns den Rücken gekehrt und zählte den Inhalt der Kassa, aber seine Gleichgültigkeit war nur gespielt: plötzlich wandte er sich um und streifte mich mit einem waidwunden Blick, ehe er die Tätigkeit des scheinbaren Geldzählens wieder aufnahm. Er liebte mich und wollte es bloß nicht allzu deutlich zeigen.

»Bitte«, sagte ich mit heiserer Stimme, »entscheiden Sie selbst. Ich kann nicht…«

Niemand rührte sich. Drei Augenpaare starrten mich an, und jedes von ihnen schien zu sagen:

»Nimm mich… mich mußt du nehmen…«

Vielleicht ließ sich ein Kompromiß finden, vielleicht könnten die drei mir abwechselnd die Haare schneiden, oder wir spielen Russisches Roulette, einer gewinnt und die beiden anderen erschießen sich… wenn nur diese gräßliche, grauenhafte Stille nicht länger anhält…

Zwanzig Minuten mochten vergangen sein, oder auch eine halbe Stunde. Taddeusz weinte.

»Also«, flüsterte ich. »Könnt ihr euch nicht entscheiden?«

»Uns ist es gleichgültig, Herr«, stieß Schabbataj hervor. »Sie haben zu wählen…«

Und die drei Augenpaare starrten mich weiter an.

Ich trat vor den Spiegel und fuhr mit der Hand durch mein schlohweißes Haar. In dieser halben Stunde war ich um Jahre gealtert. Und eine Lösung war noch immer nicht abzusehen.

Ohne ein Wort zu äußern, verließ ich den Laden. Ich habe ihn seither nie wieder aufgesucht. Ich lasse mein Haar wachsen, lang, länger, im Hippie-Stil.

Wäre es möglich, daß dieser Stil in einem Friseurladen mit drei Friseuren geboren wurde?

Die abschließende Geschichte verlangt eine juristische Klarstellung: »Jede Ähnlichkeit mit einer tatsächlich lebenden Person und mit tatsächlich erfolgten Geschehnissen ist beabsichtigt.« Vielen Dank.

Alltag eines Berufshumoristen

Der Berufshumorist erwachte wie gewöhnlich in übler Laune. Er hatte im Traum eine traumhaft humorvolle Geschichte geschrieben und gerade als es zur Pointe kam, war er aufgewacht.

Mit einem bitteren Geschmack im Mund erhob er sich vom Lager. In der letzten Zeit wollte nichts mehr klappen. Vergangene Woche zum Beispiel, während er auf der Couch lag und vor sich hindöste, hatte er eine wirklich lustige Szene zu konstruieren begonnen — und gerade als es zur Pointe kam, war er eingeschlafen.

Kein Zweifel, es ging bergab mit ihm. Auch die Vitamintabletten, die er seit einem Monat einnahm, halfen nichts. Erst vor wenigen Tagen hatte ihm der Feuilletonredakteur der Zeitung, die seine Beiträge bisher unbesehen zu drucken pflegte, ein Manuskript zurückgeschickt, eine ausgezeichnete Satire über einen Steuerträger, der sich genau an den statistisch errechneten Lebenskostenindex seiner Einkommensklasse hielt und dessen Skelett noch immer nicht identifiziert war. Der Redakteur fand, das sei keine Satire, sondern eine Reportage und in keiner Weise komisch.

Das wagte man ihm zu sagen! Ihm! Nach zwanzigjähriger Tätigkeit in der Humorindustrie!

Er begann, sich anzukleiden. Selbstverständlich machte der Gummizug seiner Unterhose schlapp, und der Knopf seines Hemdkragens blieb ihm in der Hand.

Nun, so etwas muß man ausnützen. Er wird sofort eine Serie über die Tücken der Unterwäsche schreiben, betitelt: »Neues aus der Unterwelt«. Jetzt gleich. Er setzt sich hin und greift nach dem Notizbuch, in dem er — streng nach Sachbegriffen geordnet — seine Einfälle festhält. Unterwäsche und Oberhemd. Die obere Unterwäsche. Wäre kein schlechter Reklameslogan für eine Modefirma. Vormerken. Welch ein Beruf…

Es ist nicht seine Schuld. Der Miniatur-Computer in seinem Gehirn arbeitet ohne Unterlaß, registriert Eindrücke und Einfälle zu Geschichten und Gedichten und Witzen und Spitzen, verarbeitet sie sogar im Schlaf und in mehreren Sprachen und läßt sich nicht abstellen.

Der Berufshumorist setzt sich an den Frühstückstisch und dreht das Radio an. Er nimmt den Kaffee ohne Zucker, aber dafür mit drei verschiedenen Pillen, einer braunen, einer blauen und einer gelbrotgestreiften, die es ihm ganz besonders angetan hat. Ein vorzügliches Medikament. Höchste Zeit, daß man eine passende Krankheit dafür findet.

Er macht sich daran, diesen witzigen Einfall in der Rubrik »Heilmittel« seines Notizbuchs zu vermerken, und entdeckt, daß er ihn bereits vor Jahresfrist in der Rubrik »Krankheiten« notiert hat. Wieder einmal zeigt sich, wie stark er unter seinem eigenen Einfluß steht.

Im Rundfunk wird gerade eine antiisraelische Erklärung von Präsident Pompidou verlautbart. Der Berufshumorist nimmt sie erleichtert zur Kenntnis. Er hat im Vertrauen darauf, daß Herr Pompidou eine komische Figur ist, erst gestern abend ein satirisches Telefongespräch zwischen dem Franzosen und Kossygin an sein Blatt geschickt und war von großer Angst geplagt, daß Herr Pompidou über Nacht seine Haltung ändern und proisraelisch werden könnte. Dann wäre die ganze Geschichte in der Luft hängen geblieben.

Und nicht zum erstenmal. Dergleichen passiert ihm immer wieder. Die Kerle schwenken um und demissionieren und putschen vollkommen planlos. Niemand nimmt Rücksicht auf ihn.

Die Nachrichten werden von einer weiblichen Stimme durchgegeben, in deren Besitzerin er seit langem verliebt ist. Er hat sie nie gesehen. Aber eine so miserable Sprecherin wie sie muß über aufregende Vorzüge verfügen, sonst würde man sie nicht im Rundfunk beschäftigen. Vielleicht gibt das eine Kurzgeschichte. Oder sogar einen Film. Da müßte sich herausstellen, daß sie zwar eine schlechte Sprecherin und eine häßliche Ziege ist, aber die Nichte des Intendanten. Beißende Gesellschaftskritik. Kenntwort »Establishment«.

Der Berufshumorist begibt sich auf den ärztlich vorgeschriebenen Spaziergang, ein kranker Geist in einem kranken Körper. Die Sonne brennt ihm auf den Schädel. Das macht sie mit Absicht. Trägt die Sonne eigentlich Sonnenbrillen? Der Computer scheint einen Hitzschlag erlitten zu haben, anders läßt sich dieser Einfall nicht erklären.

Der Griff nach dem Notizbuch erstirbt auf halbem Weg.

Ein beleibter Passant stößt mit dem Humoristen zusammen, tritt ihm aufs Hühnerauge und entschuldigt sich nicht. »Asesponem!« zischt der Humorist hinter ihm her. Er liebt jiddische Schimpfwörter. In seinem Notizbuch stehen sie in einer eigenen Rubrik: Ganef, Miesnik, Schlemihl… Ist Asesponem eine Figur aus Peer Gynt? Der Computer scheint noch immer nicht in Ordnung zu sein. Dafür schmerzt das Hühnerauge.

Während er die Straße überquert, betrachtet der Humorist seine Schuhe und überlegt, ob sie gelegentlich miteinander sprechen:

»Was ist Ihr Beruf, mein Herr?«

»Ich bin Sämischlederschuh.«

»Und Ihre politische Überzeugung?«

»Ich war immer links.«

Aufschreiben, rasch aufschreiben —

Zu spät. Auch für das Auto, das unter ohrenbetäubendem Kreischen seiner Bremsen versucht, ihn im letzten Augenblick nicht zu überfahren, war es zu spät. Während er fällt, flitzt ihm noch ein witziges Wortspiel über die Wechselbeziehung zwischen Fahrzeug und Gehzeug durch den Kopf — dann liegt er da.

Ein Knabe, sommersprossig und borstigen Haars, hüpft über ihn hinweg und grinst ihm unverfroren ins Gesicht, der kleine Sadist. Man müßte eine der vielen überflüssigen Jugendzeitschriften um eine Beilage »Der kleine Sadist« bereichern. So ähnlich wie »Der kleine Laubsägen-Ingenieur«, »Der kleine Hausarzt« und was einem sonst noch einfällt.

Aber es fällt ihm sonst nichts mehr ein. Er ist bewußtlos geworden.

Auf der Erste-Hilfe-Station kommt er wieder zu sich und denkt vergebens darüber nach, warum es keine Zweite- und keine Dritte-Hilfe-Station gibt. Sein Kopf schmerzt. Seine Glieder schmerzen. Und was das schmerzlichste ist: all die brillanten Einfälle, die er während des Unfalls hatte, sind vergessen, all seine Unfallseinfallsquellen versiegt.

Übrigens ein ausgezeichneter Stoff für eine Humoreske: Jemand wird überfahren, die Sinne schwinden ihm, und während er ohnmächtig daliegt, träumt er ein komplettes dreiaktiges Drama, an das er sich aber nach dem Erwachen nicht mehr erinnern kann. Als er vor Schmerzen neuerlich in Ohnmacht fällt, ist auch das Drama sofort wieder da, komplett mit sämtlichen Aktschlüssen, und nachher ist es wieder weg. In seiner Verzweiflung kehrt er an die Unfallstelle zurück, läßt sich nochmals überfahren, wird ohnmächtig…

»Stöhnen Sie nicht so jämmerlich, Mann«, sagt der Doktor.

»Ist ja alles nur halb so schlimm.«

Tatsächlich wurde er nach wenigen Stunden in häusliche Pflege entlassen, und am nächsten Tag war er bereits so weit, daß er eine kleine Geschichte über den Alltag eines Berufshumoristen schreiben konnte.

1Ins Deutsche übertragen von Friedrich Torberg