Gepäckschein 666

Alfred Weidenmann

1975

Natürlich hat dieser Gepäckschein seine drei Sechsen nicht ohne Hintersinn! Stell doch die 666 mal auf den Kopf! Aha! Dann hast Du 999! aus diesem »Dreh« entsteht nun eine verteufelte Verweschlung, die ein gesamtes piekfeines Hotel durcheinanderbringt, einen Kriminalkommisar und eine große Stadt dazu.

Wenn denn noch eine Mr. Overseas aus Amerika dieses falsche Gepäckstück mit der verkehrten 666 erhält, in dem die Beute eines eben (unter der Masek einer Filmaufnahme) verübten Bankraubes versteckt ist, dann kann die Verwirrung größer werden!

Es schalten sich aber noch ein: Mr Overseas junior, sein Freund und eifriger Boxschüler Peter, seines Zeichens Hotelpage, und die Schuputzer-Innung, die ale Detektvi spielen wollen.

Da grenzt es denn doch an ein Wunder, wenn die Bankräuber schließlich noch zur Strecke gebracht werden und das gestohlene Geld wieder seinen rechtmäßigen Besizter erreicht!

Inhaltsverzeichnis

Einem Bankdirektor vergeht das Lachen

Jetzt sind schon die Zeitungen hinter der Sache her

Das kann nicht wahr sein!

Vater Winkelmann verteilt Schweinskoteletts und meint, am Sonntag gehe es um die Wurst

Jungen mit Umgangsformen gesucht!

Die Polizei muß ziemlich dicke Pillen schlucken

Der Sheriff fängt mitten in der Bahnhofshalle zu träumen an

Der »Regenschirm« entpuppt sich als Hoteldirektor

Ein gewisser Herr Hesselbein wartet mit einer Überraschung auf

Wenn Mutter Pfannroth ans Telefon gerufen wird, glaubt sie immer gleich, der Bahnhof sei explodiert

Sheriff hält eine Rede, die gar keine ist

Tausend Schuhe für Peter Pfannroth

Alle brüllen: »Hepp! Hepp! Hepp!«

Achtung! Achtung! Sieger nach Punkten —

Von einer Kegelbahn, einem Parlament und Eisbeinen

Ein ziemlich wichtiger Tag

Peter erfährt, daß abstehende Ohren auch ihr Gutes haben

Wir segeln auf einem knallroten Luftballon kreuz und quer

Mister Overseas kreuzt auf

Der Page Pfannroth spielt Kinderfräulein

Eine interessante Unterhaltung hinter zwei Zeitungen

Mister Overseas bekommt ein Telegramm

Peter wird seiner Uniform zuliebe vernünftig

Gepäckschein 666

Zwei Detektive »kombinieren«

Die Gepäckaufbewahrung wird beschattet

Das Leben fliegt einem richtig weg — stellt Francis fest

Die Verfolgung geht los

Von einer Taxe, die davonfährt

Vorübergehend spielt ein Telefon die Hauptrolle

Ein älterer Herr mit weißem Spitzbart

Herr Meyer von 477

Mutter Pfannroth stammelt: »Du kriegst die Motten!«

Francis überlegt — und sieht plötzlich auf seine Armbanduhr

Herr Theobald und die »Schwarze Rose«

Kriminalkommissar Lukkas sagt: »Alle Achtung!«

Mister Overseas fällt vom Himmel — und zwar mitten in die Meisterschaft

Eine Pressekonferenz im »Roten Salon«

Darf ich die jungen Herren bitten!

Einem Bankdirektor vergeht das Lachen

»Schuhe putzen gefällig?« fragte Peter Pfannroth höflich, als ein ziemlich dicker Mann in einem Regenmantel auf ihn zukam.

»Was denn sonst? Wenn ich Hustensaft will, geh’ ich in die Apotheke«, brummte der Dicke und setzte sich in einen der beiden Drehstühle, der noch frei war.

»Daß du mir mit deiner verdammten Wichse nicht auf meine Socken kommst!« Der Dicke stellte jetzt seine Füße wie zwei Handkoffer vor sich auf den Schemel und zündete sich eine Zigarre an.

»Gestatten Sie, daß ich Ihre Hosenbeine hochkremple?«

Der Dicke gab keinen Ton von sich. Er hüllte sich in dichte Rauchwolken und sah zu dem freien Platz hinüber, der vor dem Bahnhof lag.

»Danke schön«, sagte Peter trotzdem und schlug die Hosenenden nach oben. Dabei sah er neben sich zu einem zweiten Jungen. Dieser zweite Junge hatte strohblonde Locken, war dünn wie ein Brett und hieß Emil Schlotterbeck. Er polierte gerade die Schuhe eines Taxichauffeurs.

»Natürlich wieder eine Baustelle! Als ob wir nicht schon genug davon hätten! In dieser Stadt fällt man ohnehin nur noch von einem Loch ins andere. Lauter Baustellen!« Der Dicke kaute grimmig an seiner Zigarre, paffte den Rauch aus wie eine Lokomotive, die überheizt ist, und sah immer noch zum Bahnhofsplatz hinüber.

Tatsächlich waren dort zwei große Lastwagen angefahren, direkt vor dem Eingang der U-Bahn und gegenüber dem neuen Gebäude der »Internationalen Handelsund Creditbank«. Vorerst wurden allerdings nur eine Menge Bretter und Holzplatten abgeladen.

»Jetzt dauert’s nicht mehr lange, und sie reißen die Pflastersteine raus, als ob’s Unkraut wäre«, brummte der Dicke.

»Vielleicht ist’s aber auch nur Brennholz für die Handels- und Creditbank«, wagte Emil einzuwerfen. Sein Taxichauffeur, den er gerade fertig bedient hatte, war in seinem Drehstuhl eingeschlafen. Vermutlich hatte er Nachtdienst gehabt. »Von wegen Brennholz. Mach doch die Augen auf!« Der Dicke zeigte mit seiner Zigarre zu den beiden Lastwagen hinüber.

Und dort wuchsen jetzt wirklich schon regelrechte Gerüste in die Luft. Gerüste wie kleine Türme.

»Sie haben recht«, gab Emil zu. »Es handelt sich wohl doch um eine Baustelle.«

»Ich hab’ so ziemlich immer recht«, sagte der kleine Dicke kurz und zog an seiner Zigarre. Dabei sah er jetzt auf seine Schuhe, und sein Gesicht wurde immer freundlicher dabei.

»Nicht schlecht«, lobte er, »die glänzen wie neu.«

»Dabei kriegen sie erst noch den letzten Pfiff!« stellte Emil fest. Er hatte sich gemütlich zurückgelehnt, die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah zu, wie Peter jetzt Schwung holte. Ein paarmal ging es blitzschnell über die linke, dann über die rechte Schuhspitze. Und dann kam es zum Schluß und als Höhepunkt sozusagen: Das Poliertuch flog in die Luft, schlug einen regelrechten Salto und landete mit einem deutlichen Knall wieder in Peters Händen.

»Mein Herr, Sie sind rasiert«, Peter grinste und verneigte sich.

»Wirklich — nicht schlecht — vor allem der Knall am Schluß. Was habe ich zu bezahlen?«

»Einen Groschen pro Schuh. Macht zwanzig Pfennige«, sagte Peter.

»Und für den Knall einen Groschen dazu, macht dreißig«, lachte der Dicke jetzt und zahlte.

»Es freut uns sehr, daß Sie zufrieden sind«, bedankte sich Peter.

»Beehren Sie uns bald wieder!« fügte Emil Schlotterbeck hinzu.

»Aha, die Herren sind Kompagnons?« fragte der Dicke und knöpfte an seinem Regenmantel.

»Sehr richtig. Und das hier ist unsere gemeinsame Kasse, wenn’s beliebt«, grinste Peter und warf die drei Groschen in eine Zigarrenkiste. »Uruguay Brasil« stand in Goldbuchstaben auf ihrem Deckel.

»Na, dann flotten Geschäftsgang«, meinte der Dicke noch, dann tauchte er im Menschenknäuel der Bahnhofstraße unter.

»Ob ich ihn nicht doch wecke?« fragte Emil und sah zu seinem schlafenden Taxichauffeur. »Vielleicht versäumt er was —«

»Laß ihm noch zehn Minuten«, schlug Peter vor und holte eine Rolle Orangedrops aus der Tasche.

»Willst du?« Emil bediente sich.

Jetzt standen die beiden, ihre Orangedrops lutschend, an die zwei Steinsäulen gelehnt, zwischen denen sie ihre Drehstühle stehen hatten. Das war gleich links am Eingang der Bahnhofshalle, einen halben Meter über dem Bürgersteig auf einem breiten Treppenabsatz.

Es gab genau fünfundzwanzig Schuhputzerjungen in der Stadt, weil es genau fünfundzwanzig Ecken gab, an denen gearbeitet werden durfte.

Zum Selbstschutz hatten sich die Fünfundzwanzig regelrecht »organisiert«. Neuaufnahmen gab es nur, wenn einer der Jungen eine Lehrstelle antrat oder aus irgendeinem anderen Grunde ausschied. Das war dann auch die einzige Möglichkeit, um einen weniger günstig gelegenen Arbeitsplatz gegen einen besseren einzutauschen. Denn ein Neuer mußte sich natürlich erst mal mit der schlechtesten Ecke zufriedengeben.

Das Revier am Hauptbahnhof war natürlich das beste, schon weil dieser Hauptbahnhof mitten im Zentrum der Stadt lag. Aber schließlich war Peter Pfannroth ja auch der Chef der Jungen und Emil Schlotterbeck sein Stellvertreter.

Auf dem Bahnhofsplatz fuhr jetzt ein dritter Lastwagen vor. Ein paar Männer machten sich sofort an der Laderampe zu schaffen und turnten dann hoch. Sie schienen es höchst eilig zu haben.

»Aber mit Baustelle hat das nichts zu tun«, überlegte Emil Schlotterbeck.

»Ganz deiner Meinung, Sheriff. Noch ‘nen Orangedrops?«

Emil griff zu, ohne seinen Blick von dem neuen Lastwagen zu lassen.

»Mal abwarten, was sie ausladen«, sagte Emil. Unter den Jungen hieß er Sheriff, so, wie Peter ihn gerade genannt hatte. Das kam von Emils Begeisterung für Wildwest-Filme.

Allerdings mußte der Held dieser Filme immer ein Sheriff sein. Ein Mordskerl, vor dem die gefährlichsten Banditen schon türmten, wenn nur sein Schatten um irgendeine Ecke bog. »Du, das sind Scheinwerfer«, sagte Peter.

»Sieht so aus«, bestätigte der Sheriff.

Tatsächlich wurden drüben aus dem neuen Lastwagen jetzt sehr vorsichtigriesige, schwarzlackierte Blechkessel ausgeladen, deren Vorderseiten glänzende Glasflächen hatten.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte in diesem Augenblick eine Stimme. Die Stimme gehörte Herrn Schimmelpfeng, der nebenan in der Bahnhofshalle das kleine Blumengeschäft hatte. Er war Junggeselle, kam jeden Morgen so um die gleiche Zeit und las, während ihm die Schuhe geputzt wurden, immer die Sportseite vom »8-Uhr-Blatt«.

Aber heute mußte Herr Schimmelpfeng zuerst eine Neuigkeit loswerden. »Interessiert euch wohl auch, was das da drüben zu bedeuten hat?«

Herr Schimmelpfeng nahm Platz, und Peter krempelte ihm die Enden seiner Hosenbeine hoch.

»Wenn Sie es nicht wissen, weiß es niemand«, sagte Emil und kam einen Schritt näher. Der Sheriff wußte genau, wie empfänglich Herr Schimmelpfeng für Schmeicheleien war. Der Blumenhändler ging auch prompt auf den Leim. Er machte allerdings noch eine eindrucksvolle Pause, holte tief Luft, aber dann sprudelte er los: »Es soll gefilmt werden! Einer von den Arbeitern, die drüben die Lastwagen abladen, hat es vorhin am Kiosk erzählt, als er sich eine Packung Zigaretten holte.«

So, das war’s. Herr Schimmelpfeng lehnte sich in seinen Drehstuhl zurück und sah die Jungen an, als habe er gerade einen doppelten Salto geschlagen.

Drüben auf dem Bahnhofsplatz hielt in diesem Augenblick ein geschlossener Lieferwagen. Er war rundum himmelblau lackiert. Auf seinen Seiten stand in zitronengelber Schrift »GLOBAL-FILM«.

Peter und der Sheriff waren sprachlos, zumindest für einen Augenblick. Natürlich ließen sie jetzt kein Auge mehr von den Filmleuten drüben. Dort war man gerade dabei, die ausgeladenen Scheinwerfer an dicken Tauen auf die Holzgerüste zu heben.

»— und — und um was geht es?« Peter hatte sich zuerst wieder gefaßt.

»Vermutlich handelt es sich um einen Kriminalfilm. Man will einen Banküberfall drehen. Drüben vor der internationalen ›Handels- und Creditbank‹. So etwas ähnliches will wenigstens der Würstchenverkäufer gehört haben. Wenn es soweit ist, komme ich mal rüber. Von hier aus übersieht man das Ganze ja wie vom besten Tribünenplatz aus.«

»Tribüne« war vermutlich so etwas wie ein Stichwort für Herrn Schimmelpfeng. Er erinnerte sich an die Sportseite vom »8-Uhr-Blatt« und fing auch schon an zu lesen. Was er an Neuigkeiten zu verschießen hatte, war ja ohnehin abgefeuert.

»Natürlich der Schiedsrichter —« brummte es schon nach zwei, drei Minuten hinter Herrn Schimmelpfengs Zeitung, »jetzt soll ausgerechnet der Schiedsrichter schuld gewesen sein. So ein Unsinn! Aber die Zeitungsschreiber haben ja von Tuten und Blasen keine Ahnung!«

Peter und Emil grinsten sich an und wiederholten im Chor: »— von Tuten und Blasen keine Ahnung! Sehr richtig, Herr Schimmelpfeng!«

Dabei wachte der Taxichauffeur auf. Er blinzelte kurz nach links und rechts, nach oben und unten, dann zahlte er sehr schnell seine zwei Groschen und rannte los, ohne ein Wort zu sagen.

Herr Schimmelpfeng war beim Bericht über die gestrige Meisterschaft im Schwergewicht angelangt, als Peter mit seinem Poliertuch knallte.

»Der Tiefschlag in der sechsten Runde setzt dem Faß die Krone auf!« schimpfte Herr Schimmelpfeng noch und ging mit blitzblanken Schuhen zu seinen Hyazinthen und Maiglöckchen zurück.

Die nächste halbe Stunde war ziemlich ruhig.

Kurz vor zehn Uhr kamen zwei japanische Matrosen. Sie sprachen kein Wort deutsch und streckten nur grinsend ihre Füße von sich, als sie in den Drehstühlen saßen.

Am Bahnhofsplatz lag jetzt schon ein Gewirr von dicken Kabeln auf dem Asphalt, und die Arbeiter der Filmgesellschaft bauten immer mehr Scheinwerfer auf. Die Leute blieben stehen und bildeten bereits einen Kreis um all die Holzgerüste und Lastwagen. Auf dem Dach des himmelblauen Lieferwagens war ein breitbeiniges Stativ aufgebaut worden, und vier Arbeiter wuchteten an einem großen schwarzen Kasten, der offenbar sehr schwer war. Dieser Kasten wurde jetzt sehr vorsichtig auf das Stativ gehoben.

»Das ist bestimmt die Kamera«, sagte Peter ziemlich aufgeregt. Aber der Sheriff hörte ihn gar nicht. Er war nämlich mit dem Aufträgen der flüssigen grünen Tinktur auf die Wildlederschuhe einer Dame beschäftigt. Das war eine heillos knifflige Sache, und er biß sich dabei auf seine Zungenspitze.

Und jetzt bekam auch Peter wieder Arbeit.

Ein sehr eleganter Herr in dunklem Anzug und mit angegrauten Haaren setzte sich in den freien Drehstuhl. Er nahm seinen schwarzen Hut ab und grüßte so höflich, als betrete er das Finanzamt.

»Guten Morgen, die Herren.«

»Guten Morgen, Herr-r-r-«, antworteten Peter und der Sheriff.

Dabei zogen sie das »Herr« am Ende ziemlich in die Länge und hängten ihm noch irgendeinen unverständlichen Nachlaut an. Das sollte einen Namen ersetzen, den sie leider immer noch nicht in Erfahrung gebracht hatten.

Dabei war dieser grauhaarige Herr sozusagen ein Dauerkunde, der zuweilen sogar mehrmals am Tage kam und jedesmal mit einem Fünfzigpfennigstück bezahlte. Da er auch bei strahlender Sonne immer einen Regenschirm bei sich trug, hieß er bei den Jungen ganz einfach »Regenschirm«. Irgendwie mußten sie doch eine Bezeichnung für ihn haben.

»Stell mal das Ding so lange in die Ecke«, sagte der Herr; denn selbstverständlich hatte er auch jetzt wieder seinen Regenschirm bei sich. Peter war schon eine ganze Weile beim Putzen und Bürsten, da machte er plötzlich eine Pause und sah auf. »Wenn Sie kommen, freu’ ich mich immer!« So ganz aus heiterem Himmel und ohne sich etwas dabei zu denken, sagte er das.

»Regenschirm« hielt den Kopf ein wenig schief und lächelte. »Das ist nett«, meinte er nur.

Peter machte sich schon wieder mit seiner Bürste zu schaffen, da fiel ihm erst ein, daß man das, was er gesagt hatte, ja vielleicht auch mißverstehen könnte. Bei diesem Gedanken wurde er rot im Gesicht wie ein kleines Mädchen, das beim Vorsingen plötzlich die zweite Strophe des Liedes vergessen hat.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, versuchte Peter zu erklären, »das hat nichts mit den fünfzig Pfennigen zu tun, die Sie uns jedesmal geben. Es ist wegen Ihrer Schuhe. Wenn man immer nur Schuhe putzt, dann — dann bekommen Schuhe regelrechte Gesichter. Mir geht es wenigstens so. Aber das finden Sie bestimmt zum Lachen.«

»Regenschirm« fand das gar nicht zum Lachen. Das sagte er aber nicht. Im Augenblick sagte er überhaupt nichts. Zuerst schaute er Peter eine Weile an. Dann hielt er wieder den Kopf ein wenig schief und sah auch zum Sheriff hinüber, der gerade sehr sorgfältig mit einer Gummibürste an den giftgrünen Wildlederschuhen herumhantierte. Der lange Kerl hatte dabei sein Gesicht ganz dicht über den Schuhen und den Rücken gekrümmt wie eine Katze, die eine Maus entdeckt.

»Das geht dir mit deinen Schuhen nicht allein so«, sagte jetzt »Regenschirm«. »Ich kann mir denken, daß für einen Tischler Stühle und Schränke Gesichter haben, für einen Schneider Hosen und Röcke und für einen Motorschlosser vielleicht sogar Autos. — Wenn man seinen Beruf liebt, ist das so. Dann bekommen die Dinge, mit denen man zu tun hat, so etwas wie Leben, eben Gesichter.«

Peter dachte über das, was »Regenschirm« gesagt hatte, noch eine Sekunde nach. Die Unterlippe zwischen den Zähnen, wie er es immer tat, wenn ihm eine Sache nicht gleich verständlich war. Dabei ging er bereits wieder mit seinem Polierlappen über die schmalen Spitzen von »Regenschirms« Lackschuhen. Der freundlich, grauhaarige Herr sah ihm zu. Er suchte dabei allerdings schon in der Seitentasche seiner Weste nach einem Fünfzigpfennigstück.

Bei der »GLOBAL-FILM« auf dem Bahnhofsplatz drängten sich die Menschen, als ob in den nächsten zehn Minuten Hundertmarkscheine ausgeteilt würden. Selbstverständlich dachte niemand daran, sich ausgerechnet jetzt die Schuhe putzen zu lassen.

Wachtmeister Blunlc, der um diese Zeit Dienst hatte und bisher eigentlich immer recht gut allein ausgekommen war, bekam es heute doch mit der Angst zu tun und forderte von seinem Polizeirevier Verstärkung an. Es dauerte auch nicht lange, da kamen schon vier seiner Kollegen im Laufschritt von der Alexanderstraße her. Sie hielten mit der rechten Hand ihre Mützen und mit der linken ihre Gummiknüppel.

Der eine von den Filmleuten, mit dunkler Sonnenbrille, einer ziemlich auffallenden Kamelhaarjacke, einer Baskenmütze und einem sehr farbigen Wollschal, kam den Polizisten gleich entgegen und redete auf sie ein.

Peter und der Sheriff verstanden nur einzelne Worte, darunter vor allem »Kabel«, »nasses Pflaster«, »Kurzschluß« und so weiter.

»Bitte zurücktreten!« riefen die Beamten und drängten die Neugierigen, deren Zahl von Minute zu Minute immer noch zunahm, gute fünf Meter zurück.

»— und bitte nicht auf die Kabel treten. Es besteht Kurzschlußgefahr. Unsere Gesellschaft betont ausdrücklich, daß sie für irgendwelche Schäden nicht aufkommen wird!« rief ganz laut und aufgeregt der Mann in der Kamelhaarjacke und mit dem knalligen Wollschal. Dabei kletterte er jetzt auf das Dach des himmelblauen Lieferwagens, stellte sich allgemein sichtbar hinter das Monstrum von Kamera und brüllte ganz einfach nur: »Licht!« Hinterher pfiff er noch kurz auf einer Trillerpfeife.

Das war offenbar das gewohnte Zeichen für die Arbeiter und Beleuchter, die jetzt auf den Holzgerüsten saßen. Sie schalteten an ihren Scheinwerfern herum, und schon nach zwei oder drei Sekunden schoß ein Lichtstrahl nach dem anderen von der Höhe der Holzgerüste herunter. Lichtstrahl um Lichtstrahl wurde in die gleiche Richtung gebracht, bis ein großes, helles Strahlenbündel entstand. Im Brennpunkt dieses Strahlenbündels lag dann der Eingang zur »Internationalen Handels- und Creditbank«.

»Das ist wirklich ein toller Otto«, sagte Peter anerkennend. »Jupiterlampen«, stellte der Sheriff sachlich fest. Das hatte er erst unlängst in einer Zeitung gelesen. »Ob wir mal kurz —?« Peter sah seinen Kompagnon fragend an. Er hätte sich diese Filmerei doch gerne aus nächster Nähe angeguckt. So etwas gab es nicht alle Tage.

Aber da kam ein ziemlich langer und breitgewachsener Kerl in einem dunkelbraunen Ledermantel beinahe im 100-Meter-Tempo über die drei Treppenstufen herauf. Er trug eine Sportmütze aus einem Stoff mit Pfeffer-und-Salz-Muster und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, in Peters Drehstuhl. Dabei japste er nach Luft, als käme er nach fünf Minuten Unterwasserschwimmen in diesem Augenblick wieder an die Oberfläche.

»Die Füße hier auf den Schemel, wenn ich bitten darf«, sagte Peter so freundlich wie möglich.

Der Kerl in seinem Ledermantel saß nämlich da und ließ seine Füße baumeln, als ob er gar keinen Wert darauf legte, sich die Schuhe putzen zu lassen. Er hatte auch Peter und den Sheriff bisher kaum eines Blickes gewürdigt. Sein ganzes Interesse galt allein drüben den Vorgängen auf dem Bahnhofsplatz. Jetzt allerdings wandte er sich kurz um.

»Ja — ja — natürlich«, sagte der Ledermantel gedankenlos und stellte seine Schuhe auf den Schemel. Hellbraune Schuhe aus Schlangenleder mit Gummisohlen.

»Ich beeile mich«, sagte Peter und fing schon an zu bürsten.

»Hat Zeit«, erwiderte der Ledermantel kurz. Dabei ließ er die Filmleute und die hell angestrahlte Fassade der »Internationalen Handels- und Creditbank« nicht aus den Augen. Peter und der Sheriff sahen sich an. Eben hatte es der Kerl doch noch so eilig gehabt.

Aber da es offenbar doch nicht mehr auf jede Minute ankam, ließ sich Peter wirklich Zeit und sah auch immer wieder zum Aufnahmeplatz der »GLOBALFILM« hinüber. Der Sheriff tat natürlich überhaupt nichts anderes mehr. Um besser sehen zu können, stellte er sich sogar auf seine Kiste mit den Bürsten, Lappen und verschiedenen Schuhcremes.

Auf dem Dach des himmelblau lackierten Lieferwagens hielt der Mann in seiner Kamelhaarjacke gerade mit ausgestrecktem Arm ein Taschentuch in die Luft.

»Achtung — Probe — los!« war zu hören, und dann sauste der ausgestreckte Arm nach unten.

Ganz plötzlich war es auf dem weiten Platz ruhiger als sonst. Es schien wenigstens so. Man hörte kaum noch etwas von den Straßenbahnen und den Autos. Die Menschen, die dicht gedrängt standen, waren ohnehin vor Neugierde sprachlos.

Das ganze Interesse und alle Blicke richteten sich auf den Eingang der »Internationalen Handels- und Creditbank«, der im Licht der Scheinwerfer aussah, als schiene die heißeste Augustsonne. Dabei war der Himmel doch bedeckt, und es konnte jeden Augenblick wieder zu regnen anfangen.

Und jetzt geschah es:

Eine schwere schwarze Limousine, die wohl mit laufendem Motor etwas abseits auf das Zeichen gewartet hatte, kam in einem Höllentempo angebraust. Direkt vor der Drehtür der Bank stoppte sie, daß die Bremsen nur so quietschten. Vier Männer, die schon kurz vorher die Wagentüren aufgerissen hatten, stürzten ins Freie. Sie trugen schwarze Gesichtsmasken und hatten natürlich schußbereite Pistolen in den Händen. In einem Sprung waren sie über den Gehsteig hinweg in der Drehtür der Bank verschwunden.

Es sah alles so echt aus, daß den Zuschauern für mehrere Sekunden die Luft wegblieb.

In diesen Sekunden schalteten die Filmleute bereits wieder ihre Scheinwerfer ab.

»Ein toller Otto!« sagte diesmal der Sheriff, Peters Redewendung benutzend.

»Wie im verrücktesten amerikanischen Gangsterfilm«, meinte Peter.

Er war für einen Augenblick aufgestanden und hatte ebenfalls zugeschaut.

»Vielleicht spielt das Ganze auch gar nicht hier, weil die Limousine eine ausländische Nummer hat.«

Da wandte sich der Kerl im Ledermantel um. Fast ruckartig. Aber er sagte nichts. Er holte sich nur eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und sah dann wieder zu den Scheinwerfern und den Menschen hinüber. Ziemlich nervös, dieser Herr im Ledermantel, dachte Peter. Beim Anzünden seiner Zigarette hatte der Kerl zwei Streichhölzer abgebrochen. Aber was kümmerten Peter die Nerven seiner Kunden? Ihn hatten nur diese Schlangenlederschuhe zu interessieren.

Hübsche Schuhe übrigens, allerdings ziemlich verkommen. Es fehlte an der nötigen Pflege. Die Absätze waren nach der Außenseite schon abgetreten, und links war am gezackten Profil der Gummisohle ein ganzes Stück herausgebrochen. Ein Stück so groß wie eine Schuhcreme-Schachtel —.

Aus der Drehtür der »Internationalen Handels- und Creditbank« traten die vier Männer mit ihren schwarzen Gesichtsmasken wieder ins Freie. Jetzt allerdings wie Sonntagsspaziergänger und so, als ob sie sich soeben nur ein kleines Sparkonto angelegt hätten. Sie wurden sogar von einem Herrn im schwarzen Anzug begleitet. Dieser Herr gehörte wohl zur Geschäftsleitung der Bank oder war gar ihr Direktor. Dieser Herr wollte sich fast ausschütten vor Lachen, als der Mann in der Kamelhaarjacke auf ihn zukam und offenbar eine sehr witzige Bemerkung machte. Zugleich gab die Kamelhaarjacke dem Chauffeur irgendwelche Anweisungen, und der ließ seine Limousine dann im Rückwärtsgang wieder auf ihre Anfangsstellung zurückfahren.

Der Herr von der Bank wollte sich jetzt die Aufnahme der Szene von außen mit ansehen. Er kletterte also zusammen mit dem Filmmann auf das Dach des himmelblauen Lieferwagens, immer noch sichtlich vergnügt.

»Achtung — wir drehen!« rief jetzt eine Stimme, und die Scheinwerfer flammten auf wie vorher, einer nach dem anderen, bis das Strahlenbündel wieder vollständig war. »Kamera ab!« rief es jetzt von einem Gerüst.

»Kamera läuft!« antwortete irgend jemand.

Und jetzt hatte der Mann in der Kamelhaarjacke das letzte Wort, das heißt, eigentlich sein Taschentuch.

Dieses Taschentuch sauste wieder wie eine Startfahne senkrecht durch die Luft.

Und wie vorhin bei der Probe kam auch jetzt wieder die schwarze Limousine im Höllentempo angerast, und wieder stürzten die vier maskierten Männer durch die Drehtür der »Internationalen Handels- und Creditbank«.

Allerdings dauerte es dieses Mal zwei oder drei Minuten länger, bis die »Gangster« wieder ins Freie kamen. Jetzt, bei der eigentlichen Aufnahme, schienen die Filmleute ihre Sache noch ernster zu nehmen als vorher bei der Probe. Man hörte sogar ein paar Schüsse, und als kurz danach die vier Maskierten wieder sichtbar wurden, splitterte auch noch eine der großen Scheiben der Drehtür.

Dieses Mal gingen die »Bankräuber« auch nicht im Spaziergänger-Tempo, was ja wohl auch nicht der Wirklichkeit entsprochen hätte. Sie hielten sich vielmehr an ihre Rolle, die sie zu spielen hatten, und stürzten genauso schnell in ihre schwarze Limousine, wie sie kurz zuvor herausgestürzt waren. Der Chauffeur gab Gas, und fast im gleichen Augenblick jagte der schwere Wagen auch schon davon.

»Aus!« rief jemand. Das galt für die Kamera.

»Auch Scheinwerfer aus!« rief ebenfalls jemand.

Das Licht der Strahlenbündel fiel in sich zusammen.

Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis wieder Bewegung in die Zuschauer kam. Sie hatten ja zuvor schon die Probe gesehen. Aber man war allgemein der Überzeugung, daß die eigentliche Aufnahme bestimmt noch besser gelungen war.

Als jetzt in der zersplitterten Drehtür auch noch ein Angestellter der Bank erschien und noch einer und noch einer, und als die alle zusammen laut Zeter und Mordio schrien, schlug ihnen allgemeines Gelächter entgegen. Noch echter ging’s nicht mehr! Aber wenn schon, dann hätten diese Bankleute früher kommen müssen. Jetzt waren ja Scheinwerfer und Kamera längst abgeschaltet.

Etwa in diesem Augenblick stand drüben bei Peter und dem Sheriff der Kerl im Ledermantel von seinem Drehstuhl auf. »Schon gut«, sagte er nur. Er warf Peter ein Markstück zu und rannte los.

»Ich hab’ ja noch gar nicht poliert!« rief Peter ihm nach. Er hatte jetzt doch ein schlechtes Gewissen, weil er über dem Zusehen bei der Filmerei den Kunden ziemlich vernachlässigt hatte.

Aber dem Kerl im Ledermantel schien das gleichgültig zu sein. Für einen kurzen Augenblick war seine Pfeffer-und-Salz-Mütze noch zwischen den Menschen vor der Bahnhofshalle zu sehen, dann sprang sie auf ein Taxi zu und verschwand darin.

»Komisch!« sagte Peter und sah sich das Markstück an, das er noch in der Hand hatte.

»Prima!« sagte der Sheriff und hielt die Zigarrenkiste auf. Da kam Herr Schimmelpfeng angerannt.

»Ist es schon soweit?«

»Allerdings«, sagte der Sheriff seelenruhig, »sie sind gerade fertig!«

Herr Schimmelpfeng konnte es zuerst gar nicht fassen. Als er aber sah, wie man drüben die Filmgeräte schon wieder abbaute, platzte er los.

»O diese Pimpeltante!« fauchte er wütend. Peter und der Sheriff sahen sich an. Das hatten sie noch nie gehört. Wer war das nun wieder?

»Wenn diese Person schon in meinen Laden kommt! Im Dezember verlangt sie Kornblumen und im April Winterastern. Eine halbe Stunde lang steckt sie ihre Nase von einer Rose in die andere, nur um nachher zu behaupten, es sei nichts zu riechen, und man merke eben, daß alles aus dem Gewächshaus komme. Das sei bei Blumen genauso wie bei Schweinefleisch oder Gemüse in Dosen. Das schmecke auch immer nur nach Weißblech. Diese Person! Am Ende, wenn sie alles durchgerochen und schlechtgemacht hat, nimmt sie für zwanzig Pfennig Vogelfutter und rauscht ab!«

Herr Schimmelpfeng war außer sich.

Aber es zeigte sich, daß er doch nicht alles versäumt hatte. Draußen auf dem Bahnhofsplatz wurde es nämlich zwischen den Lastwagen der »GLOBAL-FILM«-Gesellschaft und zwischen den Holzgerüsten mit den Scheinwerfern von Minute zu Minute lebhafter. Die Menschen drängten und schoben sich plötzlich durcheinander wie ein Ameisenhaufen, der von einer Flitspritze aufgescheucht wird.

Jetzt heulte auch noch die Sirene eines Einsatzkommandos dazwischen, und es dauerte nicht lange, da stoppten gleich drei Polizeiwagen an der Stelle vor dem Eingang der »Internationalen Handels- und Creditbank«, an der kurz zuvor noch jene schwarze Limousine gehalten hatte.

Schwupp — sprangen die Polizisten ab, rissen sich die Sturmriemen unters Kinn und zogen die Pistolen. Ein Teil verschwand durch die zersplitterte Drehtür im Innern der Bank, und die übrigen verteilten sich sofort über den Platz und besetzten das Gewirr der Kabel, die Holzgerüste mit den Scheinwerfern und die Lastwagen der »GLOBAL-FILM«, natürlich auch den himmelblauen Lieferwagen samt Stativ und Kamera.

Das klappte wie am Schnürchen und wie bei den alljährlichen Polizeivorführungen im Stadtpark.

»Zurücktreten!«

Die Menge der Neugierigen wurde nicht gerade höflich zurückgedrängt und gleich so weit, daß sich jetzt das ganze Aufnahmegerät der Filmleute mit den paar Arbeitern, die dazugehörten, ziemlich verlassen und einsam Vorkommen mußte. Da stimmte irgend etwas nicht! »Auf — rüber!« sagte Herr Schimmelpfeng und rannte los.

Peter und der Sheriff sagten nichts, aber sie rannten hinterher.

An der Plakatsäule warfen sie beinahe einen Würstchenverkäufer um.

Es war nicht leicht, durch die Menschenmauer nach vorn zu kommen. Aber Peter und der Sheriff schlängelten sich durch wie Aale und zogen Herrn Schimmelpfeng einfach hinter sich her. Wollte es überhaupt nicht weitergehen, sagte Herr Schimmelpfeng ganz einfach nur: »Presse!« und fuchtelte mit einer Hundesteuerkarte durch die Luft, als ob das der Ausweis des Berichterstatters einer Zeitung wäre.

Die drei hatten sich gerade bis zur ersten Reihe und bis dicht hinter den Rücken eines der absperrenden Schupos durchgearbeitet, da fuhr ein schwarzer Volkswagen vor und hielt so ziemlich in der Mitte des freigemachten Platzes. Ein kleiner, dicklicher Herr mit schwarzem Anzug und schwarzem Hut stieg aus. Er rauchte eine Zigarre und sah sich so interessiert nach allen Seiten um, daß es fast aussah, als stiege er nicht aus einem Auto, sondern aus einem Flugzeug und wisse nicht recht, ob er nun in Trinidad oder am Nordpol gelandet sei.

Der Leiter des Einsatzkommandos spritzte auf ihn zu und gab dem Herrn ganz offensichtlich Bescheid über das, was hier los war.

Herr Schimmelpfeng, Peter und der Sheriff hörten allerdings nur immer wieder, wie der Kommandoleiter »Herr Kriminalkommissar« sagte. Dabei nahm er gelegentlich seine rechte Hand an den Mützenrand.

Dieser Kriminalkommissar war offenbar ein sehr freundlicher Herr. Er kam jetzt immer näher auf unsere drei zu. Vermutlich dachte er sich im stillen, daß Herr Schimmelpfeng, Peter und der Sheriff und wohl auch die anderen Leute ganz gern etwas von dem gehört hätten, was er jetzt mit dem Polizeioffizier besprach.

»Jawohl, Herr Kriminalkommissar, genau elf Uhr dreiundvierzig«, das waren die ersten Worte, die jetzt ganz einwandfrei zu verstehen waren.

Dabei kamen die beiden immer noch Schritt für Schritt näher. »Alles bleibt so, wie es steht und liegt«, sagte jetzt der Kommissar. »Keiner der Angestellten oder Arbeiter dieser Filmgesellschaft verläßt vorerst den Platz. Wo ist der Chef dieser Leute?«

»Bedaure, Herr Kommissar«, der Leiter des Einsatzkommandos hatte schon wieder seine rechte Hand an der Mütze, »der — der Leiter des Ganzen soll sich Filmregisseur Müller genannt haben.«

»Müller ist immer gut«, bemerkte der Kommissar.

»Aber dieser Müller, Herr Kommissar«, fuhr der Uniformierte fort, »ist spurlos verschwunden. Allerdings liegen genaue Personalbeschreibungen vor. Sonnenbrille, braune Kamelhaarjacke —«

Der Kommissar winkte ab. Er warf den Stummel seiner Zigarre aufs Pflaster und zertrat ihn mit dem rechten Fuß. Dabei sagte er nur: »Am hellichten Tag. Eine bodenlose Frechheit!«

»Und eine unglaubliche Blamage!« ergänzte in diesem Augenblick jener Herr von der »Internationalen Handels- und Creditbank«, der sich noch vor einer knappen halben Stunde vor Lachen fast ausschütten wollte. Das Lachen war ihm inzwischen allerdings vergangen.

»Ich bin ruiniert!« klagte er jetzt und stellte sich anschließend vor. »Direktor Degenhart von der ›internationalen Handels- und Creditbank‹. Wenn ich richtig orientiert wurde, habe ich es mit Herrn Kriminalkommissar Lukkas zu tun?«

»Stimmt. Lukkas ist mein Name«, sagte der Kriminalkommissar und holte sich eine neue Zigarre aus der Tasche, eine sehr schwarze und dicke Brasil.

»Ich flehe Sie an, Herr Kriminalkommissar, kommen Sie sofort in unseren Schalterraum. Der Hauptkassier hat soeben den Verlust zusammengezählt. Wir haben gerade Monatsende, wie Sie wissen, und sämtliche Gelder für die Lohn- und Gehaltszahlungen lagen für unsere Kunden bereit. Dieser Zufall hat der Bande —«

»Sie leben wohl auf dem Mond, Herr Direktor? Von wegen Zufall!« brummte der Kriminalkommissar.

»Sie glauben doch etwa nicht —«, wollte der Bankdirektor aufbegehren. Aber da stockte er plötzlich und stellte kleinlaut fest: »Einhundertzweiundvierzigtausend — Sie werden es kaum für möglich halten!«

»Ich fürchte, daß ich heute noch ganz andere Dinge für möglich halten muß«, sagte Kriminalkommissar Lukkas nur.

Er ließ sich von dem Schupo, der mit seinem Rücken dicht vor Herrn Schimmelpfeng und den beiden Jungen stand, Feuer geben, dann wandte er sich dem Gebäude der Bank zu. »Gehen wir, meine Herren.«

Bis zu diesem Augenblick waren die Menschen, die diesem Gespräch folgen konnten, mäuschenstill gewesen, um ja jedes Wort aufzuschnappen.

Aber als jetzt der Kriminalkommissar mit dem Leiter des Einsatzkommandos und dem Bankdirektor über den Platz zurückging, machte sich die Spannung ganz plötzlich Luft.

Auch Herr Schimmelpfeng ließ sich sofort hören und riß natürlich das Wort an sich.

»Für mich liegt der Fall völlig klar, meine Herrschaften —« Peter und der Sheriff hörten eine Weile zu, dann sahen sie sich nur kurz an und tauchten ganz einfach unter. Schließlich kamen sie im Rücken der Menschenmauer wieder ins Freie, wie zwei Unterseeboote.

Jetzt dachte natürlich erst recht niemand daran, sich seine Schuhe putzen zu lassen.

Peter und der Sheriff konnten sich also getrost selber in ihre Drehstühle setzen. Sie taten es auch und streckten ihre Beine von sich.

»Willst du?« fragte Peter mal wieder und hielt dem Sheriff den Rest seiner Orangedropse hin.

»Bin so frei«, sagte der Sheriff und griff zu.

Drüben in der langen Halle und draußen über dem Bahnhofsplatz lag eine Luft und eine Stimmung wie vor einem Gewitter. Überall standen die Menschen in kleinen und größeren Gruppen beisammen und sprachen aufeinander ein.

»Ein toller —«, wollte Peter gerade sagen, da sagte der Sheriff genau das gleiche.

»Ein toller Otto!« sagten sie also zusammen.

Jetzt verging etwa eine Minute.

Da gab Peter seinem Drehstuhl einen Schubs, so daß er dem Sheriff gegenübersaß wie in einer Straßenbahn.

»Der Kerl mit dem Ledermantel —«, sagte Peter.

»— und mit den Schlangenlederschuhen«, sagte der Sheriff. Das war wieder so, als hätten sie das gleiche gesagt, weil sie im Grunde schon eine ganze Weile das gleiche dachten.

Es brauchte also gar nichts gesagt zu werden.

Jetzt sind schon die Zeitungen hinter der Sache her

In dem roten Backsteinbau der Kriminalpolizei am Sternplatz war der Teufel los, und zwar im Seitenflügel A, zweiter Stock, Zimmer 247.

Dieses Zimmer gehörte Kriminalkommissar Lukkas, und die Tür zu ihm wurde bereits seit drei Stunden von den Lokalreportern sämtlicher Zeitungen förmlich belagert. Sie standen oder saßen auf den wenigen Stühlen im Treppenflur, rauchten eine Unmenge Zigaretten und unterhielten sich im übrigen, als säßen sie in irgendeinem Café oder in ihren Redaktionsstuben.

Aber ihre Gleichgültigkeit war gespielt. In Wirklichkeit schielten sie ununterbrochen zu jener Tür mit der Nummer 247, und die Fotoreporter hatten ihre Apparate mit den Blitzlichtern pausenlos schußbereit, als ob in jedem Augenblick der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika durch diese Tür treten könnte.

Aber die Tür öffnete sich nicht und war im übrigen von innen verschlossen.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte gerade einer der Zeitungsleute zur »Morgenpost«.

Man war übereingekommen, daß jede halbe Stunde eine andere Zeitung an die wartenden Berichterstatter zu erinnern habe. Zuletzt war das »Abendblatt« an der Reihe gewesen.

Die »Morgenpost« wurde von einer hellblonden Dame im Pepita-Kostüm vertreten. Sie ging jetzt auf die Tür 247 zu und klopfte. Nichts rührte sich.

»Es ist eine Doppeltür. Sie müssen stärker klopfen«, sagte der Lokalredakteur vom »Echo«.

Die »Morgenpost«-Dame nahm also jetzt ihre ganze zierliche Faust.

Nach zwei oder drei Sekunden hörte man, wie von drinnen aufgeschlossen wurde, und dann öffnete sich die Tür, allerdings nur zu einem schmalen Spalt. In diesem Spalt erschien ein länglicher Beamtenkopf mit einer randlosen Brille, der Kopf des Kriminalassistenten Kühnast.

»Der Herr Kommissar bittet Sie höflichst, sich noch eine Weile zu gedulden. Er wird Ihnen aber bald auf alle Fragen Rede und Antwort stehen«, sagte der noch ziemlich junge Assistent und beeilte sich hinzuzufügen: »Selbstverständlich nur, soweit es die im Gange befindliche Untersuchung des Falles gestattet.«

»Wir warten schon seit fünf Stunden!« rebellierte der Vertreter des »Nachtexpreß«. Er und seine Zeitung waren dafür bekannt, daß sie gerne ein wenig übertrieben.

Aber da in diesem Augenblick einer der Fotoreporter sein Blitzlicht abschoß, machte der Kriminalassistent ganz schnell den Spalt der Tür wieder zu. Allerdings zog er vorher seinen Kopf mit der randlosen Brille noch rechtzeitig zurück. Man konnte hören, wie von innen wieder abgeschlossen wurde.

»Wir werden hier behandelt, als wollten wir den Herren von der Kriminalpolizei Staubsauger verkaufen!« schimpfte der »Nachtexpreß«.

»Sehr richtig«, sagte die Dame von der »Morgenpost«. Aber das nützte alles nichts.

Der Verschluß der beiden Polstertüren zu Zimmer 247 war nämlich so dicht und undurchlässig wie der Verschluß auf einem Einmachglas.

Das kann nicht wahr sein!

Wenn Kriminalkommissar Lukkas die Presseleute vorerst noch warten ließ, hatte das seinen guten Grund.

Er war ganz einfach noch viel zu perplex.

Wie sollte er den Zeitungen eine Sache glaubhaft machen können, die für ihn selber noch völlig unglaubhaft war.

»Meine Herren, das kann nicht wahr sein! Mein klarer Menschenverstand weigert sich zu glauben, daß soviel Leichtsinn und — ich muß es schon so nennen — Dummheit auf einem Haufen möglich sind!«

Kriminalkommissar Lukkas schlug mit der flachen Hand auf die zwanzig Papierblätter, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Auf diesen Papierblättem hatte er fein säuberlich mitgeschrieben, was ihm die Zeugen bisher im Laufe der Vernehmung erzählt hatten.

Jetzt stand Kriminalkommissar Lukkas auf, nahm seine Arme auf den Rücken und sah um sich wie ein Studienrat, wenn er nach einer miserablen Lateinarbeit vor seiner Schulklasse steht.

»Meine Herren, Sie sind doch erwachsene Menschen — zum Teil in sehr verantwortlichen Stellungen und wohl alle mit einiger Lebenserfahrung. Wenn ich Sie so der Reihe nach ansehe —«, Kriminalkommissar Lukkas sprach plötzlich nicht weiter und sah sich wirklich einen der Zeugen nach dem anderen an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Dabei saßen sie doch alle schon über drei Stunden vor ihm.

Da war vor allem Direktor Degenhart von der »Internationalen Handels- und Creditbank«. Er saß auf dem Stuhl direkt vor dem Schreibtisch des Kommissars, sah jetzt zur Seite und biß sich wie ein kleiner Junge auf die Unterlippe.

Daneben der Hauptkassierer der Bank. Ein Mann etwa im Alter von fünfzig Jahren. Auch er sah auf den Fußboden, als sei da irgend etwas nicht in Ordnung.

In einer Reihe für sich saßen drei Beleuchter der »GLOBAL-FILM«-Gesellschaft. Sie trugen noch ihre Arbeitskleidung und hatten seit der Sache auf dem Bahnhofsplatz noch nicht einmal Zeit gefunden, sich die Hände zu waschen. Ihren Chef, einen Herrn Michalsky, der bei den Aufnahmen gar nicht anwesend gewesen war, hatte Kriminalkommissar Lukkas im Polizeiwagen aus seinem Büro holen lassen.

Dieser Herr Michalsky hatte weißes Haar, war ziemlich klein und trug zu seinem dunkelblauen Anzug eine sehr elegante cremefarbige Weste der neuesten Mode. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und fühlte sich eigentlich ziemlich unbeteiligt. Entweder sah er auf seine blütenweißen Gamaschen, oder er zog gerade seine silbergraue Krawatte zurecht. Weiter hatte er im Augenblick keine Sorgen.

In der Ecke unter einem bunten Bild von der Hafeneinfahrt standen der Offizier des Überfallkommandos, zwei Polizisten der Absperrung und ein Straßenbahnschaffner, der den ganzen Vorgang von A bis Z mit angesehen hatte.

An der Tür lehnte noch Kriminalassistent Kühnast.

»Also — Sie bleiben dabei«, sagte jetzt Kriminalkommissar Lukkas und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, »daß sie ganz einfach auf den Trick der Bande hereingefallen sind. Ohne sich irgend etwas zu überlegen, ohne Rückfragen zu stellen, überhaupt ohne alles —?«

»Die ›GLOBAL-FILM‹ war mir dem Namen nach bekannt«, setzte sich Direktor Degenhart zur Wehr, »und es ist ja nichts Ungewöhnliches mehr, daß man vor irgendwelchen Gebäuden Filmaufnahmen macht. Erst in der vergangenen Woche las ich in der Zeitung, daß sogar vor dem Rathaus gedreht worden war.«

»Aber ausgerechnet einen Überfall. Hätte Sie das nicht zumindest ein wenig mißtrauisch machen müssen?« fragte Kriminalkommissar Lukkas.

»Finden Sie das gerade vor einem Bankgebäude so ungewöhnlich?«

Direktor Degenhart wagte es endlich einmal wieder, den Kopf zu heben. »So ziemlich in jedem zweiten Kriminalfilm wird eine Bank ausgeraubt.«

»Wenn ich schon einmal ins Kino gehe, sehe ich mir keine Gangsterfilme an«, sagte Kriminalkommissar Lukkas und sah vor sich auf den Schreibtisch. Da saßen »Peter und Paul« hinter ihrer Glasscheibe und guckten ihn mit großen Augen an. Mit großen runden Froschaugen. »Peter und Paul« waren nämlich zwei Laubfrösche.

»Und was die ›GLOBAL-FILM‹ betrifft«, sagte jetzt Herr Michalsky, »so ist es durchaus üblich, daß sich fremde Produzenten bei uns Aufnahmegeräte ausleihen. Die ›GLOBAL-FILM‹ stellt dann selbstverständlich auch ihr Personal zur Verfügung. Im übrigen interessieren wir uns lediglich für die Zahlungsfähigkeit unserer Kunden. In diesem Falle erübrigte sich jede Rückfrage, da wir bereits bei Auftragserteilung unser Geld bekommen hatten.«

»Und was man mit Ihren Geräten aufnimmt, ist Ihnen gleichgültig?« fragte Kriminalkommissar Lukkas.

»Völlig.« Herr Michalsky zog mal wieder an seiner silbergrauen Krawatte. »Sie müssen sich vorstellen, daß wir etwa wie eine Autovermietung arbeiten. Eine solche Firma würden Sie ja wohl auch nicht zur Verantwortung ziehen, wenn einer ihrer Wagen, anstatt ins Grüne zu fahren, von einem Kunden — sagen wir — zum Transport einer Zeitzünderbombe mißbraucht würde. So etwas ist unerfreulich, selbstverständlich, aber leider nicht zu kontrollieren — wozu wir ja schließlich eine so glänzend funktionierende Kriminalpolizei besitzen.«

Herr Michalsky verneigte sich ein ganz klein wenig und lächelte sehr höflich über den Schreibtisch hinüber.

In diesem Augenblick klopfte es wieder einmal von draußen gegen die Tür.

»Was soll ich sagen, Herr Kommissar?« fragte Herr Kühnast etwas hilflos und faßte nervös an seine randlose Brille.

Kriminalkommissar Lukkas nahm einen langen Zug aus seiner Zigarre und sah noch einmal nachdenklich von einem zum anderen. Schließlich kam sein Blick wieder zu den eng beschriebenen Blättern zurück, die vor ihm lagen, und blieb ganz am Ende auf dem runden Glas mit den Laubfröschen stehen. »Peter und Paul« saßen ganz oben auf der höchsten Stufe ihrer kleinen Holzleiter.

»Es wird schönes Wetter geben«, bemerkte der Direktor der »Internationalen Handels- und Creditbank«. Dabei sah er wie aus großen bittenden Hundeaugen auf den Beamten hinter seinem Schreibtisch.

»Vielleicht später«, sagte Kriminalkommissar Lukkas und gab dabei seinem Assistenten ein Zeichen. »Aber zuvor, fürchte ich, müssen Sie sich wohl noch auf ein ziemliches Gewitter gefaßt machen.«

In diesem Augenblick blitzte es auch schon.

Von der Tür her.

Sämtliche Zeitungsleute standen plötzlich im Zimmer, und die Fotoreporter schossen um sich, was das Zeug hielt, ein Blitzlicht nach dem anderen.

Herr Michalsky war der einzige, der den Ansturm lächelnd über sich ergehen ließ.

Eine solche Reklame für die »GLOBAL-FILM« war unbezahlbar. Die Konkurrenz würde auf die Bäume klettern vor Neid.

Vater Winkelmann verteilt Schweinskoteletts und meint, am Sonntag gehe es um die Wurst

Zwei Abende in der Woche waren die Jungen bei Kuhlenkamp.

Vor Jahr und Tag hatte man in dem niedrigen Gebäude Warburgstraße 12, Hinterhaus, noch Hustenbonbons fabriziert. Aber dann hatte der Hustenbonbonfabrikant Pleite gemacht, und seine Räume hatten leergestanden, über ein halbes Jahr lang, bis Paul Kuhlenkamp eingezogen war und mit ihm gleich ein Dutzend Handwerker, die sich über die Wände, Fußböden, Fenster und Türen hergemacht hatten.

In der Mitte des größten Raumes, in dem bisher die Hustenbonbonmasse gekocht und dann ausgewalzt worden war, wurde jetzt ein Boxring auf gebaut, und rund um ihn herum die Sandsäcke, Sprossenwände, Ruderapparate, Maisbirnen und Balkonbälle.

Die drei Zimmer links neben dem Eingang bekamen kleine Schilder mit der Aufschrift »Privat« an ihre Türen, und die gegenüberliegenden Räume wurden zum Aus- und Anziehen oder für Duschen eingerichtet. Das alles kostete natürlich eine Menge Geld, und mit dem, was Paul Kuhlenkamp auf der Sparkasse liegen hatte, wären vielleicht gerade die fünf Sandsäcke zu bezahlen gewesen, die jetzt an ihren Stricken nagelneu von der Decke hingen.

Gott sei Dank gab es da noch Herrn Winkelmann, dem die »Großschlächterei Winkelmann« gehörte samt ihren sieben Filialen in der Stadt.

Herr Winkelmann sammelte keine Briefmarken, ging nicht jeden zweiten Abend zum Kegeln und spielte auch nicht Skat.

Seine Liebhaberei war das Boxen. Und da es seine einzige Liebhaberei war, sprang er jeden Tag von neuem mit einem Kopfsprung in sie hinein.

»Ist gemacht. Ich finanziere Ihnen Ihre Sportschule«, hatte Herr Winkelmann gesagt, als Peter Kuhlenkamp ganz zu Anfang zu ihm gekommen war. »Allerdings nur unter der Bedingung, daß die ganze Soße, einschließlich Ihnen, Herr Kuhlenkamp, jeden Abend ab sieben Uhr meinen Astorianern zur Verfügung steht!« Herr Winkelmann war nämlich beim Boxverein »Astoria« erster Vorsitzender.

Tagsüber quälten sich dicke Fabrikdirektoren und Rechtsanwälte an den Sprossenwänden. Sie kamen mit ihren breiten Wagen in den Hinterhof gefahren und nahmen ihre Liegestütze und Rumpfbeugen genauso wichtig wie irgendwelche Konferenzen und Vorstandssitzungen.

Die Abende gehörten, wie vereinbart, den Astoria-Leuten, die allerdings in der Mehrzahl mit der Straßenbahn oder zu Fuß zur Warburgstraße kamen, höchstens auf Fahrrädern. Montags und donnerstags war die Jugendmannschaft an der Reihe.

Diese Jugendmannschaft von »Astoria« bestand fast nur aus Schuhputzerjungen. Und wer von ihnen nicht »aktiv« war, kam wenigstens als Zuschauer mit, auch heute wieder. Es war Montagabend.

Im Umkleideraum ging es drunter und drüber. Kein Wunder, wenn man sich vorstellt, daß sich siebenundzwanzig Jungen so ziemlich gleichzeitig die Schuhe ausziehen und Kleiderhaken für ihre Hemden, Hosen und Pullover suchen. In einem Raum, der nur für fünfzehn Menschen eingerichtet ist.

»Eigentlich ist das Ganze ein Witz«, sagte gerade ein Rothaariger und stieg dabei in seine Sporthose.

Natürlich war von dem Banküberfall auf dem Bahnhofsplatz die Rede. »Über hunderttausend Mark!« Ein kleiner Junge, der vorne rechts eine Zahnlücke hatte, saß auf einmal ganz still da und sah mit großen Augen zu einer der Glühlampen hinauf, die an der Decke hing.

»Wenn ich mir das vorstelle, so wie wir unser Geld verdienen, hundertvierzigtausend Mark in lauter Groschen—!«

»Das wäre ein Möbelwagen voll Geld, womöglich noch mit Anhänger«, sagte der Sheriff. Er zog sich gerade sein ärmelloses Astoria-Trikot über den Kopf.

»Die Herren werden erwartet!« rief jetzt eine helle Stimme.

Diese Stimme gehörte Fanny Kuhlenkamp. Sie war etwa vierzehn Jahre alt und hatte eine Menge heller Locken.

»Wir kommen, Admiral!« riefen die Jungen.

Fannys Freundinnen hatten nämlich so etwas wie einen Marine-Tick, und die ganze Schulklasse war aufgeteilt wie eine Schiffsmannschaft. Vom »Smutje« angefangen hatte jedes Mädel seinen Rang. Daß Fanny Kuhlenkamp der »Admiral« des Ganzen war, hatte der Sheriff in Erfahrung gebracht. Er ging gelegentlich mit einer von Fannys Freundinnen Himbeereis essen, in der Eisdiele am Gänsemarkt.

Vater Kuhlenkamp wartete bereits im Trainingsraum.

»Zeit!« das war das Kommando für die erste Trainingsrunde. Die Jungen hatten sich im ganzen Raum verteilt und begannen mit Seilspringen.

Man hörte jetzt nur noch das Geräusch der Seile und den Atem der Jungen, dazu allerdings noch das Ticken der Zeituhr. Jedesmal, wenn nach drei Minuten eine Runde zu Ende war, klingelte sie. Dann gab es eine Minute Pause.

Nach der Seilspringerei kamen die Geräte an die Reihe. Jeweils eine Runde lang ging es an die Sprossenwand, an den Ruderapparat oder auf das in den Boden zementierte Fahrrad.

Vater Kuhlenkamp war früher einmal Amateurmeister im Mittelgewicht gewesen und nahm das Training verteufelt ernst. Er hatte seine Augen auch in der hintersten Ecke. Allerdings, die Jungen nahmen diese zwei Abende in der Woche genauso ernst. Sonst hätten sie ja gleich zu Hause bleiben oder ins Kino gehen können.

»Handschuhe anziehen!« kam jetzt das Kommando.

Peter stand wartend am Sandsack und der Sheriff vor einer Maisbirne.

»Zeit!«

Links, links — rechts.

Links, links — rechts.

Peter schlug hintereinander linke und rechte Haken.

Endlich kam der Sandsack mit seinen zwei Zentnern in Bewegung.

»Zeit!«

»Aber Sheriff«, piepste der Admiral, »du pustest ja schon wie der ›Seifenfritze‹!«

Der »Seifenfritze« war allgemein bekannt. Er kam jeden Montagvormittag, war der Besitzer der »Bella-Gesichtsseifen«-Fabrik in Lockstedt und im übrigen so dick, daß er sich hätte im Zirkus zeigen können.

Der Sheriff wischte sich nur mit dem ein wenig zu großen Daumen seines Lederhandschuhs so unter der Nase vorbei.

»Man wird eben älter«, piepste die helle Stimme des Admirals noch. Dann verschwand das Mädel hinter der Tür mit der Aufschrift »Privat«. Von dort hatte Frau Kuhlenkamp gerade nach ihr gerufen.

Keiner der Jungen hatte bisher Frau Kuhlenkamp zu Gesicht bekommen. Sie mußte sehr krank sein und lag immer zu Bett. Man hörte sie nur, wenn sie einmal etwas durch die Zimmertür rief. Aber das kam sehr selten vor.

»Zeit!«

Noch vier Runden, eine nach der anderen. Dann war der erste Teil des Trainings vorbei.

Die Jungen legten sich ihre Handtücher über die Schultern und zogen Pullover oder Bademäntel an, was sie eben hatten.

In diesem Augenblick kam Fleischermeister Winkelmann.

Herr Winkelmann war groß und breit wie ein Kleiderschrank. Er hatte seitlich an den Schläfen und in seinem Bart schon ein paar weiße Haare.

»Ring frei!« sagte Herr Winkelmann mit seiner lauten Stimme, lachte und schlug schallend seine Hände zusammen. Dabei gab es einen kräftigen Knall, denn jede Hand von Herrn Winkelmann war so groß wie ein zweipfündiges Kalbsschnitzel. »Wie geht’s, wie steht’s?«

»Guten Abend, Herr Winkelmann«, sagten die Jungen.

»Guten Abend«, antwortete Herr Winkelmann und gab den Jungen nacheinander seine Hand, zum Schluß auch Vater Kuhlenkamp.

»Schon im Ring?«

»Wir fangen gerade an damit«, antwortete Vater Kuhlenkamp.

»Also los!« sagte Herr Winkelmann und setzte sich mitten unter die Jungen. Die Bank quietschte etwas.

Zuerst boxte ein Lehrling von Telefunken gegen den kleinen Horst Buschke, der am U-Bahneingang Mönckebergstraße Schuhe putzte.

»Zeit!« sagte Vater Kuhlenkamp wieder einmal und kletterte zu den zwei Jungen als Schiedsrichter in den Ring.

Kampf für Kampf ging es jetzt durch alle Gewichtsklassen. So kam es, daß die Jungen, die sich im Ring gegenüberstanden, immer schwerer und größer wurden. Im Mittelgewicht holte sich der Sheriff den Sieg. Allerdings erst in einer wilden dritten Runde. Bis dahin war sein Gegner ziemlich gleichwertig gewesen.

Auch Peter Pfannroth hatte es nicht leicht.

Bis zum vergangenen Jahr war Peter noch in der Gewichtsklasse des Sheriffs angetreten. Aber inzwischen war er größer geworden und natürlich auch schwerer. Aber noch nicht schwer genug. Er lag mit seinem Gewicht jetzt sozusagen zwischendrin. Das hieß, daß er im Halbschwergewicht boxen mußte. Und zwar mit dem Nachteil, daß er meist Gegner hatte, die mehr an der oberen Grenze seiner neuen Gewichtsklasse lagen und ihm deshalb körperlich mit einigen Kilo voraus waren. Aber Peter war sehr gewandt. Dazu kam, daß er sehr hart schlagen konnte, vor allem mit seiner Rechten. Und mit dieser Rechten schaffte er es dann auch.

Peters Gegner, ein stämmiger, etwas untersetzter Junge mit sehr kurzen, roten Haaren, lief ihm mit seiner Kinnspitze direkt in einen Aufwärtshaken. Das war natürlich Pech.

Als Vater Kuhlenkamp bereits bis zum »Aus« gezählt hatte, sah der Junge immer noch verwundert um sich. Peter half ihm wieder auf die Beine, und erst jetzt wurde dem Rothaarigen klar, was in den letzten zwanzig Sekunden passiert war.

Er grinste und legte Peter seine rechte Hand mit dem Boxhandschuh auf die Schulter.

Der letzte Kampf im Schwergewicht war ziemlich einseitig. Ein langer, breitgewachsener Junge, der im Gegensatz zu seiner Größe noch ein richtiges Kindergesicht hatte, war in der »Astoria«-Jugendmannschaft als einziger für die höchste Gewichtsklasse schwer genug. Damit er innerhalb des Vereins überhaupt einen Trainingspartner hatte, mußte sich jetzt Vater Kuhlenkamp höchstpersönlich die Boxhandschuhe anziehen.

Aber das »Kindergesicht« hatte offenbar vor dem Älteren überhaupt keinen Respekt.

Das ging gut, bis Vater Kuhlenkamp in der letzten Runde Ernst machte. Jetzt war das »Kindergesicht« völlig ratlos. Der Junge kam überhaupt nicht mehr an seinen Gegner heran. Vater Kuhlenkamp traf ihn, wie er es wollte. Allerdings deutete er seine Schläge nur an, sonst wäre das »Kindergesicht« wohl kaum stehend über die Runde gekommen.

»Gong!« rief endlich Herr Winkelmann, der für diesen Kampf die Rolle des Schiedsrichters und die Stoppuhr übernommen hatte.

Vater Kuhlenkamp stupste dem »Kindergesicht« zum Abschluß noch einmal lachend seine rechte Faust vor die Nase. Da nahm der Junge diese rechte Faust, grinste ebenfalls und hob sie steil in die Luft. Und jetzt tobten und klatschten alle Jungen wie bei einem richtigen Boxkampf, wenn der Sieger verkündet wird.

»Ruhe!« rief Herr Winkelmann dazwischen. »Schon gut. Aber denkt doch an Frau Kuhlenkamp!«

Da war es sofort wieder mucksmäuschenstill.

»Stört mich aber gar nicht. Ich höre es sogar sehr gern, wenn die Jungen vergnügt sind«, klang es aus der Tür mit dem Schild »Privat« ziemlich laut und deutlich, denn der Admiral hatte diese Tür gerade aufgemacht.

Herr Winkelmann spendierte nämlich nach jedem Training ein Glas echten Fruchtsaft von ausgepreßten Orangen. Für die Aktiven wie für die Zuschauer.

Die Herstellung und das Servieren des Fruchtsaftes war Sache des Admirals. Und jetzt war es wieder einmal so weit. Das Mädel kam gerade mit den ersten Gläsern aus der Küche. Das wiederholte sich noch zweimal. Ganz einfach, weil das Kuhlenkampsche Tablett für die rund fünfzig Gläser zu klein war.

»Prost!« sagte Herr Winkelmann, als alle ihren Orangensaft bekommen hatten.

»Prost!« sagten auch die Jungen und tranken sich zu wie eine Stammtischrunde.

»Am Sonntag geht’s um die Wurst«, meinte Herr Winkelmann, als er sein Glas ausgetrunken hatte.

»Aber ich glaube nicht, daß wir Angst haben müssen«, sagte Vater Kuhlenkamp darauf.

»Bisher ging alles wie nach dem Fahrplan«, meinte Herr Winkelmann jetzt und war ziemlich ernst dabei. »Alle anderen Vereine sind ausgeschieden bis auf ›Rot-Weiß‹ und ›Viktoria 93‹. Und ›Rot-Weiß‹ hat sich im letzten Jahr die Meisterschaft geholt, wie ihr wißt. So eine Meisterschaft will man behalten, wenn’s irgend geht.« Herr Winkelmann zwirbelte an seinen Schnurrbartspitzen. »Wenn wir aber gegen die Rot-Weißen gewinnen, dann haben wir die Meisterschaft so gut wie in der Tasche. Der letzte Kampf gegen die Viktorianer ist dann nur noch ein Spaziergang. Und deshalb geht es am Sonntag, wie gesagt, um die Wurst. Im Hinblick darauf habe ich —«, Herr Winkelmann zeigte auf einen großen Henkelkorb, der neben der Tür stand, »— für jeden von euch ein Schweinskotelett mitgebracht, so groß wie eine Schallplatte. Am Donnerstag gibt’s das gleiche nochmal. Was der olle Winkel mann für euch und den Sonntag tun kann, das will er gerne tun.«

Die Jungen waren ein wenig verlegen und wußten nicht recht, was sie sagen sollten.

»Schönen Dank, Herr Winkelmann«, ließ sich als erster der Sheriff hören.

»Hoch Herr Winkelmann!« rief jetzt der kleine schwarzhaarige Telefunken-Lehrling, und alle Jungen wollten schon mitrufen. Aber da winkte Herr Winkelmann ab, so wie ein Kapellmeister abwinkt, wenn ihm bei seinem Orchester irgend etwas nicht gefällt. »Quatsch Winkelmann — wenn schon, dann Hoch Asto-ria!« sagte der Fleischermeister.

»Hoch Astoria!« brüllten jetzt also alle zusammen.

»Hepp! Hepp! Hepp!«

Herr Winkelmann brüllte laut und dröhnend mit. Aber hinterher sagte er gleich in die Richtung der Tür mit dem Schild »Privat«: »Entschuldigung, Frau Kuhlenkamp!«

Dann ging’s unter die Duschen. Dort war es für die siebenundzwanzig Jungen natürlich etwas eng.

»Ein netter Kerl, unser Winkelmann«, sagte der Sheriff. Die Seife floß an ihm herunter wie Schlagsahne. »— und es wäre eine Affenschande, wenn wir ihn am Sonntag enttäuschen würden«, ergänzte Peter. Er blieb mit dem Sheriff jetzt nur noch allein unter der Dusche. Das Wasser wurde nämlich schon ziemlich kalt.

»An mir soll’s nicht liegen«, der Sheriff bibberte bereits.

»Denkst du, an mir?« Jetzt bibberte auch Peter. Aber er wollte es länger aushalten als der andere.

Und da der Sheriff das gleiche dachte, bibberten sie beide, bis sie nur noch allein im Duschraum waren.

»Du hast auch schon lange keine Mandelentzündung mehr gehabt«, sagte der Sheriff endlich, und seine Zähne klapperten dabei.

»Denk lieber an deine Veranlagung zum Rheumatismus«, klapperte Peter zurück.

»Gehen wir gleichzeitig?« schlug der Sheriff vor.

»Wenn du es unbedingt willst«, antwortete Peter. Aber fast im gleichen Augenblick drehte er auch schon sehr schnell das Wasser ab.

Mit einer Gänsehaut kamen die beiden in den Umkleideraum. Aber als sie sich dann mit ihren rauhen Handtüchern so richtig abgescheuert hatten, fühlten sie sich molliger als alle anderen zusammen.

Herr Winkelmann ging schon mit seinem großen Henkelkorb wie der Weihnachtsmann von einem der Jungen zum anderen und verteilte die Schweinskoteletts. Dabei spielte es auch jetzt wieder keine Rolle, ob »aktiv« oder Zuschauer. Irgendwie gehörten sie ja doch alle zusammen.

Zum Schluß blieb noch eines der Koteletts übrig.

Herr Winkelmann überlegte eine Sekunde, dann gab er es dem Sheriff.

»Schönen Dank«, sagte der Sheriff und war ein bißchen verlegen, weil er jetzt ein Kotelett mehr als die anderen bekommen hatte. Dabei wußte doch jeder, daß sie bei Sheriff daheim zu siebt waren.

Jungen mit Umgangsformen gesucht!

Die Pfannroths bewohnten mit ihrem Untermieter, einem gewissen Rochus Kalinke, zusammen hinter dem Rangierbahnhof eine Dreizimmerwohnung im vierten Stock. Herr Kalinke bezahlte für sein Zimmer gleich rechts neben der Wohnungstür fünfundzwanzig Mark im Monat, einschließlich Morgenkaffee und Küchenbenutzung. Er war Inspizient an der Städtischen Oper, ging meistens schon früh aus dem Hause und kam erst nach den Vorstellungen wieder. Alles in allem also ein idealer Untermieter, bis auf einen Punkt.

Es gibt eben keinen Sonnenschein ohne Schatten.

Leider beschäftigte sich nämlich Herr Kalinke mit Astrologie und hielt sich dazu noch für einen Hellseher. Kurzum, er hatte bisweilen ein »zweites Gesicht«. Und wenn man schon so ein »zweites Gesicht« hat, will man es natürlich auch ausprobieren.

Herr Kalinke sah sich also nach Opfern um. Zuerst und weil es am nächsten lag, innerhalb der Dreizimmerwohnung. Aber die Pfannroths lachten nur und empfahlen ihm Baldriantropfen. Das sei gegen jede Art von Magenbeschwerden noch immer das beste.

Bei der Frau des Hauswirts hatte Herr Kalinke schon mehr Glück. Und als er schließlich Frau Kornebitter vom zweiten Stock links für kommenden Mittwoch einen »schwarzen Tag« voraussagte und als dann an diesem Mittwoch tatsächlich der Kornebittersche Kanonenofen explodierte — zum Glück war niemand im Zimmer —, da sprachen sich Kalinkes hellseherische Gaben herum wie die niedrigsten Eierpreise.

Jetzt rannte man ihm die Tür ein, und die Leute meldeten sich an wie beim Zahnarzt.

Dabei hing der Beginn der Sprechstunde jeweils vom Spielplan der Städtischen Oper ab. Wenn zum Beispiel die »Meistersinger« dran waren, wurde es immer besonders spät.

Da der Kohlenkeller bis dicht an die Tür voller Kohlen war, nahm Peter sein Fahrrad über Nacht immer mit in die Wohnung. Er kletterte die vier Stockwerke hoch, ohne eine Pause einzulegen, als ob er nicht eben aus dem Kuhlenkampschen Training käme.

Als er die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, setzte er sein Fahrrad ab und sagte: »Guten Abend«.

Da saßen nämlich schon wieder zwei Frauen und ein Mann im Flur vor der Kalinkeschen Zimmertür und warteten.

Der Mann verkroch sich hinter einer Zeitung. Vielleicht schämte er sich ein wenig.

»Die Dummen sterben offenbar immer noch nicht aus«, dachte Peter und stellte sein Rad an die Seite. Er nahm seine Ledertasche vom Gepäckträger und ging kopfschüttelnd zum Ende des schmalen Korridors. Dort trat er ins Zimmer und sagte jetzt: »Guten Abend, Frau Pfannroth!«

»Gut, daß du kommst. Du kannst gleich mal das Nadelkissen nehmen«, erwiderte Mutter Pfannroth und hielt ihre rechte Backe hin. Peter gab seiner Mutter auf die hingehaltene Backe einen Kuß. Dann legte er seine Ledermappe auf den Tisch und nahm das Nadelkissen.

»Immer zu Diensten, Frau Pfannroth. Wie ist das werte Befinden?«

Aber Peters Mutter war viel zu sehr beschäftigt, um gleich wieder zu antworten. Sie war eben dabei, ein Durcheinander von blau-weiß-kariertem Stoff in Ordnung zu bringen. Dazu brauchte sie eine Unmenge Stecknadeln.

Endlich nahm das Durcheinander einigermaßen Form an, und da entdeckte Peter zwischen all den blau-weißen Karos so etwas wie Haare und einen Kopf.

»Wenn mich nicht alles trügt, habe ich die Ehre, Frau Sauerbier bei uns begrüßen zu dürfen«, sagte Peter.

Der Kopf zwischen den Karos erwiderte: »Sie haben richtig geraten, junger Mann. Guten Abend.«

Frau Sauerbier hatte an der Ecke nebenan ein sogenanntes Gemischtwarengeschäft, wie es in der Stadt nur noch wenige gab. Mutter Pfannroth gab sich mit ihr immer besonders viel Mühe. Und Frau Sauerbier erwies sich dafür in ihrem Laden beim Bedienen der Kundschaft erkenntlich, indem sie so zwischen dem Einwiegen von Kristallzucker und Leberwurst immer wieder jedem sagte, der es wissen wollte, daß sie nur bei Frau Pfannroth arbeiten ließe und daß weit und breit keine bessere Schneiderin denkbar sei.

»Wie gefällt Ihnen mein neues Muster, junger Kavalier?« fragte Frau Sauerbier und sah dabei in den Spiegel.

»Mit Ihren Konservendosen und Dauerwürsten zusammen gibt das bestimmt ein sehr buntes und lustiges Bild«, meinte Peter.

Die beiden Frauen wollten sich ausschütten vor Lachen.

»Das ist ausgezeichnet!« japste Frau Sauerbier. Sie bekam beinahe keine Luft mehr. Endlich, als sie sich wieder beruhigt hatte, waren ihre Augen ganz rot und naß.

»Das ist doch für ein Faschingskostüm«, erklärte jetzt Mutter Pfannroth. »Frau Sauerbier will als Domino auf den Wohlfahrtsball fürs Rote Kreuz.«

Kaum zehn Minuten später verabschiedete sich Frau Sauerbier.

»Also Donnerstag zweite Anprobe und Samstag früh fertig. Ich will mich nämlich vor dem Ball noch damit fotografieren lassen. Wer weiß, wie es nachher aussieht.«

Frau Sauerbier machte die Tür auf, und da sah sie im Korridor noch die Leute warten.

»Würde mich eigentlich auch mal interessieren, was mir euer Hellseher zu sagen hat. Vielleicht kann ich das am Donnerstag gleich mitmachen?«

»Der ist immer ziemlich belegt«, gab Peter zu bedenken.

»Papperlapapp«, sagte Mutter Pfannroth. »Er muß einfach. Sonst kriegt er die nächsten acht Tage keinen Morgenkaffee!«

»So was zieht immer«, sagte Frau Sauerbier und ging.

Peter wartete, bis draußen die Wohnungstür schlug, dann legte er seine rechte Hand aufs Herz und sang mit schiefem Kopf: »Domino — Domino — warum hast du so traurige Augen?«

Frau Pfannroth lachte und räumte den blau-weißen Karostoff zur Seite. »Dreißig Mark«, sagte sie dabei, »das ist schon wieder die Hälfte der Miete. Wie waren die Geschäfte bei dir?«

»Es ging«, Peter holte seine Tageseinnahme aus der Tasche und zählte nach. »Sechs Mark zwanzig. Ganze zwei Mark mehr als gestern. Wenn das keine Umsatzsteigerung ist!« Er nahm ein kleines Wachstuchheft aus der Anrichtenschublade und schrieb die sechs Mark zwanzig unter Einnahmen. Das Geld kam in den Pfannrothschen Familientresor. Das war eine knallgelbe Porzellanvase mit einem Goldrand.

»Schreib dann auch noch gleich die fünf Mark von Frau Christiansen dazu. Sie hat heute nachmittag ihre Schürzen bezahlt. Das Geld ist schon in der Vase«, rief Mutter Pfannroth aus der Küche. »Und jetzt gibt’s gleich was zu essen. Röstkartoffeln mit Blumenkohl.«

»Dazu Schweinskotelett!« rief Peter.

»Ja — und wenn du mir Flügel anmontierst, bin ich ein Flugzeug!« rief Mutter Pfannroth zurück.

»Das mit dem Schweinskotelett stimmt wirklich.« Peter kramte in seiner Ledertasche zwischen dem Turnzeug. »Da — schönen Gruß von Herrn Winkelmann.«

»Da brat mir einer ‘nen Storch!« sagte Frau Pfannroth. »Das reicht für morgen auch noch.«

»Und Donnerstag gibt’s die gleiche Portion ein zweites Mal, hat Herr Winkelmann gesagt.«

»Dann hat deine Boxerei ja auch was Gutes. Gib mir mal die Bratpfanne her. Danke. Und jetzt die Margarine.«

»Sagen Sie mal, Frau Pfannroth, Sie sehen es wohl nicht sehr gerne, daß Ihr Herr Sohn boxt?«

Es brutzelte jetzt schon in der Pfanne und fing an, rundherum nach Sonntag zu riechen.

»Wenn es dir Spaß macht, soll’s mir recht sein«, sagte Mutter Pfannroth und streute Salz über das Kotelett. »Die Sache ist nur die, daß ich es nicht gerne sehen würde, wenn mir irgend so ein Boxhandschuh, der von nichts eine Ahnung hat, durcheinander bringt, was wir zwei zusammen rund fünfzehn Jahre lang in Ordnung gehalten haben. Blaue Flecken und vielleicht auch noch ein geschwollenes Auge — schön, das ist deine Sache. Wie gesagt, wenn es dir Spaß macht. Aber wenn dir je einer mal die Nase schief schlagen sollte oder so etwas Ähnliches, dann sag ihm gleich, daß er sein Testament machen kann. Dann bekommt er’s nämlich mit mir zu tun. Ich benütze aber keine Boxhandschuhe! So, das wär’s — und das Kotelett ist jetzt fertig.«

Peter sagte nichts. Aber er gab seiner Mutter mitten in dem schönen Qualm, der von der Bratpfanne aufstieg, einen Kuß. Obgleich sie ihm ihre rechte Backe gar nicht hingehalten hatte.

Das Winkelmann-Kotelett schmeckte herrlich. Trotzdem blieb die Hälfte übrig.

»Ich hab’ übrigens eine Überraschung für dich«, meinte Mutter Pfannroth, als sie das Geschirr wieder abräumte, »sie liegt drüben auf der Nähmaschine.«

»Die hast du aber gut versteckt. Ich finde nichts.« Peter sah sich um. »Bis auf ein Stück Zeitungspapier.«

»Das ist es ja«, rief Mutter Pfannroth aus der Küche. »Unten rechts die Anzeige!«

»Paddelboot zu verkaufen? Willst du zur Marine? Warte, ich helfe dir abtrocknen.«

Aber Mutter Pfannroth kam schon wieder ins Zimmer.

»Ich wasche morgen früh ab. Sonst schaffe ich das Konfirmationskleid für Schuberts nicht mehr.« Mutter Pfannroth stand jetzt dicht neben ihrem Jungen und legte ihm den Arm um die Schulter: »Da — gleich unter der Paddelbootanzeige.«

»Pagen gesucht?«

Mutter Pfannroth nickte und las den Text vor.

»Jungen im Alter von 14 bis 15 Jahren, die Umgangsformen besitzen und in der Hotelbranche eine erstklassige Ausbildung erhalten wollen, werden als Pagen in Lehre genommen. Persönliche Bewerbung täglich von elf bis dreizehn Uhr bei der Direktion des ›ATLANTIC-Hotels‹.«

Peter sah seine Mutter an. Dann las er selbst die Anzeige, ebenfalls laut. Als er damit fertig war, saß Frau Pfannroth bereits hinter der Nähmaschine, um das Schubertsche Konfirmationskleid zusammenzuschneidern.

»Woher hast du das?« fragte Peter und hockte sich wie ein Beduine vor der Nähmaschine auf den Kokosteppich. Da Frau Pfannroth eigentlich immer hinter ihrer Nähmaschine saß, war das für Peter die übliche Art, sich mit seiner Mutter zu unterhalten.

»Zufall. Frau Sauerbier hat mir den Blumenkohl darin eingepackt. Und als ich es wegwerfen wollte, sprang es mir plötzlich in die Augen: Pagen gesucht!«

»Da ist ja von Umgangsformen die Rede«, meinte Peter bedenklich.

»Dank deiner Mutter hast du welche.«

»Hotel ATLANTIC — das ist doch der riesige Steinkasten an der Alster, nicht wahr?«

»So ziemlich das vornehmste und beste Hotel überhaupt, mit einer Unmenge Zimmer und bestimmt alle mit Balkon und dicken Teppichen.« Mutter Pfannroth saß mit gebeugtem Rücken und trat ihre Nähmaschine wie ein Fahrrad.

»Bis Weihnachten muß ich das Geld für einen Motor zusammen haben«, dachte Peter. »Ich kann das einfach nicht mehr mit ansehen.«

»Pagen in großen Hotels haben richtige Uniformen mit goldenen Knöpfen. Du würdest aussehen wie ein Eisprinz oder so was Ähnliches.«

»Ja — meinst du wirklich, daß ich —?«

Das Geräusch der Nähmaschine verstummte, und Mutter Pfannroth lehnte sich zurück. »Ich meine, daß du jetzt in das Alter kommst, in dem man einen richtigen Beruf ergreifen muß. Deine Schuhputzerei war schön und gut. Du hast uns damit auch viel geholfen. Aber das ist keine Grundlage für ein ganzes Leben.«

»Und wenn ich es aufgebe? Lehrlinge bekommen so ziemlich überall im Monat höchstens zwanzig oder fünfundzwanzig Mark. Das wird in einem Hotel nicht anders sein. Wenn es noch so groß und vornehm ist.«

»Damit habe ich gerechnet. Wir werden uns eben noch mehr einschränken, und ich muß vielleicht jeden Abend noch eine Stunde länger arbeiten als bisher. Aber das geht halt nicht anders. Wenn dein Vater noch leben würde, hätten wir dich auf irgendeine Schule schicken können. Allein schaffe ich das nicht. Aber das kriegen wir noch hin, daß du einen Beruf erlernen kannst, der dir Freude macht und in dem du es einmal zu etwas bringen kannst.«

»Aber Mutter, ich laß dich doch nicht allein das ganze Geld verdienen. Und um dir dabei zuzusehen, zieh’ ich mir dann noch eine Uniform mit lauter Goldknöpfen an. Soweit kommt das.«

»Papperlapapp«, sagte Frau Pfannroth nur und fing wieder an, ihre Nähmaschine zu treten. Ihre Augen waren plötzlich ganz feucht. »Hoffentlich merkt der Junge nichts«, dachte sie.

Peter sah vor sich hin. Eigentlich hatte seine Mutter recht. Aber so, wie sie es sich dachte, ging es eben nicht. Noch länger arbeiten müssen, als sie dies bisher schon getan hat — und das alles nur für den Herrn Sohn. Peter war es zum Heulen zumute. Er senkte schnell den Kopf. »Hoffentlich merkt sie nichts«, dachte er.

»Hättest du denn Lust, in so einem Hotel zu arbeiten?« fragte Frau Pfannroth.

»Wir haben ja schon mal darüber gesprochen«, meinte Peter.

»Buchhalter oder Büro, das willst du doch nicht, andererseits bist du nicht gerade auf den Mund gefallen. Die vielen Menschen stören dich also nicht. Im Gegenteil, das macht dir sogar Spaß, wie ich dich kenne. Nach dem Pagen kommt dann später der Oberkellner oder sogar der Portier oder Empfangschef. So ein bißchen weiß ich, wie es in diesen Hotels zugeht. Und am Ende — wenn du Glück hast — machst du selbst irgend etwas auf. Na, ist das nichts?« Frau Pfannroth kam hinter ihrer Nähmaschine hervor. »Du kannst dir mal das Konfirmationskleid überziehen, dann seh’ ich schon das Gröbste. Die junge Schubert hat fast die gleiche Figur.«

Fünf Minuten später stand Peter in dem blütenweißen Schubertschen Konfirmationskleid auf einem Stuhl mitten im Zimmer, und Frau Pfannroth steckte die Rocklänge ab. »Was denken Sie, junge Dame?« fragte sie.

»Was wohl der Sheriff oder die Astoria-Jugendmannschaft sagen würden, wenn sie mich jetzt so sehen könnten«, grinste Peter.

»Papperlapapp«, sagte Frau Pfannroth wieder einmal. »Ich meine die Sache mit dem ›ATLANTIC-Hotel‹. Dreh dich mal um, wie hinten die Rocklänge ist?«

»Es wird davon abhängen, was die Hoteldirektion von mir hält«, sagte Peter. Er zeigte seiner Mutter jetzt die Kehrseite.

»Du hättest also Lust?«

»Eigentlich sogar sehr, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Dann laß das mit der Direktion meine Sorge sein!« sagte Frau Pfannroth und pickte ihren Herrn Sohn mit einer Stecknadel dahin, wo der Rücken dicker wird und zu den Beinen »Guten Tag« sagt. »Fertig!«

Peter sprang in dem weißen Konfirmationskleid wie von einer Tarantel gestochen vom Stuhl. »Das also ist der Dank, Frau Pfannroth?«

»Morgen früh gehst du zuerst zu deinem Sheriff und sagst ihm Bescheid. Inzwischen lege ich deinen guten Anzug zurecht und ein frisches Hemd. Du machst, daß du schnell wieder zurück bist, und dann dampfen wir rechtzeitig los, so daß wir genau um elf Uhr im ›ATLANTIC‹ sind.«

Mutter Pfannroth half ihrem Jungen, das Kleid mit all den vielen Stecknadeln wieder loszuwerden.

»So — und jetzt ins Bett, junger Mann, damit du morgen gut ausgeschlafen bist. Das wird vielleicht ein wichtiger Tag für uns zwei beide.« Mutter Pfannroth hielt mal wieder ihre rechte Backe hin.

»Gute Nacht, Mutter, und wenn du in einer Stunde spätestens nicht auch schlafen gehst, knipse ich dir einfach das Licht aus.«

»Papperlapapp — und schlaf gut«, sagte Mutter Pfannroth. Natürlich surrte die Nähmaschine noch, als Peter längst im Bett lag. Nach dem Tag am Bahnhofseingang und dem Kuhlenkampschen Training war er eigentlich ziemlich müde. Trotzdem konnte er nicht einschlafen. Immer wenn einer der Hochbahnzüge unten am Haus vorbeifuhr, jagten helle Lichtstreifen über die Decke seines Schlafzimmers. Wenn er doch nur älter wäre und schon Geld verdienen könnte! Es müßte ja nicht gleich eine ganze Million sein. Nur so viel, daß es für seine Mutter zu einem Häuschen reichte und einem kleinen Garten mit Blumenbeeten und einer Ecke für Brechbohnen. Sie schwärmte doch so für selbstgezogenes Gemüse, vor allem aber von einer ganz bestimmten Sorte von Brechbohnen.

Richtig, jetzt hatte er ganz vergessen, ihr die Geschichte von dem Bankraub zu erzählen.

Peter überlegte schon, ob er noch einmal aufstehen sollte. Aber dann dachte er, daß die »Internationale Handels- und Creditbank« für die Pfannroths eigentlich gar nicht so wichtig sei und daß es mit dem Erzählen zumindest noch bis morgen Zeit habe.

Da lag die Sache mit der Zeitungsanzeige anders, die ging die Pfannroths ganz allein an.

Oberkellner — Portier — Empfangschef — Direktor — nicht auszudenken!

Was verdiente so ein Oberkellner wohl? Oder gar so ein Empfangschef? Bestimmt soviel wie Herr Schimmelpfeng. Und Herr Schimmelpfeng hatte sich vergangene Woche einen Volkswagen gekauft. Allerdings das Modell vom letzten Jahr.

Peter würde sich natürlich kein Auto kaufen, höchstens einen Motor. Richtig, einen Motor brauchte er, und zwar einen Motor für eine Nähmaschine, spätestens bis zu Weihnachten. Peter war jetzt schon beinahe am Einschlafen. Nebenan surrte und surrte es noch.

Da klopfte es, und die Wohnzimmertür ging.

Peter wachte wieder auf.

»Wenn Sie gestatten, daß ich mir nur noch etwas Wasser hole?« Das war die Stimme von Herrn Kalinke.

Kurz darauf ging in der Küche die Wasserleitung.

»Übrigens, Freitagabend will Frau Sauerbier zu Ihnen kommen«, hörte Peter jetzt seine Mutter sagen.

»Eigentlich bin ich ja völlig ausverkauft. Aber wenn ich Ihnen damit gefällig sein kann — natürlich gerne. Wir haben am Freitag ›Tosca‹, da geht es sogar schon etwas früher.«

»Danke schön und gute Nacht, Herr Kalinke.«

»Noch eine Frage, Frau Pfannroth. Ich will übers Wochenende ins Grüne. Glauben Sie, daß wir schönes Wetter haben werden?«

»Ich denke, Sie sind Hellseher«, hörte Peter seine Mutter antworten. Dann surrte die Maschine wieder, und eine Tür wurde auf- und zugemacht.

Peter biß in seine Bettdecke vor Vergnügen. Er war jetzt wieder hellwach, aber nicht lange.

Als der nächste Hochbahnzug unten am Haus vorbeidonnerte, schlief er schon, und jetzt endgültig.

Die Polizei muß ziemlich dicke Pillen schlucken

Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn in dieser Nacht irgendwo in der Welt etwas Besonderes passiert wäre, etwa eine Geburt von Fünflingen, die Erstbesteigung des Mount Everest oder die Reizung des Blinddarms eines Außenministers. Aber nichts von alldem.

Diese Nacht aalte sich förmlich in ihrer Langeweile. Es war wie verhext. Nicht einmal eine Regierung wurde gestürzt. Es schien so, als hätten sich sämtliche Revolutionäre der Welt untereinander verabredet, ausgerechnet in dieser Nacht zusammen mit ihren Sprengbomben auch einmal so richtig auszuschlafen.

Kein Wunder also, daß die Morgenzeitungen den gestrigen Bankraub in ihre Schlagzeilen nahmen und ihre ersten Spalten mit ihm füllten.

Sie preßten ihn aus wie eine Zitrone: »Banküberfall am hellichten Tag!«

»Filmgangster erbeuten mehrere Hunderttausend!«

»Der frechste Bankraub seit Jahren!«

Zwischen den ellenlangen Artikeln waren immer wieder Fotos abgedruckt, die vor allem den Direktor der »Internationalen Handels- und Creditbank« zeigten und den Chef der »GLOBAL-Filmgesellschaft«. Aber auch Aufnahmen vom Tatort wurden veröffentlicht, und sofern Kriminalkommissar Lukkas auf ihnen abgebildet war, wies man im Text und durch einen eingezeichneten weißen Pfeil auf ihn besonders hin.

Leider machten sich die Zeitungsleute in ihren Berichten über den ganzen Vorfall ziemlich lustig. Die eigentliche Tat der Gangster wurde natürlich verurteilt. Aber dann bestätigte die Presse den Verbrechern doch, daß sie an bodenloser Frechheit alles bisher Dagewesene haushoch überboten hätten. Das müsse man immerhin anerkennen. Die Polizei bekam ziemlich dicke Pillen zu schlucken.

»Wo waren denn die vielgepriesenen Hüter unserer Ordnung?« fragte die »Morgenpost« und schrieb gleich die Antwort: »Entgegenkommend, wie sie nun einmal sind, sorgten sie durch peinliche Absperrung dafür, daß der Überfall ja nicht gestört wurde. Ein dreifaches Hoch! Hoch! Hoch!«

»— und unsere liebe Polizei stand am Tatort und guckte interessiert zu. Weiter nichts!« spottete das »8-Uhr-Blatt«.

Die »Internationale Handels- und Creditbank« und ihr Direktor standen natürlich im Mittelpunkt aller Angriffe.

Das »Echo« schoß dabei den Vogel ab. Es brachte ein zweispaltiges Brustbild des freundlich lächelnden Degenhart und schrieb ganz einfach nur darunter: »Bitte, meine Herren, bedienen Sie sich! Der Geldschrank steht gleich links in der Ecke.«

In den überfüllten U-Bahnen und Omnibussen, in denen die Angestellten und Arbeiter der Stadt zu ihren Büros und Fabriken fuhren, war selten so viel gelacht worden wie an diesem Morgen. Man tauschte die Zeitungen untereinander aus wie Briefmarken, las sich besonders lustige Stellen gegenseitig vor und zeigte sich die dazugehörigen abgedruckten Fotos.

Eine Menge Buchhalter, Sekretärinnen und Hafenarbeiter fuhren eine oder zwei Stationen zu weit, nur weil sie vor lauter Lachen nicht rechtzeitig ans Aussteigen gedacht hatten.

»Das ist enorm!« Auch der Sheriff war richtig aufgeregt und trampelte, als ob er kalte Füße hätte. Aber er hatte keine kalten Füße. Er war nur maßlos vergnügt und aufgeregt.

Er hatte sich nebenan vom Zeitungsstand die gesamte Morgenpresse ausgeliehen und saß jetzt mit all den Zeitungen auf der Treppe zwischen den zwei hohen Steinsäulen am Eingang der Bahnhofshalle. Seine Bürsten und Schuhcremeschachteln hatte er bereits ausgepackt. Aber er brauchte sie noch nicht. Vorerst dachte noch niemand ans Schuheputzen. Wer jetzt unterwegs war, wollte nur möglichst schnell in sein Finanzamt, in sein Warenhaus oder in sein Büro.

Jetzt quietschte eine Rücktrittbremse. Dicht vor den vier Steintreppen sprang ein Radfahrer ab. Dieser Radfahrer war natürlich Peter Pfannroth und sagte: »Guten Morgen, Sheriff.«

»Fünf Minuten zu spät«, erwiderte der Sheriff nur und schüttelte bedenklich den Kopf. Aber dann grinste er gleich wieder und zeigte auf all die Zeitungen, die um ihn herum lagen. »Dieser Bankdirektor kann einem direkt leid tun, die Polizei übrigens auch.« Der Sheriff schlug gerade das »8-Uhr-Blatt« auf. »Da — hör dir das mal an!«

»Wir müssen ernsthaft miteinander reden«, unterbrach ihn Peter.

»Ich denke, wir tun nie etwas anderes«, brummte der Sheriff und faltete sein »8 -Uhr-Blatt« wieder zusammen.

»Bitte — ich bin ganz Ohr!« Emil Schlotterbeck stützte sein Kinn auf die Fäuste, sah gespannt zu Peter und dann in die Bahnhofshalle.

»Die Sache ist nämlich die«, begann Peter und erzählte jetzt der Reihe nach die ganze Geschichte mit der »ATLANTIC«-Zeitungsanzeige, was seine Mutter gesagt hatte, was er gesagt hatte, und was sie sich beide darauf geantwortet hatten.

Auch was er noch vor dem Einschlafen vor sich hingeträumt hatte, erzählte er, denn schließlich war der Sheriff sein Kompagnon und so ziemlich sein bester Freund.

Drüben in der Halle ging gerade Herr Schimmelpfeng noch mit Hut und Mantel auf die Tür seines Blumenladens zu. Seine Verkäuferin wartete bereits zusammen mit dem Lehrmädchen auf ihn.

»So, in der Hotelbranche und ausgerechnet im ›ATLANTIC‹ — nicht schlecht, Herr Specht«, überlegte der Sheriff laut.

»Du glaubst also auch, daß ich’s versuchen soll?«

»Auf jeden Fall!« sagte der Sheriff, ohne zu überlegen.

»Dann muß ich Sie heute um Urlaub bitten, mein Herr«, Peter setzte sich bereits wieder auf sein Fahrrad.

»Hau schon ab«, meinte der Sheriff. »Und wenn die Direktion dort irgendeine Empfehlung verlangt, kannst du ihr ja meine Telefonnummer geben —«

»Mistkäfer!« rief Peter noch, und dann verschwand er auch schon zwischen all den Autos und Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz. Der Sheriff sah eine Weile hinter ihm her. Dann nahm er wieder sein »8-Uhr-Blatt« und wollte weiterlesen. Aber irgendwie ging das nicht mehr. Er sah also über den Zeitungsrand hinweg in die Halle hinüber.

Drüben war Herr Schimmelpfeng beim Dekorieren. Das machte er jeden Morgen persönlich. Er hing mit dem ganzen Oberkörper im Schaufenster zwischen seinen Blumen. Jetzt balancierte er gerade eine große Schale mit Maiglöckchen nach vorne.

Der Sheriff fängt mitten in der Bahnhofshalle zu träumen an

Der Sheriff saß auf seiner Kiste mit den Bürsten und Schuhcremeschachteln. Es war gut so, daß er jetzt allein war. Immer, wenn er mit einer Sache nicht gleich ins reine kam und sich die Dinge erst zurechtlegen mußte, war es am besten, allein zu sein. Daß es eines Tages mit Peter und ihm so kommen würde, das hatte der Sheriff schon immer befürchtet. Peter war schließlich ein ganzes Jahr älter. Daß er also auch früher einen richtigen Beruf ergreifen und die Schuhputzerei aufgeben würde, das hatte sich der Sheriff an seinen zehn Fingern abzählen können.

Schön, ein neuer Kompagnon würde zu finden sein. Wenn auch kein zweiter Peter Pfannroth.

Schlimmer war die andere Geschichte, die Sache mit der Zukunft und so weiter. Der Sheriff hatte sich da nämlich so einiges zusammengeträumt, Stück für Stück, mit der Zeit ein fix und fertiges ganzes Leben, eigentlich sogar gleich zwei Leben. Das eigene und das von Peter. Der Sheriff würde einmal Automechaniker werden. Das stand so fest wie das Bismarckdenkmal am Ende der Reeperbahn. Da gab es nämlich dicht bei Sheriffs Wohnung eine Automobil-Großwerkstatt, und schon bevor er zur Schule gekommen war, hatte der Sheriff dort zusammen mit den Monteuren unter allen möglichen Autos gelegen und mit großen Augen in das Durcheinander von Stangen, öligen Zahnrädern und Getrieben geguckt. Das tat er auch heute noch, in jeder freien Minute.

Kein Wunder also, daß man in dieser Reparaturwerkstatt für einen gewissen Emil Schlotterbeck eine Lehrstelle freihielt. Er hätte augenblicklich anfangen können.

Aber zuerst mußte sein jüngerer Bruder aus der Schule sein und ihn beim Schuhputzen ablösen. Die Sheriffs waren darauf angewiesen, daß wenigstens einer der Jungen noch etwas dazuverdiente.

Und da hatte sich der Sheriff nun vorgestellt und so zusammengeträumt, daß auch Peter einmal Automechaniker werden sollte. So wie sie bisher nebeneinander Schuhe geputzt hatten, sollten sie künftig nebeneinander am Schraubstock stehen oder unter den Autos liegen. Sie würden arbeiten und lernen wie die Wilden. Bis dann irgendein großes Werk auf sie aufmerksam würde. Dieses Werk hätte dann einen dicken Generaldirektor, und der würde zu ihnen sagen:

»Sie sind genau die beiden jungen Männer, die wir suchen!«

Peter und der Sheriff würden vom Fleck weg als Spezialmonteure verpflichtet. Selbstverständlich für die Rennmannschaft, denn das Werk müßte sich natürlich mit seinen Wagen an allen großen Autorennen beteiligen.

Mit den Wagen des Werkes ging es jetzt vom Nürburgring nach Monte Carlo und von dort so ziemlich in alle Ecken der Welt.

Irgendwo in Mexiko würde dann der Spitzenfahrer des Werkes fünf Minuten vor dem Start aus seinem Hotel anrufen, er habe soeben die Masern bekommen und man müsse auf das Rennen leider verzichten.

»Und unser erster Preis?« würde der Generaldirektor jammern und seine dicke Zigarre wegwerfen.

»Den holen wir trotzdem!« würden der Sheriff und Peter sagen und kurzerhand einen Groschen in die Luft werfen.

»Wer die Zahl oben hat, setzt sich ans Steuer.«

»Ich kann keine Rennfahrer gebrauchen, die fünf Minuten vor dem Start die Masern bekommen«, würde der dicke Generaldirektor noch sagen. »Wenn ihr heute den Sieg holt, seid ihr für immer engagiert. So wahr ich Zitzewitz heiße!« Da würden aber schon die Motoren auf heulen.

Die Startfahne. Und dann — ein teufliches Rennen!

Die Strecke, übrigens die schwierigste weit und breit auf der ganzen Welt. Eine Kurve nach der andern, und was für Kurven!

In der siebten Runde: Reifenschaden. Verflixt und zugenäht!

Zwei Komma drei Minuten Verlust.

Der dicke Generaldirektor würde verzweifelt seinen weißen Panamahut zerknüllen.

Aber der junge Fahrer am Steuer, die Ruhe selbst, lag schon wieder auf der Strecke.

»Er fährt wie der leibhaftige Teufel!« würde der dicke Generaldirektor bemerken. Noch vier völlig verrückte Runden; aber dann als Erster über die weiße Ziellinie, mit Streckenrekord natürlich.

Abgekämpft, in Schweiß gebadet, mit ölverschmiertem Gesicht — aber eben als Sieger, würde der blutjunge Fahrer aus seinem Wagen steigen und die Schutzbrille hochschieben —

An dieser Stelle — wenn der Traum zu der Sache mit der Schutzbrille kam — schwankte der Sheriff noch.

Manchmal war es ganz deutlich sein eigenes ölverschmiertes Gesicht, das jetzt sichtbar wurde, manchmal war es genauso deutlich das Gesicht von Peter.

Um einer endgültigen Entscheidung aus dem Weg zu gehen, träumte er ein anderes Mal wieder, daß gleich zwei Wagen am Start stünden und gleich zwei Rennfahrer die Masern bekämen.

Dann erstrahlte das Schlußbild in völliger Klarheit: Peter und er selbst gingen gemeinsam als Sieger durchs Ziel. Sozusagen Rad an Rad —

»Wenn ich im Augenblick störe, komme ich zu Weihnachten wieder«, sagte in diesem Augenblick Herr Schimmelpfeng. Aber dabei setzte er sich bereits vor dem Sheriff in den Drehstuhl.

»Guten Morgen, Herr Schimmelpfeng«, grüßte der Sheriff und griff schnell nach der Schmutzbürste. »Entschuldigen Sie, aber ich war gerade mit meinen Gedanken etwas spazieren.«

»Wo ist denn die zweite Hälfte?« fragte Herr Schimmelpfeng und holte sein »8-Uhr-Blatt« aus der Tasche.

»Das ist es ja«, meinte der Sheriff. Er war gerade dabei, Herrn Schimmelpfengs Hosenenden hochzukrempeln.

Der »Regenschirm« entpuppt sich als Hoteldirektor

Die beiden Pfannroths standen nebeneinander vor dem Spiegel. Peter zog gerade zum sechsten Male seine Krawatte zurecht, und seine Mutter setzte sich den Hut auf.

»Ich kann mir nicht helfen, ich finde mich wirklich very vornehm!« meinte Peter und bewunderte sein eigenes Spiegelbild.

»Bis auf die Seife, die du noch in den Ohren hast«, lachte Frau Pfannroth.

Peter zückte sofort sein blitzsauberes Taschentuch.

Alles war heute blitzsauber an ihm. Das Hemd, der gute dunkelblaue Anzug mit den messerscharfen Falten in der langen Hose, die Schuhe, die Fingernägel — überhaupt alles. Sogar die Haare waren gekämmt und glatt gebürstet. Sie waren noch ganz naß.

»So — und jetzt ab durch die Mitte!« befahl Mutter Pfannroth, als sie ihren Hut, den sie so selten aufsetzte, in der richtigen Lage hatte. Sie nahm ihre Handtasche und die Wohnungsschlüssel.

Im Korridor machte sie allerdings noch einmal kehrt.

»Das Wichtigste hätte ich fast vergessen«, stöhnte Frau Pfannroth und ging ins Wohnzimmer zurück. Sie ging zur Anrichte und holte sich fünf Mark aus der knallgelben Porzellanvase mit dem Goldrand. Da lag auch das Zeitungsblatt mit der »ATLANTIC«-Annonce. Beides, die fünf Mark und das Zeitungsblatt, steckte sie in ihre Handtasche. Dann nahm sie noch schnell das kleine Wachstuchheft aus der Schublade und schrieb eine Fünf in die Spalte für Ausgaben.

»Es ist schon zehn Uhr vierzehn«, mahnte Peter.

»Ordnung muß sein!« stellte Mutter Pfannroth fest und legte das Wachstuchbüchlein wieder in seine Schublade zurück.

Draußen schien die Sonne.

Als die beiden Pfannroths an der Straßenbahnhaltestelle standen, zog Peter schon wieder an seiner Krawatte. Innerhalb einer Viertelstunde bereits zum siebtenmal.

»Laß das«, sagte Frau Pfannroth, »vornehme Leute behandeln ihre Krawatten nicht wie Schnürsenkel!«

»Weißt du zufällig, wer diese Dinger erfunden hat?« fragte Peter ausgesucht höflich.

»Leider nicht, wieso?«

»Ich würde dem Burschen gerne eine Sprengbombe unters Kopfkissen legen —«

»Papperlapapp«, sagte Frau Pfannroth und sah zur Markthalle hinüber. Da bog nämlich gerade die Straßenbahn um die Ecke.

Peter drängelte sich beim Einsteigen zwischen den Erwachsenen hindurch ganz nach vorne. So bekam er noch einen Sitzplatz, in Fahrtrichtung und am Fenster. Die Leute sahen ihn ziemlich böse an, und ein dicker Mann mit einer schwarzen Melone auf dem Kopf schimpfte sogar.

»Ein Benehmen wie die Axt im Walde.«

Aber da kam dann Mutter Pfannroth, war etwas außer Atem und sah sich um.

»Bitte sehr, meine Dame«, rief Peter, winkte mit der linken Hand und stand auf.

»Sehr freundlich, junger Mann«, dankte Frau Pfannroth und nahm Platz. »Es gibt doch noch Eltern, die ihre Kinder zur Höflichkeit erziehen.«

»Danke schön«, sagte Peter nur, und er sagte es ziemlich leise. Aber doch noch so laut, daß es der Dicke unter seiner schwarzen Melone hören konnte.

Am Dammtor stiegen die beiden Pfannroths aus. Arm in Arm gingen sie jetzt über die Lombardbrücke und dann an der Alster entlang.

»Sieh mal, die Möwen«, meinte Mutter Pfannroth und blinzelte in die Sonne.

Peter gab keine Antwort.

»Ein wirklich schönes Wetter«, fuhr Mutter Pfannroth nach einer Weile fort.

Aber Peter gab wieder keine Antwort.

»Lampenfieber, junger Mann?«

»Bis in den großen Zeh«, gab Peter zu und blieb stehen. Drüben auf der anderen Seite der breiten Asphaltstraße lag der riesige und schneeweiße Steinbau des »ATLANTIC«-Hotels, Stockwerk über Stockwerk, Fenster neben Fenster, und ganz oben auf dem Dach eine große Glaskugel mit der Aufschrift »ATLANTIC«. Nachts war diese Kugel erleuchtet, und dann konnte man das »ATLANTIC« bis zum Bahnhof hinüber lesen oder noch vom Jungfernstieg aus.

Die Verkehrsampel sprang gerade auf Grün. »Avanti«, sagte Mutter Pfannroth, und sie spazierten los.

Vor dem Haupteingang des Hotels ging ein ziemlich langer Kerl in einem roten Portiersmantel auf und ab. Er trug eine Schirmmütze und hatte zwei Reihen blanker Goldknöpfe auf der Vorderseite.

»Sie entschuldigen«, sagte Mutter Pfannroth.

»Zu Ihren Diensten, gnädige Frau«, antwortete der Rotmantel und lüftete seine Schirmmütze.

»Ich hätte eine Frage, Herr Portier«, meinte Mutter Pfannroth und knipste ihre Handtasche auf.

»Nur Wagenmeister, gnädige Frau. Wagenmeister Krause, wenn ich bitten darf.«

»Schönen Dank, Herr Krause«, sagte Frau Pfannroth und faltete jetzt das Zeitungsblatt mit der »ATLANTIC«-Annonce auseinander. »Wir wollten gerne zur Direktion.«

»Handelt es sich um eine Zimmerbestellung oder um irgendwelche Lieferungen? Für Hotelgäste ist hier der Haupteingang zuständig. Für Lieferanten und Vertreterbesuche, gleich rechts um die Ecke.«

»Weder — noch«, stellte Mutter Pfannroth fest. »Wir kommen hier wegen dieser Anzeige. Mein Junge möchte sich als Page bewerben, und hier steht, daß die Direktion täglich ab elf Uhr —«

»Gestatten Sie«, unterbrach jetzt der Wagenmeister Krause. »Ich muß Sie leider enttäuschen. Die neuen Pagen sind alle schon verpflichtet. Wenn sie freundlicherweise das Datum beachten wollen. Diese Zeitung ist bereits zwei Wochen alt!«

Wagenmeister Krause wies mit seinem Zeigefinger, der in einem Handschuh steckte, auf den Erscheinungstag am oberen Rand des Zeitungsblattes.

»Tatsächlich!« japste Mutter Pfannroth.

»Es tut mir sehr leid«, bedauerte der Wagenmeister, der eigentlich ein sehr freundliches Gesicht hatte mit einem breiten Schnurrbart unter der Nase.

»Diese Sauerbier! Das sieht ihr ähnlich!« ärgerte sich Mutter Pfannroth.

»Aber du kannst doch nicht verlangen, daß sie dir deinen Blumenkohl immer in die neuesten Zeitungen einpackt«, verteidigte Peter Frau Sauerbier.

»Nicht immer, aber wenigstens dieses Mal«, korrigierte sich Mutter Pfannroth.

In diesem Augenblick rollte ein breiter amerikanischer Wagen vor den Eingang. Wagenmeister Krause öffnete sofort die Tür und zog wieder einmal seine Schirmmütze. »Good morning! What can I do for you?« fragte er sehr höflich.

Die hellblonde Dame, die am Steuer saß, sprach hinter der Windschutzscheibe eine Menge englischer Worte, der Wagenmeister schob seinen Kopf zu ihr, nickte immer wieder und dann stieg die Dame aus. Sie ging über die paar Stufen zu der großen gläsernen Drehtür und verschwand.

»Alles o.k.«, rief Wagenmeister Krause noch hinter ihr her.

Dabei nahm er wieder einmal seine Schirmmütze ab und wartete, bis von der hellblonden Lady nichts mehr zu sehen war.

»Wie Sie das so machen«, wunderte sich Mutter Pfannroth. »Und womöglich können Sie außer Englisch auch noch andere Sprachen?«

Jetzt erst wandte sich der Wagenmeister wieder um und setzte seine Mütze auf. »Was man eben so braucht«, sagte er und fingerte ein ganz klein wenig stolz an seinem Schnurrbart herum. »Schließlich sind wir ein Hotel mit internationalem Publikum. Im übrigen finde ich Sie sehr sympathisch, und es tut mir leid, daß Sie mit Ihrem Jungen zu spät gekommen sind. Ihr Junge gefällt mir übrigens auch ganz gut.«

»Sie sind sicherlich verheiratet und haben Kinder?« fragte Mutter Pfannroth.

»Stimmt«, antwortete der Wagenmeister und machte die Tür der amerikanischen Limousine auf. »Entschuldigen Sie mich bitte. Aber ich muß den Wagen jetzt um die Ecke in die Garage bringen.« Er stieg ein, ließ den Motor an und rollte los. Im Vorbeifahren winkte er noch.

Die beiden Pfannroths sahen ihm nach, ohne zurückzuwinken und ohne zu lächeln, nur so.

»Dann eben mit Volldampf zurück!« sagte Peter nach einer ganzen Weile. »Wenigstens kann ich jetzt diesen Anzug und diese verflixte Krawatte gleich wieder ausziehen. Im Gleichschritt marsch, gnädige Frau!«

Aber Frau Pfannroth rührte sich nicht vom Fleck. Sie sagte nur »Papperlapapp!« und holte tief Luft. »Wenn du glaubst, wir fahren jetzt einfach wieder nach Hause und schenken der Städtischen Straßenbahn für nichts und wieder nichts auch noch das Fahrgeld für die Rückreise, dann kennst du deine Mutter schlecht. Zieh deine Krawatte gerade und auf geht’s! Dalli!«

Das klang, wie wenn ein Offizier bei irgendeinem Angriff seinen Degen zieht und hinter sich ruft: »Mir nach!«

Mutter Pfannroth dampfte wie ein Schlachtschiff in voller Fahrt auf die große gläserne Drehtür zu. Peter folgte ihr, sozusagen im Kielwasser. Als die Drehtür die beiden Pfannroths auf der anderen Seite wieder ausspuckte, sagte eine helle Stimme: »Guten Tag, meine Herrschaften!« Diese Stimme gehörte einem sehr freundlichen kleinen Jungen, der in einer zinnoberroten Uniform steckte, die mit goldenen Litzen und goldenen Knöpfen besetzt war.

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« fragte der zinnoberrote Junge jetzt. Die beiden Pfannroths waren nämlich ziemlich hilflos stehengeblieben und sahen nur staunend in die riesige Halle. Unter ihren Füßen lag ein großer und dicker Teppich. Hohe Marmorsäulen standen herum wie richtige kleine Türme, und dazwischen gab es eine Menge Schalter, breite Treppenaufgänge, die glänzende Messingtür des Fahrstuhls, Glasvitrinen mit allen möglichen Ausstellungsstücken und über dem Ganzen ziemlich hoch oben eine regelrechte Kuppel mit einem riesigen Kronleuchter aus hunderttausend kleinen Glasstücken. Im Hintergrund standen niedrige Tische und breite Klubsessel. Dort saßen verschiedene Damen und Herren, tranken Kaffee und rauchten Zigaretten oder Zigarren. Über eine der Treppen kam gerade ein ziemlich dicker Herr, der eine ganz dunkle Hautfarbe hatte und einen Turban trug. Er ging sehr langsam und las dabei in der Morgenausgabe vom »8-Uhr-Blatt«.

Die beiden Pfannroths sahen sich um wie in einem Museum, und das brachte selbst den Jungen in seiner zinnoberroten Uniform etwas in Verlegenheit. »Der Portier ist gleich hier nebenan«, sagte er jetzt.

»Danke schön«, antwortete Mutter Pfannroth. Sie hatte sich jetzt von ihrer ersten Verwunderung erholt. »Du bist hier Page, wie?«

Der Junge fiel von einem Erstaunen ins andere. »Sehr richtig, gnädige Frau.«

»Ganz nett!« stellte Mutter Pfannroth ziemlich undurchsichtig fest, und sah beziehungsvoll zu Peter.

Der Junge in seiner roten Uniform war jetzt völlig verblüfft. Zum Glück bewegte sich gerade wieder die Drehtür, und er mußte wieder einmal »Guten Tag!« sagen. Dabei sah er allerdings immer noch kopfschüttelnd den beiden Pfannroths nach, die jetzt auf die Portierloge zusegelten.

»Welche Zimmernummer, wenn ich bitten darf?« fragte der Portier. Er trug eine Brille, und sein Rock hatte die gleiche zinnoberrote Farbe wie die Uniform des Jungen an der Drehtür.

»Wir wollen nur die Direktion sprechen, wenn’s recht ist«, antwortete Mutter Pfannroth.

»Sind Sie angemeldet, wenn ich bitten darf?«

»Wir werden erwartet«, sagte Frau Pfannroth bescheiden und lächelte dem Portier mitten ins Gesicht. Der überlegte eine Sekunde und dann lächelte er plötzlich genauso freundlich zurück. »Zu Herrn Direktor Adler persönlich?«

»Wenn ich bitten darf«, sagte Frau Pfannroth.

»Page!« rief der Portier. Dabei schnalzte er mit Daumen und Zeigefinger.

Gegenüber der Portierloge saßen drei Jungen in ihren zinnoberroten Uniformen. Einer von ihnen sprang jetzt wie elektrisiert auf und kam angerannt. Der Junge war schon etwas größer und hatte etwas abstehende Ohren.

Er fragte: »Bitte?«

»Zu Herrn Direktor Adler«, sagte der Portier. Dann wandte er sich wieder an Mutter Pfannroth: »Der Page bringt Sie hin«, lächelte er jetzt.

Es ging ein Stück weit durch den Gang, über dicke, weiche Teppiche.

»Bitte links«, sagte der Junge mit den etwas abstehenden Ohren und klopfte an die Tür. An dieser Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Direktion«.

»Die Herrschaften wollen zu Herrn Direktor Adler«, meldete der Page. Bei dem Wort Direktor rutschte seine Stimme aus wie auf Glatteis. Vermutlich war er gerade im Stimmbruch. Die Pfannroths standen in einem Vorzimmer, und dort saß am Fenster hinter einer Schreibmaschine ein junges Fräulein. Dieses Fräulein stand jetzt auf und lächelte zu dem Pagen hinüber.

»Danke, Friedrich.« Daraufhin zog sich der Junge mit den abstehenden Ohren wieder zurück.

»Herr Direktor Adler ist sehr beschäftigt. Es ist mir nicht bekannt, daß er Sie erwartet.« Das Fräulein, das übrigens eine sehr buntes und lustiges Sommerkleid trug, sah auf einen Kalender und schüttelte den Kopf. »Wie war Ihr Name, wenn ich bitten darf?«

»Pfannroth — es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit.«

Auf dem kleinen Tisch neben der Schreibmaschine stand zwischen lauter Briefen und Papierblättern ein hohes Glas mit einer hellroten Limonade und einem Strohhalm. Das Fräulein nahm jetzt aus diesem Strohhalm einen Schluck und machte dabei einen ganz spitzen Mund. Das sah sehr nett aus. Vor allem, weil sie gleichzeitig mit ihren großen blauen Augen zu den beiden Pfannroths hinübersah.

»Sie würden mir einen großen Gefallen tun«, meinte Mutter Pfannroth, »und es würde bestimmt nicht länger dauern als vier oder fünf Minuten.«

In diesem Augenblick leuchtete eine rote Lampe auf, und ein leiser Summerton war zu hören, wie wenn ein Maikäfer durchs Zimmer schwirren würde.

»Das ist er«, sagte das Fräulein und stellte schnell ihr Limonadenglas wieder neben die Schreibmaschine. Sie nahm einen Bleistift und ihren Stenogrammblock.

»Ich will sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte sie noch und verschwand jetzt hinter zwei schmalen, hohen Türen. Diese Türen waren von innen dick mit Leder bepolstert.

»Wir benehmen uns wie Heiratsschwindler«, stöhnte Peter leise. »Ob das gutgeht?«

»Von Heiraten kann nicht die Rede sein, junger Mann. Und von Schwindel erst recht nicht. In dieser Zeitungsanzeige steht schwarz auf weiß, daß man sich täglich ab elf Uhr vorstellen soll. Also sind wir bestellt und angemeldet. Basta!« Mutter Pfannroth nickte energisch und setzte sich auf einen der Stühle.

»Ich bin trotzdem sehr gespannt, gnädige Frau«, stellte Peter fest und setzte sich ebenfalls.

Eine ganze Weile ereignete sich nichts mehr. Nur vom Korridor her waren Stimmen zu hören.

Da klingelte auf dem kleinen Tisch neben der Schreibmaschine das Telefon ein zweites Mal — ein drittes Mal —–

Die beiden Pfannroths sahen sich an. »Ob ich hingehe?« grinste Peter gerade, als sich eine der beiden leder-bepolsterten Türen öffnete. Die Sekretärin in ihrem bunten Sommerkleid kam wieder ins Zimmer. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich: »Vorzimmer Direktor Adler —« Dabei sah sie zu Mutter Pfannroth und machte mit ihrem Kopf eine Bewegung zur Tür, die ins Zimmer ihres Chefs führte.

Mutter Pfannroth war sich unschlüssig. Sollte das bedeuten, daß sie eintreten dürfe? Sie wollte das genau wissen, zeigte also auf sich selbst und dann auf die lederbepolsterten Türen. Dabei sah sie fragend zu der Sekretärin am Telefon. Die nickte jetzt und lächelte zustimmend.

»Danke schön«, sagte Mutter Pfannroth. Das heißt, sie hauchte es eigentlich nur. Dann ging sie auf die beiden schmalen Türen zu und klopfte an.

»Herein«, war es von drinnen zu hören, und Mutter Pfannroth trat ein. Zuvor hatte sie allerdings noch tief Luft geholt und sich nach ihrem Jungen umgeschaut.

»Sie machen sich unnötige Mühe, mein Herr«, sagte gerade die Sekretärin am Telefon. »Es ist sinnlos, diese Geschichte ausgerechnet mir zu erzählen. Ebensogut könnten Sie mit Ihrem Briefträger über die Sache reden. Hier ist einzig und allein Herr Direktor Adler zuständig, und ich verbinde Sie jetzt mit ihm.«

Das Fräulein im lustigen Sommerkleid drückte auf einen weißen Knopf an der Vorderseite des Telefons und sagte: »Die Sibelius-Werke, Herr Direktor — ich verbinde.« Jetzt drückte sie wieder auf irgendeinen anderen Knopf, horchte eine Weile, um sich zu versichern, ob das Gespräch nicht verlorengegangen sei, und legte dann den Hörer auf.

»Du heißt bestimmt Peter mit Vornamen?« fragte sie jetzt wie aus heiterem Himmel.

»Allerdings«, gab Peter zu.

»Siehst du«, lächelte das Fräulein zufrieden und holte eine angebrochene Tafel Schokolade aus der Schublade. »Vollmilch-Nuß. Willst du?«

»Ich bin so frei«, sagte Peter, stand von seinem Stuhl auf und bediente sich. »Es gibt doch bestimmt mindestens tausend verschiedene Vornamen. Wieso wissen Sie, welcher davon mir gehört?«

»Das ist so mein Sport«, erklärte die Sekretärin und knabberte an ihrer Schokolade. »Jeder Vorname paßt immer nur zu einem ganz bestimmten Typ. Natürlich richten sich danach nicht alle Menschen und heißen meistens ganz anders, als sie eigentlich heißen müßten. Sie spazieren dann mit ihren falschen Vornamen durch die Geographie wie mit Schuhen, die ihnen viel zu groß oder viel zu klein sind. Du hast Glück gehabt. Wenn jemand Peter heißt, muß er so aussehen wie du. Bei mir stimmt es leider gar nicht. Ich heiße Daniela und müßte eigentlich, so wie ich aussehe, Inge heißen. Vom Familiennamen nicht zu reden.«

»Ist es sehr unhöflich, wenn ich Sie nach Ihrem Familiennamen frage?« sagte Peter und nahm sich noch einmal ein Stück von der Milch-Nuß-Schokolade.

»Wiesengrund«, lachte das Fräulein. »Daniela Wiesengrund.«

»Finde ich aber sehr nett«, stellte Peter ehrlich fest. »Ich habe selten einen so lustigen Namen gehört. Und er paßt zu Ihnen. Er paßt auch zu dem Kleid, das sie anhaben —«

»Psst!« machte in diesem Augenblick Fräulein Wiesengrund und hielt ihren Zeigefinger vor die gespitzten Lippen.

Mutter Pfannroth hatte beim Hineingehen die lederbepolsterte Tür nicht ganz dicht hinter sich geschlossen.

Sie war nur angelehnt, und durch den schmalen Spalt hörte man von drinnen jetzt ziemlich deutlich die Stimme des Direktors. Fräulein Wiesengrund horchte auf, weil diese Stimme immer lauter und lauter geworden war.

»— wie bitte? — Ach was, das ist ja Unsinn. Tatsache bleibt, daß bei allen Ihren Nachttischen, die Sie uns geliefert haben, die Türen klemmen und teilweise überhaupt nicht zu öffnen sind. Genauso die Schubladen — Wie meinen Sie? — Herrje, ob das Holz noch zu frisch war, interessiert mich überhaupt nicht! — Nein, Sie müssen die ganze Lieferung zurücknehmen. Daran beißt keine Maus einen Faden ab. Oder erwarten Sie etwa, daß ich meinen Gästen zum Öffnen ihrer Nachttischschublade ein Brecheisen oder einen Büchsenöffner aufs Zimmer legen lasse?«

Peng! das war der Hörer, der ziemlich unsanft auf den Apparat zurückgelegt worden war.

Fräulein Wiesengrund drückte an ihrem Telefon wieder auf einen weißen Knopf und pfiff leise durch die Zähne.

»Windstärke zwölf«, stellte sie sachlich fest.

»Ist er — ich meine — ist der Herr Direktor immer so?« wagte Peter zu fragen.

»Nur, wenn es sein muß. Und in diesem Fall mußte es sein«, lächelte Fräulein Wiesengrund. Dabei sah sie jetzt Peter mit ihren großen, himmelblauen Augen voll ins Gesicht.

Peter zog an seiner Krawatte, dieses Mal aber aus reiner Verlegenheit.

»Jetzt habe ich Ihnen so ziemlich Ihre ganze Schokolade aufgegessen. Sie sind wirklich sehr freundlich zu mir!«

»Das beruhigt mich. Dann wirst du hoffentlich später nicht allzu böse auf uns sein.«

»Ich verstehe kein Wort«, sagte Peter und machte große Augen.

Fräulein Wiesengrund nahm zur Abwechslung mal wieder mit dem Strohhalm einen Schluck aus ihrem Limonadenglas. »Die Sache ist ganz einfach. Du wolltest doch bei uns als Page anfangen. Deshalb bist du doch mit deiner Mutter hier, nicht wahr?«

Peter wurde blitzartig ganz rot, wie eine Verkehrsampel, die auf Halt springt. »Sie — Sie — können mehr als nur Vornamen erraten, Fräulein Wiesengrund«, stammelte er schließlich.

»Das zu erraten war nicht schwer. In der letzten Zeit waren eine ganze Menge Väter und Mütter mit ihren Jungen in diesem Zimmer. Sie haben sich genauso benommen wie ihr beiden. Ich wußte sofort Bescheid. Aber es tut mir leid, daß du kein Glück haben wirst. Du kannst gar kein Glück haben, weil alle Stellen schon besetzt sind. Das ist jammerschade, du hättest bestimmt sehr gut hierher gepaßt, und es hätte dir auch Spaß gemacht. So — und jetzt nimm auch noch das letzte Stück Schokolade und sei, wie gesagt, nicht böse auf uns, wenn dir in ein paar Minuten deine Mutter oder der Direktor sagen muß, daß wir keinen Platz mehr frei haben.« Peter nahm das letzte Stück Schokolade eigentlich ganz in Gedanken. Er ließ es langsam auf der Zunge zergehen, kaute an den beiden Nüssen herum, die darin waren, und sah zum Fenster hinaus.

Drüben war eine riesengroße Reklame auf die Hauswand gemalt. »Persil bleibt doch Persil.« Die Farbe vom l beim zweiten Persil war allerdings schon etwas abgebröckelt.

»Sie sind wirklich sehr freundlich, Fräulein Wiesengrund«, sagte Peter nach einer ganzen Weile noch einmal. Er sah die Sekretärin jetzt an. »Natürlich hätte ich mich gefreut wie ein Schneekönig, wenn es hier geklappt hätte. Aber vielleicht ist es sogar besser so. Ich meine, wenn es nicht klappt. Ich verdiene nämlich im Augenblick für mein Alter gar nicht so schlecht, und das hilft uns zu Hause. Als Page bekommt man am Anfang bestimmt nicht viel, und da müßte Frau Pfannroth — das heißt, meine Mutter — noch mehr arbeiten als bisher schon. Dabei ist sie sowieso nicht ganz auf dem Posten, müssen Sie wissen. Man sieht es ihr nur nicht an, und sie will es auch nicht zugeben. Aber ich weiß —«

In diesem Augenblick schnappte die Klinke an den beiden lederbepolsterten Türen. Diese Türen öffneten sich allerdings noch nicht.

»— und wenn ich Sie gestört habe, bitte ich Sie recht sehr um Entschuldigung«, hörte man die Stimme von Mutter Pfannroth.

Fräulein Wiesengrund und Peter sahen sich an. Dann gingen ihre Blicke aber sofort wieder zu der Messingklinke hinüber, die immer noch heruntergedrückt war, ohne daß sich die Tür öffnete.

»Liebe Frau Pfannroth, dafür habe ich Verständnis. Ich würde an Ihrer Stelle auch alles versucht haben«, das war die Stimme des Direktors. »Aber Sie müssen auch mich verstehen. Und das tun Sie, wie ich sehe. Vielleicht, wenn Ihr Junge in einem Jahr noch nichts anderes gefunden hat, kommen Sie wieder.«

Jetzt wurde die Tür auf gemacht.

Zuerst erschien Mutter Pfannroth, mit dem Rücken voraus.

Sie verabschiedete sich gerade. Von dem Direktor war dabei lediglich die Hand zu sehen und ein Stück schwarzen Rockärmels.

»Auf Wiedersehen, Herr Direktor«, sagte Mutter Pfannroth.

»Auf Wiedersehen, Frau Pfannroth«, antwortete der Direktor.

Und jetzt erschien er ebenfalls im Rahmen der geöffneten Tür.

In diesem Augenblick wäre Peter beinahe umgekippt. Der weißhaarige Herr, der jetzt mit Mutter Pfannroth ins Zimmer trat, war der »Regenschirm«!

Peter biß sich auf die Unterlippe. Donnerwetter, das tat weh. Er träumte also nicht, und was er sah, mußte wirklich wahr sein. Eine tolle Sache! Direktor Adler und der »Regenschirm« waren also ein und dieselbe Person.

Direktor Adler war der »Regenschirm«, und umgekehrt war der »Regenschirm« Direktor Adler.

»Hallo!« Direktor Adler hatte den Jungen entdeckt und ging jetzt lachend auf ihn zu. »Kundendienst bis in die eigene Wohnung. Postkarte genügt, komme sofort. Das ist wohl das Neueste bei euch, wie?«

»Guten Tag, Herr Direktor«, sagte Peter. Seine Stimme hörte sich an, als habe er sich gerade auf einem Fußballplatz heiser gebrüllt.

Immer noch lachend legte Direktor Adler dem Jungen seine Hand auf die Schulter. »Nanu, was ist denn los mit dir?«

Peter sah etwas hilflos zu Fräulein Wiesengrund und dann zu seiner Mutter.

Auch Direktor Adler sah jetzt zu seiner Sekretärin und dann zu Frau Pfannroth. »Eigentlich ist er sonst gar nicht so schüchtern, wie es vielleicht jetzt den Eindruck macht.«

»Kennen Sie sich denn?« fragte Fräulein Wiesengrund.

»Ja — ein wenig!« sagte Frau Pfannroth.

»Und ob wir uns kennen! Das ist doch der Junge, von dem ich Ihnen immer erzähle, Fräulein Wiesengrund. Einer von den beiden Schuhputzern drüben am Bahnhofseingang.«

Direktor Adler überlegte jetzt. »Sagten Sie nicht, Frau Pfannroth, daß auch Ihr Junge bei den Schu-?« Er brach mitten im Wort ab und sah wieder zu Mutter Pfannroth, dann zu Peter und Fräulein Wiesengrund.

»Stimmt«, sagte Mutter Pfannroth nur.

»Dann ist das —?« Direktor Adler hielt fragend den Kopf etwas schief.

»Peter Pfannroth«, bestätigte Fräulein Wiesengrund und strich mit der Hand über eine Falte ihres bunten, lustigen Sommerkleids.

»Verflixt und zugenäht«, brummte Direktor Adler. Er ging nachdenklich zum Fenster und sah eine ganze Weile zu der Persil-Reklame hinüber. »Nun putzt mir der Kerl jeden Tag meine Schuhe, oft sogar zwei- oder dreimal«

»— aber er sagt kein Wort!«

»Ich wußte ja nicht —«, gab Peter zu bedenken.

»Verflixt und zugenäht«, sagte Direktor Adler noch einmal. Dabei drehte sich jetzt wieder um und sah zu seiner Sekretärin. »Was ist da zu machen, Wiesengründchen?«

»Vielleicht, daß einer von den zehn Jungen, die Sie schon eingestellt haben, plötzlich Keuchhusten bekommt?«, überlegte Fräulein Wiesengrund. »Aber eigentlich soll man so etwas nicht wünschen.«

»Herr Direktor«, faßte sich jetzt Mutter Pfannroth ein Herz, »Ihr Hotel ist so ein riesengroßer Kasten, und in dem läuft eine solche Menge Menschen durcheinander, daß es doch gar nicht auffällt, ob nun ein Page mehr oder weniger mitläuft.«

»Es bleibt ja nicht beim Pagen, Frau Pfannroth. Die Jungen sollen Jahr für Jahr weiter aufrücken und bei uns Platz finden!« Direktor Adler überlegte und ging im Zimmer auf und ab. Dabei ging er zwei-, dreimal an Peter vorbei und sah ihn an. Plötzlich blieb er stehen. »Also gut, in diesem Jahr gibt es dann statt zehn einfach elf Pagen. Ich hoffe, daß ich das verantworten kann.«

»Danke schön!« sagte Mutter Pfannroth nur. Aber sie strahlte, als ob sie selber Hotelboy geworden wäre.

»Ich finde das sehr nett«, meinte Fräulein Wiesengrund und lächelte mit ihren himmelblauen Augen zu Direktor Adler hinüber. »Es paßt richtig schön zu der Sonne, die draußen scheint.«

»Finde ich eigentlich auch«, lächelte Direktor Adler zurück und gab Peter jetzt die Hand. »Wir kennen uns ja. Ich habe drüben am Bahnhofseingang schon immer Freude an dir gehabt. Und nur weil ich denke, daß das auch in Zukunft so bleibt, kann ich diese Ausnahme mit dir machen. Auf gute Zusammenarbeit!«

Peter hatte plötzlich ganz oben in der Kehle so ein komisches Gefühl. Er mußte zweimal ohne jeden Grund schlucken, bevor er antworten konnte. »Auf gute Zusammenarbeit«, sagte er jetzt ebenfalls und erwiderte den Händedruck seines neuen Chefs.

»Also — dann hat es doch noch geklappt, Frau Pfannroth«, lächelte Direktor Adler.

»Fräulein Wiesengrund bringt Sie jetzt zu unserem Personalchef, Herrn Thomas. Dort erhält Peter seinen Anstellungsvertrag und so weiter. Der Erste ist bereits am kommenden Dienstag. Da geht’s dann gleich früh um sieben los!«

»Noch einmal schönen Dank, Herr Direktor«, sagte Frau Pfannroth. »Und ich weiß, Peter wird sich Mühe geben.«

Da klingelte wieder das Telefon.

Fräulein Wiesengrund nahm den Hörer ab und sagte nach einer Weile: »Mister Overseas. Er spricht aus Lissabon. Soll ich zum Empfang durchstellen?«

»Verbinden Sie zu mir«, sagte Direktor Adler und ging auf seine zwei lederbepolsterten Türen zu.

»One moment please«, sagte inzwischen Fräulein Wiesengrund in den Telefonhörer hinein.

»Also bis Dienstag früh«, winkte Direktor Adler fröhlich zu Peter. »Und auf Wiedersehen, Frau Pfannroth.«

Dabei war er schon beinahe in seinem Zimmer und vor dem großen Schreibtisch, der dort stand. Er nahm den Hörer vom Telefon.

»Hallo, Mister Overseas. Hier ist Direktor Adler — yes, very nice indeed. Which apartments do you like? Yes — yes — certainly — very well, Mister Overseas, o. k. — Well — next week on Thursday — yes —«

»Seine Haare sind doch mehr als weiß«, dachte Peter plötzlich. »Vorhin, als er so dicht neben mir stand, sah ich erst, daß sie ganz silbrig sind. Vor allem links und rechts an den Schläfen. Fehlte nur noch, daß er goldene Flügel auf dem Rücken hätte!« Der »Regenschirm« mit Silberhaar und Goldflügeln. Ein regelrechter Weihnachtsengel! Immerhin — für Peter war er ja auch so etwas Ähnliches.

»— yes — yes — allright —«, sagte der Weihnachtsengel jetzt gerade ein paarmal hintereinander in sein Telefon.

Aber zugleich sagte Fräulein Wiesengrund: »Gehen wir!«

»Well — Mister Overseas —«, klang es noch aus dem Direktorzimmer, und dann standen Mutter Pfannroth, Fräulein Wiesengrund und Peter auch schon auf dem Korridor.

Personalchef Thomas war ziemlich klein und trug einen genauso schwarzen Anzug wie Direktor Adler. Er mußte wohl so sechzig oder fünfundsechzig Jahre alt sein. Aber seine schmalen Äuglein waren ganz hell und sprangen lebhaft von einem zum anderen, als Fräulein Wiesengrund jetzt mit beiden Pfannroths vor ihm stand.

»Was heißt hier, elf statt zehn«, brummte er. »Für mich ist die Pagengeschichte so gut wie gestorben. Soll ich jetzt wieder von vorne anfangen?«

»Ist ja auch nicht so wichtig«, lächelte Fräulein Wiesengrund und fing plötzlich an, von Kanarienvögeln zu reden, fünf Minuten lang. Die beiden Pfannroths schauten ziemlich verwundert drein und waren erstaunt zu erfahren, wie viele Sorten von Kanarienvögeln es gab und was man diesen verschiedenen Sorten als Futter geben durfte und was nicht.

Personalchef Thomas blühte immer mehr auf. Kanarienvögel waren sein Steckenpferd. Und als er ganz und gar auf geblüht war — schwupp — machte Fräulein Wiesengrund zwei freche Bogen wie bei einer Acht auf der Eisbahn und kam von den Kanarienvögeln wieder auf Peters Anstellungsvertrag zurück.

»Sie wickeln einen alten Mann um Ihren Finger wie eine Mullbinde«, stellte Personalchef Thomas vorwurfsvoll fest. »Sie sollten sich was schämen!«

»Mullbinde, nicht ganz so weich, Herr Thomas. Entschuldigen Sie, mein Chef wartet.« Fräulein Wiesengrund zwinkerte vergnügt mit ihren himmelblauen Augen und gab den beiden Pfannroths die Hand. »Auf Wiedersehen, und ich freue mich für Sie beide!«

»Sie haben uns viel geholfen dabei«, bedankte sich Mutter Pfannroth. Aber da war Fräulein Wiesengrund schon aus dem Zimmer.

»Eine nette Person, diese Wiesengrund«, brummte Personalchef Thomas vor sich hin und holte einen Stapel Akten aus seiner Schreibtischschublade.

»Ihr Name, junger Mann?« Er war jetzt ganz freundlich, und seine hellen Äuglein schauten vergnügt auf die beiden Pfannroths.

Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis alle Personalien aufgenommen waren und Herr Thomas dann die verschiedenen Paragraphen des Lehrvertrages durchgesprochen hatte. Von der dreimonatigen Probezeit angefangen. Schließlich mußten die beiden Pfannroths unterschreiben.

»Wenn du am Dienstag anfängst, bekommst du den Durchschlag mit der Unterschrift von Direktor Adler«, erklärte Herr Thomas.

»Hier ist die Adresse der Schneiderei Hesselbein. Am besten sofort hinfahren und Herrn Hesselbein persönlich bitten, daß er dir noch bis zum Ersten deine Pagenuniform zusammenschneidert. So, das wär’s für heute!«

Ein gewisser Herr Hesselbein wartet mit einer Überraschung auf

Zehn Minuten später standen die beiden Pfannroths an der Alster und sahen abwechselnd aufs Wasser oder in die Luft zu den Möwen.

Es war wirklich ein herrlicher Vorfrühlingstag.

Überall glitzerte und flimmerte es vor lauter Sonne.

»Ich gratuliere«, sagte Mutter Pfannroth.

»Ich gratuliere auch«, kam das Echo von Peter.

»Gratulieren wir uns also beide«, lächelte Mutter Pfannroth und gab ihrem Jungen einen Kuß. So zwei Zentimeter unter dem linken Auge auf seine Backe.

Die Möwen flogen nach wie vor weiter umeinander herum, als ob nichts geschehen wäre.

»Die Familienfeier ist zu Ende!« gab Mutter Pfannroth nun bekannt. »Auf zu Schneidermeister Hesselbein!«

»Ein Tempo haben diese Pfannroths«, meinte Peter kopfschüttelnd und ging dabei bereits neben seiner Mutter zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, natürlich untergehakt.

Schneidermeister Hesselbein war leider gar kein Schneidermeister. HESSELBEIN & CO war vielmehr eine Art Kleiderfabrik, die ihre Mäntel und Anzüge am Fließband herstellte. Und Herr Hesselbein war sozusagen der kaufmännische Leiter des Unternehmens.

Durch die Glaswände der Büros konnte man in die Werkstätten sehen. Mutter Pfannroth war sprachlos. Wenn sie da an ihre alte Nähmaschine dachte, konnte es ihr fast schwindlig werden.

Die Schneider saßen in langen Reihen an Tischen. Eine Anzahl Frauen und junger Mädchen hatte nichts anderes zu tun, als nur Knöpfe anzunähen, Hosenknöpfe, Mantelknöpfe, Rockknöpfe, eine Zuschneidemaschine zersägte ganze Stoffberge. Diese Stoffberge waren wie Sperrholz oder Pappkartons aufeinander geschichtet. Eine Überraschung nach der anderen. Die größte Überraschung brachte allerdings Herr Hesselbein persönlich. Leider war diese Überraschung unerfreulich.

»Dienstag früh wird die Uniform gebraucht. Das bedeutet, daß wir bis Montagabend liefern müssen. Das ist möglich. Sie sehen, wir sind ein leistungsfähiger Betrieb.«

Herr Hesselbein machte eine Bewegung zu den Glaswänden und den Werkstätten, die dahinter lagen. Dann drückte er auf einen Klingelknopf und lächelte. Er lächelte sehr höflich, und seine vorstehenden Vorderzähne wurden dabei sichtbar.

Die Klingel zauberte einen Angestellten im weißen Arbeitsmantel und mit einem Zentimetermaß herbei.

»Pagenuniform, Hotel ATLANTIC! Nehmen Sie bitte Maß bei dem jungen Herrn«, sagte Herr Hesselbein und lächelte wieder ohne jeden Grund. Aber er lächelte eben.

»Zweiundsechzig — dreiundvierzig — sechsundzwanzig.« Peter erfuhr zum erstenmal auf den Zentimeter genau, wie lang seine Arme und Beine waren, wie breit sein Rücken war und welchen Brustumfang er hatte. Das war eigentlich ganz interessant. Auch Herr Hesselbein schien das zu finden und machte sich Notizen. Lächelnd schrieb er auf, was der Angestellte ihm ansagte.

»Jetzt noch die Kragenweite — danke — damit hätten wir’s«, sagte Herr Hesselbein schließlich. »Wenn ich bitten darf, zur Anprobe Freitag früh. Und welchen Betrag darf ich als Anzahlung quittieren?«

Das war die unerfreuliche Hesselbeinsche Überraschung. Die beiden Pfannroths sahen sich an, als hätte man ihnen gesagt, sie müßten leider sofort in eine Fliegende Untertasse steigen und mal schnell zum Mond rüberfliegen. »Ich denke, die Uniform wird vom Hotel bezahlt?« fragte Mutter Pfannroth nach einer Weile.

»Man scheint Sie bedauerlicherweise nicht unterrichtet zu haben«, lächelte Herr Hesselbein. »Die Uniform muß von jedem Pagen selbst gestellt werden. Das ist in der gesamten Hotelbranche so üblich. Und damit sich alle Uniformen gleichen wie ein Ei dem anderen, ist unsere Firma mit der alleinigen Herstellung beauftragt. Der Preis ist übrigens einhundertsechsundzwanzig Mark und sechzig. Sie werden zugeben, das ist sehr entgegenkommend.«

Die beiden Pfannroths sahen sich wieder einmal an.

»Unsere Firma muß bei Auftragserteilung allerdings auf einer Anzahlung bestehen, und bei Lieferung der Uniform ist der volle Betragfällig. Wir haben früher auch Teilzahlungen gestattet, aber leider sehr schlechte Erfahrungen machen müssen.«

»Damit habe ich nicht gerechnet«, gab Mutter Pfannroth zu.

»Sie wollen den Auftrag also wieder zurückziehen?« lächelte Herr Hesselbein.

»Dieses ewige Lächeln geht mir allmählich auf die Nerven«, dachte Peter.

»Von Zurückziehen kann nicht die Rede sein. Ich muß Sie nur bitten, daß Sie im Augenblick auf eine Anzahlung verzichten. Aber ich verspreche Ihnen, das Geld bis zur Lieferung am Montag aufgebracht zu haben. Ich gebe Ihnen meine Adresse«, sagte Mutter Pfannroth. »Im übrigen bin ich selbst Schneiderin. Sie wissen ja, wie schwer es manchmal für unsereinen ist, sein Geld zu bekommen.«

»Parole d’honneur«, lächelte Herr Hesselbein. Dieses Mal besonders süß und höflich. »Einverstanden, sozusagen aus kollegialer Gefälligkeit.«

»Danke schön«, sagte Mutter Pfannroth und verabschiedete sich. Herr Hesselbein ging mit bis zur Tür.

»Nicht vergessen, Freitag früh zur Anprobe, junger Freund, und meine beste Empfehlung.«

Die beiden Pfannroths stiegen nebeneinander die Treppe hinunter, ohne ein Wort zu sagen. Endlich im Erdgeschoß blieb Peter plötzlich stehen.

»Nicht böse sein, Frau Pfannroth, aber was Sie da oben gemacht haben, ist nun wirklich Hochstapelei. Wo sollen wir bis Montag um alles in der Welt hundertsechsundzwanzig Mark hernehmen?«

»Einhundertsechsundzwanzig«, rechnete Frau Pfannroth vor sich hin, »nicht sehr viel für jemanden, der Geld hat, aber für uns eine ganze Menge!« Frau Pfannroth ging langsam weiter.

»Komm, laß uns das Ding abbestellen«, schlug Peter vor.

»Eine ganze Menge, hab’ ich gesagt, und das stimmt auch. Aber so viel ist es dann auch wieder nicht, auch für uns nicht. Ich meine, daß wir deshalb einfach die Flinte ins Korn werfen müßten.« Mutter Pfannroth war auf einmal wieder unternehmungslustig wie eh und je. Sie kniff Peter sogar in den Arm und zwinkerte mit dem rechten Auge. »Du machst jetzt, daß du zu deinem Sheriff kommst. Und heute abend ist Pfannrothscher Kriegsrat. Da sehen wir weiter. Wäre ja gelacht!«

»Also nicht abbestellen?« fragte Peter noch einmal.

»Papperlapapp! Ich gehe jetzt noch bei Rechtsanwalt Born vorbei und bei Frau Blumensaat. Herr Born hat mir schon seit zwei Monaten einen Schlafanzug zu bezahlen, und Frau Blumensaat hängt noch seit Weihnachten mit ihrem Wintermantel. Tschüß!«

Die beiden Pfannroths gaben sich die Hand und spazierten los, jeder für sich in seine eigene Richtung.

Wenn Mutter Pfannroth ans Telefon gerufen wird, glaubt sie immer gleich, der Bahnhof sei explodiert

Als Peter so etwa eine halbe Stunde später zum Bahnhofseingang kam, saß der Sheriff auf seiner Kiste gerade über einem Kreuzworträtsel. Er war beinahe fertig damit. Nur in der zweiten Querspalte fehlte ihm noch ein indischer Staatsmann mit einem G am Anfang und einem i am Ende.

»Garibaldi?« überlegte der Sheriff.

Aber leider stimmte die Anzahl der Buchstaben nicht. Drei blieben übrig. Der Sheriff überlegte weiter. Dabei schloß er die Augen und pfiff ganz leise vor sich hin.

In diesem Augenblick setzte sich jemand in den Drehstuhl.

»Sofort, mein Herr«, entschuldigte sich der Sheriff, steckte das Kreuzworträtsel in seine Hosentasche und griff nach der Schmutzbürste. Er wollte sich schon an die Arbeit machen, da sah er plötzlich die beiden Schuhe vor sich, die ihm ja nicht unbekannt waren. Er ließ seinen Blick von diesen Schuhen jetzt langsam höher wandern. Bis über den Drehstuhl und zu Peters grinsendem Gesicht.

»Knalltüte!« sagte er nur und warf seine Schmutzbürste wieder in die Kiste zurück.

»Wie reden Sie mit Ihrer Kundschaft, junger Mann?« Peter schüttelte vorwurfsvoll den Kopf und schnalzte ein paarmal hintereinander mit der Zunge.

»Ich muß mich doch sehr wundern, Herr Emil Schlotterbeck!«

»Es ist kein reines Vergnügen, Schuhwichse ins Gesicht zu bekommen!« knurrte der Sheriff. »Ich warne dich!« Glücklicherweise kamen in diesem Augenblick zwei Reisende über die vier Steinstufen und stellten ihre Koffer neben die Drehstühle. »Aber Tempo, unser Zug fährt in einer Viertelstunde!« sagten sie. Peter flitzte zu seiner Bürstenkiste, und die beiden Reisenden nahmen Platz.

»Weißt du, wer ›Regenschirm‹ ist?« fragte Peter noch schnell.

»Natürlich. Gibt jedes Mal fünfzig Pfennige und hat eben ‘nen Regenschirm.«

»Der ›Regenschirm‹ heißt Direktor Adler und ist der Chef des ATLANTIC-Hotels«, platzte Peter heraus.

»Ich werde verrückt!« stellte der Sheriff in Aussicht.

»Aber bitte erst, wenn meine Schuhe geputzt sind«, meinte der eine der beiden Reisenden und steckte sich eine Zigarette an.

Von diesem Augenblick an war es wie verhext.

Fast eine Stunde lang riß die Arbeit nicht mehr ab. Die beiden Jungen hatten ohne eine Pause alle Hände voll zu tun. Als die beiden Reisenden bedient waren, kam sofort eine Krankenschwester und wieder einmal ein Taxichauffeur. Dann ein Polizist, der zum Dienst ging, und ein Kellner vom Bahnhofsrestaurant. Alle hatten es natürlich eilig und wollten eigentlich schon fertig sein, bevor sie sich gesetzt hatten. Zum Schluß kamen zwei Grenzschutzbeamte. Mit diesen zwei Grenzschutzbeamten schien der Kundenansturm vorerst abgeschlagen zu sein.

»Ein Betrieb wie zu Weihnachten«, sagte der Sheriff und stand auf. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich so richtig aus. Dann gähnte er, als ob er gerade erst aus dem Bett käme.

»Guten Morgen«, meinte Peter. Aber der Sheriff hatte ihn angesteckt, und er mußte ebenfalls gähnen.

»Guten Morgen«, grüßte der Sheriff grinsend zurück, und nun gähnten sie beide zusammen.

»Fang endlich an, die Sache mit dem ›Regenschirm‹ zu erzählen«, forderte jetzt der Sheriff. Er setzte sich in seinen Drehstuhl und holte wieder sein Kreuzworträtsel aus der Tasche.

»Ich höre«, sagte er noch und schlug die Beine übereinander.

»Eigentlich eine tolle Geschichte«, fing Peter an.

Drüben in der Bahnhofshalle sammelten sich schon seit etwa einer halben Stunde die Passagiere für einen der HAPAG-Dampfer, die nach Amerika ausliefen. Eine kleine Musikkapelle spielte bereits Abschiedslieder.

In die Amerikafahrer kam jetzt Bewegung. Vor der Bahnhofshalle stoppten soeben die großen Omnibusse, mit denen es zum Hafen gehen sollte.

Als die Musikkapelle »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus« spielte, war Peter mit seiner Erzählung bei Herrn Hesselbein angelangt, bei dem ständig lächelnden Herrn Hesselbein von der Firma HESSELBEIN & CO.

»Wieviel?« fragte der Sheriff.

»Einhundertsechsundzwanzig«, wiederholte Peter. Er mußte es beinahe rufen. Die Musikkapelle spielte jetzt, was das Zeug hielt. Dazu kam noch das Geräusch der abfahrenden Omnibusse. Es rief und winkte nur so durcheinander. Aber schon drei oder vier Minuten später war alles vorbei. Die Menschen verliefen sich, und die Musikanten fuhren mit ihren Trompeten unter dem Arm wieder in Straßen- und Hochbahnen nach Hause.

»Das wäre direkt eine Geschichte für die Zeitung«, stellte der Sheriff abschließend fest und überlegte.

»Alles schön und gut, bis auf die Rechnung von Herrn Hesselbein«, sagte Peter.

»Aber deine Mutter hat recht. Irgendwie muß das Geld einfach auf die Beine kommen.«

»Vielleicht, daß ich mein Fahrrad verkaufe«, schlug Peter vor.

»Höchstens dreißig oder fünfunddreißig Mark«, schätzte der Sheriff und sah wieder auf das Stück Papier mit dem Kreuzworträtsel.

»Oder ich frage Herrn Winkelmann. Wenn ich ihm verspreche, das Geld Monat für Monat zurückzuzahlen — mit Zinsen natürlich.«

»Schulden sind wie Sirup. Wenn du einmal reinfällst, bleibst du für immer dran kleben«, stellte der Sheriff fest. »Das ist nicht von mir, das sagt mein alter Herr immer.«

»Also abwarten und Tee trinken. Für heute abend ist nämlich der Pfannrothsche Familienrat einberufen!«

»Da werdet ihr euch aber in eurer Wohnung gegenseitig sehr auf die Füße treten«, grinste der Sheriff. »Kennst du übrigens einen indischen Staatsmann mit einem G am Anfang und hinten mit einem i?«

»Ghandi«, sagte Peter, ohne zu überlegen.

»Siehst du, das dachte ich schon die ganze Zeit«, der Sheriff nahm seinen Bleistift und fing an zu schreiben. Plötzlich stockte er.

»Stimmt nicht. Einer fehlt«, bedauerte er.

»Was fehlt?«

»Nu ja, ein Buchstabe zu wenig — müssen sechs sein.«

»Es sind doch sechs«, stellte Peter fest.

»Wieso? G-A-N-D-I«, buchstabierte der Sheriff.

»Nach dem G kommt erst noch ein H, Herr Schlotterbeck«, korrigierte Peter.

»Ich werde einen Verein gründen, der bei den Kreuzworträtselfabrikanten gegen die Verwendung von Fremdwörtern protestiert«, gab der Sheriff bekannt und zerknüllte das Stück Papier, um es in einen Papierkorb werfen zu können. »Im übrigen bitte ich Sie, Herr Pfannroth, mich für zehn Minuten zu entschuldigen. Ich möchte nämlich eine Zitronenlimonade trinken, wenn’s recht ist.«

»Bitte, Herr Schlotterbeck«, verneigte sich Peter.

»Sehr gütig«, erwiderte der Sheriff, verneigte sich ebenfalls und spazierte los.

Aber der Sheriff spazierte nicht zu einer Zitronenlimonade, sondern um die Ecke zum Bahnhofspostamt. Dort ging er in eine Telefonzelle, nahm den Hörer vom Apparat und wählte. Die zwei oder drei Nummern, die für ihn in Frage kamen, wußte er auswendig.

»Hier spricht Emil Schlotterbeck. Ich hätte eine große Bitte. Würden Sie so freundlich sein und Frau Pfannroth vom vierten Stock an den Apparat rufen? Ich würde Sie nicht bemühen, wenn es nicht wirklich sehr dringend wäre. Danke schön! Bitte sagen Sie einfach nur, der Sheriff will sie sprechen. Ja, Sheriff, wie die Sheriffs aus den Cowboyfilmen. Sehr richtig! Und es sei nichts passiert, wenn Sie das bitte gleich sagen wollen. Frau Pfannroth glaubt nämlich immer gleich, der Bahnhof sei explodiert oder so etwas Ähnliches, wenn sie ans Telefon gerufen wird. Nochmals schönen Dank! Ja, ich warte.«

Der Sheriff konnte sehr höflich sein, wenn es unbedingt erforderlich war.

»Um Himmels willen, was ist los, Sheriff?« meldete sich nach einer Weile Mutter Pfannroth. Sie war vom Treppensteigen noch ganz außer Atem. Natürlich war sie gerannt wie die Feuerwehr.

»Überhaupt nichts, Frau Pfannroth.«

»Warum telefonierst du dann durch die Gegend?« fragte Frau Pfannroth und japste immer noch nach Luft.

»Es ist wegen des Geldes für die Uniform.«

»Hundertsechsundzwanzig Mark, mir blieb die Spucke weg, als ich das hörte. Aber ich hab’ mir natürlich nichts anmerken lassen.« Jetzt kam Mutter Pfannroth am anderen Ende der Strippe allmählich wieder in Gang.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Hundert Mark davon übernehme ich. Das wollte ich Ihnen nur sagen. Bis Sonntag dann.«

»Hast du im Toto gewonnen?« wollte Mutter Pfannroth wissen.

»Leider nicht«, mußte der Sheriff zugeben. Aber sie seien fünfundzwanzig Jungen, und er habe sich überlegt, wenn sie Sonntagvormittag vor den Boxkämpfen alle einmal ausnahmsweise arbeiten würden, dann müßte es zu schaffen sein.

»Das wären im Durchschnitt vier Mark pro Junge. Aber Peter darf nichts davon erfahren. Sie müssen mir das versprechen, Frau Pfannroth. Er würde das nämlich bestimmt nicht zulassen. Und damit er nicht irgendeinen anderen Quatsch macht, müssen Sie ihm heute abend in Ihrem Familienrat sagen, daß Ihnen irgend jemand von Ihrer Kundschaft das Geld vorschießt. Notlügen sind erlaubt, wenn nichts Schlechtes dahintersteckt, sagt meine Mutter. Peter überlegt nämlich, ob er sein Fahrrad verkaufen oder Herrn Winkelmann anpumpen soll. Das Fahrrad braucht er doch, und gegen Schulden haben wir Schlotterbecks sozusagen eine Familienabneigung. Wie denken Sie darüber, Frau Pfannroth?«

Auf der anderen Seite rührte sich nichts. Völlige Funkstille. »Hallo, Frau Pfannroth — sind Sie noch da?«

»Ja, ich bin noch da, Sheriff.«

»Ehrenwort, daß Sie ihm nichts sagen?«

»Großes Ehrenwort — und schönen Dank auch«, sagte Mutter Pfannroth.

»Dann Tschüß! Ich hab’ Peter nämlich gesagt, daß ich nur eine Zitronenlimonade trinken gehe.« Der Sheriff hängte wieder ein.

Auch Mutter Pfannroth legte den Hörer wieder auf, allerdings erst eine kleine Weile später.

»Ist doch was passiert?« wollte Herr Brambeck wissen. Er war Vertreter für Fischkonserven und hatte deshalb ein Telefon.

»Nein — wirklich nicht«, sagte Mutter Pfannroth. »Und nochmals besten Dank.«

»Jungen in diesem Alter können verdammte Dummheiten machen«, meinte der Fischkonserven-Vertreter. »Wenn ich so zurückdenke —«

»Das stimmt schon. Aber manchmal können sie auch ordentlich sein«, antwortete Mutter Pfannroth etwas leise und ging zur Tür.

»Vielleicht, wenn Weihnachten und Ostern mal zusammenfallen!« lachte Herr Brambeck.

Er lachte noch, als Mutter Pfannroth schon die Treppen zu ihrem vierten Stock hinaufstieg.

Sheriff hält eine Rede, die gar keine ist

Vom Donnerstagabend bei Kuhlenkamp interessieren eigentlich nur die letzten zehn Minuten.

Allerdings fiel es schon von Anfang an auf, daß die Schuhputzerjungen heute so vollzählig »an Deck« waren.

Aber dafür gab es verschiedene Erklärungen.

Vater Kuhlenkamp zum Beispiel fand es ganz natürlich, daß die Jungen gerade beim letzten Training vor den Kämpfen am Sonntag mit dabei sein wollten.

Herr Winkelmann dagegen dachte so im stillen an seine Schweinskoteletts und schmunzelte in sich hinein. Schon bei oberflächlicher Schätzung war es ihm klar, daß er heute noch für Nachschub sorgen mußte.

In Wirklichkeit hatte der Sheriff Alarm gegeben. Mit der Bemerkung allerdings, daß Peter Pfannroth von diesem Alarm kein Wort erfahren dürfe, aus bestimmten Gründen, die er der Versammlung am Abend darlegen würde. So hatte er sich wörtlich ausgedrückt.

»Nach dem Training auf dem Gelände der SHELL-Tankstelle gegenüber Kuhlenkamp«, hatte der Sheriff als Parole ausgegeben.

Die SHELL-Tankstelle lag tatsächlich gleich gegenüber der Sportschule. Der Vater eines der Jungen war dort Tankwart.

Vater Kuhlenkamp beschäftigte sich heute vor allem mit den Kämpfern, die am Sonntag die Farben von »ASTORIA« vertreten sollten. Das leuchtete jedem ein.

Im übrigen war es ein Trainingsabend wie an jedem Montag oder Donnerstag.

Der Admiral balancierte zum Abschluß wieder sein Tablett mit den Fruchtsaftgläsern aus der Küche, und im Duschraum wurde das Wasser aus den Gasbadeöfen nach fünf Minuten wieder lauwarm und schließlich eiskalt.

Herr Winkelmann hatte inzwischen mit seiner Fleischerei telefoniert und noch zweiundzwanzig Koteletts nachbestellt. Keiner der Jungen ging also leer aus, als der Fleischermeister schließlich wieder Weihnachtsmann spielte.

»Also bis Sonntag«, sagte Herr Winkelmann, als er von einem zum anderen ging und jedem ein Schweinskotelett gab. Es sah so aus, als ob er Orden verteilte.

»Bis Sonntag«, antworteten die Jungen. »Und schönen Dank, Herr Winkelmann.«

»Wir treffen uns gleich nach dem Mittagessen hier im Trainingssaal. Sagen wir spätestens zwei Uhr«, gab Vater Kuhlenkamp noch bekannt. »Wir haben dann noch eine ganze Stunde Zeit und gehen geschlossen los.«

»Da kann überhaupt nichts ins Auge gehen«, lachte Herr Winkelmann und wünschte allerseits einen guten Abend.

Es war etwas auffallend, wie die Jungen auf der Straße vor der Kuhlenkampschen Sportschule noch zusammenblieben.

»Einzeln zur Tankstelle, ihr Knalltüten!« zischte der Sheriff zwischen den Zähnen. Er benutzte dazu den Augenblick, als Peter sein Fahrrad holte. Aber auch jetzt war er sofort wieder neben ihm. Peter klebte schon den ganzen Abend an dem Sheriff wie eine Briefmarke am Brief. Die Jungen hatten begriffen. Das allgemeine Herumstehen löste sich auf, und es sah jetzt so aus, als ginge man tatsächlich nach Hause.

Bisher war es immer so gewesen, daß Peter nach dem Training sein Rad bis zur nächsten U-Bahn-Station neben sich hergeschoben hatte, um den Sheriff zu begleiten.

Das würde, leider, auch heute nicht zu ändern sein, wenn der Sheriff nicht riskieren wollte, daß Peter etwas merkte.

Der Sheriff hatte sich alle möglichen Ausreden überlegt, aber beim besten Willen war ihm nichts Richtiges eingefallen. »Gehen wir!« sagte er also. Je schneller sie aufbrachen, um so früher konnte er zurück sein.

Da geschah etwas völlig Unprogrammgemäßes. Für den Sheriff war es wie ein Geschenk des Himmels.

»Du, Sheriff«, sagte Peter, »der Admiral will sich bei meiner Mutter ein Kleid schneidern lassen, und da sie nicht genau weiß, wo wir wohnen, wollten wir jetzt zusammen losfahren.«

Peter war richtig verlegen. »Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht.«

Der Sheriff mußte zuerst einmal tief Luft holen, dann hätte er Peter am liebsten umarmt. Aber er umarmte ihn nicht, vielmehr zwang er sich, möglichst ruhig zu bleiben, und sagte nur: »Sing doch keine Operntexte! Ist doch ein ganz klarer Fall.« Dabei gab er Peter die Hand.

In diesem Augenblick hörte man aus dem Kuhlenkampschen Hinterhof auch schon das Geräusch eines Motorrollers. Dieses Geräusch kam mit Tempo angefegt. Jetzt quietschte die Bremse, und ein helles Horn hupte dreimal kurz hintereinander.

»Fahren wir los oder nicht?« fragte der Admiral und schaltete den Motor ab. Sie hatte ihre silbergraue Vespa vor etwa drei Monaten bei der Funklotterie gewonnen und war natürlich sehr stolz darauf, daß ausgerechnet sie als Mädel »motorisiert« war, wie sie es nannte.

»Also was ist?« fragte der Admiral noch einmal.

»Tut es eigentlich sehr weh, wenn einem so eine Knattermühle in den Kopf steigt?« wollte der Sheriff wissen.

»Blasser Neid der Fußgänger«, meinte der Admiral und warf die hellblonden Locken zurück.

»Bis morgen«, grinste Peter und stieg auf sein Fahrrad.

»Wir müssen übrigens an eine Generalversammlung denken. Heute hätte es ganz gut gepaßt.«

Der Sheriff spürte, wie ihm schon wieder die Luft wegblieb.

»Wir waren so ziemlich vollzählig«, fuhr Peter fort.

»Aber vielleicht am Sonntag nach den Kämpfen. Ihr müßt einen anderen Chef wählen, und dann kann ja an meiner Stelle auch ein Neuer anfangen.«

»Unterhalten wir uns morgen darüber«, sagte der Sheriff und fing wieder an, regelmäßig zu atmen.

»Davon weiß ich ja gar nichts«, sagte der Admiral ziemlich neugierig.

»Kleine Mädchen wissen vieles nicht«, grinste der Sheriff jetzt.

Da ließ der Admiral seinen Motor wieder anspringen und gab Gas. So im Stehen machte das einen Heidenlärm.

»Gute Nacht, Sheriff!« rief Peter noch und fuhr los.

»Fahr nicht so schnell, sonst kommt sie nicht mit!« mahnte der Sheriff hinterher.

Aber da mußte er zur Seite springen. Der Admiral hatte nämlich den Kupplungshebel losgelassen und fuhr direkt auf ihn zu.

»Knalltüte«, brummte der Sheriff wieder einmal. Er wartete noch, bis die beiden am Ende der Straße in einer Kurve verschwanden. Dann rannte er los.

Hinter dem niedrigen weißen Bau der Tankstelle gab es eine Art Lagerplatz mit einem Holzschuppen und einigen Garagen. Dort warteten die fünfundzwanzig Jungen. Sie saßen am Boden oder auf Kisten und Bretterstapeln.

»Herhören!« rief der Sheriff und kletterte auf ein leeres Benzinfaß. »Wir müssen alle nach Hause, und ich will keine lange Rede halten. Die Sache ist die und der Fall ist der, unser —«

Es wurde doch eine Rede. Allerdings, sehr lang war sie nicht.

Vom Dammtorbahnhof polterten die Hochbahnzüge herüber, und die Neon-Reklame der Tankstelle zuckte mit ihrem bläulich-weißen Licht wie ein Morseapparat. Von irgendwoher hörte man eine Straßenbahn klingeln oder ein Auto hupen. Manchmal bellte ein Hund dazwischen.

Tausend Schuhe für Peter Pfannroth

Am Sonntagmorgen fielen wohl viele geplante Spaziergänge und Hafenrundfahrten und Familienausflüge ins Wasser.

Das ist wörtlich zu nehmen. Es regnete nämlich schon seit dem frühen Morgen.

»Immer das gleiche! Eine runde Million Menschen guckt von ihren Betten aus durch die Schlafzimmerfenster und ärgert sich. Die ganze Woche über, solange man im Büro oder in der Werkstatt sitzt, scheint die Sonne, aber sonntags schüttet es natürlich wie aus Gießkannen!«

Wem es Spaß machte, der ärgerte sich, die anderen zogen einfach ihre Bettdecke wieder über die Ohren.

So ziemlich alles auf dieser Welt hat seine zwei Seiten. Es kommt nur darauf an, aus welcher Ecke man die Dinge betrachtet. Wer zum Beispiel nur darauf wartete, daß sich andere Leute ihre Schuhe schmutzig machten, konnte mit dem heutigen Wetter zufrieden sein, außerordentlich zufrieden sogar.

Es gab also in der ganzen Stadt mit Sicherheit mindestens fünfundzwanzig Jungen, denen der Regen überhaupt nichts ausmachte, ganz im Gegenteil.

Diese fünfundzwanzig Jungen saßen wie jeden Tag an ihren Straßenecken, in den Toreinfahrten und an den U-Bahn-Stationen. Jeder von ihnen hatte sich bereit erklärt, an diesem Sonntagmorgen zwanzig Paar Schuhe zu putzen.

Zwanzig mal zwanzig Pfennige, das machte vier Mark. Und fünfundzwanzigmal diese vier Mark, das ergab nach Adam Riese genau die hundert Mark, die der Sheriff Mutter Pfannroth versprochen hatte.

Fünfundzwanzig Jungen waren also an diesem Sonntagmorgen aus ihren Betten gekrochen, um mal schnell so rund tausend Schuhe zu »wienern«.

Hätte man das Ganze als Bild malen und zur Erinnerung an die Wand hängen wollen, dann hätte es folgendermaßen aussehen müssen:

Tausend blitzblanke Schuhe in einer schnurgeraden Reihe nebeneinander, und dieser endlosen Reihe gegenüber, wie die englische Königin vor ihrem Leibregiment am Geburtstag, eine nagelneue rote Pagenuniform mit lauter goldenen Knöpfen. »Danke schön« würde sie gerade sagen und sich vor den angetretenen Schuhen höflich verbeugen.

Als der Sheriff seine vier Mark am Bahnhofseingang beisammen hatte, spazierte er zum Gänsemarkt. Dabei kam er in der Mönckebergstraße an Horst Buschkes Stand vorbei, der ziemlich niedergeschlagen auf seiner Kiste mit den Bürsten und Schuhwichseschachteln saß. »Es ist zum Auswachsen! Am Anfang standen sie Schlange, als gäbe es etwas umsonst, und jetzt ist’s auf einmal, als hätte jemand die Sicherung rausgedreht. Dabei fehlen mir nur noch sechzig Pfennig!« knurrte der kleine schwarzhaarige Kerl.

»Sind Sie frei?« fragte in diesem Augenblick ein älterer Herr, der ein kleines Paket und einen Blumenstrauß bei sich hatte. Horst Buschke sprang auf wie von einer Stecknadel gepiekt. »Selbstverständlich, mein Herr!«

»Dann bis gleich«, grinste der Sheriff und marschierte weiter.

Der Gänsemarkt lag im Zentrum der Stadt. Deshalb hatten sich die Jungen hier verabredet. Wer seine vier Mark beisammen hatte, sollte sie in der Eisdiele abliefern.

»O sole mio!« sagte der Sheriff, als er eintrat. Die Eisdiele am Gänsemarkt gehörte nämlich Herrn Tavanti, und Herr Tavanti war Italiener.

»Buon giorno ragazzo«, grüßte der dicke Eisdielenbesitzer. Er war gerade dabei, einen Kübel mit Vanilleeis einzurühren. Der Sheriff setzte sich an einen der kleinen Tische mit den Marmorplatten und holte ein Stück Papier aus der Tasche. Auf dieses Stück Papier schrieb er jetzt ganz oben seinen Namen und dahinter malte er eine Vier. Dann lehnte er sich zurück und wartete.

»Wetter non buono — nix gutt«, meinte Signor Tavanti. Er rührte immer noch in seinem Vanilleeis.

»Am Nachmittag wird es besser. Der Regen läßt schon nach«, antwortete der Sheriff. Dabei tat er so, als drehe er den Hahn einer Wasserleitung ab.

»Bellissimo«, begriff Signor Tavanti. Sein Geschäft beginne ohnehin erst am Nachmittag, fügte er noch auf italienisch hinzu. Aber das verstand der Sheriff natürlich nicht. Trotzdem lächelte er zustimmend und sagte wieder einmal »o sole mio«. Dann spendierte er sich ein Himbeereis. Signor Tavanti balancierte dieses Himbeereis gerade durch die Gegend, da kamen auch schon die ersten Jungen. Der Sheriff notierte ihre Namen und schrieb jeweils die Summe des abgelieferten Betrages dahinter. Bisher standen nur lauter Vieren untereinander.

»Fast alles in Groschen«, brummte der Sheriff und zählte nach. »Der nächste.«

»Hans Werkshagen.«

»Dieter Grassy.«

»Jürgen Passow.«

Das Blatt Papier auf Sheriffs Marmortischplatte füllte sich immer mehr mit Namen, und entsprechend füllte sich auch immer mehr Signor Tavantis Eisdiele.

»Eine Limonade«, »Schokoladeneis«, »Vanille und Nuß gemischt.«

Der Italiener hatte plötzlich alle Hände voll zu tun.

Die meisten Jungen hatten nämlich, weil sie sich ausgerechnet in der Eisdiele verabredet hatten, einige Paar Schuhe mehr geputzt.

Ein Junge mit einer Brille bestellte sich »Banane und Zitrone«. Man konnte die ulkigsten Zusammenstellungen hören. »Tomate haben Sie wohl nicht?« grinste ein Junge in einer ausgebleichten Blue-Jeans-Jacke.

»Uno momento!« Signor Tavanti kam bereits ins Schwitzen. »Nein, Tomato leider nein.«

Kurz nach zwölf hatte der Sheriff vierundzwanzig Namen auf seinem Zettel stehen. Jetzt fehlte nur noch Horst Buschke vom U-Bahn-Eingang in der Mönckebergstraße.

Eine Viertelstunde verging.

Der Sheriff fing schon an, auf die Rückseite seiner Namenliste Männchen zu malen.

Auch die Jungen fingen an, sich zu langweilen. Selbstverständlich hatten sie ihre Limonaden längst ausgetrunken und ihre Eisportionen aufgegessen.

»Entschuldigung — aber es war wie verhext!« Der kleine Horst Buschke war völlig außer Atem. Er kramte seine vierzig Groschen aus der Tasche und legte sie vor dem Sheriff auf den Tisch, einen neben den anderen. »Als du weg warst, kam kein Mensch mehr. Zappenduster! Bis vor fünf Minuten. Da standen sie dann wieder rum wie die Heilsarmee. Aber als ich meine vier Mark beisammen hatte, sagte ich einfach ›Feierabend‹ und haute ab.«

»Genau hundert Mark!« stellte der Sheriff fest. Er stand auf. »Besten Dank, meine Herren!« Er verneigte sich nach allen Seiten und grinste. »Im übrigen: um zwei Uhr bei Kuhlenkamp und nach den Kämpfen Generalversammlung, wie gesagt.«

Es hatte aufgehört zu regnen.

Die obersten Fensterreihen der Häuser fingen sogar schon an zu blinken. Jeden Augenblick konnte die Sonne durchbrechen.

Der Sheriff hatte einen regelrechten Seemannsgang, als er vom Gänsemarkt wieder zur Mönckebergstraße zurückging, so richtig mit Schlagseite. Das kam natürlich von seinen beiden Hosentaschen. Sie waren schwer wie zwei kleine Zementsäcke und schlugen ihm bei jedem Schritt gegen die Schenkel.

Immerhin hatte der Sheriff für hundert Mark Groschen bei sich. Die wollte er so schnell wie möglich los werden. Aber gerade sonntags war es nicht ganz einfach, eine solche Menge Kleingeld in Scheine umzuwechseln. Das war wohl nur am Bahnhof möglich.

Und dort, an den Fahrkartenschaltern und beim Telegrafenpostamt schaffte er es schließlich auch.

Kurz nach eins stieg der Sheriff einigermaßen erleichtert in die Hochbahn. Dabei erledigte er das Öffnen der Tür und so weiter mit der linken Hand. Die rechte blieb zur Faust geballt in der Tasche, weil er nämlich in dieser Faust fünf Zwanzigmarkscheine hatte. Am Rangierbahnhof kletterte der Sheriff ins Freie.

Etwa im gleichen Augenblick, als er durch die Sperre ging, setzten sich die beiden Pfannroths in ihrem vierten Stock zum Mittagessen.

»Hätte ich der Sauerbier nie zugetraut«, sagte Peter und fing an, seine Suppe zu löffeln.

»Man täuscht sich oft in einem Menschen«, bemerkte Mutter Pfannroth und sah ein wenig verlegen vor sich in den Teller.

»Und bis wann will sie das Geld zurückhaben?« wollte Peter wissen.

»Hoffentlich brennen die Winkelmannschen Koteletts nicht an«, wich Mutter Pfannroth aus.

Da klingelte es.

»Nanu?« fragte Peter und stand auf.

Aber auch Mutter Pfannroth erhob sich.

Sie stießen beinahe zusammen, und vor der Tür hätte es ums Haar einen »Verkehrsunfall« gegeben.

»Laß deine Suppe nicht kalt werden. Das ist bestimmt irgend jemand von meiner Kundschaft.«

»Oder es ist Frau Sauerbier, die es sich mit ihren hundert Mark anders überlegt hat«, meinte Peter. »Im übrigen wird deine Suppe genauso kalt. Was hast du überhaupt? Du bist heute so nervös!«

Da klingelte es zum zweiten Mal.

Peter ging zum Korridor.

Mutter Pfannroth setzte sich wieder vor ihren Suppenteller, schloß die Augen und holte ein paarmal tief Atem.

»Herr Schlotterbeck«, meldete Peter und kam nach einer Weile mit dem Sheriff ins Zimmer zurück.

»Guten Tag, Frau Pfannroth«, grüßte Emil. Dabei hatte er immer noch seine rechte Hand in der Tasche. »Herr Schlotterbeck bittet dich um eine Privataudienz unter vier Augen«, grinste Peter. »Da geh’ ich wohl so lange in den Kohlenkeller.«

»Es ist wegen — ich — ich dachte —«, stotterte der Sheriff.

»Wenn du’s gestattest, löffle ich nur vorher noch schnell meine Suppe aus«, entschuldigte sich Peter. Er schob dem Sheriff einen Stuhl hin und setzte sich wieder an den weißgedeckten Mittagstisch. Dabei blinzelte er zu seiner Mutter hinüber: »Ich wette, er hat einen Blumenstrauß in seiner Hosentasche versteckt und will dir einen Heiratsantrag machen.«

»Laß deine Witze«, sagte Frau Pfannroth. »Du hättest allen Grund, zum Sheriff nett zu sein. Wenn du wüßtest —«

»Aber ich bitte Sie«, unterbrach der Sheriff. Er rückte auf seinem Stuhl hin und her wie beim Zahnarzt.

»Laß uns endlich die Wahrheit sagen, Sheriff«, schlug Mutter Pfannroth plötzlich vor und legte ihren Suppenlöffel aus der Hand. Und da sie vergessen hatte, ihn abzutrocknen, gab es einen kleinen Fleck auf dem weißen Tischtuch.

»Diese Schwindelei macht mich noch ganz krank. Ich könnte nie Schauspielerin werden.«

»Was für eine Schwindelei?« wollte Peter wissen.

Da holte der Sheriff jetzt langsam seine rechte Hand aus der Tasche und legte fünf Zwanzigmarkscheine neben die Suppenlöffel und auf das Pfannrothsche Sonntagstischtuch.

»Frau Sauerbier, das sind nämlich in Wirklichkeit der Sheriff und die Jungen«, sagte Mutter Pfannroth nur. Sie stand auf, fuhr dem Sheriff durchs Haar und gab ihm einen Kuß, so in sein Haar hinein hinter sein linkes Ohr. »Und jetzt hol’ ich die Schweinskoteletts und noch einen Teller.«

Der Sheriff glühte plötzlich im ganzen Gesicht wie ein überheizter Kanonenofen.

»Oder warten sie bei dir zu Hause, wenn du nicht zum Essen kommst?« fragte Mutter Pfannroth aus der Küche.

»Wenn so viele um einen Tisch sitzen wie bei uns, kann man nicht auf jeden einzelnen warten«, antwortete der Sheriff ziemlich leise.

»Dann ist ja alles in bester Ordnung!« rief Mutter Pfannroth zufrieden.

»Nur — ich muß dann noch mein Sportzeug holen. Das Trikot und so weiter«, sagte der Sheriff. Er sah jetzt zu Peter hinüber. Sein Kopf war immer noch so rot, als ob er jemandem die Brieftasche gestohlen hätte und dabei erwischt worden wäre.

»Du kannst ja auf meinem Gepäckträger sitzen, dann fahren wir zusammen«, schlug Peter vor. Und wenn man genau hinsah, glühte er jetzt genauso. Zumindest glühten seine beiden Ohren.

»Dann guten Appetit!« sagte Mutter Pfannroth und stellte die Platte mit den Winkelmannschen Koteletts auf den Tisch. »Und wenn ihr nichts dagegen habt, komm’ ich heute zum ersten Male mit!«

»Zum — zum Boxen?« fragten Peter und der Sheriff gleichzeitig wie aus der Pistole geschossen.

»Warum nicht?« lachte Mutter Pfannroth und ging noch mal zur Küche, um die Kartoffeln und den Blumenkohl zu holen.

Draußen vor den Fenstern schien jetzt die Sonne.

Alle brüllen: »Hepp! Hepp! Hepp!«

So ziemlich die ganze Bewohnerschaft der Warburgstraße lag in den Fenstern und schaute zur Hofeinfahrt von Nummer zwölf hinüber. Dort versammelten sich nämlich schon seit einer guten halben Stunde immer mehr Menschen, in der Hauptsache Jungen.

»Bestimmt irgendeine neue politische Partei«, meinte jemand im vierten Stock gegenüber.

»Vielleicht ist’s auch nur eine Sonntagsschule?« vermutete ein älteres Fräulein. Weil ihr die Fensterbank für die Dauer zu hart wurde, legte sie sich eben ein Sofakissen unter die Ellbogen.

Genau fünf Minuten nach zwei donnerte von der Lombardbrücke her ein schwerer Diesellastwagen mit einem Anhänger in die Straße. Die eigentlichen Aufschriften an den Seiten der Wagen waren mit langen Packpapierbahnen überklebt. Auf ihnen stand mit roter und schwarzer Farbe gemalt: »ASTORIA 1912«. Auf der Rückseite des Anhängers konnte man allerdings an einer Stelle auch noch lesen: »Großschlächterei Winkelmann.«

Direkt vor der Toreinfahrt zur Warburgstraße Nummer zwölf blieb der Lastzug stehen. Seine Luftdruckbremsen pfiffen und zischten wie bei einer Schnellzuglokomotive.

Fleischermeister Winkelmann saß selbst am Steuer. Er stellte jetzt den Motor ab und kletterte ins Freie: »Schönen Sonntag zusammen! Alle Mann an Bord?«

»Astoria 1912 vollzählig zur Stelle!« meldete Vater Kuhlenkamp lachend und gab dem Fleischermeister die Hand.

Herr Winkelmann überlegte eine Weile, dann sah er sich um, sozusagen von einem zum anderen.

»Was soll ich viel sagen? Ihr wißt alle selbst, wo heute der Hund begraben liegt.« Herr Winkelmann zwirbelte links und rechts seine Schnurrbartspitzen hoch. »Dann also los! Ich bitte, Platz zu nehmen.«

Die Astorianer enterten auf den Wagen.

»Alles verstaut?« fragte Herr Winkelmann und startete bereits wieder den Motor.

»Ol kloar«, antwortete Vater Kuhlenkamp. Er saß mit dem Admiral vorne neben dem Fleischermeister im Chauffeurstand.

Herr Winkelmann löste die Bremsen, hupte dreimal und brummte los.

Die Ausscheidungskämpfe zwischen »Astoria« und »Rot-Weiß« sollten in der Turnhalle des Friedrich-Gymnasiums ausgetragen werden, das in der Nähe des Stadtparks um einen großen Schulhof herum lag.

Mitten in diesen Kieselstein-Schulhof hinein steuerte Herr Winkelmann fünf Minuten später seinen Lastzug. Zum linken Flügelgebäude des Gymnasiums war eine regelrechte Völkerwanderung.

»Die Kämpfer zu mir!« rief Vater Kuhlenkamp.

»Die Zuschauer zu mir!« rief Meister Winkelmann. Dann ging es auf den allgemeinen Besucherstrom zu.

»Bravo Astoria!« brüllten ein paar kleine Jungen; sie hatten die Aufschrift an den Lastwagenseiten gelesen. Aber irgend jemand sagte jetzt auch: »Ihr solltet euch fotografieren lassen, solange eure Nasen noch gerade sind!«

»Wer war das?« fragte Herr Winkelmann und sah ziemlich böse um sich.

»Ich, Herr Studienrat!« grinste ein stämmiger Bursche mit ganz kurzen und rabenschwarzen Haaren. Er spuckte jetzt einen Kaugummi aus und ging weiter.

»Ruhig bleiben, Winkelmann!« sagte der Fleischermeister zu sich selbst. Da er es ziemlich laut sagte, hörten es die Astorianer und lachten schallend los.

»Na also!« meinte Vater Kuhlenkamp und ging mit seiner Jugendmannschaft jetzt zum Seiteneingang.

»Hals- und Beinbruch!« rief die Gruppe der Zuschauer noch und hielt ihre Fäuste in die Luft, die Daumen in der Innenseite natürlich.

Die große Turnhalle war jetzt schon gerammelt voll. Aber das war kein Wunder. Jeder wußte ja, daß dieser heutige Vereinskampf »Astoria« gegen »Rot-Weiß« das Knallbonbon aller Ausscheidungen war.

Herr Winkelmann schob sich wie ein Eisbrecher durch die Menschen, und seine Astorianer hielten sich dicht hinter ihm.

Der Ring lag etwa einen Meter erhöht in der Mitte der Halle.

Auf zwei Seiten, die sich gegenüberlagen, waren noch mehrere Bankreihen frei gehalten.

»Sie haben noch die Wahl«, meinte der Platzmeister, »hier oder drüben?«

»Hier«, bestimmte Herr Winkelmann und besetzte mit seinen Astorianern die reservierten Plätze auf der einen Seite. Kaum fünf Minuten später rückten auch die Zuschauer von Rot-Weiß in die Halle. Sie wurden jetzt nach drüben verwiesen.

»Hallo Rot-Weiß!« riefen die Astorianer.

»Hallo Astoria!« rief es von drüben zurück.

Jetzt stand Herr Winkelmann auf, so ziemlich im gleichen Augenblick, als auch drüben bei »Rot-Weiß« ein älterer Herr in einem karierten Sportsakko aufgestanden war. Die beiden Männer gingen sich entgegen und trafen ungefähr in der Mitte der beiden Lager und dicht am Ring aufeinander. Sie lächelten sich höflich an und schüttelten sich die Hände.

»Herr Vereinsvorsteher«, sagte Herr Winkelmann.

»Herr Vereinsvorsteher«, antwortete der Herr im Sportsakko. Die Astorianer und die Leute von Rot-Weiß klatschten und riefen »Bravo!« Und die ganze Halle klatschte und rief jetzt mit: »Bravo! Bravo!«

»Da uns bei diesem Lärm ja doch niemand hört, kann ich Ihnen ehrlich sagen, daß wir euch heute in Grund und Boden boxen werden!« bedauerte Herr Winkelmann. Dabei lächelte er, so freundlich es ging.

»Schade, wir haben mit euch genau das gleiche vor!« lächelte der Herr im karierten Sportsakko ebenso freundlich zurück.

»Auf gute Sportkameradschaft!« sagte Herr Winkelmann jetzt laut und deutlich. Das allgemeine Klatschen und Rufen hatte nämlich nachgelassen.

»Sie sprechen mir aus dem Herzen!« antwortete der Vereinsvorsitzende von Rot-Weiß laut und deutlich.

Die beiden Männer gaben sich allen sichtbar noch einmal die Hände und spazierten zu ihren Plätzen zurück.

»Astoria!« rief es in Sprechchören aus der Halle.

»Rot-Weiß!« brüllte es genauso laut dazwischen.

Im übrigen kam jetzt aus einem Lautsprecher, der neben den Tiefstrahlern mitten über dem Ring hing, Schallplattenmusik. Ein Akkordeon-Orchester spielte »Wenn abends die Heide träumt«.

»Entschuldigung, dann bin ich wohl falsch?« fragte in diesem Augenblick Frau Pfannroth am Eingang der Halle den Mann, der die Eintrittskarten kontrollierte. »Das hier ist offenbar ein Konzert? Ich suche einen Boxkampf. Können Sie mir sagen, wo ich den finde?«

»Stimmt schon. Da sind Sie richtig. Wir spielen nur vorher ein paar Schallplatten, damit Stimmung in die Bude kommt«, erklärte der Kontrolleur.

»Ach so«, sagte Mutter Pfannroth.

»Haben Sie eine Eintrittskarte?«

»Leider nein. Aber ich soll nur sagen, daß ich zu Herrn Winkelmann möchte. Sie wissen es vielleicht nicht, aber er ist —«

»— Vereinsvorsitzender von Astoria«, unterbrach der Kontrolleur und winkte einem Platzanweiser. »Bring die Dame zu Herrn Winkelmann.«

»Wenn ich bitten darf«, schob der Platzanweiser los.

»Aber nicht so schnell. Eine alte Frau ist kein D-Zug«, rief Frau Pfannroth.

Der Lautsprecher spielte jetzt den Torero-Marsch aus Carmen. »Auf in den Kampf«, brummte der Sheriff. »Sehr witzig!«

Da die Umkleideräume mit der Halle durch eine Tür verbunden waren, hörte man von draußen so ziemlich alles mit.

Die zehn Jungen der Astoria-Mannschaft waren schon fix und fertig. Sie steckten bereits in ihren schwarzen Trikots mit dem roten A auf der Brust, saßen auf Tischen und Stühlen oder lagen auf den drei Massagepritschen. Da sie auch schon bandagiert waren, sah es so aus, als hätten sie sich allesamt in die Finger geschnitten und deshalb weiße Mullbinden an ihren Händen.

Keiner der Jungen sagte etwas, bis auf den kleinen Horst Buschke. Aber das lag daran, daß er ja gar nicht zu den Kämpfern gehörte. Er sollte nur Vater Kuhlenkamp bei der Betreuung der Jungen behilflich sein, so zwischen den Runden mit Wassereimer und Handtuch.

»Ich hab’ mal gelesen«, Horst Buschke quasselte schon seit einer Viertelstunde kreuz und quer durcheinander, »in Amerika oder sonstwo kriegen Boxer vor dem Kampf eine Spritze, die sie richtig aufmöbelt. Sie gehen dann los wie’n Nashorn im Angriff. Toll, was?«

»Achtung! Achtung!« war jetzt von draußen der Lautsprecher zu hören.

»Ich glaube, es ist soweit«, sagte Vater Kuhlenkamp. Die Jungen in ihren schwarzen Trikots und mit ihren weißen Bandagen an den Händen standen auf.

In diesem Augenblick kam Herr Winkelmann durch die Tür. »Wie steht’s? Alles in Ordnung?« pustete er etwas außer Atem.

Die Jungen nickten stumm.

»Ich wollte euch nur sagen«, Herr Winkelmann trat etwas verlegen von einem Bein auf das andere und fingerte an seinem Schnurrbart herum, »seit vier Jahren sind wir immer Zweiter geworden, jedesmal saßen uns die Rot-Weißen vor der Nase. Wenn es in diesem Jahr mal umgekehrt käme —!« Herr Winkelmann sah die Jungen der Reihe nach an. Dann sah er auf seine Schuhspitzen.

»Versteht mich nicht falsch. Auch wenn’s wieder schiefgeht — Winkelmann bleibt für euch Winkelmann. Mit oder ohne Pauken und Trompeten!«

»Die Mannschaften in den Ring!« kam es über den Lautsprecher.

»Du mußt gleich deine Handschuhe mitnehmen«, sagte Vater Kuhlenkamp zu einem kleinen Jungen. Er hatte ganz helle Locken, so hell wie Engelshaar am Christbaum.

Die Jungen stellten sich hintereinander, und dann machte Herr Winkelmann die Tür auf.

»Avanti!« rief Vater Kuhlenkamp.

Herr Winkelmann blieb neben der Tür stehen. Und als die Jungen jetzt einer nach dem anderen an ihm vorbeigingen, klopfte er jedem noch einmal auf die Schulter. Peter kam so ziemlich zum Schluß. »Deine Mutter ist versorgt. Sie sitzt bei mir in der ersten Reihe.«

»Schönen Dank, Herr Winkelmann. Und wenn Sie so freundlich wären und ein wenig auf sie aufpassen? Sie sieht so etwas zum ersten Mal.«

»Ist gemacht«, sagte Herr Winkelmann und legte jetzt dem »Kindergesicht« seine Hand auf die Schulter. Als Schwergewichtler war er sozusagen das Schlußlicht der Mannschaft.

Die ganze Turnhalle war jetzt außer Rand und Band.

»Astoria! Astoria!« rief es von allen Seiten, als die Jungen mit ihren schwarzen Trikots in den Ring stiegen.

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllte es links und rechts von Mutter Pfannroth. Sie hielt sich unwillkürlich die Ohren zu und sah hilflos zu Herrn Winkelmann, der sich gerade wieder zu ihr setzte. »Ist etwas passiert?« rief sie.

»Im Gegenteil! Es fängt erst an!« rief Herr Winkelmann zurück.

»Ich wäre doch besser zu Hause bei meiner Nähmaschine geblieben«, dachte Mutter Pfannroth. Aber, wie gesagt, das dachte sie nur. Bei diesem Lärm hätte es ohnehin keinen Sinn gehabt, irgend etwas zu reden.

Als die Mannschaft von Rot-Weiß durch die Seile kletterte, steigerte sich das allgemeine Rufen noch.

»Ra! Ra! Ra!« brüllten die Rot-Weiß-Leute im Chor und warfen ihre Hände in die Luft, einschließlich des Herrn mit dem karierten Sportsakko.

Im Ring standen sich jetzt die beiden Mannschaften gegenüber, und zwar in der Reihenfolge der Gewichtsklassen. Jeder Junge hatte also seinen Gegner auf der anderen Seite wie sein eigenes Spiegelbild vor sich.

Peter sah auf. Der Junge, der ihm im weißen Trikot und kurzer weißer Hose gegenüberstand, war nicht größer als er selbst. Er hatte hellblondes Haar und ein gutes, offenes Gesicht.

»Ich eröffne hiermit den ersten Ausscheidungskampf zur diesjährigen Jugendmeisterschaft«, sprach eine Stimme über den Lautsprecher.

»Das — das ist —« Herr Winkelmann richtete sich auf und nahm den Rot-Weißen aufs Korn, der als Schwergewichtler am äußersten Ende der Mannschaft stand.

»Das ist doch der Bursche von vorhin am Eingang. Von wegen fotografieren lassen.«

»Stimmt!« bestätigten die Astorianer, die um Herrn Winkelmann herum saßen.

»Im Papiergewicht stehen sich gegenüber Paul Falk, Astoria«, gab der Lautsprecher bekannt.

Der kleine Junge mit dem Engelshaar ging zur Ringmitte, »—und Fritz Immhoff, Rot-Weiß.«

Jetzt kam auch der kleinste Junge der anderen Mannschaft ein paar Schritte nach vorn.

Die beiden Papiergewichtler gaben sich ihre weißbandagierten Hände und grinsten sich an.

Die ganze Turnhalle applaudierte.

Als der Lautsprecher zum Halbschwergewicht kam, erfuhr Peter endlich, wie der Junge hieß, der ihm nun schon gute zehn Minuten gegenüberstand.

»Im Halbschwergewicht Peter Pfannroth, Astoria —«, jetzt ging Peter zur Ringmitte, »— und Conny Kampendonk, Rot-Weiß.«

Der hellblonde Junge kam auf Peter zu und gab ihm die Hand. Dabei lächelte er ein ganz klein wenig, und Peter lächelte zurück.

»Bis jetzt gefällt ‘s mir«, stellte Mutter Pfannroth fest. »Die Jungen sind doch eigentlich sehr freundlich zueinander. Ich hatte Schlimmeres befürchtet!«

»Das ändert sich noch etwas«, gab Herr Winkelmann zu bedenken.

Als der rot-weiße Schwergewichtler in die Ringmitte gerufen wurde, fing es auf der Gegenseite an zu brüllen. »Ra! Ra! Ra!«

Der Kerl mit seinen kurzen schwarzen Locken tänzelte wie ein Zirkuspferd hin und her, hob seine Arme zur Höhe und grüßte grinsend um sich.

Offensichtlich hielt sein Verein besondere Stücke auf ihn.

Im übrigen war es jetzt soweit.

Die Mannschaften kletterten wieder aus dem Ring und gingen in ihre Umkleidekabinen zurück. Nur die beiden kleinen Papiergewichtler blieben zwischen den Seilen und bekamen in ihren Ecken jetzt Boxhandschuhe an die Fäuste.

Jemand schaltete das allgemeine Saallicht aus. Jetzt brannten nur noch die Tiefstrahler über der Ringmitte. »Ring frei zur ersten Runde.«

Vater Kuhlenkamp stand bereits außerhalb der Seile. Aber er beugte sich noch zu dem Jungen mit dem Engelshaar und sprach leise auf ihn ein.

Dann erklang der Gong.

»Ra! Ra! Ra!« brüllten beinahe gleichzeitig die Rot-Weiß-Leute los.

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllten die Astorianer dagegen.

»Jetzt läuft’s ab wie beim Hausfrauennachmittag«, stellte im Umkleideraum der Sheriff fest und legte sich wieder auf seine Massagepritsche, »eine Nummer nach der anderen.«

»Und die nächste Nummer bin ich«, sagte »Fliege«. Er hieß so, weil er im Fliegengewicht antrat.

»Fliege« schlug einige Löcher in die Luft. Er machte Schattenboxen, um sich anzuwärmen.

Von draußen hörte man das Rufen und Schreien. Es sank, stieg wieder an und fiel wieder zurück. Wie wenn man bei einem Radioapparat am Knopf für die Lautstärke spielt.

»Wie steht’s?« fragte Peter. Auch er lag auf einer Massagebank.

Das »Kindergesicht« stand in der halboffenen Tür und sah in die Halle zu dem angestrahlten Ring. »Unser Kleiner wird eingedeckt«, stellte er sachlich fest.

»Fängt ja gut an!« knurrte der Sheriff.

Es war wie verhext.

Das Engelshaar verlor als erster. Der Junge wehrte sich wie ein Löwe. Aber der andere war leider stärker. Und so ging es weiter. Die Astoria-Ecke mußte eine Niederlage nach der anderen einstecken.

»Rot-Weiß führt mit acht Punkten«, gab der Lautsprecher nach den ersten vier Kämpfen bekannt.

Das »Ra! Ra! Ra!« von drüben klang bereits übermütig, und die ganze Halle brüllte es schon mit.

»Sie müßten etwas gegen Ihre Nerven tun«, sagte Mutter Pfannroth und sah Herrn Winkelmann ernstlich besorgt an. »Übrigens waren Ihre Schweinskoteletts ausgezeichnet. Schönen Dank auch.«

»Keiner schlägt Aufwärtshaken!« jammerte Herr Winkelmann.

»Was ist das, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich Mutter Pfannroth höflich.

Herr Winkelmann deutete mit seiner rechten Faust an, was er meinte.

»Dagegen gibt’s keine Pillen. So ein Schlag macht k. o., so sicher wie das Finanzamt.«

»Was Sie nicht sagen«, staunte Mutter Pfannroth und schlug jetzt auch mit ihrer Faust durch die Luft. »Sie meinen so?«

»Goldrichtig!« lobte Herr Winkelmarm.

Im fünften Kampf siegte endlich auch einmal der Junge im schwarzen Trikot.

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllten die Astorianer und faßten wieder Mut.

Und tatsächlich marschierte das Glück jetzt von der rot-weißen Ecke heraus ins Astoria-Lager hinein.

Auch im Halbweiter- und Weltergewicht siegten die Jungen mit ihrem roten A auf der Brust.

Die ganze Turnhalle machte eine radikale Kehrtschwenkung und brüllte jetzt nur noch: »Hepp! Hepp! Hepp!«

»Das Gesamtergebnis steht jetzt acht zu sechs für Rot-Weiß«, meldete der Lautsprecher.

Schon der nächste Kampf konnte den Ausgleich bringen. Jetzt war das Mittelgewicht an der Reihe.

Der Sheriff stieg, ein wenig bleich und nervös, durch die Seile.

»Ganz ruhig und nur tief Luft holen, ganz tief und ganz langsam«, redete Vater Kuhlenkamp in der Ringecke auf den Jungen ein.

Da kam der Gong.

Der Sheriff machte schmale Augen, nahm seine Fäuste hoch und ging zur Ringmitte.

»Was ist?«, fragte Peter von seiner Massagebank herunter. Er war mit dem »Kindergesicht« jetzt nur noch allein im Umkleideraum. Die anderen Jungen hatten sich nach ihren Kämpfen so schnell wie möglich eine Jacke, einen Bademantel oder Pullover übergezogen und dann zwischen die Astorianer an den Ring gesetzt. »Er ist noch nervös und trifft nicht«, stellte das »Kindergesicht« fest. Er hatte seinen Beobachtungsposten an der Tür noch nicht aufgegeben.

Vom Saal her kam jetzt ganz plötzlich ein einziger lauter Aufschrei. Das »Kindergesicht« sprang hoch.

»Sheriff liegt am Boden«, japste er.

Peter hörte gar nicht hin. Er versuchte wenigstens, nicht hinzuhören. Er dachte nur an sich selbst, ganz fest. An seinen Magen zum Beispiel oder an seine Brust. Wie sie sich hoben und senkten, wenn er jetzt ganz ruhig und regelmäßig Atem holte.

Von draußen kam neues Geschrei.

»Er ist wieder hoch. Und jetzt greift er sogar an!«

Das »Kindergesicht« kletterte auf einen Hocker, um besser sehen zu können.

»Das ist nicht mit anzusehen!« schimpfte Mutter Pfannroth in der Pause zur zweiten Runde. »Die Jungen müßten Luftballons um die Fäuste haben, damit es nicht so weh tut. Und wenn schon einer umfallen muß, dann bitte nicht der falsche. Ausgerechnet der Sheriff hat das nämlich gar nicht verdient.«

»Guten Abend, Frau Pfannroth«, sagte in diesem Augenblick der Admiral und machte einen Knicks.

»Guten Abend«, grüßte Mutter Pfannroth zurück. Sie sah aber gar nicht auf, sondern suchte in ihrer Handtasche herum.

»Ich bin Fanny Kuhlenkamp«, knickste der Admiral noch einmal.

»Schön, mein Kind. Dagegen ist nichts zu machen«, meinte Mutter Pfannroth. Sie hatte jetzt ihr Taschentuch gefunden und schneuzte sich.

»Erinnern Sie sich denn nicht?« fragte der Admiral etwas enttäuscht. »Ich habe Ihnen doch am Donnerstagabend den geblümelten Stoff gebracht, und Sie machen mir ein Sommerkleid daraus mit kurzen —«

»Der Admiral!« lachte Mutter Pfannroth und sah jetzt erst richtig hoch. »Hast du denn auch noch einen anderen Namen?« Da war die Pause vorbei, und der Gong wurde wieder geschlagen.

»Bis nachher«, piepste der Admiral noch und wollte losspazieren. Aber da rief es von allen Seiten »Hinsetzen« oder »Kopf weg!« Der Admiral setzte sich also so schnell wie möglich in die Hocke und ging jetzt nur noch ganz tief gebückt weiter.

»Ra! Ra! Ra!« brüllten die Rot-Weißen.

»Hepp! Hepp! Hepp!« riefen die Astorianer.

Und dann kam es, völlig überraschend für alle: Der Sheriff traf seinen Gegner genau am Kinn.

»Endlich!« jubelte Herr Winkelmann. »Das war ein Aufwärtshaken!«

»Fabelhaft«, gab Mutter Pfannroth zu. Der Sheriff wurde nämlich gerade zum Sieger erklärt. Er konnte sich allerdings nicht verbeugen. Im Augenblick wenigstens nicht. Er half gerade dem Ringrichter, seinen Gegner in die rot-weiße Ecke zu tragen.

»Acht zu acht!« stellte Herr Winkelmann fest und rieb sich vergnügt die Hände. »Jetzt kommt’s allein auf Ihren Jungen an, Frau Pfannroth! Wenn er auch gewinnt, kann uns nichts mehr einfrieren.«

»Und ich gehe jetzt«, sagte Mutter Pfannroth. »Ich kann mir das einfach nicht mit ansehen, wenn jetzt auch noch mein eigener Junge da oben —«

»Sie dürfen sich umdrehen, wenn’s zu schlimm wird«, schlug Herr Winkelmann vor.

»Gut. Aber ich drehe mich wirklich um!«

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllte es aus der Halle.

Der Sheriff grüßte nämlich gerade nach allen Seiten und kletterte dann aus dem Ring.

Achtung! Achtung! Sieger nach Punkten —

»Jetzt bist du dran«, sagte das »Kindergesicht« im Umkleideraum. Peter stand auf und warf sich seinen ziemlich alten Bademantel über die Schultern.

»Ich drück’ dir ganz toll die Daumen«, flötete in diesem Augenblick eine helle Stimme. Gleich hinter dieser Stimme klemmte sich der Admiral an dem »Kindergesicht« vorbei durch die halboffene Tür. »Dreimal anspucken bringt Glück. Komm mal her!«

»Aber nicht ins Gesicht«, grinste Peter.

»Es gilt nur über die linke Schulter«, erklärte der Admiral ernsthaft und spuckte los, dreimal kurz hintereinander.

Dann sagte sie: »So, jetzt ist alles in Ordnung.«

Peter ging zur Tür. Dort stieß er jetzt beinahe mit dem Sheriff zusammen. »Gratuliere«, sagte Peter.

»Acht zu acht!« strahlte der Sheriff. »Astorias ganze Hoffnungen liegen auf Ihren Schultern, Herr Pfannroth.«

»Bei mir kann ja nun nichts mehr schiefgehen«, meinte Peter zum Admiral hinüber und ging los.

»Hals- und Beinbruch!« flötete Fanny Kuhlenkamp hinter ihm her.

»Hier muß es Mäuse geben«, knurrte der Sheriff und guckte sich um. »Irgend etwas hat da gerade gepiepst.« Aber der Admiral warf nur stolz die hellblonden Locken aus der Stirn und knallte die Tür hinter sich zu. Draußen war jetzt die Hölle los.

»Ra! Ra! Ra!« brüllten die Rot-Weißen, als ihr Mann in den Ring stieg.

»Hepp! Hepp! Hepp!« riefen die Astorianer, als Vater Kuhlenkamp jetzt das Ringseil hochhob und Peter in seine Ecke klettern ließ.

»Ring frei zur ersten Runde«, sagte die Lautsprecherstimme. Und gleich darauf kam der Gong.

»Conny! Conny!« riefen die Rot-Weiß-Leute.

Und tatsächlich ging der hellblonde Junge sofort zum Angriff über.

Peter wich mit dem ganzen Oberkörper zur Seite. Gerade noch rechtzeitig, um einem blitzschnellen rechten Haken auszuweichen.

»Alle Achtung!« gab Herr Winkelmann zu und pustete seine Lungen leer. Es zischte, wie wenn man bei einem Autoreifen das Ventil aufschraubt.

Der Kampf war sehr schnell. Und dabei steigerte der Rot-Weiße sein Tempo immer noch. Es sah so aus, als wolle er schon in der ersten Runde zu einer Entscheidung kommen.

Die beiden Jungen im Ring waren beinahe bis auf den Zentimeter gleich groß, und auch ihre Körper glichen sich wie ein Ei dem anderen.

Der Hellblonde schien im Augenblick noch etwas beweglicher zu sein, vor allem mit den Beinen. Wenn Peter zu einem Schlag ansetzte, steppte er blitzschnell und leicht wie ein Tänzer zur Seite, aber fast im gleichen Augenblick schlug er dann wieder zurück.

Als der Gong kam, gingen beide Jungen, tief Luft holend, in ihre Ecke zurück.

Der kleine Horst Buschke balancierte schnell einen Holzschemel zwischen den Seilen hindurch, und Peter setzte sich, die Beine weit von sich gestreckt.

Vater Kuhlenkamp kletterte zu ihm in den Ring und massierte ihm Brust und Oberschenkel.

»Sie können Ihre Augen wieder aufmachen«, sagte Herr Winkelmann eben zu Mutter Pfannroth. »Wir haben Pause.«

Frau Pfannroth hatte sich doch nicht verkehrt herum auf ihre Bank gesetzt. Das hätte bestimmt dumm ausgesehen. Sie hatte beim Gong zur ersten Runde ganz einfach ihre Augen geschlossen, das war im Grunde das gleiche, nur mit dem Unterschied, daß es niemand merkte.

»Er pumpt nach Luft wie ein Maikäfer«, stellte Mutter Pfannroth fest.

Im gleichen Augenblick gongte es wieder.

»Es ist wirklich nicht so schlimm, wie Sie es vielleicht annehmen«, sagte Herr Winkelmann.

»Schön, ich probier’s mal«, gab sich Mutter Pfannroth einen Ruck und ließ ihre Augen jetzt vorerst offen.

»Ra! Ra! Ra!« brüllten die Rot-Weißen.

Der Hellblonde war nämlich schon wieder im Angriff. Noch schneller und noch beweglicher als in der ersten Runde. Er pendelte und tauchte mit seinem Oberkörper, als wäre er aus Gummi. Dabei ließ er immer wieder seine Fäuste fliegen.

»Conny, Conny!« brüllten die Leute von Rot-Weiß, und die ganze Halle brüllte mit.

»Hepp! Hepp! Hepp!« riefen die Astorianer, und nur Herr Winkelmann brüllte »Peter! Peter!« dazwischen, bis er plötzlich regelrecht erstarrte. Dicht neben ihm rief nämlich Mutter Pfannroth auf einmal »Aufwärtshaken! Aufwärtshaken!«

Und tatsächlich, der bestellte Aufwärtshaken kam.

Aber leider schlug ihn der Hellblonde, und Peter taumelte. Für eine Sekunde fiel er sogar in die Seile. Jetzt war die Hölle los. »Conny! Conny!« feuerte die ganze Halle den Hellblonden an.

Es sah so aus, als sei Peter wirklich angeschlagen.

Offenbar glaubte das auch der Junge von Rot-Weiß. Von dem allgemeinen Geschrei angetrieben, stürzte er sich ohne jede Vorsicht auf seinen Gegner in dem schwarzen Trikot.

Links — links — rechts — rechts —–

Der Hellblonde landete einen ganzen Hagel von Schlägen. Aber jetzt schlug Peter blitzartig und völlig unerwartet zurück.

Der Rot-Weiße riß sofort seine Fäuste in die Deckung. Aber es war den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Peter traf ihn mit der linken Faust hart und direkt am Kinn. Jetzt war es der Hellblonde, der taumelnd ein paar Schritte zurückging. Er griff nach dem Seil, um sich festzuhalten. Aber da stand Peter schon wieder vor ihm.

In diesem Augenblick zeigte es sich, daß der Hellblonde genauso zäh war wie noch kurz zuvor sein Gegner.

Er stellte sich sofort wieder zum Kampf. Dabei mußte er zuerst allerdings eine ganze Serie von Schlägen einstecken. Aber als ihm Peter nur einen winzigen Augenblick Zeit ließ, nahm er sofort seine Fäuste wieder vom Gesicht und ging seinerseits zum Angriff über.

Die Halle tobte vor Begeisterung.

»Ra! Ra! Ra!« brüllten die einen.

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllten die anderen.

»Das ist bisher der tollste Kampf!« stellte Herr Winkelmann fest.

»Es ist greulich«, widersprach Mutter Pfannroth. »Aber ich verstehe jetzt ein kleines bißchen, weshalb es Peter Freude macht.«

Die Halle beruhigte sich dieses Mal auch während der Pause nicht.

»Ring frei zur dritten und letzten Runde!« sagte der Lautsprecher.

Kurz darauf kam der Gong.

Die beiden Jungen prallten in der Ringmitte hart aufeinander.

Zuerst standen sie jetzt Fuß an Fuß und ließen ihre Fäuste fliegen.

Da sprang Peter ganz plötzlich zur Seite. Nicht um auszuweichen, nur, um sofort wieder neu anzugreifen. Dabei mußte der Hellblonde nur einen oder zwei Schritte zurück. Und das genügte. Das hatte Peter erreichen wollen. Sofort ging er dem Rot-Weißen nach. Er ließ seinen Gegner jetzt gar nicht mehr zum Stehen kommen. Schritt für Schritt trieb er ihn vor sich her, dabei pausenlos schlagend.

Links — links — rechts.

Links — links — rechts.

Peter ließ seine Fäuste fliegen wie im Trainingssaal gegen den Kuhlenkampschen Sandsack. Dabei ging er nach vorn gebeugt hinter seinen Schlägen her.

»Peter! Peter!« riefen die Astorianer.

»Hepp! Hepp! Hepp!« fiel die Halle ein.

»Conny! Conny!« brüllten die Rot-Weißen dazwischen.

Peter hatte den Hellblonden vor sich in der neutralen Ecke. Jetzt gab es kein Ausweichen mehr. Er nagelte ihn richtig fest. Der Rot-Weiße zog die Deckung hoch. Da bearbeitete Peter seinen Körper.

Verzweifelt stürzte sich der Hellblonde nach vorn, mitten in Peters Schläge hinein. Er mußte wieder Luft bekommen, wieder aus dieser Ecke heraus.

Und dieser Ausbruch brachte die Entscheidung.

In dem Augenblick, als der Hellblonde seine Fäuste vom Gesicht nahm, saß Peters linke Faust. Der Rot-Weiße sah ganz erstaunt mit großen Augen um sich. Dann setzte er sich auf die Bretter, ganz langsam, wie wenn er sich in einen Klubsessel setzen würde.

»Hepp! Hepp! Hepp!« tobte alles in der Halle.

Peter ging in seine Ecke zurück.

»— zwei — drei — vier zählte der Ringrichter.

›Conny! Conny!‹ riefen die Rot-Weißen verzweifelt. Der Hellblonde kam langsam wieder zu sich. Aber er sah noch um sich, als ob er erst eben morgens in seinem Bett aufwachen würde, sechs — sieben —«

»Conny! Conny! Conny!«

Erst in diesem Augenblick schien der hellblonde Junge zu begreifen, was passiert war und was auf dem Spiele stand.

»– acht —«

Der Rot-Weiße war plötzlich wie elektrisiert. Er sprang auf, riß seine Fäuste vor die Brust und jetzt geschah, was niemand für möglich gehalten hätte.

Bevor Peter wieder richtig aus seiner Ecke gekommen war, stürzte der Hellblonde schon über ihn her. Er wollte retten, was noch zu retten war, schlug aus allen Lagen und dachte überhaupt nicht mehr an seine Sicherheit.

»Er bringt ihn um!« japste Mutter Pfannroth und schloß jetzt doch wieder die Augen.

Die Halle explodierte geradezu.

»Conny! Conny! Conny!«

»Ra! Ra! Ra!«

»Hepp! Hepp! Hepp!«

Mitten in diesen Hexenkessel hinein schlug der Gong. Die beiden kämpfenden Jungen hörten ihn genauso wenig wie die tobenden Zuschauer.

»Zeit!« rief der Ringrichter, und jetzt erst ließen die zwei Jungen ihre Fäuste hängen. Tief atmend standen sie sich eine ganze Weile gegenüber und sahen sich an. Jeder spürte den Atem des anderen im Gesicht.

Plötzlich lächelte der Hellblonde, aber nur ein ganz klein wenig. Eigentlich nur so, daß seine Lippen dieses Lächeln andeuteten. Dabei legte er dem Astorianer seine rechte Faust mit dem Boxhandschuh auf die Schulter. Dann ging er etwas müde in seine Ecke zurück. »Achtung! Achtung! Sieger nach Punkten Peter Pfannroth, Astoria«, gab der Lautsprecher bekannt.

Alles klatschte in die Hände.

Peter verbeugte sich, wie es üblich war, und ging dann in die andere Ecke, um auch den Hellblonden in die Ringmitte zu holen. Aber dieser Hellblonde war bereits auf dem Weg zu seinem Umkleideraum.

An seiner Stelle setzte sich schon der nächste Rot-Weiße auf den Holzschemel. Es war der Kerl mit seinen kurzen, rabenschwarzen Locken. Er grinste.

»Danke für die Blumen. Aber bitte erst nach der Hochzeit!«

Peter gab keine Antwort. Er ging wieder in seine Ecke zurück und zog seinen Bademantel über. Dann wandte er sich zu den Bankreihen seines Vereins. Beim letzten Kampf wollte er auch am Ring sitzen.

»Hepp! Hepp! Hepp!« begrüßten ihn die Astorianer.

»Verlieren können wir nicht mehr«, rief Herr Winkelmann.

»Und wenn dieser schwarze Lockenkopf gewinnt?« wollte Mutter Pfannroth wissen.

»Dann gibt’s leider ein Unentschieden«, erklärte Peter.

»Also gewinnt er nicht!« entschied Mutter Pfannroth, verschränkte die Arme und saß plötzlich ganz aufrecht.

»Du hast mit deiner Mutter ein enormes Glück gehabt«, bemerkte Herr Winkelmann leise.

»Weiß ich«, flüsterte Peter zurück.

Im gleichen Augenblick schlug der Gong.

Für die Rot-Weißen war dieser letzte Kampf plötzlich zum wichtigsten Kampf des ganzen Tages geworden. Sie brüllten also schon von der ersten Sekunde an los. »Ra! Ra! Ra!«

Entweder sie verloren jetzt endgültig, oder sie blieben durch ein Unentschieden doch noch im Rennen um die Meisterschaft.

»Joe Louis!«

»Joe Louis!«

Der stämmige Bursche mit seinen kurzen rabenschwarzen Locken hielt sozusagen die ganze rot-weiße Vereinsehre in seinen Boxhandschuhen.

»Joe Louis!« brüllten seine Leute also noch einmal.

»Das hört sich an wie Indianergebrüll«, stellte Mutter Pfannroth fest. »Ouui! Ouui! Was ist das nun wieder?«

»Das soll Joe Louis bedeuten«, antwortete einer der Astorianer. »So heißt er nämlich bei den Rot-Weißen.«

»Und Joe Louis, das war ein Negerboxer. Jahrelang Weltmeister«, erklärte Herr Winkelmann.

»Joe Louis, der braune Bomber«, grinste Peter.

»Danke. Ich bin jetzt im Bilde«, sagte Mutter Pfannroth. »Trotzdem, der junge Mann gefällt mir nicht.«

Und das war kein Wunder.

Der Kerl mit seinen kurzen schwarzen Locken fiel nämlich, wie man so sagt, völlig aus dem Rahmen, von Anfang an.

Der Kerl stampfte durch den Ring wie eine Lokomotive. Den Kopf tief zwischen den hochgezogenen Schultern, schnaubte er dazu noch wie ein Pferd durch die Nase. Wenn er schlug, war es ihm völlig gleichgültig, ob er traf und was er traf. Er schlug einfach.

Die Astorianer sahen sich an und wußten nicht, was sie zu diesem Burschen sagen sollten.

Selbst der Ringrichter machte einen ziemlich hilflosen Eindruck. Dieser Kerl boxte wie auf einem Jahrmarkt oder Rummelplatz.

»Joe Louis!« brüllten die Rot-Weißen trotzdem weiter. Der Bursche mit seinen kurzgeschorenen schwarzen Locken schob seinen Gegner, das »Kindergesicht«, mit dem ganzen Gewicht seines Körpers vor sich her. Dabei war ihm jedes Mittel recht. Er stieß mit dem Kopf, hielt dem Astorianer die Fäuste fest, wenn es der Ringrichter gerade nicht sehen konnte, und schlug im übrigen wie blind durch die Gegend.

Plötzlich knickte das »Kindergesicht« zusammen.

Die Rot-Weißen sprangen von ihren Bänken hoch und tobten schon vor Begeisterung.

»Joe Louis!« — »Joe Louis!«

Der Kerl mit den kurzen schwarzen Locken warf seine Fäuste in die Luft und tanzte in seine Ecke.

»Foul!« kamen jetzt die ersten Zwischenrufe.

»Tiefschlag!« riefen die Astorianer im Chor.

»Ganz klar. Ein glatter Tiefschlag!« entrüstete sich auch Herr Winkelmann und sprang auf.

Das »Kindergesicht« lag immer noch am Boden und zog die Knie an die Brust. Vater Kuhlenkamp und der kleine Horst Buschke kletterten zu ihm in den Ring.

Die Halle tobte wieder einmal wie ein Hexenkessel.

»Auszählen! Auszählen!« forderten die Rot-Weißen.

Aber der Ringrichter schüttelte energisch den Kopf und beugte sich über die Seile zum Kampfgericht.

Im gleichen Augenblick kam der Gong.

»Joe Louis!« riefen die Rot-Weißen wieder.

»Foul!« kam es jetzt immer häufiger aus allen Richtungen.

»Achtung! Achtung!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Lautsprecher durchsetzen konnte.

»Achtung! Achtung! Die Kampfleitung gibt bekannt, daß der Ringrichter Rot-Weiß wegen Tiefschlags eine Verwarnung erteilt.«

Jetzt brach die ganze Halle in Beifall aus.

Der Kerl mit seinen kurzen schwarzen Locken stand in seiner Ecke an die Seile gelehnt und grinste.

»Achtung! Achtung! Wenn sich der Kämpfer von Astoria bis zum Beginn der zweiten Runde nicht erholt hat, wird der Kampf abgebrochen.«

»Jetzt wird’s mir aber zu kompliziert«, sagte Mutter Pfannroth und sah zu dem Lautsprecher hinüber.

»Ganz einfach«, erklärte Herr Winkelmann, »das ›Kindergesicht‹ braucht jetzt nur sitzen zu bleiben, dann wird der andere disqualifiziert, und wir haben gewonnen!«

»Ausgezeichnet«, stellte Mutter Pfannroth fest. »Dann ist ja alles in bester Butter. Gehen wir also?«

Sie wollte wirklich schon aufstehen. Aber Peter hielt sie zurück.

Im Saal war es jetzt plötzlich ganz still wie in einer Kirche. Alles sah voll Spannung zum Ring, und zwar in die Ecke von Astoria. Wenn dort der lange Junge mit seinem Kindergesicht nicht wieder von seinem Holzschemel auf stand, war der Kampf für ihn zu Ende, und sein Verein hatte gewonnen.

Joe Louis war nun doch etwas nervös. Er schlug immer wieder seine großen Lederhandschuhe gegeneinander und tänzelte aufgeregt hin und her.

Peng! Das war der Gong.

Herr Winkelmann kniff Peter in den Arm vor Aufregung. Und in diesem Augenblick war es mit der Kirchenstille vorbei. Das »Kindergesicht« war nämlich auf gestanden und ging zur Ringmitte. Noch ziemlich bleich um die Nase. Aber die Fäuste in Kampfstellung vor der Brust.

»Hepp! Hepp! Hepp!«

Die ganze Halle brannte vor Begeisterung. Selbst die Rot-Weiß-Leute brüllten jetzt den Schlachtruf der Astorianer. Sie hatten allerdings auch allen Grund dazu.

»Astoria! Bravo Astoria!«

»Wieso — das hat er doch gar nicht nötig?« wunderte sich Mutter Pfannroth.

»Gerade darum!« rief Herr Winkelmann und klatschte, daß es knallte wie beim Teppichklopfen.

Das »Kindergesicht« war wie ausgewechselt.

Vielleicht, weil der lange Junge ehrlich und regelrecht wütend war. Vielleicht auch, weil er jetzt das Gebrüll der ganzen Halle auf seiner Seite hatte.

Jedenfalls kam der schwarzlockige Rot-Weiße überhaupt nicht mehr an ihn heran. Er fing alle Angriffe mit seinen langen Armen ab. Und dabei trafen dann die Fäuste an diesen langen Armen jedesmal in das herankommende Gesicht. Meistens mitten auf die Nase.

»Kindergesicht!« rief der Junge mit dem Engelshaar begeistert, und seine Stimme schnappte über dabei.

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllte es aus allen Bankreihen.

»Joe Louis, ans Telefon!« rief ein Witzbold von der Saaltür her.

Das »Kindergesicht« war jetzt ganz klar überlegen. Es nützte seine Reichweite aus und ließ den anderen regelrecht leerlaufen.

Der Kerl mit seinen kurzen schwarzen Locken kam einfach nicht mehr an den Astorianer heran. Vor lauter Wut zitterte und kochte er wie ein Dampfkessel kurz vor der Explosion.

Und da geschah es auch: Der Rot-Weiße wußte sich offenbar nicht mehr anders zu helfen. Er nahm seinen Kopf zwischen die Schultern und rannte dem »Kindergesicht« damit wie ein Stier vor die Brust. Dabei schlug er wild um sich. Ganz gleichgültig, wohin seine Fäuste trafen.

Das »Kindergesicht« taumelte zurück.

»Pfui! Pfui!« brüllte die ganze Halle. Man sprang auf die Bänke und war außer sich.

»Aufhören! Aufhören!« rief Herr Winkelmann und stieß die Arme in die Luft.

Im Ring sah es jetzt aus wie bei einer Keilerei irgendwo in einer Hafenkneipe. Der Ringrichter versuchte die beiden Kämpfer zu trennen, aber der Kerl mit den kurzgeschorenen Locken schlug weiter um sich. Bis jetzt sein eigener Trainer in den Ring kletterte und ihn regelrecht festhielt.

»Das ist unerhört!« protestierte Herr Winkelmann. Aber er war kaum zu verstehen. Die Zuschauer veranstalteten jetzt nämlich ein lautes Pfeifkonzert.

Die Leute von Rot-Weiß saßen ziemlich still auf ihren Bänken und ließen die Köpfe hängen. Nur der ältere Herr in seinem karierten Sportsakko ging jetzt zum Ring und redete zwischen den Seilen hindurch auf seinen Schwergewichtler ein. Nicht sehr freundlich, wie es den Anschein hatte.

»Achtung! Achtung!« bat der Lautsprecher noch einmal um Gehör. »Rot-Weiß verliert den Kampf im Schwergewicht durch Disqualifikation!«

Die Halle klatschte Beifall und rief »Bravo!«

»Hiermit gewinnt Astoria 1912 den heutigen Ausscheidungskampf zu den diesjährigen Jugendmeisterschaften mit zwölf zu acht Punkten!«

»Hepp! Hepp! Hepp!« jubelten die Astorianer, und die ganze Halle jubelte wieder mit.

Die Jugendmannschaft von Astoria mußte in ihren schwarzen Trikots jetzt noch einmal in den Ring und sich nebeneinander aufstellen. Die ganze Halle applaudierte, jeder der Jungen bekam eine Urkunde, und der Lautsprecher spielte wieder den Torero-Marsch aus Carmen. Dazu blitzte ein Fotograf, den Herr Winkelmann extra bestellt hatte, mit seinem Blitzlicht.

»Der Anfang und der Schluß waren am schönsten!« stellte Mutter Pfannroth fest und suchte wieder einmal nach ihrem Taschentuch.

Herr Winkelmann wartete mit seinen Astorianern und allen Schuhputzerjungen vor dem Umkleideraum.

Als die Jugendmannschaft wieder in ihren Sonntagsanzügen steckte, zwirbelte der Fleischermeister vergnügt seine Schnurrbartspitzen hoch und sagte: »Also auf zur ›Siebten Runde‹, meine Herren!«

Man setzte sich in Bewegung.

»Und ich gondle jetzt nach Haus«, gab Mutter Pfannroth bekannt, »meine Nähmaschine wartet«.

»Daraus wird nichts!« widersprach Herr Winkelmann. »Sie kommen selbstverständlich mit.« Er bot Frau Pfannroth den Arm und sagte höflich: »Bitte, bedienen Sie sich.«

»Da muß ich erst meinen Jungen fragen«, protestierte Frau Pfannroth.

»Papperlapapp!« lachte Peter und hakte sich auf der anderen Seite bei seiner Mutter unter.

Die Astorianer spazierten aus der Turnhalle vergnügt über den Schulhof wie eine Schulklasse, die Hitzeferien hat.

Dicht neben dem Winkelmannschen Lastwagenzug wartete ein schlanker Junge mit großen schwarzen Augen. Als der Sheriff in seine Nähe kam, sagte dieser Junge: »Buenos dias, hier bin ich.«

»Buenos dias«, antwortete der Sheriff, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Jungen, die um ihn herum waren, schauten sich an.

»Das ist Carlos«, erklärte der Sheriff. »Er ist Portugiese.«

»Portugal — das ist doch das Stück ganz links außen auf der Europakarte?« fragte der kleine Horst Buschke.

»Wie man’s nimmt«, überlegte der Sheriff, um Zeit zu gewinnen. Geographie war nicht seine starke Seite.

Glücklicherweise ließ in diesem Augenblick Herr Winkelmann schon seinen Lastwagenmotor anspringen und hupte dreimal.

»Wir müssen einsteigen!« rief der Sheriff. »Und du kommst am besten gleich mit«, sagte er zu dem Jungen mit den großen schwarzen Augen.

Zwei Minuten später kurvte Herr Winkelmann über den Schulhof und donnerte los.

Von einer Kegelbahn, einem Parlament und Eisbeinen

Die Wirtschaft »Zur siebten Runde« lag ziemlich versteckt in einer Hafengasse bei den Landungsbrücken.

»Gestatte mir ergebenst, zu gratulieren!« Herr Brose stand selbst am Eingang seines Lokals und hielt den Astorianern die Tür auf. »Links ins Vereinszimmer, wenn ich bitten darf!«

»Servus, Karl«, grüßte Herr Winkelmann. »Das ist Herr Brose«, stellte er vor, »und das Frau Pfannroth.«

»Sehr angenehm«, sagte Herr Brose.

»Ebenfalls«, meinte Mutter Pfannroth.

Im Vereinszimmer der »Siebten Runde« hingen Fotos und Siegerkränze an den Wänden, Boxhandschuhe baumelten von den Lampen, und auf jedem Tisch stand ein Gong, mit dem man die Bedienung rufen konnte. Auf den Tischen lagen heute weiße Tischdecken und sogar schon Eßbestecke.

»Bestens vorbereitet, wie Sie sehen«, lachte Herr Brose. »Ich bitte Platz zu nehmen, dann marschiert schon alles.«

»Gibt’s hier eine Hochzeit?« fragte Frau Pfannroth und nahm Platz.

»Kann’s losgehen?« rief in diesem Augenblick Frau Brose aus der Küche herüber.

»Es kann!« rief Herr Winkelmann zurück. Dabei setzte er sich neben Mutter Pfannroth ans Tischende. Gegenüber nahmen Vater Kuhlenkamp und der Admiral ihre Plätze ein. Die übrigen Astorianer setzten sich, wo sie gerade standen.

Zwei Kellnerinnen und ein Pikkolo balancierten jetzt Teller vor sich her und verteilten sie. Dann verschwanden die drei wieder. Als sie von neuem zurückkamen, trugen sie große Schüsseln mit Kartoffeln, Sauerkraut und Eisbein.

Die Eisbeine stammten natürlich aus der Winkelmannschen Großschlächterei.

»Ah!« und »Oh!« riefen die Astorianer. Dabei klatschten sie in die Hände, so daß der Berg Eisbeine einen Auftrittsapplaus bekam wie eine Ballettgruppe im Operettentheater.

»Wer von den Junioren und vom Vorstand ein Bier trinkt, die Arme hoch!« kommandierte Herr Winkelmann. Er zählte und kommandierte weiter: »Weggetreten! Jetzt Arme hoch, wer einen Apfelsaft will!« Herr Winkelmann zählte wieder ab. Dann rief er: »Hallo Pikkolo! Zwölf Bier und einundsechzigmal Apfelsaft! Aber wenn’s geht, heute noch. Was ein richtiges Eisbein ist, will nämlich schwimmen.«

»Sie werden bald Konkurs machen«, stellte Mutter Pfannroth sachlich fest. Dabei nahm sie sich etwas aus der Schüssel mit dem Sauerkraut.

»Wieso?« fragte Herr Winkelmann erschrocken.

»Soviel wie Sie verschenken, kann kein Mensch verdienen«, antwortete Mutter Pfannroth und schob jetzt die Sauerkrautschüssel über den Tisch: »Bitte, Herr Kuhlenkamp.«

Der Fleischermeister lachte los. »Das ist gut. Das ist sogar sehr gut! Winkelmann macht Pleite wegen der paar Eisbeine! Sie müßten mal sehen, was bei mir so jeden Tag allein durch die Wurstmaschine geht!«

»Dann bin ich ja beruhigt«, meinte Mutter Pfannroth.

Sie griff nach ihrem Apfelsaft: »Also auf Ihr Wohl, Herr Winkelmann.«

»Danke schön, gleichfalls«, sagte der Fleischermeister und ergriff sein Glas. Dann faßte er sich wieder und rief so laut, daß es alle hören konnten: »Guten Appetit!«

»Guten Appetit, Herr Winkelmann!« antworteten die Astorianer.

»Bier oder Apfelsaft?« fragte der Pikkolo und ging mit seinen Flaschen von Platz zu Platz weiter.

»Einen Steinhäger!« sagte der kleine Horst Buschke mit vollem Mund.

»Sehr wohl, mein Herr«, antwortete der Pikkolo und wollte schon losrennen.

»So was Blödes! Du verstehst wohl keinen Witz?« knurrte Horst Buschke.

»Nicht, wenn ich im Dienst bin, mein Herr«, sagte der Pikkolo todernst und verteilte weiter seine Bier- und Apfelsaftflaschen.

Plötzlich blitzte es auf, so daß Mutter Pfannroth erschrocken zusammenzuckte.

Der von Herrn Winkelmann engagierte Fotograf hatte eine Blitzlichtaufnahme gemacht.

»Was soll das nun wieder?« fragte Mutter Pfannroth.

»Ich denke, wir wollen in Ruhe unsere, beziehungsweise Ihre Eisbeine essen.«

»Nur für unsere Vereinszeitung und für unser Fotoalbum«, erklärte Herr Winkelmann.

»Schön. Aber dann die jungen Leute und keine alte Frau wie mich!«

»Pssst!« machte Herr Winkelmann. »Erstens sind Sie gar nicht so alt, und zweitens möchte ich jetzt ein Bild, auf dem wir beide zusammen drauf sind.«

»Ist denn überhaupt mein Haar in Ordnung?« fragte Mutter Pfannroth. Aber da machte es klick, es blitzte auf, und der Fotograf sagte: »Danke schön.«

»Prima!« rief der Admiral und hüpfte vergnügt auf seinem Stuhl hin und her.

Als es draußen allmählich immer dunkler wurde, schlichen sich die Schuhputzerjungen einer nach dem anderen aus dem Vereinszimmer.

»Treffpunkt Kegelbahn.«

Da tagte dann die Generalversammlung.

Man saß im Halbkreis auf dem glatten Fußboden, über den sonst die schweren Holzkugeln rollten.

Der Sheriff hatte, sozusagen als Geschäftsführer, die Sitzung eröffnet.

Zuerst waren nur rein geschäftliche Dinge zur Sprache gekommen: der gemeinsame Einkauf von Schuhcreme, von Bürsten und Poliertüchern. Der Sheriff hatte eine Firma ausfindig gemacht, die den Jungen Großhandelspreise berechnen wollte. Die Bestellungen mußten jeweils bis zum Mittwoch aufgegeben sein.

»Und jetzt erteile ich Peter das Wort«, sagte der Sheriff abschließend und setzte sich.

»Bravo, Sheriff!« riefen die Jungen und klatschten.

Peter hatte sich inzwischen direkt unter die Lampe gestellt, die mitten über der Kegelbahn von der Decke herunterhing.

Er biß sich jetzt auf die Unterlippe und sah vor sich auf den Fußboden.

»Ihr wißt, daß ich mit dem Schuheputzen aufhöre. Wer bei uns ausscheidet, tut es ja nur, um einen ordentlichen Beruf zu erlernen, worauf er sehnlichst wartet. Ich gehe in den Hotelberuf.«

Peter sah jetzt vom Fußboden weg und den Jungen in die Augen.

»Trotzdem ist es so, als ob man irgendwo in den Ferien war und wieder in den Zug klettern muß. Man freut sich auf zu Hause, und doch ist’s einem fast zum Heulen. Weil man eben von dort, wo es schön war, nicht gern wegfährt. Ich freue mich natürlich aufs ATLANTIC, aber —«, Peter biß sich wieder auf die Unterlippe und sah über die Jungen, die treue Kameradschaft mit ihm gehalten hatten, hinweg. Das dauerte eine Weile, dann sagte er nur noch kurz: »So ist das, und ihr wißt bestimmt, was ich meine. — Dann ist da noch die Sache mit den hundert Mark«, fuhr Peter nach einer Weile fort: »Dazu kann ich euch nur versprechen, daß ich genauso, wie ihr alle heute morgen mitgemacht habt, dabei bin, wenn einer von euch in die gleiche Lage kommt. Und das ist vielleicht überhaupt das Schönste dabei, daß jetzt jeder von uns weiß, er ist nicht allein, die anderen helfen ihm, so gut sie können, wenn es ihm mal dreckig geht. Und das ist eine ganze Menge, genau vierundzwanzigmal mehr als jeder von uns allein fertigbringt. Im übrigen müßt ihr jetzt einen neuen Chef wählen. Ich bitte um Vorschläge.«

Die Jungen klatschten in die Hände und trampelten mit den Füßen.

Als sich der Beifall gelegt hatte, sagte Peter: »Danke schön. Aber jetzt, bitte, die Vorschläge.«

»Der Sheriff!« riefen mehrere Jungen auf einmal.

»Ich stelle fest: erster Vorschlag, der Sheriff! Weiter!«

»Horst Buschke!« rief es.

»Ich stelle fest: zweiter Vorschlag —«, Peter stockte.

Der kleine Horst Buschke hatte nämlich einen knallroten Kopf und bibberte vor Vergnügen.

Er hatte seinen eigenen Namen zum Vorschlag gebracht. »Der zweite Vorschlag ist ungültig«, erklärte Peter jetzt, »man kann sich natürlich nicht selbst vorschlagen. Weiter.« Peter sah sich um und wartete. Eine ganze Weile. Dann sagte er: »Ich stelle fest, der Sheriff liegt ohne Konkurrenz im Rennen. Also Abstimmung. Wer dafür ist, daß Sheriff der neue Chef wird, hebt die rechte Hand hoch.«

Alle Jungen hoben den Arm, auch Horst Buschke. Er rief als alter Spaßmacher noch: »Ich beuge mich der Mehrheit!«

Die Winkelmannschen Eisbeine blieben nicht ohne Wirkung. Ein Parlament mit vollen Mägen neigt eben zur Einmütigkeit.

»Ich stelle fest«, sagte Peter wieder, »der Sheriff ist einstimmig gewählt.«

Jetzt tobten die Jungen wie vorher.

Der Sheriff sprang auf, stellte sich neben Peter in die Mitte, und die beiden gaben sich die Hand. Es sah so aus, als gratuliere in Amerika der scheidende Präsident seinem Nachfolger.

»Ich übergebe hiermit das Präsidium an den neuen Chef!«

Damit setzte sich Peter unter die Jungen.

»Ruhe!« rief der Sheriff.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Jungen mit ihrem Klatschen und Rufen aufhörten.

»Ich bin tief gerührt«, gab der Sheriff bekannt und grinste über sein ganzes Gesicht. »Wirklich.«

Die Jungen wollten schon wieder losbrüllen, aber da winkte der neue Chef energisch ab und sagte sehr sachlich: »Ich bitte das hohe Haus, die ihm angemessene Würde zu bewahren!«

Die Versammlung lachte und kicherte, aber sie blieb jetzt ruhig.

»Wenn ihr damit einverstanden seid, nehme ich anstelle von Peter jetzt Horst Buschke zu mir an den Bahnhofseingang. Er ist zwar eine Knalltüte, aber zugleich ist er auch am längsten bei uns. Hat jemand etwas dagegen einzuwenden?«

Niemand meldete sich.

Da rief der kleine Horst Buschke: »Ich protestiere gegen die Bezeichnung Knalltüte!«

»Einspruch abgelehnt«, stellte der Sheriff fest und winkte jetzt den Jungen mit den großen schwarzen Augen zu sich.

»Das ist Carlos.«

Der junge Portugiese stand etwas verlegen neben dem Sheriff unter der Lampe vor all den Jungen.

»Vielleicht habt ihr etwas von den ›Fünf Romanos‹ gehört, die im vorigen Monat hier im Zirkus aufgetreten sind? Das ist eine Trapeznummer, die ohne Netz arbeitet, und der jüngste von ihnen ist Carlos. Er mußte wegen seines Blinddarms ins Krankenhaus. Die anderen konnten nicht warten, bis er wieder gesund war, weil sie schon mit einem Zirkus in Amerika abgeschlossen hatten. Dort arbeiten sie jetzt ohne ihn. Sie würden ihn gern wieder bei sich haben, aber da sein Ausreisepaß abgelaufen ist und sie ständig in der Welt umherfahren, ist das schwer zu machen. Erst im Winter kommen die Romanos wieder hierher zurück. Bis dahin möchte Carlos gern bei uns arbeiten. Ich frage also, ob ihr damit einverstanden seid, daß er für Horst Buschke am U-Bahn-Eingang Mönckebergstraße anfängt?« Niemand hatte etwas dagegen einzuwenden.

»Gracias«, sagte der junge Portugiese, und seine großen schwarzen Augen strahlten jetzt wie frisch polierte Billardkugeln.

»Das heißt danke schön!« erklärte der Sheriff.

»Wenn ihr wollt — ich euch etwas zeigen?« sagte Carlos und schaute um sich.

»Ohne Trapez?« fragte der Sheriff.

Aber der junge Portugiese lächelte nur, zog seine Jacke aus und warf sie zur Seite.

»Pronto!« rief er und stellte sich kerzengerade unter die Kegelbahnlampe. Die Hände an der Hosennaht.

Dann ging’s los. Er sprang in den Handstand und spazierte auf den Händen durch die Gegend. Dann ließ er sich auf seine waagerecht ausgestreckten Beine wie eine Primaballerina zur Seite fallen.

Die Jungen applaudierten begeistert.

Der junge Portugiese drückte sich jetzt mit den Armen wieder in die Höhe. Sein ganzer Körper bog sich, als wenn er aus Gummi wäre. Genauso federte er jetzt auch wieder zurück, dann wirbelte er plötzlich durch die Luft und drehte sich um die eigene Achse, immer schneller. Zum Schluß schlug er noch einen einwandfreien doppelten Salto.

Die fünfundzwanzig Jungen tobten, klatschten und trampelten wie wild.

Eine Viertelstunde später brachte Meister Winkelmann die beiden Pfannroths in seinem Lastzug bis vor die Haustür. Dort half er Mutter Pfannroth beim Aussteigen und zog seinen Hut. »Es hat mich wirklich gefreut, Sie kennenzulernen!«

»Ganz meinerseits. Es war ein schöner Sonntag!« lächelte Mutter Pfannroth. »Danke schön!«

»8-Uhr-Blatt! Die neueste Montagausgabe jetzt schon zu haben! 8-Uhr-Blatt!« rief ein Zeitungshändler, der von Lokal zu Lokal ging und gerade über die Straße kam.

»Hallo!« winkte ihm Herr Winkelmann. Dann sagte er zu den beiden Pfannroths: »Vielleicht steht schon etwas von uns drin.«

»Die Sportnachrichten kommen immer auf der dritten Seite«, meinte Peter.

Herr Winkelmann wollte die Zeitung schon auseinanderklappen, da pfiff er plötzlich erstaunt durch die Zähne. »Donnerwetter!«

»Ist was passiert?« fragten die zwei Pfannroths gleichzeitig und guckten Herrn Winkelmann über die Schultern. Da sahen sie es selbst.

»Bankräuber verhaftet!« stand als Schlagzeile dick und groß über die ganze Breitseite der Zeitung gedruckt.

»Das ging aber fix!« stellte Mutter Pfannroth fest.

»Es gelang in den heutigen Nachmittagsstunden, das Nest der Verbrecher auszuheben. Sie haben alle gestanden, an dem Bankraub beteiligt gewesen zu sein«, las Herr Winkelmann aus der Zeitung vor. »Der Anführer der Bande ist ein international gesuchter Betrüger, der in den Kreisen der Verbrecherwelt unter dem Namen ›Schwarze Rose‹ bekannt ist.«

»Na, ich danke«, sagte Mutter Pfannroth.

»Um so bedauerlicher, daß sich dieser Bandenchef ›Schwarze Rose‹ zusammen mit seinem Hauptkomplizen«, las jetzt Peter weiter, »dem Zugriff der Polizei entziehen konnte.«

»Und das Geld? Hat man wenigstens das Geld gefunden, oder war es schon verpulvert?« fragte Mutter Pfannroth.

»Die Verhaftung war möglich«, las Herr Winkelmann jetzt wieder vor, »weil sich die Gangster offenbar untereinander um die Beute betrogen haben. Um sich zu rächen, erstattete einer der Betrüger Anzeige. Es steht fest, daß die Verhafteten von dem geraubten Geld bisher noch keinen Pfennig gesehen haben. Es sei denn, bei dem Überfall selbst. Seitdem müssen die einhundertzweiundvierzigtausend Mark im Besitz der ›Schwarzen Rose‹ sein. Die Polizei ist ihm und seinem Komplizen auf der Spur. Sie hat für die Ergreifung der beiden eine Belohnung von 1ooo Mark ausgesetzt. Zweckdienliche Mitteilungen werden erbeten an Kriminalkommissar Lukkas, Kriminalpolizei am Sternplatz, Seitenflügel A, zweiter Stock, Zimmer 247.«

Herr Winkelmann und die beiden Pfannroths sahen sich an.

»Wieso steht dann in der Schlagzeile: ›Bankräuber verhaftet‹? Das stimmt doch gar nicht«, stellte Peter entrüstet fest.

»Schlagzeilen sind Glückssache. Manchmal stimmen sie auch wieder«, lachte Herr Winkelmann und beguckte sich jetzt die Fotos der verhafteten Herren.

»Gesichter direkt zum Anbeißen!« stellte Mutter Pfannroth fest.

Peter tippte mit dem Zeigefinger auf das zweite Bild von links: »Das war der Kerl mit der Kamelhaarjacke und dem knalligen Wollschal.«

Alle drei hatten ganz vergessen, nach den Sportnachrichten zu sehen.

Ein ziemlich wichtiger Tag

Mutter Pfannroth winkte vom vierten Stock zu ihrem Jungen hinunter, bis die Straßenbahn mit ihm davonrasselte. Fünf Minuten vor sieben stand Peter vor dem Hotel »ATLANTIC«. Wagenmeister Krause kam gerade aus der Drehtür über die vier oder fünf Stufen und pfiff auf einer Trillerpfeife nach einer Taxe.

»Guten Morgen, Herr Krause«, sagte Peter und stellte seinen Pfannrothschen Ferienkoffer neben sich auf den Bürgersteig.

»Auch einer von den Pagen?« fragte der Wagenmeister und pfiff noch einmal. »Der Kerl sitzt auf seinen Ohren und schläft!« Er winkte jetzt mit beiden Armen die Straße hinauf zum Halteplatz der Mietswagen; es sah aus, als mache er Freiübungen.

»Sie sind beschäftigt, wie ich sehe«, sagte Peter und nahm seinen Koffer wieder auf. »Außerdem muß ich pünktlich um sieben zum Dienst da sein.« Er spazierte auf die gläserne Drehtür zu.

»Untersteh dich!« rief da Wagenmeister Krause. »Für Personal und Lieferanten gefälligst um die Ecke!«

»Schönen Dank für die freundliche Auskunft«, sagte Peter etwas gekränkt und trabte los.

Aber das hatte Herr Krause gar nicht mehr gehört. In diesem Augenblick kam endlich die Taxe vorgefahren und bremste. »Er wollte nicht anspringen«, entschuldigte sich der dicke Chauffeur.

»Sie verwechseln wohl den Motor mit sich?« erwiderte Herr Krause. Dann kamen zwei Chinesen durch die Drehtür und stiegen ein. Sie erhielten noch ihr Gepäck hinterhergebracht, und dann rief Wagenmeister Krause dem Chauffeur zu: »Zum Flugplatz!«, zog seine Mütze und sah dem Wagen nach.

Inzwischen hatte Peter seinen Ferienkoffer bis zum Eingang für Personal und Lieferanten um die Ecke geschleppt.

Dort standen schon neun Jungen und warteten. »Aha! Nummer zehn!« riefen sie.

»Dann wären wir ja vollzählig«, stellte ein kleiner Junge fest. Er hatte knallrote Haare. »Gehen wir!«

»Einer fehlt noch«, bemerkte Peter. »Ich bin nämlich nicht Nummer zehn, sondern Nummer elf.«

»Versteh’ ich nicht«, sagte der Rothaarige.

Im gleichen Augenblick hielt ein ziemlich neuer »Fiat 1100«, und ein hellblonder Junge stieg aus. Er gab dem Herrn, der am Steuer saß, die Hand und nahm einen kleinen schwarzen Lederkoffer. Der Wagen fuhr wieder an, und der Junge sah ihm nach, dann drehte er sich um.

Peter stellte wieder einmal den Pfannrothschen Ferienkoffer auf den Bürgersteig, nahm die Fäuste in die Hüften und sagte: »Ich glaube, wir kennen uns.«

Der Hellblonde lächelte und kam auf Peter zu. »Das finde ich enorm«, sagte er und hielt seine Hand hin.

»Conny Kampendonk, wie du weißt.«

»Peter Pfannroth«, grinste Peter.

»Otto Lehmann«, trompetete jetzt der kleine Rothaarige und verbeugte sich nach allen Seiten. »Wenn die Herren nichts dagegen haben, marschiert die Fußballmannschaft jetzt aufs Spielfeld!«

Die elf Jungen mit ihren Koffern und Pappkartons unter den Armen hätten tatsächlich eine Fußballmannschaft sein können. Sie gingen jetzt die Treppe für »Lieferanten und Personal« hinunter. Dort passierten sie zwei breite Flügeltüren, und dann standen sie in einem kellerartigen Vorraum.

»Immer reinspaziert!« rief ein älterer Mann, der ziemlich klein war und durch eine Brille guckte. Er kam hinter einem Glasverschlag hervor, der dem Eingang gegenüberlag.

»Ich heiße Pfefferkorn und bin hier Personalportier. Was das ist, werdet ihr schnell spitz kriegen. Also aufgepaßt!« Herr Pfefferkorn stellte sich vor die Jungen und erklärte jetzt wie ein Fremdenführer beim Rundgang durch ein Museum: »Hier durch diese Türen und an meinem Glaskasten vorbei kommt ihr herein und geht ihr wieder hinaus, vor und nach eurem Dienst, meine ich. Jeder bekommt eine Karte mit seinem Namen drauf für die Stechuhr. Guckt euch die Wand an! Da stecken über tausend Karten. So viele Menschen arbeiten hier im Hotel. Das geht nur gut, wenn jeder Ordnung hält. Mit diesen Karten kann die Personalabteilung jederzeit feststellen, wann ihr gekommen und wann ihr wieder gegangen seid. Ihr müßt die Karten in den Schlitz dieses Apparates stecken, dann bekommt sie die Zeit auf gestempelt. Ist das klar?« Er zeigte den Jungen die Bedienung des Apparates. »Jawohl, Herr Pfefferkorn«, riefen die Jungen.

»Schön«, stellte der Personalportier fest. »Was mich betrifft, so sitze ich hier in meinem Glaskasten und passe auf, was hier rein- und rausgeht. Wenn ihr Aktenmappen oder sonst etwas bei euch habt, müßt ihr mir sie vorzeigen, und wenn’s mir paßt, gucke ich auch in eure Hosentaschen. Die Hoteldirektion legt nämlich keinen Wert darauf, daß ihre silbernen Kaffeelöffel Beine kriegen und spazierengehen. Ist das auch klar?«

»Jawohl, Herr Pfefferkorn!« riefen die Jungen wieder.

»Euer Vorgesetzter, dem ihr direkt untersteht, ist übrigens der Chefportier Krüger. So — und jetzt rechts um und mir nach!« kommandierte Herr Pfefferkorn.

Es ging durch einen niedrigen Kellergang, der aber glatte Wände hatte und weiß gestrichen war. Links und rechts waren immer wieder Türen. Es war fast so, als ginge man unter Deck eines großen Ozeandampfers.

Im Vorbeigehen konnten die Jungen die Aufschriften an den Türen lesen. »Schlosserei«, »Heizungsingenieur«, »Technisches Büro«, »Wäscherei«, »Schneiderei«, »Weinkeller«, »Bierkeller«, »Magazin«.

Die Küchenräume standen offen.

Eine Menge weißgekleideter Köche hantierte mit riesigen Töpfen an Feuerherden, die so groß waren wie Billardtische. Dicht daneben wurden ganze Tellertürme durch die Gegend balanciert und in dampfend heißes Wasser gesteckt.

»Hier ist euer Umkleideraum«, sagte jetzt Personalportier Pfefferkorn und machte eine Tür auf. »Jeweils zwei Mann bekommen zusammen einen Schrank. Hier laßt ihr eure Uniform, wenn ihr nach Hause geht, und da rechts sind die Duschen. Vielleicht wollt ihr euch zu Ostern oder Weihnachten mal drunterstellen!«

Die Jungen lachten, wie es sich gehört, wenn ein Vorgesetzter einen Witz macht. Dann stürzten sie sich auf die Schränke.

»Wollen wir zusammen —?« fragte Conny Kampendonk. Peter nickte.

Jetzt kam der große Augenblick für die neuen Hesselbeinschen Uniformen. Die Jungen schnürten ihre Pappkartons auf oder klappten ihre Kofferdeckel hoch.

»Ich bin gespannt wie ein Regenschirm«, gab Herr Pfefferkorn bekannt.

Aber das half ihm nichts, er mußte noch warten.

Als Peter und Conny ihre Sachen ausgezogen hatten, grinsten sie sich fast gleichzeitig an. Jeder trug nämlich als Unterhose die Sporthose seines Vereins. Peter schwarz und Conny weiß.

»Guten Morgen, Astoria!« sagte Conny.

»Guten Morgen, Rot-Weiß!« antwortete Peter.

Dann stiegen sie in ihre nagelneuen Pagenuniformen. Fünf Minuten später spazierte Herr Pfefferkorn an der Spitze seiner uniformierten Fußballmannschaft über die Treppe ins Erdgeschoß. Dort lagen schon dicke Teppichläufer auf den Korridoren. Es ging an einer Glasfront von Türen vorbei durch den Frühstückssaal, dessen Tische weiß gedeckt waren, und dann in die große Halle.

Vor der Portierloge machte Herr Pfefferkorn halt und meldete: »Elf neue Pagen angetreten!«

»Unsere Ablösung«, grinsten die Jungen, die auf der Pagenbank saßen und sich die Neuen sehr interessiert ansahen.

Die Garderobenfrau, die Zigarettenverkäuferin, der Fahrstuhlführer, sogar Empfangschef König und das Fräulein von der Kasse kamen hinter ihren Schaltern hervor und beguckten sich die elf Jungen in den nagelneuen Uniformen.

»Das ist Chefportier Krüger. Im übrigen muß ich jetzt wieder in meinen Glaskasten«, sagte Herr Pfefferkorn und rannte los.

»Page!« rief der Chefportier und schnalzte mit Daumen und Zeigefinger. Die Neuen sahen sich an. Aber da stand schon einer der alten Pagen, der Junge mit abstehenden Ohren, vor der Portiersloge. »Sage Herrn Direktor Adler und Personalchef Thomas Bescheid!«

Der Junge wiederholte. »Direktor Adler und Herrn Thomas Bescheid sagen!« Dann spritzte er los.

Chefportier Krüger senkte ein wenig den Kopf und sah sich durch seine Brille jeden einzelnen der neuen Pagen genau an.

Da kam der Junge mit den abstehenden Ohren wieder zurück.

»Die Neuen sollen ins Direktionsbüro kommen«, meldete er.

»Also bitte!« Herr Krüger spazierte los. Die elf Jungen hinterher.

»Sie können gleich durchgehen«, sagte Fräulein Wiesengrund im Vorzimmer und machte die lederbepolsterten Türen auf. Sie hatte wieder ein ganz buntes Sommerkleid an und zwinkerte Peter vergnügt zu, als er an ihr vorbeiging.

Der »Regenschirm« — Verzeihung — Direktor Adler kam hinter seinem Schreibtisch hervor.

»Guten Morgen, Jungen!«

»Guten Morgen«, sagte auch Personalchef Thomas, der an einem Fenster stand.

»Guten Morgen, Herr Direktor«, antworteten die Jungen. Aber das klang wie ein Orchester, das erst seine Instrumente stimmt. Einige der Jungen hatten nämlich auch »Guten Morgen, Herr Personalchef« gesagt.

»Das ist ein ziemlich wichtiger Tag für euch«, erklärte Direktor Adler, »und wichtige Tage soll man nicht zerreden. Ich will euch also nur das eine sagen, und daran müßt ihr immer denken, wenn ihr unter diesem Dach arbeitet: Alles, was wir hier tun, das tun wir für unsere Gäste. Nichts in diesem Haus ist wichtiger als ihr Wohl und ihre Bequemlichkeit. Deshalb ist so ein Hotel wie eine kleine Stadt. Alles, was eine Stadt im Großen hat, haben wir auch im Kleinen. Aber diese kleine Stadt funktioniert nur, wenn jeder, der zu ihr gehört, Freude an der Geschichte hat und deshalb auch gern seine Pflicht tut. Darauf kommt’s mir nämlich an: Ich will nicht nur, daß alles klappt wie am Schnürchen, ich will auch noch vergnügte Gesichter dazu. — So, das wär’s! Und jetzt überlasse ich euch Herrn Krüger.«

»Eure Verträge könnt ihr euch im Personalbüro abholen«, sagte Herr Thomas noch. Dabei versuchte er zu lächeln. Immerhin hatte Direktor Adler gerade von »vergnügten Gesichtern« gesprochen.

Die Jungen spazierten wie ein Kindergarten in die Halle zurück. Es fehlte nur noch, daß sie dabei ein Lied sangen.

Herr Krüger stellte sich wieder in seine Portiersloge und sprach jetzt wie von einem Rednerpult herunter: »Also, meine Herren«, er faßte mit der linken Hand an seine Brille, »wenn ihr eure Augen und Ohren aufmacht, wißt ihr schon nach zwei Tagen, wie der Hase läuft. So lange halte ich die bisherigen Pagen noch zurück. Eigentlich sollten sie heute schon bei den Etagenkellnern anfangen — aber schön, zwei Tage bleiben sie noch hier, und in diesen zwei Tagen geht ihr den Burschen nicht von den Socken, laßt euch alles zeigen und macht alles mit. Ab Donnerstag schwimmt ihr dann allein.«

Chefportier Krüger holte Atem und sah die Jungen an, wieder einen nach dem anderen. Bei dem kleinen Rothaarigen blieben seine Augen stehen. »Du mußt dir jetzt leider angewöhnen, die Fingernägel zu putzen«, sagte er leise. Dann fuhr er in der alten Tonstärke fort: »Wir arbeiten in zwei Schichten. Von sieben Uhr früh bis nachmittags um drei, und von drei bis nachts um elf. Das wechselt von Woche zu Woche. Fangen wir gleich an damit! Die sechs, die links stehen, sind in dieser Woche Frühschicht, die fünf anderen Nachtschicht. Auf Wiedersehen, meine Herren. Sie können sich sofort wieder schlafen legen.«

Die fünf Nachtschichtler ließen die Köpfe hängen.

»Pünktlich um drei wieder hier«, meinte Herr Krüger und fügte noch hinzu: »Mit vergnügten Gesichtern, möchte ich mir ausbitten! Page!«

Der Chefportier schnalzte wieder mit Daumen und Zeigefinger. »Zeig den Herren wieder ihren Umkleideraum. Sonst landen sie plötzlich bei einem Gast im Schlafzimmer.«

Die fünf gingen durch die Halle zurück wie Kinder, denen man ihre Spielsachen weggenommen hat.

Conny und Peter hatten glücklicherweise links gestanden und gehörten dadurch zur Frühschicht.

»Ihr setzt euch gleich mit auf die Pagenbank«, sagte Herr Krüger. Er blätterte jetzt schon wieder in seinen Büchern und machte sich Notizen. »Jede Viertelstunde sagt mir ein anderer seinen Namen. Vielleicht behalte ich ihn dann. Ganz rechts anfangen.«

»Conny Kampendonk«, sagte der hellblonde Junge und stand dabei auf.

Da klingelte das Telefon in der Portiersloge.

»Portier. Guten Morgen, Frau Baronin — Sehr wohl, Frau Baronin — Sofort, Frau Baronin —!«

Chefportier Krüger legte wieder auf. Dabei schnalzte er auch schon: »Page! Zimmer 404.«

»Zimmer404«, wiederholte der Junge mit den abstehenen Ohren und flitzte los.

»Na und?« fragte Herr Krüger und sah zu den Neuen. Die wußten nicht sofort, was gemeint war.

Bei Peter fiel der Groschen zuerst.

»Zimmer 404«, wiederholte er ganz schnell und rannte los, wie die Feuerwehr hinter dem Jungen mit den abstehenden Ohren her. Es ging über die breite Treppe mit dem dicken Teppichbelag.

Peter erfährt, daß abstehende Ohren auch ihr Gutes haben

»An der Zimmernummer siehst du immer gleich, was für ein Stockwerk es ist«, erklärte der Page mit den abstehenden Ohren. »Die Zweihunderter liegen im zweiten, die Dreihunderter im dritten und so fort.«

»Also 404 im vierten Stockwerk«, stellte Peter fest.

»Warum nehmen wir dann nicht den Fahrstuhl?«

»Man merkt, du hast noch keinen blassen Schimmer! In den Fahrstuhl darfst du nur rein, wenn ein Gast bei dir ist! So, und jetzt paß auf.«

Die beiden hatten die vierte Etage erreicht.

Der Treppe gegenüber waren die Aufzüge. Einer mit Glastüren und viel blankem Messing drumherum für die Gäste, ein anderer mit einer grauen Eisentür für Lasten und Gepäck.

Nach links und rechts gingen breite Korridore.

»Es ist in allen Stockwerken das gleiche. Nach links laufen die Zimmernummern 0 bis 50 und nach rechts 50 bis 100. Im ganzen gibt’s vier Etagen, also rund vierhundert Zimmer. — Nach links oder rechts?«

»Nach links«, antwortete Peter, und die beiden trotteten los. Auch hier lagen wieder diese dicken Teppiche. Und dann die Unmengen weißer Türen auf beiden Seiten! Oben an diesen Türen waren aus Messing die Zimmernummern angebracht und unten am Boden standen meistens Schuhe. Es war ja noch früh am Morgen.

»Wenn die Spitzen zum Zimmer zeigen, sind sie geputzt«, erklärte der Page. »Aber das Schuheputzen ist Sache der Hausdiener.«

Peter hätte sich ganz gern ein Paar der geputzten Schuhe näher angeschaut. Aber da kam jetzt gerade ein ziemlich junger Etagenkellner um die Kurve. »Hallo, Friedrich!« rief er und schob einen kleinen Servierwagen über den Teppich. »Guten Morgen, Herr Baumbach«, erwiderte der Page mit den abstehenden Ohren.

Aber das hörte der Etagenkellner wohl schon nicht mehr. Er hatte nämlich inzwischen eine der weißen Türen aufgemacht und sagte gerade: »Das Frühstück, mein Herr.« Dabei schob er seinen Servierwagen mit der Kaffeekanne und den gekochten Eiern ins Zimmer.

»Du heißt also Friedrich?« fragte Peter und stellte sich nun seinerseits vor. »Ich heiße Peter Pfannroth.«

»Sehr angenehm«, sagte der andere. »Wir sind da.«

Richtig, sie standen jetzt vor 404. »Jedes Zimmer hat zwei Türen. Aber man weiß ja nie, ob die Tür drinnen auch zugemacht ist. Also klopft man erst einmal draußen.«

Der Junge, der Friedrich hieß, trat einen Schritt nach vorne und klopfte. Dann horchte er.

Nichts rührte sich.

Da drückte er auf die Messingklinke und machte auf.

Die zweite Tür war geschlossen.

»Aha«, flüsterte Friedrich und klopfte wieder.

»Herein!« rief eine Stimme von drinnen.

Der Junge sah Peter noch einmal kurz an und zischte: »Sofort hinter dir zumachen!« Dann trat er ein. Peter blieb ihm ganz dicht auf den Fersen.

»Guten Morgen, Frau Baronin«, sagte der Page Friedrich. Dabei schloß Peter ganz schnell die Türen. Dann drehte er sich um.

Im gleichen Augenblick wurde er käsebleich vor Schreck. Rund um ihn herum fauchte und knurrte es nämlich auf einmal. »Schschsch!« machte es, und irgendein Tier mit bösen gelben Augen sauste an ihm vorbei. Gleich hinterher machte es noch einmal »Schschsch«, und ein zweites Tier sprang durch die Gegend, über seine rechte Schulter hinweg.

»Katja!« rief eine energische Frauenstimme, »Mohammed! Wollt ihr wohl vernünftig sein! Zurück! Platz! Schön Platz!«

Die beiden Tiere fauchten und knurrten noch, aber sie zogen sich zurück, und zwar auf einen Ledersessel, der etwas an der Seite stand. Dieser Sessel war völlig zerkratzt und aufgerissen. Aus den Löchern seines Lederbezuges guckten Spiralfedern und Roßhaar.

»Ja — so ist es schön! So seid ihr lieb«, sagte die Frauenstimme jetzt. Plötzlich ganz ruhig und zärtlich. Peter sah auf.

Dicht am Fenster, durch das man die Alster sehen konnte, stand eine ältere, kleine Dame mit ganz weißen Haaren. Sie puderte sich gerade ihr Gesicht. Als sie damit fertig war, sagte sie: »In zwei Stunden bin ich wieder zurück.« Dann setzte sie einen Hut auf und nahm ihre Handtasche.

»Esmeralda hat heute etwas Temperatur und rote Augen. Sie liegt in ihrem Körbchen und muß zugedeckt bleiben. Sonst alles wie immer.«

Die Baronin sah noch einmal in den Spiegel und kam auf die Jungen zu. »Wieso seid ihr heute zu zweit?«

»Er gehört zu den Neuen, und wir zeigen ihnen die ersten Tage alles«, antwortete der Junge, der Friedrich hieß. Die Baronin nahm ein Monokel, das sie an einer dünnen, goldenen Kette um den Hals hängen hatte, und hielt es vor ihr rechtes Auge. Durch dieses Monokel sah sie sich jetzt den neuen Pagen ziemlich genau an.

»Kannst du Tiere leiden?« fragte sie.

Peter nickte ein paarmal heftig mit dem Kopf.

»Und Katzen?«

»Jawohl, Frau Baronin«, brachte Peter jetzt heraus. Eigentlich sollte das noch die Antwort auf die erste Frage sein.

»Schön«, sagte die Baronin und ließ ihr Monokel fallen. Es baumelte jetzt wieder an der dünnen Goldkette. »Bis in zwei Stunden, wie gesagt.«

Der Page Friedrich machte die Tür auf. »Und daß mir nichts passiert«, sagte die Baronin noch. Dann waren die beiden Jungen mit den Tieren allein.

»Du hättest mir vorher Bescheid sagen sollen«, meinte Peter vorwurfsvoll.

»Als Hotelangestellter mußt du auf Überraschungen gefaßt sein. Da hilft nur ständiges Training«, erklärte der Page Friedrich und beugte sich über einen kleinen Korb, aus dem zwischen lauter Decken und Kissen nur noch eine kleine spitze Katzenschnauze hervorguckte. »Sie scheint wirklich die Masern zu haben oder so was. Esmeralda ist sonst nämlich die Frechste.«

»Und wieviel sind es im ganzen?« wollte Peter wissen.

»Fünf«, sagte der Page Friedrich. »Zwei müssen noch irgendwo unter dem Sofa liegen.«

»Sie sehen aus wie Tiger oder Leoparden im Westentaschenformat«, bemerkte Peter.

»Die Sorte soll furchtbar teuer sein und kommt direkt aus Indien oder Siam, behauptet der Chefportier, und der versteht etwas von Katzen.«

Der Junge mit den abstehenden Ohren zog jetzt seine Schuhe aus, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Dann kletterte er auf einen der Klubsessel und setzte sich auf die Rückenlehne. »Es empfiehlt sich nicht, die Beine auf dem Boden zu lassen. Einem von uns haben die Biester schon die Hosen zerrissen.«

»Du mußt es ja wissen«, meinte Peter, zog ebenfalls die Schuhe aus und setzte sich genauso auf eine Klubsessellehne.

Katja und Mohammed schnurrten wieder und blitzten mit ihren gelben Augen.

»Haltet die Schnauze oder ich stecke euch in die Badewanne!« drohte der Page Friedrich. Dann schlug er die Beine übereinander und sah neben sich auf den Teppich hinunter. »Wie wenn man von einem Schiff aus ins Wasser guckt«, grinste er.

»Das ist also Zimmer 404«, meinte Peter.

»Hier auf der vierten Etage ist es so ziemlich am ruhigsten«, erzählte Friedrich, »deshalb sind hier die Dauergäste. Zu denen gehört zum Beispiel auch die Baronin. Ein Teil der Bilder und Möbel gehört ihr selbst, natürlich auch dieser alte Ledersessel. Im Sommer gondelt sie mit ihren Katzen an die Riviera oder sonst wohin. Dann bringt man ihre Sachen so lange unters Dach auf den Hängeboden, bis sie im Winter zurückkommt.«

»Und wir sitzen jetzt nur hier, um aufzupassen?«

»Sehr richtig. Um aufzupassen, daß die Tiger oder Leoparden nicht die Tapeten hochklettern oder sich gegenseitig die Augen auskratzen.«

»Und sonst paßt die Baronin selber auf sie auf? Wird ihr das auf die Dauer nicht langweilig?« wollte Peter wissen.

»Wer weiß, vielleicht spielen sie ›Blindekuh‹ miteinander, wenn sie allein sind?« Der Page Friedrich öffnete den obersten Knopf seiner Uniform. »Für einen Hotelangestellten machst du dir reichlich viel Gedanken. Das mußt du dir abgewöhnen.«

»Ich will’s versuchen«, versprach Peter.

»Im übrigen ist es natürlich verboten, sich in einem Zimmer hinzusetzen. Auch wenn dir ein Gast das anbietet. Sitzen darfst du überhaupt nur auf der Pagenbank. Dazu kommst du am Tag zusammengerechnet aber höchstens eine Viertelstunde. Die übrige Zeit rennst du die Treppen rauf und runter oder stehst an der Drehtür. Und immer, wenn du stehst, hast du gerade zu stehen und die Arme hängen zu lassen. Vor allem, wenn dich ein Gast anspricht. Laß dich ja nicht dabei erwischen, daß du dich mal irgendwo anlehnst!«

»Das ist ja wie beim Militär«, stellte Peter fest.

»So ähnlich«, grinste der Page Friedrich. Dann sagte er plötzlich: »Kremple deine Hosentaschen um!«

»Wieso?« fragte Peter, aber er machte es.

»Dachte ich mir«, stellte der Page Friedrich fest. Peter konnte sich mit dem besten Willen nicht denken, was es da zu beanstanden gab. Die Hesselbeinschen Hosentaschen waren noch blütenweiß.

»Sie sind leer. Das ist es —«, erklärte der Junge, »ein Page muß immer drei Dinge bei sich haben: eine Schachtel Streichhölzer, ein Taschenmesser und einen Bleistift mit Notizblock. Die Streichhölzer sind dabei am wichtigsten. Und wohlgemerkt kein Feuerzeug. Zigarrenraucher lassen sich nur mit einem Streichholz Feuer geben. Den Bleistift mit Notizblock brauchst du, wenn du irgend etwas aufschreiben mußt oder wenn ein Gast eine Notiz machen will und gerade nichts zum Schreiben bei sich hat. Wozu du das Taschenmesser brauchst, ist klar: Mal mußt du ein Paket aufmachen, Blumenstengel kürzen oder ein Stück Papier auseinanderschneiden. Aber die Streichhölzer sind am wichtigsten. Dadurch kannst du mit Gästen zusammenkommen, mit denen du sonst vielleicht gar nichts zu tun hättest. Du fällst auf, und sie finden, daß du besonders freundlich und zuvorkommend bist. Und darauf kommt’s an!«

»Versteh’ ich nicht ganz«, gab Peter ehrlich zu.

»Das brauchst du dir nur vorzustellen«, meinte der Junge mit den abstehenden Ohren. »Da steht zum Beispiel Generaldirektor Pumpelmus von Zimmer 207 in der Halle und steckt sich eben, ohne an irgend etwas zu denken, eine Zigarette ins Gesicht. Schwupp, springe ich, der Page Friedrich, auf, zücke mein Streichholz und sage: ›Bitte sehr, Herr Generaldirektor.‹«

Der Junge mit den abstehenden Ohren war wirklich aufgesprungen, stand leicht vorgeneigt auf seinem Klubsessel und hielt Peter ein brennendes Zündholz unter die Nase.

Im gleichen Augenblick machte es wieder einmal aus allen Ecken »Schschsch!« Katja und Mohammed fauchten von ihrem Ledersessel herüber, und sogar die zwei Katzen, die bisher unsichtbar unter dem Sofa gelegen hatten, zeigten ihre Köpfe und fletschten die Zähne.

»Wollt ihr wohl vernünftig sein!« rief der Page Friedrich im Tonfall, wie es die Baronin zu rufen pflegte. »Zurück! Platz! Schön Platz!«

Die Tiere beruhigten sich.

»Prima, wie du das machst«, gab Peter ehrlich zu. »Ich meine, das mit dem Streichholz.«

»Übungssache«, meinte der Junge Friedrich und setzte sich auf seine Klubsessellehne zurück. Er steckte seine Streichhölzer wieder ein und schlug die Beine übereinander. »Die Sache ist nämlich die«, fuhr er fort, »wenn ich zum Beispiel dieser Generaldirektor Pumpelmus von Nr. 207 bin, dann sehe ich mir den Pagen beim Anzünden meiner Zigarette näher an und denke mir: Sieh mal, er hat es sofort gesehen, daß du Feuer brauchst, ein fixer und aufmerksamer Bengel! Ein paar Stunden später oder am nächsten Tag passiert das gleiche noch einmal. Ich, der Generaldirektor von 207, stelle fest, das ist ja wieder dieser fixe und aufmerksame Page mit seinen netten, abstehenden Ohren. Und in diesem Augenblick hat es gefunkt! Wenn Herr Pumpelmus jetzt ein Telegramm besorgt haben will oder etwas anderes, dann bittet er am Telefon den Chefportier nicht um irgendeinen Pagen, sondern er verlangt einen ganz bestimmten, eben diesen Jungen mit den abstehenden Ohren. Und damit schlägt der Page Friedrich gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Herr Chefportier Krüger reibt sich sein Kinn und stellt fest, daß mich die Gäste offenbar bevorzugen, und Herr Generaldirektor Pumpelmus von 207 will künftig nur noch von mir bedient sein. Alle Pumpelmusschen Trinkgelder wandern also in meine Tasche.«

Der Page Friedrich grinste und bohrte vergnügt seine Hände in die Taschen. »Du siehst, abstehende Ohren haben auch ihr Gutes. Man verschwindet einfach nicht so in der Masse. Euer kleiner Rothaariger zum Beispiel, wenn der keine komplette Mattscheibe ist, wird sich hier dumm und dämlich verdienen, vor allem bei den Amerikanern. Eine knallrote Perücke und dann noch das ganze Gesicht voller Sommersprossen, das ist unbezahlbar!« Der Page Friedrich sah schon eine ganze Weile auf seine Füße und spielte mit den großen Zehen. So rund um diese großen Zehen waren seine Strümpfe mehrfach gestopft.

»Diese Trinkgelder«, fragte Peter vorsichtig, »ich —ich habe geglaubt — und meine Mutter sagte mir, daß man als Page in so einem Hotel gar nichts annehmen darf —« Der Junge Friedrich war völlig verblüfft. Er zog bei seinen großen Zehen ruckartig die Notbremse, so daß sie still standen und in die Luft zeigten. Dabei sah er Peter an. Einfach sprachlos. Dann wollte er sich plötzlich ausschütten vor Lachen.

»Entschuldige«, sagte der Page Friedrich und wischte sich mit dem Handrücken über seine Augen, die noch ganz naß waren vor lauter Lachen. »Aber wenn ich mir das vorstelle! Irgendein Gast drückt dir in der Halle eine Mark in die Hand — und du läufst knallrot an, sagst: Nein danke, so etwas nehme ich nicht! und gibst das Geld wieder zurück — ich glaube, das ganze Hotel würde sich totlachen. Mensch! Hast du eine Ahnung!«

»Na schön«, meinte Peter etwas verlegen. »Aber so viel kommt da ja gar nicht zusammen. Zugegeben, auch ein Groschen kommt zum anderen —«

»Nun paß mal auf«, sagte der Page Friedrich, beugte sich nach vorn und stützte sein Kinn auf die Fäuste. »Groschen gibt hier im Haus nur einer. Und das ist Herr Meyer von Zimmer 477. Auch ein Dauergast übrigens. Sonst ist das wenigste ein Fünfzigpfennigstück, und meistens ist es eine Mark. Aber viele Gäste geben auch mehr. Bei den Abreisen sind fünf oder zehn Mark gar keine so große Seltenheit. Mein Rekord war einmal eine Fünf-Dollar-Note von einem Amerikaner.«

»Das ist ja toll!« gab Peter zu.

»Gerade die Pagen stellen sich mit den Trinkgeldern im ganzen Hotel wohl mit am besten, im Durchschnitt so vierzig Mark die Woche, im Sommer, wenn die Ferienreisenden kommen, fünfzig oder sechzig. (Das war mehr, als Frau Pfannroth als Miete plus Gasmann plus Elektrisch monatlich zu zahlen hatte, dachte Peter.) Jetzt ist’s bei mir damit vorbei. Auf der Etage steckt alles der Kellner ein, und wir gucken in den Mond. Aber im nächsten Jahr geht’s euch ja genauso.«

Der Page Friedrich turnte jetzt wieder mit seinen großen Zehen und sah ihnen nachdenklich zu. »Es ist übrigens ganz merkwürdig, die Jungen, die am meisten hinter dem Trinkgeld her sind, bekommen am wenigsten. Der Gast merkt es anscheinend, wenn man nur an sein Kleingeld denkt. Diese Fünf-Dollar-Note zum Beispiel — das war nur so, daß dem Amerikaner seine Zeitung auf den Boden fiel und ich sie aufhob. Ich hatte dabei an nichts gedacht. Aber ich hatte auf einmal diese Dollars in der Hand. Es ist manchmal wirklich zum Piepen!«

»Ich finde es enorm anständig«, meinte Peter, »daß du mir das alles so sagst.«

»Finde ich auch«, grinste der Page Friedrich. »So etwas müßte eigentlich belohnt werden.«

»Und wie —?« grinste Peter zurück.

»Ganz einfach. Die Baronin zahlt für das Aufpassen jedesmal zwei Mark. Wir müßten das Geld eigentlich teilen. Aber ich schlage vor, es wird nicht geteilt, und der Page Friedrich kassiert den ganzen Betrag für sich.«

Der Junge mit den abstehenden Ohren sah zur Zimmerdecke, als sei da etwas nicht in Ordnung.

»Einverstanden«, sagte Peter.

»Man dankt«, gab der Page Friedrich zurück. Dann sah er von der Zimmerdecke weg auf seine Armbanduhr. »Es ist soweit!« Er streckte seinen rechten Arm aus und drückte an der Wand auf einen der weißen Knöpfe. Daraufhin schlug er seine Beine übereinander und wartete. Nach zwei oder drei Minuten klopfte es. Peter sprang von seinem Sessel und wollte in seine Schuhe fahren. Der Page Friedrich blieb die Ruhe selbst, ließ seine Beine übereinandergeschlagen und rief: »Herein!«

Die Tür öffnete sich.

»Sie haben gerufen, Frau Ba—«, der Etagenkellner hielt mitten im Wort den Atem an.

»Fünfmal Frühstück wie immer«, sagte der Page Friedrich gelangweilt. »Die Milch nicht zu heiß und das Weißbrot von gestern, wenn ich bitten darf.«

»Döskopf!« sagte der Etagenkellner nur und verschwand wieder.

»Keine Lebensart«, stellte der Junge mit den abstehenden Ohren fest.

Im übrigen fauchte und knurrte es jetzt aus allen Ecken. Mohammed hatte Roßhaar zwischen den Pfoten, und Katja zerrte an einer Spiralfeder. Sogar Esmeralda schob ihren Kopf durch die Decken und die Sofakissen. Sie hatten wohl etwas von Milch und Weißbrot gehört.

Draußen vor dem Fenster schwammen die ersten Segelboote auf der Alster.

Kurz vor der Ablösung durch die Jungen vom Nachtdienst bekam Peter sein erstes Trinkgeld.

Es fiel in seine Hosentasche wie aus heiterem Himmel. Chefportier Krüger hatte ihn zusammen mit dem Pagen Friedrich losgeschickt.

»Fang im Keller an und zeig ihm jede Ecke, damit er Bescheid weiß.«

»Jede Ecke zeigen«, hatte der Junge mit den abstehenden Ohren wiederholt, und dann waren sie durch alle Stockwerke geklettert, bis ganz oben unters Dach. Hier mußte abends immer das Licht für die große Weltkugel mit der ATLANTIC-Reklame angeknipst werden. Weil es da oben ziemlich dunkel und unheimlich war, drückten sich die Pagen gern davor, ganz abgesehen von den fünf Treppen.

Als sich Peter und Friedrich eben wieder bei Chefportier Krüger in der Halle zurückmelden wollten, kam plötzlich ein kleines Mädchen auf sie zugehüpft. So auf einem Bein und wie eine Schneeflocke. Die Schneeflocke machte zwei Knickse und sagte zweimal in gebrochenem Deutsch und mit einem ganz hohen Stimmchen: »Danke schön und auf Wiedersehn!«

Jedesmal gab sie dabei einem der Jungen ihre kleine Hand und ein nagelneues Markstück. So, als ob sie ihren Freundinnen Sahnebonbons schenken würde.

Die Kleine in dem weißen Kleidchen gehörte zu einem französischen Ehepaar, das gerade abreiste. Dieses Ehepaar stand schon an der Drehtüre und sah lächelnd zu.

Der Page Friedrich und Peter bedankten sich, zuerst bei der kleinen Schneeflocke und dann mit einer Verbeugung in Richtung zu den Eltern.

»Viens Chérie!« rief die französische Mama jetzt, und ihr Töchterchen hüpfte zu ihr hin. Auch der Page an der Drehtür bekam noch ein Geldstück und einen Knicks. Dann lachte das Kind, klatschte vor lauter Vergnügen und verschwand.

»Bei den Abreisen fängt man die dicksten Fische! Wenn du da Glück hast und gerade an der Drehtür stehst!« meinte der Junge mit den abstehenden Ohren und zog die Unterlippe hoch. »Dein erstes Trinkgeld mußt du übrigens auf heben. Das bringt Glück.«

»Wird gemacht!« versprach Peter.

Aber dann kam er auf dem Weg nach Hause an einem Blumenstand vorbei.

»Veilchen! Die ersten Veilchen!« rief ein alter Mann und mußte zwischendurch immer wieder husten.

»Für eine Mark«, sagte Peter und bekam eine ganze Handvoll in ein Stück Zeitungspapier eingewickelt.

»Die eine Hälfte stelle ich auf die Nähmaschine, und die andere bekommt Frau Pfannroth auf den Gasherd«, überlegte Peter vergnügt und tigerte weiter in Richtung Rangierbahnhof.

Wir segeln auf einem knallroten Luftballon kreuz und quer

Es gab keinen Zweifel mehr, über Nacht war der Frühling ausgebrochen.

Im Stadtpark blühten die Forsythienbüsche, auf den Wochenmärkten tauchte der erste Spargel auf, und überall in den Blumenkästen vor den Fenstern war es blau und weiß und rot vor lauter Primeln, Geranien und Hyazinthen.

Mitten auf dem Stephansplatz setzte sich bei dem Verkehrsschupo ein Maikäfer auf die linke Schulter. Zum Glück bemerkte der ihn nicht, weil er gerade auf Rot schalten mußte. Sonst wäre der Maikäfer bestimmt in eine leere Streichholzschachtel gewandert. Der Schupo hatte nämlich Kinder zu Hause.

Die Sonne schien wie im Sommer, und der Himmel war rundherum so blau wie sonst nur auf farbigen Ansichtspostkarten von Neapel und Florida.

In diesen blauen Himmel hinein stieg jetzt eine riesige, allerdings knallrote Apfelsine. Diese Apfelsine war ein Luftballon, der für PEPSODENT-Zahnpaste Reklame machte. Er stieg immer höher und segelte jetzt von den Hochhäusern am Grindel langsam in Richtung Hauptbahnhof hinüber.

Das müßte enorm schön sein, jetzt auf diesem Luftballon obendrauf auf dem Bauch zu liegen und auf die ganze Stadt hinunter zu gucken. Auf alle Plätze, in die Straßen und Höfe und auch durch die Fenster in die Häuser und Wohnungen hinein.

So ein Blick von dem knallroten Pepsodentballon herunter wäre aber nicht nur enorm schön, sondern auch enorm interessant und praktisch gewesen.

Da könnten wir sie alle suchen, einen nach dem anderen, Herrn Winkelmann, Mutter Pfannroth, den Sheriff und so weiter —

Es war Donnerstag früh neun Uhr zweiunddreißig.

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Mutter Pfannroth, zum Beispiel, machte in ihrem vierten Stock gerade das Fenster auf, als die knallrote Apfelsine über dem Rangierbahnhof stand. Sie hakte die beiden Fensterflügel ein und rückte ihre Nähmaschine in die Sonne. Da saß sie nun wie immer, über ihre Arbeit gebeugt und spielte mit den Füßen Radfahren. So beim Surren der Nähmaschine dachte sie an ihren Peter und an das, was er ihr alles von den ersten zwei Tagen im »ATLANTIC« erzählt hatte. Das hatte sich alles sehr schön angehört und berechtigte zu den freundlichsten Hoffnungen für die Zukunft. Mutter Pfannroth hatte also allen Grund, vergnügt zu sein. Das war sie denn auch. Sie pfiff sich sogar eins.

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Herr Winkelmann stand im gleichen Augenblick auf dem Schlachtviehhof. Rund um ihn wimmelte es nur so von Ochsen, Kälbern, Kühen und Schweinen. Es blökte und grunzte, daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Der Mann, der das Vieh versteigerte, mußte noch lauter brüllen als alle Ochsen und Kühe zusammen. Herr Winkelmann machte sich’s leichter. Er brüllte nicht. Wenn er etwas kaufen wollte, hob er nur seine linke Hand mit der brennenden Zigarre in die Luft, und dann rief der Versteigerer: »zum zweiten — und zum dritten Mal!«

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Im Seitenflügel A der Kriminalpolizei, zweiter Stock, Zimmer 247, hob in der gleichen Sekunde auch Kriminalkommissar Lukkas seine linke Hand in die Luft. Aber nur, um sie sofort wieder wie eine Fliegenklappe auf seinen Schreibtisch fallen zu lassen. Es knallte, und er brüllte dabei: »Jetzt reißt mir aber die Geduld!«

»Bitte«, sagte seelenruhig der Mann, der in einer Kamelhaarjacke und mit einem sehr bunten Wollschal um den Hals vor ihm saß.

»Schön«, sagte Kriminalkommissar Lukkas und beruhigte sich wieder.

»Wir fassen ihn trotzdem! Auch, wenn ihr alle zusammenhaltet wie die Sardinen in der Büchse. Spätestens morgen habe ich von der Pariser Fahndungsstelle sein Foto. Dann kommt er nicht mehr weit. Dann geht sein Bild durch alle Zeitungen, und sein Steckbrief klebt dann an allen Hausecken.«

»Er wird sich einen Bart ankleben und eine andere Nase ins Gesicht operieren lassen«, meinte der Kerl in der Kamelhaarjacke. »Mit mehr als hunderttausend Mark in der Brieftasche ist das kein Problem.«

»Und wenn er sich zehnmal die Nase operieren läßt und dazu noch in eine Kanalröhre kriecht, wir schnappen ihn doch!« stellte Kriminalkommissar Lukkas fest. »Abführen!«

Ein Polizist kam auf den Mann in der Kamelhaarjacke zu und tippte ihm auf die Schulter.

»So eine Art Röntgenapparat müßte man haben«, dachte Kriminalkommissar Lukkas. Man steckt oben ganz einfach den Namen rein, drückt auf einen Knopf und dann sieht man sofort, wo der Kerl gerade sitzt, steht oder liegt —

Hätte Kriminalkommissar Lukkas wirklich einen solchen Apparat gehabt und in diesem Augenblick auf den Knopf gedrückt, er wäre bestimmt enttäuscht gewesen.

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Der Mann, hinter dem Lukkas mit all seinen Beamten nun schon seit einer guten Woche her war, dachte nämlich gar nicht daran, sich seine Nase operieren zu lassen oder in irgendeine Kanalröhre zu kriechen.

Er stand gerade in einem billigen Pensionszimmer vor der Glastür vor seinem Spiegel und rasierte sich. Der Spiegel hatte in der Mitte einen Sprung, und das Zimmer, das so schmal war wie ein Handtuch, lag nach dem Hinterhof hinaus. Irgendwo gegenüber sang eine Stimme aus dem Radio »Pack die Badehose ein —« Der Mann mit dem Seifenschaum im Gesicht pfiff mit. Beide, die Stimme im Radio und er, waren ganz offenbar bester Stimmung. Sein Komplice hatte eine lederne Motorradjacke an und lag auf dem Bett. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und las die Zeitung.

»Wie ist die Presse?« fragte es jetzt vom Spiegel her. »Du stehst überall wieder auf der ersten Seite«, antwortete der Kerl in der Lederjacke. »Von mir ist immer nur im Nebensatz die Rede.« Er blätterte etwas enttäuscht um und interessierte sich jetzt für die Seite mit den Ankündigungen der neuesten Filme.

»Da — ›Der Schuß im Nebel‹ — wollen wir nicht wenigstens mal ins Kino heute abend?« fragte er.

Der andere war mit dem Rasieren fertig und hatte seinen Kopf unter der Wasserleitung. »Du vergißt, daß du mich erst vor einer Stunde um zwei Mark für Zigaretten angepumpt hast!«

Der Kerl in der Lederjacke sprang auf und zischte: »Wir werden doch noch zwei Kinokarten bezahlen können! Wo ist denn das ganze Geld überhaupt? Ich mache das einfach nicht mehr —«

Schwupp! Ein klitschnasses Handtuch flog vom Spiegel her durchs Zimmer und dem Kerl mit der Lederjacke ins Gesicht, genau auf den Mund.

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Der Sheriff hatte Carlos, den jungen Portugiesen, zuerst einmal zu sich an den Bahnhofseingang geholt. Um ihn sozusagen anzulernen. In einer Woche etwa würde er dann soweit sein, daß er mit dem kleinen Horst Buschke tauschen und allein am U-Bahn-Eingang Mönckebergstraße anfangen konnte.

Im Augenblick saß der neue Chef der Schuhputzerjungen in seinem Stuhl und verdrehte den Hals, damit er diesen knallroten Pepsodentballon sehen konnte, der jetzt direkt auf den Hauptbahnhof zugesegelt kam.

»Sieht aus wie eine Tomate auf Urlaub!« stellte der Sheriff fest. »Was sich diese Reklamedirektoren so alles einfallen lassen müssen, um ihre Autos zu verdienen«, meinte er noch. Dann sah er wieder auf seine Schuhe. Diese Schuhe wurden nämlich gerade geputzt, und zwar von dem jungen Portugiesen.

»Viel weniger Schuhcreme«, korrigierte der Sheriff, »nur hauchdünn! Um so schneller bekommst du sie nachher beim Polieren auf Hochglanz.«

Carlos schaute fragend zu dem Drehstuhl hinauf und schien zu überlegen. Dabei zog er die Unterlippe zwischen seine Zähne. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Sheriff erklärt hatte, was er meinte. Dann leuchteten plötzlich die großen schwarzen Augen auf, wie wenn man plötzlich zwei Glühbirnen anknipst. Carlos hatte begriffen. Er nickte mehrmals hintereinander mit dem Kopf. »Capito — verstehen.«

»Hallo, Sheriff!« rief in diesem Augenblick eine Stimme. Der Sheriff gab seinem Drehstuhl einen Schubs und sah sich um.

Hinter ihm stand Peter in seiner Pagenuniform. Die Mütze mit der Aufschrift ATLANTIC schief über dem linken Ohr. Diese Mütze mußte außerhalb des Hotels zur Uniform getragen werden.

»Guten Morgen, General!« grinste der Sheriff und gab Peter die Hand. »Bist du wieder auf deinem Nelkenbummel?«

»Wie jeden Morgen für Nummer 477.« Peter warf ein Fünfmarkstück in die Luft und fing es auf.

»Buenos dias, Carlos«, grüßte er jetzt den jungen Portugiesen. »Wie geht’s, wie steht’s?«

Der Junge mit den großen schwarzen Augen strahlte über sein ganzes Gesicht. »Danke gutt, serr gutt.«

»Dann ist ja alles in bester Ordnung«, stellte Peter fest und tippte mit der Hand an sein Mützenschild. »Tschüß!« sagte er noch und spazierte zur Halle hinüber.

Der Sheriff sah ihm eine ganze Weile nach. Bis er drüben hinter der Schimmelpfengschen Ladentür verschwand. »Er sieht aus wie ein junger Lord«, meinte er dann und gab seinem Drehstuhl wieder einen Schubs zurück. »Das heißt, wenn junge Lords so aussehen und wenn sie goldene Knöpfe an ihren Anzügen haben.«

»Was du sagen?« fragte Carlos.

»Daß du jetzt dein Poliertuch nehmen sollst«, erklärte der Sheriff und stellte seine Schuhe wieder vor den jungen Portugiesen.

Drüben im Blumenladen suchte Herr Schimmelpfeng inzwischen eine möglichst schöne weiße Nelke aus.

»Nett, daß du zu mir kommst.«

»Ehrensache, Herr Schimmelpfeng«, meinte Peter. »Vom Hotel zum Bahnhof ist es nur ein Sprung.«

»Es wäre sehr freundlich von dir«, lächelte Herr Schimmelpfeng, »wenn du diese Tatsache im ATLANTIC’ verbreiten könntest. Ein solches Hotel braucht doch bestimmt eine Menge Blumen.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte Peter und legte das Fünfmarkstück auf die Kasse.

»Das ist heute ein Geschenk. Sozusagen zur Förderung unserer Geschäftsverbindung. Und in Zukunft alles zu Sonderpreisen«, lächelte Herr Schimmelpfeng wieder.

»Das ist sehr freundlich. Aber Sie müssen mir die fünf Mark dann schon wechseln. Sonst kann ich nachher nicht —«

»Natürlich, ich verstehe«, meinte Herr Schimmelpfeng und rasselte mit seiner Kasse.

»Also auf gute Geschäftsverbindung«, grinste Peter. Er nahm die gewechselten fünf Mark, seine weiße Nelke, gab Herrn Schimmelpfeng die Hand und türmte wieder los, zum Hotel zurück.

Mister Overseas kreuzt auf

Conny hatte gerade Dienst an der Drehtür.

»Sehr freundlich«, bedankte sich Peter, als ihn der hellblonde Junge höflich anlächelte und wie einen Gast einließ.

»Bitte sehr, mein Herr«, antwortete Conny Kampendonk.

Aber er sagte es nur sehr leise und schielte dabei zur Loge des Chefportiers hinüber.

Doch Herr Krüger wurde gerade von einem sehr schlanken und baumlangen Neger in Anspruch genommen. Dieser Neger steckte in einer dunkelblauen Chauffeuruniform und sprach nur englisch. Er wollte wissen, ob ein Mister Overseas schon angekommen sei.

Mister Overseas habe sich für heute angemeldet. Aber es sei nicht bekannt, wann man ihn erwarten dürfe, antwortete Chefportier Krüger.

»Allright«, meinte der Neger. Dann wolle er eben warten. Er ging zum Zeitungskiosk links in der Halle und kaufte sich für alle Fälle erst einmal einen dieser amerikanischen Kriminalromane im Taschenformat. Peter kletterte inzwischen über die Treppen und die dicken Teppiche zum vierten Stock.

»Herein!« rief es hinter der Tür von Zimmer 477, als Peter geklopft hatte. Er trat ein und sagte höflich: »Ihre Nelke, Herr Meyer.«

Dauergast Meyer stand am Fenster und hatte ganz offenbar gewartet. »Na endlich«, knurrte er, nahm die Nelke und steckte sie ins Knopfloch seines linken Rockaufschlages.

»Vier Mark und vierzig zurück«, stellte Peter sehr sachlich fest und legte das Geld auf den Tisch.

Herr Meyer hätte Beamter beim Finanzamt oder auch Vertreter einer Versicherungsfirma sein können. Er war durchschnittlich groß, durchschnittlich dick und hatte auch ein durchaus durchschnittliches Gesicht. Er trug einen schwarzen Anzug und einen Zwicker. Da er auf der Straße auch noch eine schwarze Melone auf dem Kopf hatte, wußte man nie, ob er wohl gerade zu einer Beerdigung oder zu einer Hochzeit ging. Sein Gesicht paßte für beides gleich gut oder gleich schlecht.

Dauergast Meyer nahm jetzt das Geld Stück für Stück von der Tischplatte, zählte es nach und steckte es in seine Westentasche. Bis auf einen Groschen. Den bekam der Page.

»Schönen Dank, Herr Meyer«, sagte Peter und wollte wieder verschwinden.

Aber da fragte Herr Meyer noch wie ein Reviervorsteher: »Dein Name?«

»Peter Pfannroth.«

»Gut. Das wäre alles«, stellte jetzt der Herr von 477 fest, ging zum Fenster und machte es zu.

So zwischen dem zweiten und dem ersten Stockwerk blieb Peter plötzlich mitten auf der Treppe stehen.

»Würde mich eigentlich sehr interessieren«, überlegte er, »womit dieser Herr Meyer so viel verdient, daß er hier wohnen kann. Das kostet doch bestimmt eine Menge Geld auf die Dauer —«

Aber dann erinnerte sich Peter wieder an den Rat des Jungen mit den abstehenden Ohren, daß man sich als Hotelangestellter keine Gedanken machen dürfe.

Er pfiff also leise durch die Zähne und hätte sich jetzt am liebsten auf das Treppengeländer gesetzt. Es war so schön und breit und glatt. Aber er tat es natürlich nicht und ging artig zu Fuß, wie es sich für einen Pagen gehörte, wenigstens am dritten Tag.

Die Pagenbank hatte ihre genauen Spielregeln.

Wenn Chefportier Krüger einen Pagen zu sich rief, weil er einen Auftrag für ihn hatte, galt das jeweils für den Jungen, der gerade an der Drehtür stand. An seine Stelle kam jetzt der Page, der am weitesten links saß. Die Bank rückte ganz einfach nach.

Das Stehen an der Drehtür war am wenigsten beliebt, bis auf die Vormittagsstunden mit den häufigen Abreisen und den dicken Trinkgeldern.

Aber das war ja gerade der Vorteil dieser Sitzordnung auf der Pagenbank: Keiner der Jungen wurde bevorzugt oder benachteiligt. Ob man an der Drehtür stand oder einen Hund spazieren führte, das war jeweils reine Glückssache. Je nachdem, wie man gerade nachrückte. Peter hatte zum Beispiel heute ausgesprochenes Pech.

Zuerst sah es allerdings so aus, als bekäme er schon sehr früh wieder etwas zu tun.

Die Pagen, die vor ihm saßen, gingen weg wie frischgebackene Brötchen. Immer wieder klingelte bei Chefportier Krüger das Telefon, und dann schnalzte er auch schon mit Daumen und Zeigefinger und rief: »Page!«

Zimmer 128 wollte Briefpapier, für Zimmer 312 mußten Theaterkarten besorgt werden, Zimmer 478 rief nach Spalttabletten.

»Page!«

Conny Kampendonk flitzte zu Herrn Krüger.

»Zimmer 404.«

»Zimmer 404«, wiederholte der hellblonde Junge.

Die ganze Pagenbank grinste und wußte Bescheid.

»Ich hoffe, du hast Katzen gern?« fragte Chefportier Krüger und hatte jetzt plötzlich auch ganz lustige Augen hinter seiner Brille.

»Sehr gern!« versicherte Conny und trabte los.

Der kleine Rothaarige baumelte mit den Beinen vor Vergnügen, hatte die Hände zwischen den Knien und zog die Schultern hoch. Nach einer Weile flüsterte er allerdings zu seinem Nebenmann: »Immerhin, zwei Mark sind ihm sicher.«

»Ruhe!« sagte Chefportier Krüger wie ein Studienrat. Er rechnete nämlich gerade an seiner Portokasse herum. Jetzt stand Peter an der großen gläsernen Drehtür.

Und von diesem Augenblick an war das Telefon von Chefportier Krüger kein Telefon mehr, sondern nur noch ein toter schwarzer Kasten. Es war, als hätte jemand die Leitung durchgeschnitten.

Die Pagen auf ihrer Bank fingen an, sich zu langweilen, und Peter spürte allmählich, daß er Füße hatte.

»Guten Tag«, sagte er, wenn jemand hereinkam, »Auf Wiedersehen«, wenn jemand hinausging.

Aber es gingen sehr wenig Leute hinaus, und es kamen auch wenig herein. Das ganze Hotel schien sich zum Mittagsschlaf aufs Ohr gelegt zu haben.

Drüben gähnte die Garderobenfrau.

Der Fahrstuhlführer saß in seinem Aufzug und las die Zeitung. Der junge Angestellte in der Empfangsloge füllte seinen Totozettel aus. Im übrigen war die Halle so ziemlich leer. Nur ganz hinten saß eine Gruppe von fünf oder sechs Herren, die schon seit heute früh Zigaretten rauchten, Kaffee tranken und den ganzen Tisch voller Schriftstücke hatten.

Und dann war da noch dieser schlanke und baumlange Neger in der dunkelblauen Chauffeuruniform mit den silbernen Knöpfen. Er hatte die langen Beine übereinandergeschlagen und saß in einem der tiefen Ledersessel, allerdings etwas seitlich und hinter einer Marmorsäule; aber doch so, daß er immer den Blick zum Eingang frei hatte. Im übrigen war er noch ziemlich jung und hatte sich schon die dritte Kriminalstory vom Zeitungskiosk geholt. Es hatte sich natürlich schon herumgesprochen, daß er mit seinem Wagen erst in der vergangenen Nacht in Bremen an Land gegangen und sofort hierher gerollt war, sozusagen im Non stop von New York direkt bis zum ATLANTIC.

Dieser Wagen war übrigens eine Sensation für sich, natürlich ein Cadillac, und zwar das neueste Modell.

Wenn Peter durch die Drehtür ins Freie sah, konnte er das Monstrum sehen. Es stand drüben auf dem Parkplatz. Unter den anderen Autos wirkte es wie ein Flugzeugmutterschiff. Seine Vorderfront blitzte nur so vor Chrom und Glas. Seine Lackierung war ganz hell.

»Eine Farbe wie das Vanilleeis bei Signor Tavanti«, dachte Peter, und dann sagte er wieder einmal »Guten Tag!« Es kamen nämlich zwei Damen in die Halle.

Fünf Minuten später erschien der Dauergast von 477 vor dem Speisesaal. Er kaute noch an seinem Zahnstocher, ließ sich an der Garderobe seine schwarze Melone geben und hatte natürlich seine weiße Nelke im Knopfloch. Jetzt segelte er direkt auf die Drehtür zu. »Auf Wiedersehen, Herr Meyer«, sagte Peter und war ihm behilflich.

Draußen blieb der Herr von 477 stehen und sah durch seinen Zwicker nach der Sonne. Wagenmeister Krause führte die Hand an die Mütze, und die beiden unterhielten sich eine Weile. Dann lüftete Herr Meyer seine schwarze Melone und spazierte zur Alster.

Jetzt war es eine Viertelstunde lang wieder völlig ruhig. Es war wirklich zum Auswachsen!

Der kleine Rothaarige auf der Pagenbank klappte vor Langeweile seine Augen zu wie zwei Schubladen und fing einfach an zu schlafen.

»Wenn es schon verboten ist, sich anzulehnen«, dachte Peter, »müßte man wenigstens einen Handstand oder zehn Kniebeugen machen dürfen.«

In diesem Augenblick fuhr draußen eine Taxe vor und quietschte mit ihrer Bremse. So ziemlich in der gleichen Sekunde schrillte im Raum für die Hausdiener und in der Portierloge die Klingel. Das war Wagenmeister Krause.

»Page!« rief Chefportier Krüger und schnalzte wieder mit Daumen und Zeigefinger. »Ankunft!«

»Ankunft«, wiederholte Peter und stürzte auch schon durch die Drehtür ins Freie.

Fast gleichzeitig sprang auch der Negerchauffeur aus seinem Ledersessel hoch. Er warf die Kriminalstory einfach auf den Teppich und rannte los, mit zwei, drei schlaksigen Sprüngen war er am Eingang.

»Mister Overseas!« rief er noch zu Chefportier Krüger, und dann war er auch schon draußen.

»Page!« rief Herr Krüger noch einmal. »Direktor Adler Bescheid sagen. Aber dalli!« Dann zog er sich schnell die Krawatte zurecht, nahm ein paar Zimmerschlüssel vom Wandbrett und kam aus seiner Portierloge.

Plötzlich war die ganze Halle wieder hellwach.

Die Garderobenfrau bekam von einer Sekunde zur anderen blanke Augen, der Fahrstuhlführer ließ blitzschnell seine Zeitung verschwinden, und der junge Angestellte hinter der Empfangsloge feuerte seinen Totozettel in eine Schublade.

Direktor Adler wollte seinem Gast eigentlich entgegengehen. Aber da kam Mister Overseas schon durch die Drehtür. »Hallo!« rief er laut und stieß eine dicke, weiße Wolke Zigarrenrauch in die Luft. Dann gab er Direktor Adler und Chefportier Krüger die Hand.

»Herzlich willkommen!« sagte Direktor Adler, und Herr Krüger schloß sich wie ein Echo an: »Herzlich willkommen!«

Mister Overseas war ziemlich groß und breit. Er trug einen hellen Sommerhut mit einem sehr breiten Rand.

»Und das ist Francis, Overseas junior«, lachte er jetzt. Dabei holte er einen etwa vierzehn Jahre alten Jungen hinter sich hervor. Dieser Junge kaute an einem Kaugummi und hatte eine Jockey-Mütze auf dem Kopf, deren Schild senkrecht in die Luft guckte. Diese Mütze nahm er jetzt ab. Dabei zeigte es sich, daß Mister Overseas junior ganz kurze schwarze Haare hatte. »Wie eine Schuhbürste«, dachte Peter und sah sich die Haare genauer an.

»Hay!« sagte Overseas junior und hob seine Hand so halb in die Höhe.

»Sehr erfreut«, erwiderten Direktor Adler und Chefportier Krüger. Dabei verbeugten sich die Herren und lächelten.

Dann ging es in den Fahrstuhl.

Direktor Adler hatte sich die Zimmerschlüssel geben lassen und marschierte persönlich voraus. Dann folgten die beiden Overseas und der Negerchauffeur, der den Koffer trug. Den Abschluß bildete der Page Peter Pfannroth mit zwei Staubmänteln über dem Arm, einer Aktenmappe und einer größeren Reisetasche aus hellbraunem Leder.

»Das übrige Gepäck bringt der Hausdiener«, versicherte Chefportier Krüger noch an der Aufzugstür.

Aber Mister Overseas schüttelte den Kopf. »Das ist für den Augenblick alles. Wir haben nur noch einen Schrankkoffer bei der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof gelassen. Aber den holt Jimmy, wenn wir ihn brauchen.«

Der Negerchauffeur lachte, daß seine Zähne blitzten, und Chefportier Krüger sagte: »Sehr wohl, Mister Overseas!«

Zwischen dem ersten und zweiten Stockwerk erklärte Mister Overseas, daß sein Junge in Berlin geboren sei. Er habe ihn aber schon als Baby mit nach den Staaten genommen.

»Dann ist er jetzt eigentlich zum ersten Mal in Deutschland«, stellte Direktor Adler fest. Er wandte sich lächelnd dem Jungen mit den kurzen schwarzen Haaren zu und sagte: »I hope, you like to be here!«

»Thank you«, antwortete Overseas junior, sah zu dem Hoteldirektor und dann an die Decke der Fahrstuhlkabine.

»Sie können deutsch mit ihm reden. Er kann es ziemlich gut«, meinte Mister Overseas und zog an seiner

Zigarre. »Zu Hause sprechen wir nur deutsch. Sogar Jimmy hat schon ein paar Worte gelernt. Nicht wahr, Jimmy?«

»O yes, ick sprechen very good german«, grinste der Neger. Er machte jetzt die Augen zu, bekam quer über die Stirn vor Anstrengung zwei tiefe Falten und legte los: »Gute Tage! — Gute Morge! — How geht es Sie? — Dankischeen! — Ich sein so frei — Bitterscheen — Was kosten das?— Is mich viel zu teier.«

Das hörte sich sehr komisch an und sah auch genauso komisch aus.

»Eine Varieté-Nummer!« rief Direktor Adler und mußte so herzhaft lachen, daß ihm die Augen naß wurden. Und jetzt konnte auch Mister Overseas nicht mehr an sich halten und lachte mit. Auch Peter hätte am liebsten mitgelacht. Aber er wußte, daß sich das für einen Pagen nicht gehörte. Er biß also die Zähne zusammen und preßte die Lippen aufeinander. Dabei bekam er allerdings einen knallroten Kopf. Das war nun einmal so.

Francis lachte nicht. Im Gegenteil, er ärgerte sich offenbar sogar. Er beobachtete die beiden lachenden Erwachsenen aus ganz schmalen Augen, und als er jetzt sah, daß auch der Page beinahe losplatzen wollte, stieß er den Neger mit seinem rechten Ellbogen in die Rippen. Dabei sah er ziemlich böse zu Peter. Jimmy verstummte ruckartig, wie ein Grammophon, das plötzlich Kurzschluß bekommt.

Im gleichen Augenblick stoppte der Aufzug, und der Fahrstuhlführer riß die Tür auf.

Dadurch fiel den beiden Erwachsenen nicht das geringste auf. Sie stiegen aus, lachten immer noch weiter und gingen über den Korridor. Francis blickte noch einmal zu Peter hinüber, dann ging er hinterher, dabei redete er leise und auf Englisch mit Jimmy.

»Wenn ich bitten darf, die Zimmer 310 bis 312«, sagte jetzt Direktor Adler und schloß eine Tür auf. »Die Räume haben durchgehende Türen. Hier das erste Zimmer mit anschließendem Bad dachte ich für den Herrn Sohn. Nebenan der Salon mit dem gewünschten großen Balkon zur Alster und dahinter dann Ihr Schlafzimmer mit Bad, Mister Overseas. Gestatten Sie, daß ich vorausgehe.« Direktor Adler trat jetzt ein, öffnete in dem ersten Zimmer eine breite Tür und ging weiter.

»Very nice«, stellte Mister Overseas fest und sah sich um.

»Das ist also für dich«, sagte er zu seinem Jungen und folgte dann dem Hoteldirektor. Jimmy mit dem Koffer folgte wiederum Mister Overseas.

Peter, der zuletzt eingetreten war, schloß die Tür zum Korridor hinter sich und wollte jetzt ebenfalls hinter den anderen hergehen. Da wurde er plötzlich angerufen.

»Hallo!« Peter blieb stehen und drehte sich um.

»Die Sachen bleiben hier«, sagte der junge Overseas und fing an, sich in seinem Zimmer breitzumachen.

»Sehr wohl, Mister Overseas«, antwortete Peter mit todernstem Gesicht, stellte die Aktenmappe aufs Sofa und die Ledertasche auf den kleinen niedrigen Tisch, der für das Gepäck der Gäste bestimmt war.

Francis hatte inzwischen seine Jacke aus gezogen und über einen Sessel geworfen. Er wollte seinen zitronengelben Pullover zeigen. Mitten auf der Brust dieses Pullovers hatte er nämlich einen Cowboy, und zwar einen sehr bunten Cowboy. Der wirbelte gerade sein Lasso durch die Luft, und sein Pferd stieg mit den Vorderbeinen steil in die Höhe. Das Ganze war ein richtiges Gemälde.

Unwillkürlich blieb Peter eine Sekunde stehen und riß die Augen auf. Aber als er merkte, daß ihn der junge Overseas beobachtete, nahm er schnell die beiden Staubmäntel und suchte nach Kleiderbügeln.

Francis setzte sich jetzt in einen Sessel und schlug die Beine übereinander. Dabei rutschten seine blauen Leinenhosen, die er ohnehin fast bis zu den Waden hochgekrempelt trug, noch höher, und seine Strümpfe waren in ihrer ganzen Länge freigelegt, sie leuchteten in ziemlich allen Regenbogenfarben.

Der junge Overseas ließ Peter nicht aus den Augen, dabei kaute er unentwegt auf seinem Kaugummi herum.

Peter spürte diese Blicke natürlich, sie machten ihn unsicher. Er beeilte sich also, die beiden Mäntel aufzuhängen, und drehte sich um. »Auf Wiedersehen, Mister Overseas«, sagte er und wollte gehen.

»Ist Radio im Zimmer?« fragte der Junge mit dem Cowboy auf der Brust. Dabei klang das »Radio« so, als sei es gerade von einer Straßenbahn überfahren worden.

»Hier neben dem Bett«, sagte Peter höflich.

»Please!« Der junge Overseas drehte jetzt auffordernd mit seiner rechten Hand in der Luft herum, wie an einem Lichtschalter.

»Sehr wohl«, sagte Peter, das hatte er jetzt schon mehrmals bei Chefportier Krüger gehört. Er ging zum Bett und setzte das Radio in Betrieb. Zuerst summte es nur, aber nach etwa zehn Sekunden war der Empfang glasklar. Leider sprach gerade jemand über die neue Steuerreform.

Peter sah zu dem jungen Overseas, und der sah zu Peter. Sozusagen Auge in Auge hörten sie eine ganze Weile zu. Das heißt, sie hörten natürlich nicht zu, sie sahen sich nur an.

»Eigentlich gefällt er mir ganz gut«, dachte der junge Overseas, »als Page ist er jedenfalls ein Musterexemplar. Aber vielleicht bekomme ich ihn doch noch soweit, daß er aus der Rolle fällt und wütend wird.«

»Er hat tatsächlich Haare wie eine Schuhbürste«, überlegte Peter, »und angezogen ist er wie ein Zirkusclown. Vermutlich hat er noch keinen Pfennig selber verdienen —«

»Stop!« sagte in diesem Augenblick der junge Overseas und drehte wieder mit der Hand durch die Luft, dieses Mal allerdings rückwärts.

»Sehr wohl«, sagte Peter und schaltete das Radio ab.

»Sonst noch Wünsche, Mister Overseas?«

Anstelle einer Antwort ging Francis in seinem Sessel einfach in den Kopfstand. Er hielt sich ziemlich senkrecht und streckte jetzt sogar die Arme aus, auch ziemlich gerade.

»Zwei bis drei«, dachte Peter und ging zur Tür.

»Kannst du das auch?« fragte Overseas junior aus seinem Sessel. Die Stimme klang etwas gequetscht.

»Ich bin leider im Dienst«, bemerkte Peter und verbeugte sich jetzt. »Auf Wiedersehen, Mister Overseas«, sagte er dabei wieder einmal.

»Mach das bitte noch einmal!« rief es aus dem Sessel. »Das sieht so komisch aus. Ich meine, wenn du, von mir aus gesehen, auf dem Kopf stehst und eine Verbeugung machst.«

»Wie Sie wünschen, mein Herr«, sagte Peter. Er holte tief Luft und verbeugte sich noch einmal.

»Wonderful!« rief Overseas junior und strampelte jetzt vor lauter Vergnügen mit seinen Regenbogensocken in der Luft herum. Aber dann mußte er plötzlich husten, vermutlich war ihm sein Kaugummi in die Luftröhre gerutscht.

Diese Gelegenheit war äußerst günstig, und da Peter im gleichen Augenblick von nebenan auch wieder die Stimmen von Direktor Adler und Mister Overseas zurückkommen hörte, sagte er jetzt endgültig: »Auf Wiedersehen!« und verschwand.

Als er sich in der Halle wieder auf die Pagenbank setzte, explodierte der kleine Rothaarige beinahe vor Neugier.

»So ein Glück!« japste er und fragte gleich: »Wieviel?«

»Keine Ahnung«, bedauerte Peter.

»Wieso?« Der Kleine saß plötzlich ganz aufrecht und machte große Augen.

»Er hat sich meine Postschecknummer aufgeschrieben und will’s mir überweisen.«

»Du bist einfach gemein!« zischte der Rothaarige.

Chefportier Krüger war aufmerksam geworden und sah schräg von oben durch seine Brillengläser. »Ich bitte mir Ruhe aus, meine Herren!«

Zehn Minuten später kam die Ablösung.

Und fünfzehn Minuten später seiften sich Peter und Conny Kampendonk im Duschraum schon gegenseitig die Rücken ein.

»Wenn dieser Mister Overseas nachts seine Brieftasche unters Kopfkissen legt«, meinte der Rot-Weiße, »muß er bestimmt beim Schlafen aufrechtsitzen.«

Die beiden Jungen stellten sich jetzt unter den Wasserstrahl.

Es dauerte nicht lange, und sie waren krebsrot, das Wasser war nämlich sehr heiß.

»Das Ganze kehrt!« kommandierte Peter und drehte auf kalt.

Etwa im gleichen Augenblick fragte Overseas junior ein Stockwerk höher in der Halle nach dem Pagen, der ihm bei der Ankunft sein Gepäck aufs Zimmer gebracht hatte.

»Die Jungen sind gerade abgelöst worden«, bedauerte Chefportier Krüger. »Haben Sie irgendwelche Wünsche?«

»Wann — I mean, when does he come back?«

»Wieder ab morgen früh sieben Uhr.«

»Thank you«, sagte Overseas junior und schlenderte zum Fahrstuhl zurück, die Hände in den Hosentaschen und den Cowboy auf der Brust.

Der Page Pfannroth spielt Kinderfräulein

Als Zimmer 281 am nächsten Morgen nach einem Pagen telefonierte, stand Peter gerade vor der Drehtür. »Zwoeinundachtzig!« rief der Chefportier Krüger. »Das ist Frau Baldewein. Die Dame wünscht aber, daß man sie mit ›Frau Opernsängerin‹ anredet. Merk dir das! Sie gibt hier augenblicklich einige Konzerte.«

»Jawohl, Frau Opernsängerin«, wiederholte Peter und türmte los. Chefportier Krüger zog die Augenbrauen hoch und sah dem Jungen nach.

Kurz vor dem zweiten Stockwerk kamen gerade die beiden Overseas über die Treppe. Sie waren auf dem Weg zum Frühstücksraum.

»Das ist der Page von gestern, Daddy«, flüsterte Francis und zog seinen Vater am Rock. Dann sagte er laut: »Hallo!«

»Guten Morgen«, erwiderte Peter und trat etwas zur Seite. Mister Overseas griff in seine Rocktasche. »Du hast dich gestern ja so schnell dünnegemacht«, meinte er und gab Peter ein nagelneues Fünfmarkstück.

»Schönen Dank«, sagte Peter, ohne das Geld anzusehen und blickte dafür Mister Overseas ins Gesicht. Der erwiderte diesen Blick eine ganze Weile. Dann sagte er: »Allright!« und ging weiter. Francis folgte ihm. Aber er zwinkerte im Weitergehen so mit dem rechten Auge hinter sich. Peter zwinkerte zurück, dann warf er das nagelneue Fünfmarkstück in die Luft, fing es wieder auf und steckte es in die Hosentasche. »Vielleicht ist er doch gar nicht so übel«, dachte Peter, »und sein Vater hat nur zuviel Geld. Aber dafür kann er ja schließlich nichts. Im übrigen fängt dieser Tag nicht gerade schlecht an.«

Die Opernsängerin auf 281 war eine ziemlich stattliche Dame mit flachsblonden Haaren. Sie hatte ein Notenblatt in der Hand und spazierte zwischen dem Fenster und dem Schreibtisch hin und her. Dabei trillerte sie vor sich hin, immer die Tonleiter rauf und runter, bis sie schließlich mit ihrer Stimme wie ein Flugzeug in die Höhe stieg. Als sie ganz hoch oben war, zog sie noch ein paar elegante Schleifen. Dann schaltete sie plötzlich ab. »Entschuldigung«, sagte sie und räusperte sich etwas, »morgens muß ich mich immer erst frei singen. Und das hier ist Bienchen.«

Jetzt erst entdeckte Peter einen kleinen, etwa vier Jahre alten Jungen in einem Matrosenanzug. Er saß auf dem Sofa ganz in der Ecke und sah ziemlich lustig aus.

Die Opernsängerin ging jetzt vor dem Kleinen in die Hocke und nahm ihm den Finger aus der Nase. Dabei sah sie zu Peter. »Wie heißen Sie?«

»Peter Pfannroth.«

Die stattliche Dame mit den flachsblonden Haaren nickte und sprach jetzt mit ihrem Jungen, als ob sie selbst erst gerade ihren fünften Geburtstag gefeiert hätte. »Siehst du, Bienchen, das ist Onkel Peter. Onkel Peter ist ein sehr lieber Onkel, er fährt jetzt mit dir in den Zoo, du weißt doch, wo die Elefantilein sind.«

»Fantilein!« rief jetzt der kleine Matrose und klatschte vergnügt mit den Händchen. Peter bekam zehn Mark und einen ganzen Sack voll guter Ratschläge.

»Zur Fahrt nehmen Sie eine Taxe. Mit meiner Probe im Theater bin ich etwa um ein Uhr fertig. Um diese Zeit erwarte ich Sie mit dem Kleinen wieder zurück. Und kein Eis! Bienchen erkältet sich so leicht den Magen. Schokolade könnt ihr essen, solange das Geld reicht. Und passen Sie mir gut auf!«

Das gleiche sagte auch Herr Krüger, als sich Peter seine Mütze aus der Portierloge holte.

»Aufpassen, Herr Krüger«, wiederholte Peter und spazierte mit seinem kleinen Matrosen zur Drehtür.

Der Chefportier zog schon wieder die Augenbrauen hoch und sah dem Jungen nach.

Die ganze Pagenbank grinste.

»Guten Morgen, Herr Krause«, grüßte Peter draußen auf der Straße. »Für ein Kinderfräulein und die Marine eine Taxe, wenn ich bitten darf.«

Der Wagenmeister pfiff auf der Trillerpfeife, dann nahm er die Hände auf den Rücken und fragte belustigt: »Wohin stechen die Herren denn in See?«

»Zum Zoologischen Garten!«

»Na, dann guten Wind!« lachte der Wagenmeister Krause und schlug die Autotür der inzwischen vorgefahrenen Taxe zu.

Am Zoologischen Garten ließ sich Peter von dem Fahrer eine Quittung geben, bezahlte und stieg aus. »Siehst du, Bienchen, da sind wir schon.« Er löste an der Kasse eine ganze und eine halbe Eintrittskarte, und dann waren sie auch schon mittendrin.

Die Luft flimmerte nur so vor lauter Sonne, Kinderstimmen und Drehorgelmusik. Man konnte an allen Ecken Luftballons kaufen, Schokolade, Eiswaffeln und Lakritzstangen. Drüben beim Bärenkäfig drehte sich ein Karussell, und rund um den Schwanenteich herum fuhr eine Kinderbahn, die von vier kleinen Ponys gezogen wurde. Ein Tierwärter kam mit einem Zebra an der Leine den Kiesweg entlang, und dem Nilpferd wurden gerade mit dem Schrubber die Zähne geputzt. Auf dem Weg zur Reptilienschau gab Bienchen den ersten Laut von sich, und zwar vor einem Luftballon-Verkäufer. Der kleine Matrose blieb stehen, patschte in die Händchen und rief einfach nur: »Aben!«

»Das soll wohl ›Haben‹ heißen«, dachte Peter, überschlug kurz die bisherigen Ausgaben und war einverstanden. »Was kosten die Dinger?« fragte er.

»Fünfzig Pfennige, mein Herr.«

Peter zählte dem Händler fünf Groschen in die Hand und hob Bienchen in die Höhe. »Na, welchen willst du denn?«

Der Kleine entschied sich für einen ganz gelben Ballon mit einem aufgemalten Gesicht.

»Die mit den Gesichtern drauf kosten allerdings das Doppelte«, bemerkte der Händler.

»Dann eben ohne Gesicht«, bestimmte Peter.

Aber der kleine Matrose sah ihn verständnislos an. Im übrigen signalisierten seine Lippen bereits, daß er augenblicklich losheulen würde, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wurde. Da beeilte sich Peter, den Handel abzuschließen. Allerdings band er das Ende der Luftballonschnur an Bienchens Handgelenk, und zwar mit einem doppelten Knoten.

Für ganze fünf Minuten war Bienchen jetzt wieder das artigste Kind der Welt, bis er plötzlich und wie aus heiterem Himmel »Fantilein!« sagte. Das war ausgerechnet bei den Krokodilen.

»Immer hübsch der Reihe nach«, gab Peter zur Antwort und nahm die Sache auf die leichte Schulter.

Bienchen brütete vor sich hin und schwieg bis zum Käfig mit den Eisbären, dann sagte der Kleine noch einmal »Fantilein!« Das klang schon ziemlich wie eine Forderung.

»Kommt ja noch«, versuchte Peter das Kind zu beruhigen und spazierte auf das Bassin mit den Seehunden zu. Da war es mit Bienchens Geduld vorbei. Der Kleine blieb stehen und sah den zinnoberroten Hotelpagen böse an.

»Hast du Bauchschmerzen?« fragte Peter höflich.

Aber der kleine Matrose gab keine Antwort. Er stampfte mit den Füßen auf den Kiesweg und rief nichts als »Fantilein!« Dabei schob er die Lippen vor und zog seine Mundwinkel herunter. In spätestens fünf Sekunden würde er losheulen.

Vor dieser Drohung kapitulierte Peter wieder.

»Also Fantilein! Ganz wie du willst«, sagte er und marschierte los. Bienchen verschob seine Mundwinkel wieder nach oben und marschierte mit.

Die Elefanten waren zu dritt, Vater, Mutter und Kind, also eine komplette Elefantenfamilie. Rund um sie herum lief ein tiefer Wassergraben, der gerade so breit war, daß sie sich mit ihren Rüsseln vom Publikum auf der anderen Seite noch Zucker und Bananen angeln konnten.

Der Kleine hielt sich an dem Geländer fest wie an einer Reckstange und hatte sein Kinn auf den kleinen Fäusten liegen.

So staunte er mit offenem Mund und ganz großen Augen über den Wassergraben zu den drei Dickhäutern hinüber.

»Er hat die Elefantenkrankheit«, dachte Peter, »dagegen ist nichts zu machen«. Er setzte sich gegenüber auf eine Bank, lehnte sich zurück und schlug die Beine mit den roten Uniformhosen übereinander.

»Täglich elf Uhr Fütterung!« stand auf einer Holztafel.

»Das wollen wir noch abwarten«, überlegte Peter und sah sich um. Neben ihm und auch überall auf den anderen Bänken saßen jüngere und ältere Frauen, die in Büchern lasen oder ihre Handarbeiten bei sich hatten. Sie sahen immer wieder einmal hoch, als ob sie in ziemlich regelmäßigen Abständen von einer Stecknadel gepiekt würden. Aber natürlich sah das nur so aus, in Wirklichkeit suchten sie von Zeit zu Zeit nach den Kindern, mit denen sie gekommen waren und auf die sie aufpassen mußten.

Es war ein wunderschöner Vormittag.

»Ein Wetterchen, wie an Kaisers Geburtstag«, meinte eine alte Dame, ohne von ihrem Strickzeug aufzusehen. Sie saß am anderen Ende der Bank und hatte ein schwarzes Kapotthütchen auf dem weißen Haar.

»Ich kann das leider nicht beurteilen!« bedauerte Peter. »Ich hatte damals noch nicht das Vergnügen, geboren zu sein.«

»Du bist wohl ein kleiner Witzbold, wie!« kicherte die alte Dame und klapperte mit ihren Stricknadeln.

Peter holte jetzt einen Zettel aus der Tasche und schrieb fein säuberlich auf, was er bisher für Zimmer 281 ausgegeben hatte.

»Wenn du dich langweilst«, ließ sich die alte Dame wieder hören, »hier liegt die heutige Morgenzeitung.« Peter hatte gerade wieder seinen Zettel in die Tasche gesteckt. Er sagte »Sehr freundlich!« und bediente sich. Peter faltete die Zeitung auseinander, und da sprang ihm aus der rechten unteren Ecke des ersten Blattes eine fett gedruckte Überschrift ins Auge: »5000 Mark Belohnung!« Peter pfiff durch die Zähne.

So ziemlich im gleichen Augenblick pfiff es noch einmal. Dabei fiel von rückwärts ein Schatten über die Morgenzeitung. »Hay!« sagte der Schatten und war plötzlich wieder verschwunden. Aber dafür sah Peter jetzt einen zitronengelben Pullover vor sich, mit einem sehr farbigen Cowboy mitten auf der Brust.

Dieser Pullover machte ein paar Schritte und setzte sich neben Peter auf die Bank.

»Guten Morgen!«, sagte Peter überrascht und wollte aufstehen.

Aber der zitronengelbe Pullover hielt ihn zurück und grinste: »Was macht dein Baby?«

Peter zeigte mit dem Kopf zu den Elefanten hinüber.

»Du bist ein perfektes Kindermädchen. Gratuliere!«

»Danke, Mister Overseas«, sagte Peter und blinzelte in die Sonne. »Pech muß man haben!«

»Es war gar nicht so einfach, dich hier zu finden«,

Overseas junior lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich war bis bei den kanadischen Silberfüchsen und den Schildkröten.«

»Und warum haben Sie nach mir gesucht?« fragte Peter. »Eigentlich wollte ich, daß du mir die Stadt zeigst. Daddy sitzt wieder bis Mittag in einer Konferenz. Ich habe Jimmy und den Wagen bei mir. Der Portier hat mir gesagt, daß du hier im Zoo bist.« Der junge Overseas kramte nach etwas in seiner Hosentasche.

Dabei fragte er jetzt plötzlich: »Du glaubst bestimmt, daß ich ziemlich eingebildet bin, wie?«

Peter biß sich auf die Unterlippe und sagte nichts.

Der junge Overseas suchte weiter in allen möglichen Taschen.

»Aber das stimmt nicht. Gestern abend wollte ich bloß, daß du dich ärgerst.«

»Wieso?« Peter drehte beinahe ruckartig den Kopf herum.

Aber Overseas junior war völlig mit seinen Taschen beschäftigt, er tat wenigstens so. Offenbar brachte er jetzt in seine Suchaktion System. Er legte alles, was er bei sich trug, auf die Bank. Ein Taschenmesser, zwei kleine Rollen Bindfaden, Flaschenkorken, Geldmünzen, eine italienische Kinokarte, einen Schlüsselbund, ein Stück Kreide.

»Du hast mir eigentlich gleich gefallen«, meinte Overseas junior so nebenbei, »bis auf die Geschichte mit Jimmy. Jimmy ist nämlich ein feiner Kerl, und ich kann es einfach nicht ausstehen, wenn man ihn für dumm hält und auslacht, so wie gestern im Aufzug. Und da hättest du am liebsten mitgelacht. Deshalb hab’ ich dann — Hay! Da sind sie!«

Overseas junior warf seine Packung Kaugummi in die Luft und fing sie auf, dann kramte er seine Sachen wieder in die Hosentaschen zurück. »Tell me — hast du etwas gegen Neger?«

Peter dachte einen Augenblick nach und sagte: »Ich bin zufällig weiß und ein anderer ist zufällig schwarz. Das ist alles. Aber das mit Jimmy —«

»What?« fragte Overseas junior und zog die Augenbrauen hoch.

»— Ich meine, daß du Jimmy in Schutz nimmst — Entschuldigung, daß Sie Jimmy so in Schutz nehmen — das — das finde ich ziemlich enorm.«

»I am sorry«, sagte Overseas junior und hielt jetzt seine Kaugummipackung hin.

»Was heißt das: Ai äm sorri?« fragte Peter und griff zu.

»Soviel wie Entschuldigung’, oder so etwas Ähnliches.«

»Aha«, meinte Peter.

Die beiden Jungen kauten jetzt eine ganze Weile an ihrem Kaugummi.

»Sind deine Eltern sehr streng?« wollte Francis schließlich wissen.

»Ich habe nur noch eine Mutter«, sagte Peter, »und wir verstehen uns prima!«

Ganz weit drüben am Horizont beim Gaskessel bildeten sich jetzt kleine weiße Wölkchen am Himmel.

»Da habt ihr euch wohl sehr gern?« fragte der junge Overseas.

»Sehr«, sagte Peter nur und sah zu den kleinen weißen Wölkchen hinüber.

»Daddy und ich, wir haben uns eigentlich auch ganz gern. Nur haben wir wenig Zeit dazu. Immer wenn wir irgendwo ankommen, warten schon eine Menge Leute und Konferenzen. Da suche ich mir dann in den Hotels immer einen Pagen aus, der mir besonders gut gefällt und der mir alles zeigt. Wenn ich dann weiterfahre oder wieder in Amerika bin, schreiben wir uns. Du mußt mir auch deine Adresse geben, und natürlich sagen wir jetzt Du zueinander.«

Peter pfiff wieder einmal durch die Zähne. »Ich weiß nicht«, überlegte er, »wenn das Herr Krüger hört, schaut er bestimmt ziemlich erstaunt durch seine Brillengläser.«

»Dann jedenfalls, wenn wir allein sind.«

»Das ist sehr freundlich, Mister Overseas!«

»Francis!« korrigierte der Junge mit dem Cowboy auf der Brust und hielt seine Hand hin.

»Francis«, wiederholte Peter und schlug ein. Dabei bekam er einen himbeerroten Kopf und angelte aus reiner Verlegenheit schnell nach der Zeitung auf den Knien.

»Das steht dir gut, wenn du so rot anläufst«, grinste der junge Overseas und lutschte vergnügt an seinem Kaugummi.

»Leider nicht zu ändern«, meinte Peter, und dann sagte er noch ganz breit und gequetscht: »I am sorry.«

»Well, das ist überhaupt eine Idee!« rief Francis. »Ich bringe dir Englisch bei und du — du hörst ja gar nicht zu!«

Peter hatte im Augenblick wirklich nicht zugehört. Er war plötzlich wieder auf diese Überschrift »5000 Mark Belohnung« gestoßen. Anstelle einer Antwort las er jetzt einfach vor: »— hat sich die Handels- und Creditbank entschlossen, die für die Ergreifung der Täter und Wiedererlangung des geraubten Geldes ausgesetzte Belohnung von bisher 1000 Mark auf 5000 Mark zu erhöhen. Nach wie vor sind alle Mitteilungen und Beobachtungen in dieser Sache an Kriminalkommissar Lukkas zu richten, Kriminalpolizei am Sternplatz, Seitenflügel A, Zimmer 247. Alle Angaben werden vertraulich behandelt.«

Peter legte die Zeitung wieder auf seine Knie und dachte nach. Und da er sehr gründlich nachdachte, machte er die Augen zu und legte seinen Zeigefinger an die Nase.

Francis sah sich den nachdenkenden Pagen eine ganze Weile interessiert an, wie eine seltene Briefmarke oder so etwas Ähnliches, dann sagte er: »Es ist wirklich sehr aufregend, sich mit dir zu unterhalten.«

Im Augenblick meinte das der junge Overseas natürlich ironisch, aber schon fünf Minuten später war es seine ehrliche Überzeugung. Peter machte nämlich jetzt seine Augen wieder auf, sah für etwa drei Sekunden zu den Elefanten hinüber und sagte dann: »Paß mal genau auf!«

»O.k.«, minte Francis, spuckte seinen Kaugummi auf den Kiesweg und hörte zu.

Peter erzählte hintereinander weg die ganze Bankraubgeschichte. Er fing damit an, wie er mit dem Sheriff am Bahnhofseingang saß —

Drüben hinter dem Wassergraben war inzwischen die Fütterung der drei Elefanten in vollem Gange. Als sie ihr Frühstück so ziemlich verschlungen hatten, war Peter auf seiner Bank gerade bei der »Schwarzen Rose« und ihren Komplicen angelangt.

»Die Polizei rennt sich die Beine aus, und alle Zeitungen sind voll davon. Aber bestimmt sind die beiden mit all dem Geld längst über die Grenze und baden jetzt im Roten Meer oder begucken sich die Niagarafälle.«

»May be«, überlegte Francis. »Aber vielleicht sind sie auch drüben am Bärenkäfig und fahren gerade Karussell.« Er schob die Unterlippe vor und nahm jetzt die Zeitung von Peters Knien.

Eine ganze Weile geschah nichts. Dann fragte Francis plötzlich: »Kriminalpolizei am Sternplatz — ist das weit?«

»Mit dem Wagen zehn Minuten. Wieso?«

»Well — wann mußt du wieder im Hotel sein?«

»So um eins. Aber was soll das alles?«

»Ganz einfach«, sagte Overseas junior und stand jetzt auf. »Wir fahren sofort zu diesem Kommissar Lukkas. Ihr hättet die Sache mit dem Mann in der Pfeffer-und-Salzmütze und dem Ledermantel natürlich längst melden müssen. Ich kenne das. Manchmal kommt es auf jede Minute an. Vielleicht —«, Francis tippte jetzt mit dem Zeigefinger auf die Schlagzeile der Zeitung.

»Und wenn das Ganze nur ein Zufall war, und der Ledermantel hat mit dem Überfall gar nichts zu tun«, überlegte Peter plötzlich.

»Das soll die Polizei feststellen. Dazu ist sie da, und dafür wird sie bezahlt«, meinte Francis sehr sachlich. »Gehen wir!«

»O.k. Allerdings wird das gar nicht leicht sein.« Peter sah zu den Elefanten und den Kindern hinüber. Dabei schob er sein rotes Käppi von hinten nach vorn in die Stirn.

Aber die Sache mit Bienchen ging überraschend einfach, und zwar durch Francis, genauer gesagt: durch den farbigen Cowboy auf seinem Pullover. Bienchen war restlos begeistert. Der Kleine riß die Augen auf, klatschte wieder einmal in die Händchen und vergaß für den Augenblick sogar die drei Elefanten. Das genügte vorerst.

Am Hauptbahnhof gab es einen kurzen Aufenthalt. Der Sheriff hatte nämlich gerade einen Kunden; und dann dauerte es natürlich eine ganze Weile, bis er alles begriffen hatte. Aber dann warf er sein Poliertuch in die Bürstenkiste, drückte die Brust raus und sagte: »Bitte, ich stehe zur Verfügung.«

Das hörte sich an, als habe man ihm gerade so nebenbei den Oberbefehl über die Pazifikflotte angeboten.

Er stieg in den Overseasschen Cadillac, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Emil Schlotterbeck ist mein Name«, gab er bekannt und machte einen Diener. Dabei bumste er mit dem Kopf gegen die Decke

»Francis«, grinste Overseas junior, und dann gab Jimmy auch schon Gas.

»Man hört überhaupt keinen Motor!« stellte der Sheriff mit einiger Anerkennung fest und lehnte sich zurück.

»Aber er hat einen«, versicherte Peter und tippte jetzt Francis auf die Schulter: »An der nächsten Kreuzung rechts.«

»Next Street to the right«, übersetzte der junge Overseas für Jimmy.

Der Negerchauffeur grinste und ließ das Flugzeugmutterschiff in die Kurve gehen.

Am Sternplatz sagten Peter und der Sheriff so ziemlich gleichzeitig »Stopp!«, dann dirigierten sie das Auto direkt vor den Haupteingang der Kriminalpolizei. Sie fragten nach dem Seitenflügel A und tigerten los, einschließlich Bienchen und Luftballon.

Leider kamen sie im ungünstigsten Augenblick.

Da hatte nämlich der Eilbote vor einer halben Stunde endlich einen dicken Briefumschlag ins Zimmer 247 gebracht, mit französischem Poststempel drauf.

»Vom Fahndungsdienst aus Paris, Herr Kommissar!« hatte Kriminalassistent Kühnast aufgeregt gerufen.

»Aufmachen! Dalli, aufmachen!«

Kriminalkommissar Lukkas war wie elektrisiert aufgesprungen. Das mußten endlich die Fotos sein! Die Druckerei, die den Steckbrief bereits im Satz fertig hatte, wartete darauf.

Die ganze Presse wartete ebenso.

Sämtliche Fotos, die der Kriminalassistent aus dem Briefumschlag der Pariser Fahndungsstelle nahm, zeigten eine Frau, eine dunkelhaarige Person mit Ohrringen so groß wie Taubeneier. »So eine Pleite!«

Kriminalkommissar Lukkas setzte sich hinter seinen Schreibtisch und sagte nur: »Lesen Sie vor.«

Der Kriminalassistent sprach einigermaßen Französisch und überflog den Bericht, der den Fotos beigefügt war. »— und übersenden Ihnen in der Anlage fünf der gewünschten Fotos. Die Gesuchte tritt augenblicklich hier in verschiedenen Nachtklubs als Sängerin auf unter den Namen ›La rose noire‹.« Assistent Kühnast sah durch seine randlose Brille: »›La rose noire‹, das heißt auf deutsch ›Schwarze Rose‹.«

»Danke, soviel Französisch verstehe ich auch noch«, knurrte Kriminalkommissar Lukkas. Dann sprang er auf und knallte seine flache Hand auf den Schreibtisch. Die Fotos der »rose noire« hüpften durch die Luft wie Papierschnitzel.

»Paris! Melden Sie sofort ein Blitzgespräch an!«

Assistent Kühnast rannte zum Telefon und ließ sich mit dem Fernamt verbinden.

In diesem Augenblick klopfte es, eigentlich schon zum dritten Mal. Aber Kriminalkommissar Lukkas hatte die beiden ersten Male überhört.

»Herein!« rief er gereizt und sah auf. Die Tür öffnete sich ganz vorsichtig, und dann kam lediglich ein gelber Luftballon ins Zimmer. Dieser Luftballon hatte ein Gesicht, ein Gesicht, das lachte.

»Was ist denn jetzt wieder kaputt?« rief Kriminalkommissar Lukkas und sprang auf.

»Wir wollen eine Meldung machen«, antwortete eine Stimme, und dann wurden so nacheinander sichtbar: ein zinnoberroter Hotelpage, ein kleiner Matrose und zwei weitere Jungen. Einer von ihnen hatte einen sehr farbigen Cowboy mitten auf der Brust.

»Es ist wegen des Banküberfalls!« erklärte der Hotelpage.

»Was du nicht sagst!« knurrte Kriminalkommissar Lukkas und steckte sich eine ganz schwarze Brasilzigarre ins Gesicht.

»Gestatten Sie«, meinte Peter höflich und zückte seine Streichhölzer.

Der Kriminalkommissar bediente sich. Dann sagte er kurz: »Danke«, pustete das Streichholz aus und paffte die erste Rauchwolke ins Zimmer. »Und jetzt schießt los! Ich habe meine Zeit nämlich nicht gestohlen.«

»Hay!« sagte da Overseas junior. »Wir können ja auch wieder gehen. Dann dürfen Sie aber nicht in die Zeitung schreiben, daß Sie Hinweise aus der Bevölkerung erwarten.«

Peter und der Sheriff sahen Francis an, als habe er chinesisch gesprochen.

Kriminalkommissar Lukkas paffte nur eine besonders große Rauchwolke ins Zimmer und knurrte: »Quatsch dir keine Fransen!« Dann lehnte er sich mit seinem breiten Rücken gegen einen Aktenschrank: »Los, fangt schon an, ich warte.«

Die drei Jungen guckten sich noch einmal gegenseitig in die Gesichter, dann legte Peter los:

»Es war an dem Morgen, als die ganze Geschichte passiert ist. Ich habe damals noch Schuhe geputzt«

»Drüben am Bahnhofseingang, müssen Sie wissen«, fiel der Sheriff ein. »Von da hat man Aussicht zur internationalen Handels- und Creditbank’.«

Die beiden Jungen erzählten der Reihe nach, was sie wußten.

Als sie zu dem Mann mit den Schlangenlederschuhen kamen, versuchten sie, sich an jede Einzelheit zu erinnern, bis zu dem Augenblick, als die Pfeffer-und-Salzmütze in der Taxe verschwunden war.

»Die Nummer von der Taxe wissen wir allerdings nicht«, sagte der Sheriff zum Schluß.

»Na, und?« fragte Kriminalkommissar Lukkas und paffte wieder eine Rauchwolke in die Luft. »Wo bleibt der Witz?«

»But listen!« rief Overseas junior. »Bestimmt gehörte der Mann zu der Bande, vielleicht war er sogar der Boß!«

»Unsinn!« stellte Kriminalkommissar Lukkas fest. »Der Mann war an der ganzen Geschichte genauso wenig beteiligt wie ihr oder ich. Natürlich hat ihn diese Filmerei interessiert, und er hat zugeschaut. Und als es dann vorbei war, merkte er, daß er sich verspätet hatte. Da nahm er seine Beine in die Hand und rannte los. Weiter nichts. Hier«, der Kriminalkommissar zeigte auf einen ganzen Stapel von Briefen und Postkarten, »das sind alles die gleichen Geschichten. Alle wollen jemanden gesehen haben, der sich verdächtig gemacht hat. Unsinn, wie gesagt. Ihr solltet weniger Kriminalgeschichten lesen und die Nase lieber in eure Schulbücher stecken! Tschüß, meine Herren! Ich habe hier keinen Kindergarten. Was macht Paris, Kühnast?«

»Sofort, Herr Kommissar«, antwortete der Assistent und sah auf das Telefon, als wolle er es hypnotisieren, »es muß jeden Augenblick klingeln.«

»La rose noire«, knurrte Kriminalkommissar Lukkas vor sich hin und wischte mit der Hand durch die Luft. Sein Zigarrenrauch stand nämlich schon wie eine Nebelwand im Zimmer.

Inzwischen kurvte Mister Overseas Cadillac auf dem Sternplatz rund um den Verkehrsschupo herum und rollte dann wieder zum Zentrum zurück.

Bienchen klebte an der Windschutzscheibe und guckte mit weit aufgerissenen Augen zu den vielen Menschen, den anderen Autos und den Straßenbahnen. Der Kleine sagte nicht einmal Piep. Um so lauter ging es zwischen den drei Jungen zu.

»Nicht die Bohne Fingerspitzengefühl!« stellte der Sheriff gerade fest. »Der Kerl ist eine glatte, runde Null!«

»Wenigstens ein Protokoll hätte er aufnehmen müssen!« meinte Overseas junior. »In jedem richtigen Kriminalfilm ist das so. Zuerst nimmt die Polizei immer ein Protokoll auf.«

»Sehr richtig!« pflichtete der Sheriff bei. »Und für so etwas zahlt man seine Steuern!« Er schnaubte empört durch die Nase. »Übrigens eine Frechheit, die Anspielung mit dem Kindergarten.«

»Das sagte er bestimmt nur wegen Bienchen und dem Luftballon«, gab Peter zu bedenken.

»Trotzdem«, beharrte Francis. »Als policeman — ich meine, als Kommissar, muß er jede Spur aufgreifen.«

»Ganz klar!« stimmte der Sheriff wieder bei. »Dieser Kerl hat von Tuten und Blasen keine Ahnung! So was als Kriminalkommissar ist für jeden Verbrecher ein Weihnachtsgeschenk! Es ist eine Affenschande! Leider«, der Sheriff hob bedauernd die Schultern, »aber es ist so, von seinem Benehmen ganz zu schweigen. Wir müssen uns dafür direkt bei Ihnen entschuldigen, Mister Overseas.«

Eine interessante Unterhaltung hinter zwei Zeitungen

Im Park, der dem roten Backsteingebäude der Kriminalpolizei gegenüberlag, saßen zwei Männer auf einer Bank für Spaziergänger. Der eine war eigentlich fast noch ein Junge. Die beiden hatten Zeitungen vor sich, das »Abendblatt« und das »Echo«.

»Ein Wetter zum Eierlegen«, sagte der hinter dem »Abendblatt«.

»Trotzdem ist es ein Wahnsinn«, knurrte es hinter dem »Echo«.

»Was ist ein Wahnsinn, wenn ich fragen darf?«

»Daß wir ausgerechnet gerade hier vor der Kripo sitzen.«

»Irrtum!« sagte das »Abendblatt«, und die Hosenbeine, die unterhalb der Zeitung zu sehen waren, legten sich jetzt übereinander. »Je dichter wir der Polente aufs Fell rücken, um so sicherer sind wir.«

»Theorie!« knurrte das »Echo« wieder.

»Erfahrung!« antwortete das »Abendblatt«.

»Aber um das zu kapieren, bist du noch viel zu jung und zu grün hinter den Ohren.«

»Jedenfalls wäre es besser gewesen, sofort nach der Geschichte abzuhauen!«

»Was du nicht sagst!«

»Wir könnten jetzt schon in der Schweiz sitzen oder in Italien oder im Knast«, meinte seelenruhig die Stimme hinter dem »Abendblatt«.

»Wieso?«

»Weil du Gift darauf nehmen kannst, daß die Kripo sofort alle Grenzen alarmiert hat. Kurz danach war alles hinter uns her, der letzte Streifenwagen und jeder Dorfpolizist. Dagegen hilft nur eins.«

»Das wäre?«

»Abwarten und Tee trinken.«

»Das ist mir zu hoch.«

»Ganz einfach! Wenn genug neue Dinger gedreht sind, sucht man wieder andere, und das Interesse an uns läßt nach. Das siehst du schon an den Zeitungen! Am Anfang Schlagzeilen über die ganze erste Seite weg, und jetzt sind wir schon klein und in irgendeine Ecke gerutscht, zwischen einen Verkehrsunfall und die Wettermeldung.«

»Dann ist es wohl bald soweit?«

»Morgen ist Freitag. Ich hab freitags immer Glück gehabt«, überlegte das »Abendblatt«.

»Soll das heißen«, der Kerl hinter dem »Echo« war plötzlich so aufgeregt, daß seine Hände mit der Zeitung zitterten wie bei einem Erdbeben, »daß wir morgen abhauen?«

»Wir hauen nicht ab, du Anfänger. Wir haben ein Schlafwagenabteil erster Klasse, und wenn du nicht willst, daß wir platzen, legst du dir andere Ausdrücke zu, verstanden?«

»Und — das Geld?«

»Bringt uns der Gepäckträger an die Bahn! Mach dir keine Sorgen!« antwortete es hinter dem »Abendblatt«, und gleich darauf gähnte es auch hinter dem »Abendblatt«.

»Du machst mich noch verrückt, wie die anderen!« Das hörte sich an, als säße auf der Bank für Spaziergänger plötzlich eine Bulldogge, und zwar hinter dem »Echo«.

Mister Overseas bekommt ein Telegramm

Etwa um die gleiche Zeit saß der junge Overseas in der Halle des ATLANTIC in einem tiefen Klubsessel. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, und seine rechte Hand spielte mit dem Zimmerschlüssel von 310.

Drüben an der Türklinke zum »Blauen Salon« hing noch das Schild mit der Aufschrift »Nicht stören«.

Peter stand wieder einmal vorn an der Drehtür. Im Augenblick hatte er alle Hände voll zu tun. Von der Straße her kam eben eine dänische Reisegesellschaft, die sich das Glockenspiel im Rathausturm angehört hatte. Der große Uhrzeiger über der Portierloge sprang jetzt auf halb. Drüben an der Tür zum »Blauen Salon« rührte sich noch immer nichts.

Da warf Francis seinen Zimmerschlüssel in die Luft und fing ihn wieder auf, dann drückte er sich aus dem Klubsessel hoch, grinste zu Peter hinüber und spazierte zum Speisesaal.

In diesem Augenblick ereigneten sich zwei Dinge:

Ein Telegrammbote erschien in der Tür und fragte nach Mister Overseas. Und am »Blauen Salon« wurde die Flügeltür aufgestoßen. Da zuerst nichts als Qualm und Dunst ins Freie kam, sah es so aus, als sei drinnen ein Zimmerbrand ausgebrochen. Dann aber tauchte Mister Overseas mit seinen Konferenzteilnehmern auf, und alle rauchten dicke Zigarren oder kurze Pfeifen.

»Hallo!« rief Mister Overseas und ging direkt auf die Portierloge zu. »Stellen Sie sofort die nächste Flugverbindung nach London fest!« Er hatte ein Telegramm in der Hand und paffte eine dicke, weiße Rauchwolke in die Luft. »Wo ist mein Sohn?«

»Drüben im Speisesaal«, antwortete Chefportier Krüger und griff gleichzeitig nach dem Telefon. »Wegen London erkundige ich mich sofort.«

»Danke«, sagte Mister Overseas und marschierte los. Als er drüben die Tür zum Speisesaal erreicht hatte, markierten quer durch die Halle lauter kleine weiße Rauchwölkchen seinen Weg. Sie standen in der Luft, als ob sie an einer unsichtbaren Wäscheleine zum Trocknen aufgehängt wären.

»Hallo, Daddy!« winkte Francis.

Mister Overseas steuerte auf seinen Jungen zu und setzte sich zu ihm.

Francis entschuldigte sich, weil er nicht länger gewartet hatte. aber mein Hunger war wirklich enorm! Mister Overseas nickte nur und paffte an seiner Zigarre. Dann sagte er plötzlich: »Das ist eine verdammte Geschichte!« und legte das Telegramm auf den Tisch. »Ich muß sofort nach London. Möglich, es dauert vier oder fünf Tage. Kann ich dich solange hier lassen, oder willst du mitkommen?«

»O Daddy —«, meinte Francis und sah vor sich auf die blütenweiße Tischdecke.

»I am sorry«, knurrte Mister Overseas. »Aber das verspreche ich dir, wenn ich dieses Mal den Vertrag in der Tasche habe, können mir alle Sitzungen und Konferenzen für mindestens zwei Monate gestohlen bleiben. Dann machen wir Urlaub!«

In diesem Augenblick kam Peter von der Saaltür her und rief: »Generaldirektor Pawlowsky, bitte ans Telefon!«

Francis hatte die Stimme sofort erkannt und sah auf. Als Peter dicht an ihm vorbeikam, blitzte er ihn aus dem rechten Auge vergnügt an. Und Peter blitzte zurück. Allerdings rief er dabei schon wieder: »Herr Generaldirektor Pawlowsky, bitte!«

»Na, was machen wir?« fragte Mister Overseas, der offenbar nichts bemerkt hatte.

»Hier ist Jimmy mit dem Wagen«, überlegte Francis, »und bei dir in London ist es bestimmt genauso wie hier.«

»Du bleibst also?« fragte Mister Overseas.

»Das heißt — ich hätte eine Bitte, wenn du mit dem Hoteldirektor sprechen könntest —«

»Und weshalb?«

Da sah Francis an den Nebentisch.

Dort hatte sich gerade ein kleiner, aber ziemlich dicklicher Herr bemerkbar gemacht. Er trug eine schwarze Hornbrille, hatte ein sehr rosiges Gesicht und fragte jetzt den Hotelpagen: »Ja, bitte?«

»Sind Sie Generaldirektor Pawlowsky?« fragte Peter höflich.

»Allerdings«, lächelte die schwarze Hornbrille.

»Ein Gespräch aus Paris, wenn ich bitten darf!«

»Aha! Das ist’s!« rief der Kleine, tupfte sich rasch mit der Serviette über sein rosiges Gesicht und sprang auf. Peter folgte ihm.

Am Tisch der beiden Overseas wurde er allerdings angerufen.

»Hallo!«

»Mister Overseas?« fragte Peter und blieb stehen.

»Ich möchte sofort Direktor Adler sprechen.«

»Sehr wohl!« sagte Peter und machte bereits kehrt. Aber da rief es noch einmal: »Hallo!«

»Mister Overseas?« fragte Peter wieder und drehte sich um.

»Dein Name?«

»Pe — Peter Pfannroth«, erwiderte der Page und bekam einen Kopf, so knallrot wie seine Uniform.

Francis grinste.

Aber Mister Overseas malte den Namen sehr sorgfältig auf den Rand der Speisekarte und sagte dann: »Danke«, weiter nichts. Peter sah hilfesuchend zu Francis. Aber der hatte den Kopf gesenkt und interessierte sich im Augenblick nur für das blütenweiße Tischtuch.

Da wiederholte Peter nur: »Direktor Adler«, und tigerte los.

Fräulein Wiesengrund tippte eben auf ihrer Schreibmaschine, als Peter zu ihr ins Vorzimmer kam. Sie trug wieder einmal ein sehr buntes Sommerkleid und fragte lachend: »Wo brennt’s?«

»Mister Overseas sitzt im Speisesaal und hätte gerne Herrn Direktor Adler gesprochen.«

»Schönen Dank. Ich sage Bescheid«, antwortete Fräulein Wiesengrund und griff gleich nach dem Telefonhörer.

Peter saß kaum wieder auf der Pagenbank, da kam Direktor Adler auch schon aus seinem Büro, ging quer durch die Halle und verschwand im Speisesaal.

Beinahe gleichzeitig klingelte in der Portierloge das Telefon.

»HOTEL ATLANTIC,« meldete sich Herr Krüger, dann machte er einige Notizen und buchstabierte schließlich den Namen Overseas, »O wie Otto, V wie Viktor —« Als er zu Ende buchstabiert hatte, nahm er den Zettel mit den Notizen, kam aus seiner Loge und spazierte jetzt ebenfalls quer durch die Halle, auch zum Speisesaal.

Jetzt sprang der große Zeiger an der Uhr über dem Eingang auf voll. Es war drei, und pünktlich auf die Minute kamen die Pagen vom Spätdienst zur Ablösung. Kaum vier oder fünf Minuten später standen die Jungen, die jetzt nach Hause gehen konnten, bereits unter den Duschen, trockneten sich wieder ab und stiegen in ihre Sachen.

Da steckte Personalportier Pfefferkorn seinen Kopf durch die Tür des Umkleideraums: »Peter Pfannroth sofort zu Direktor Adler!«

Peter angelte nach seiner Pagenuniform, die schon über einem Kleiderbügel im Schrank hing.

Aber da sagte Herr Pfefferkorn: »Du sollst kommen, so wie du bist!«

Vor Eile verhaspelte sich Peter, als er seinen blauen Pullover mit dem Rollkragen überzog.

»Dalli! Man wartet auf dich!« drängte der Personalportier.

Trotzdem fuhr sich Peter noch einmal mit dem Kamm rasch durch sein Haar, das vom Duschen naß war.

Dann rannte er los.

Die übrigen Jungen sahen sich an und schüttelten die Köpfe.

Als Peter in die Halle kam, stieg Jimmy, der Negerchauffeur, soeben mit einem zitronengelben Lederkoffer aus dem Aufzug.

Drüben vor der Portierloge stand Direktor Adler, neben ihm die beiden Overseas und Herr Krüger.

Alle vier sahen jetzt dem Jungen im blauen Rollkragenpullover entgegen, und es hatte tatsächlich den Anschein, als habe man nur auf ihn gewartet.

»Herr Direktor«, meldete sich Peter und stand kerzengerade wie früher in der Turnstunde vor einer Reckübung.

»Paß mal auf«, sagte Direktor Adler und das klang eigentlich sehr freundlich. »Mister Overseas muß für ein paar Tage nach London. Sein Sohn bleibt hier und möchte gern — und Mister Overseas möchte es auch —, daß du während dieser Zeit nur ihm zur Verfügung stehst, also dem Sohn von Mister Overseas. Bist du damit einverstanden?«

Peter nickte zweimal hintereinander mit dem Kopf. Dann erst sagte er »Sehr gern, Herr Direktor«. Er mußte nämlich erst die Luft anhalten, weil er noch ganz außer Atem war.

»Du kannst deine Uniform anziehen oder auch nicht, wie es Mister Overseas junior wünscht«, meinte Direktor Adler noch, und dann wandte er sich zu dem Chefportier: »Sie wissen also Bescheid, Herr Krüger.«

»O.k.«, sagte in diesem Augenblick Mister Overseas. »Schönen Dank und jetzt los! Mein Flugzeug wartet nicht!«

Er zog an seiner Pfeife und paffte Peter den Rauch vors Gesicht: »Am besten, du kommst gleich mit.«

»Jawohl, Mister Overseas«, verbeugte sich Peter. Gleich darauf verzog er sein Gesicht, Francis hatte ihm nämlich seinen Ellbogen in die Seite geboxt.

Draußen saß Mister Overseas bereits neben Jimmy im Wagen. Direktor Adler stand am Rand des Bürgersteigs und verabschiedete sich.

Peter und Francis drückten sich schnell in den hinteren Wagenteil, und dann schloß Herr Krause die Türen. Der Chauffeur gab Gas, und Mister Overseas winkte noch einmal.

Direktor Adler verbeugte sich und winkte zurück. Da Peter direkt hinter Mister Overseas saß, sah es für einen Augenblick so aus, als verbeugte sich der Hoteldirektor vor seinem Pagen.

Auf dem Flugplatz landete soeben die fahrplanmäßige Maschine aus Teheran, beinahe gleichzeitig rollte ein viermotoriges Flugzeug der Skandinavian-Air-Line zur Startbahn.

Als Mister Overseas mit Jimmy und den zwei Jungen in die Schalterhalle kam, bat der Lautsprecher die Fluggäste nach London bereits zur Zollabfertigung. Bis zum Abflug blieb also nicht mehr viel Zeit.

»Die KLM bittet die Fluggäste nach London zur Maschine!« gab der Lautsprecher bekannt.

Mister Overseas klopfte seine Pfeife aus, steckte sie in seine Tasche, und dann gab er seinem Jungen die Hand.

»Du schreibst mir jeden Tag ein paar Worte.«

»Bestimmt«, sagte Francis.

»Und paß mir auf dich auf«, meinte Mister Overseas noch.

»Keine Angst, Daddy, ich geh’ schon nicht verloren«, grinste Francis.

Da fuhr Mister Overseas seinem Jungen durchs Haar, und dann gab er auch Peter die Hand. »Ich hoffe, ihr werdet gute Freunde«, sagte er. »Und macht mir keine Dummheiten! Ich verlasse mich auf dich.«

»Jawohl, Mister Overseas«, antwortete Peter und fügte noch hinzu: »Gute Reise!«

Jimmy zeigte sein ganzes blendendweißes Gebiß, als sich Mister Overseas von ihm verabschiedete, und nahm die Hand an seine Mütze wie ein General.

Dann spazierte Mister Overseas mit den anderen Fluggästen zusammen über das Rollfeld, genauso, als ging er zu irgendeiner Straßenbahnhaltestelle, um mal schnell zum Stephansplatz zu fahren. Und tatsächlich bedeutete so ein Flug nach London für ihn auch nicht viel mehr.

Auf der Treppe zum Flugzeug drehte sich Mister Overseas noch einmal um und hielt seinen Hut in die Luft. Francis, Peter und Jimmy winkten zurück.

Kurz darauf wurde die Tür zum Flugzeug geschlossen und die Treppe zur Seite geschoben. Die Motoren heulten auf, und die Propeller fingen an, sich immer schneller zu drehen. Und dann rollte die Maschine zur Startbahn. »Jetzt!« rief Peter und kniff die Augen zusammen.

Drüben hob sich im gleichen Augenblick das Flugzeug von der Erde.

Es stieg immer höher in den Himmel hinein, zog noch einmal eine weite Schleife über dem Flugplatz und drehte dann dem Horizont zu.

Eine ganze Weile standen Francis, Peter und Jimmy noch nebeneinander, hatten die Hände über den Augen und sahen zu den Wolken hinauf, hinter denen Mister Overseas verschwunden war.

Schon eine Viertelstunde später fuhren die drei kreuz und quer durch die Stadt, beguckten sich den Hafen, tigerten durch das Völkerkunde-Museum und tranken schließlich im Alsterpavillon Kaffee und futterten Kuchen.

Inzwischen fing es an, immer dunkler zu werden, und da heute Donnerstag war, wurde es Zeit für den Kuhlenkampschen Trainingsabend.

Natürlich gab es ein ziemliches Aufsehen, und alle Jungen kamen ins Freie, als der Cadillac in den Hinterhof der Warburgstraße 12 gerollt kam.

»Das ist Francis«, gab Peter bekannt, »und das ist Jimmy!«

Der junge Overseas stieg aus und schüttelte eine Menge Hände. Jimmy blieb sitzen. Aber er hob seine Arme in die Luft und lachte.

»Hallo, Sheriff!« rief Francis plötzlich. Er hatte Emil Schlotterbeck entdeckt und legte ihm seine Hand auf die Schulter.

»Hallo!« antwortete der Sheriff und strahlte. Er fand es wirklich nett, daß ihn der junge Amerikaner so vor allen Jungen wie einen alten Bekannten begrüßte.

»Und das ist der Admiral«, bemerkte jetzt Peter. Fanny Kuhlenkamp hatte sich nämlich inzwischen nach vorn gedrängelt.

»I am very glad to see you«, piepste sie. Schließlich hatte sie schon das zweite Jahr Englisch.

»Hay!« sagte Francis und machte vor Fanny eine regelrechte Verbeugung.

»You have a very nice car«, piepste der Admiral und beguckte sich interessiert Mister Overseas’ Cadillac.

»Bleiben Sie auf dem Teppich, gnädiges Fräulein«, grinste der Sheriff. »Er versteht deutsch!«

»Aber es ist höflicher, wenn man sich mit einem Ausländer in seiner Muttersprache unterhält«, flötete der Admiral. »Das heißt, wenn man es kann.«

Dabei hielt sie den Kopf ein klein wenig schief und lächelte wie ein Filmstar zu dem jungen Overseas hinüber.

»Frauen können manchmal doch zu dämlich sein!« knurrte der Sheriff und marschierte kopfschüttelnd zum Trainingssaal.

Der Admiral warf wieder einmal seine strohblonden Locken aus der Stirn, und die Jungen feixten.

Dann ging’s in den Umkleideraum.

Peter hatte für Francis noch eine zweite schwarze Sporthose, und Vater Kuhlenkamp fand noch ein Paar passende Turnschuhe.

Beim Seilspringen und am Sandsack fiel es eigentlich nicht so sehr auf, daß der junge Overseas noch nie richtig geboxt hatte. Aber als er dann mit Peter in den Ring kletterte, zeigte es sich doch, daß er zu wenig Erfahrung und keine Übung hatte.

Trotzdem griff er immer wieder an, und man sah sofort, daß er bestimmt einen anderen Sport betrieb und trainiert war.

»Wer ist denn das?« fragte Herr Winkelmann, der in diesem Augenblick leise die Tür hinter sich geschlossen hatte und jetzt zwischen den Jungen auf einer Bank Platz nahm.

»Ein Mister Overseas«, erklärte der Sheriff und erzählte kurz, was er von Francis wußte.

Währenddessen gingen die beiden Jungen im Ring in die dritte Runde.

»Jedenfalls hat er Mut«, meinte Herr Winkelmann.

Tatsächlich griff Francis eben wieder an. Er tauchte regelrecht unter Peters Deckung vorbei und schlug mit beiden Fäusten um sich. Allerdings nicht lange. Sofort wurde er wieder abgestoppt und zurückgetrieben. Dabei sah man deutlich, daß sich Peter alle Mühe gab, den jungen Amerikaner nicht hart zu treffen.

»Zeit!« rief jetzt Vater Kuhlenkamp, ging auf Francis zu und half ihm die Handschuhe ausziehen. »Nicht schlecht!« sagte er dabei. »Ein halbes fahr Training und die Richtung stimmt!«

»Sehr freundlich«, dankte Francis und stieg aus dem Ring.

Und da stand auch schon Herr Winkelmann vor ihm.

»Es freut mich, daß du zu uns gekommen bist! Wenn du willst, kannst du uns besuchen, sooft du Lust hast. Übrigens guten Abend, Astorianer!«

»Guten Abend, Herr Winkelmann!« riefen die Jungen. »Am Samstag steigt also der Endkampf!« stellte der Fleischermeister fest. »Und wenn wir auch ziemlich sicher sind, daß wir gegen Viktoria 93 haushoch gewinnen — die Meisterschaft haben wir doch erst in der Tasche, wenn hier an der Wand der Siegerkranz hängt! Im übrigen kommt zu so einem Endkampf immer die ganze Presse und sogar der Rundfunk. Also blamiert uns nicht!« Herr Winkelmann rieb sich jetzt vergnügt die Hände und sah um sich.

»Nicht blamieren«, wiederholte Peter, als ob Chefportier Krüger vom »ATLANTIC« vor ihm stünde. Und dann sagte er: »Also bis übermorgen!« Dann rannte er mit Sheriff zusammen los.

Draußen drückte nämlich Jimmy schon zum zweiten Mal auf die Hupe.

»By! By!« winkte der Admiral noch, und dann rollte Mister Overseas’ Cadillac wieder aus dem Hinterhof zur Straße. Zuerst wurde der Sheriff nach Hause gebracht, und dann ging’s in Richtung Rangierbahnhof. »Zu welcher Zeit wünscht der Herr morgen früh geweckt zu werden?« fragte Peter.

»Ich denke, um acht«, meinte Francis und lehnte sich zurück wie ein Generaldirektor.

»Sehr wohl«, verneigte sich Peter, und dann tippte er Jimmy auf die Schulter: »Nächste Straße rechts, wenn ich bitten darf!«

Und jetzt verneigte sich Jimmy, zeigte seine schneeweißen Zähne und sagte ebenfalls: »Sehr wohl!«

Peter wird seiner Uniform zuliebe vernünftig

Am anderen Morgen stand Peter pünktlich um acht Uhr vor Zimmer 310. Er hatte das neueste »8-Uhr-Blatt« unter dem Arm und einen Stadtplan.

Vor der Tür standen Francis’ Schuhe. Peter hob sie auf, zog seine zinnoberrote Pagenjacke zurecht und klopfte. Zuerst außen, wie er es von dem Jungen mit den abstehenden Ohren gelernt hatte.

Nichts rührte sich. Da öffnete Peter und stand jetzt vor der inneren Zimmertür. Er klopfte wieder.

»Come in!« rief es jetzt.

Peter trat ein, schloß die Tür hinter sich und blieb stehen.

»Guten Morgen, Mister Overseas! Ich hoffe, Sie haben eine gute Nacht hinter sich? Wenn Sie gestatten, hier Ihre Schuhe und hier die neueste Morgenzeitung. Haben Sie sonst noch Wünsche?«

»Daß du möglichst schnell vernünftig wirst, du Knalltüre!« knurrte Francis.

Er saß im Pyjama wie ein indischer Fakir mit gekreuzten Beinen auf seiner Bettdecke und kaute bereits an einer Orange.

»Der Sheriff ist kein Umgang für einen Overseas junior. Den Ausdruck ›Knalltüte‹ haben Sie nur von ihm«, bemerkte Peter und stellte die Schuhe neben die Badezimmertür.

Da flog ein Kissen durch die Luft und dann noch eins. Gleich hinterdrein kam Francis persönlich, beinahe im gleichen Augenblick lag Peter der Länge nach auf dem dicken Teppich, und Francis kniete über ihm.

»Meine Uniform!« gab Peter zu bedenken.

»Bist du jetzt vernünftig?« fragte Francis und drehte Peters Handgelenke nach innen.

»Wir sind angewiesen, immer freundlich zu sein und uns von den Gästen so ziemlich alles gefallen zu lassen«, stöhnte Peter. »Aber das geht entschieden zu weit, Mister Overseas!«

»Du brauchst nur zu sagen, daß du vernünftig wirst!« stellte Francis seelenruhig fest. Dabei setzte er sich dem Pagen mitten auf den Bauch und drehte weiter an dessen Handgelenken.

»Meine Uniform!« erinnerte Peter wieder.

»Schön«, schlug Francis vor, »dann werde wenigstens deiner Uniform zuliebe vernünftig!«

»Einverstanden«, zischte Peter, »aber nur wegen der Uniform!«

»O. k.«, rief Francis und sprang auf. Er hielt Peter seine Hand hin und zog ihn hoch.

»Guten Morgen«, sagte er dabei.

»Guten Morgen, Francis«, grinste Peter.

Sie setzten sich nebeneinander auf den Bettrand und taten jetzt gemeinsam, was Francis bisher nur allein getan hatte: sie kauten Orangen.

»Gestern abend beim Boxen«, meinte Francis plötzlich wie aus heiterem Himmel, »hättest du mich natürlich k. o. schlagen können, wenn du gewollt hättest.«

»Vielleicht«, gab Peter zu. »Hoffentlich hast du trotzdem ruhig geschlafen?«

»Die Wahrheit ist nämlich, daß ich überhaupt nie geboxt habe«, gestand Francis und sah vor sich auf eines der giftgrünen Pyjamaknie mit den großen roten Punkten. »Und eigentlich interessiert mich Boxen auch gar nicht.«

»Na also«, stellte Peter beruhigt fest. »Dann kann es dir ja auch ganz egal sein.«

Aber so ganz egal war es Francis doch nicht. Nach einer Weile fragte er nämlich: »Hast du eine Ahnung von Kricket?«

»Nicht die Bohne!« gab Peter zu und angelte nach einer neuen Orange.

»In unserem Gepäck auf dem Bahnhof sind meine Schläger«, sagte Francis und sah auf. »Hättest du Lust?«

»Ich fürchte nur, daß es ziemlich langweilig für dich wird«, gab Peter zu bedenken.

»Also abgemacht! Wir spielen Kricket!« rief Francis und sprang auf. Er war plötzlich wie ausgewechselt.

»Ach so«, begriff Peter jetzt, »du bist im Kricket wohl eine ziemliche Kanone?«

»Allerdings«, gab Francis zu, »hast du jetzt keine Lust mehr?«

»Wenn es dein Selbstbewußtsein wieder ins Gleichgewicht bringt«, meinte Peter, »bitte, ich stehe zur Verfügung!«

»Ich boxe dann auch wieder mit dir«, versprach Francis und kramte in der Schreibtischschublade. »Hier ist der Gepäckschein. Ich schreibe jetzt schnell an Daddy, und währenddessen holst du mit Jimmy das Gepäck. Anschließend frühstücken wir zusammen, und dann geht’s los. Einverstanden?«

»Einverstanden«, antwortete Peter.

»Sechshundertsechsundsechzig — komisch, wie das aussieht, drei Sechsen hintereinander!«

An der Tür blieb Peter noch einmal stehen, verbeugte sich und sagte: »Ich werde mich beeilen, Mister Overseas.«

Schwupp! flog ein Kissen in seine Richtung.

Aber Peter war bereits auf dem Korridor.

Gepäckschein 666

Peter stand vor dem Hoteleingang und sah sich um. »Suchst du was Bestimmtes?« fragte Wagenmeister Krause.

»Den Cadillac von Mister Overseas.«

»Der ist in der Garage und wird gewaschen. Man soll dort anrufen, wenn er gebraucht wird. Sonst sei er in einer halben Stunde wieder zurück.«

»Schönen Dank, Herr Krause«, sagte Peter. Er überlegte kurz, und dann ließ er sich von dem Hausdiener eine Gepäckkarre geben.

Am Bahnhofseingang hatten der Sheriff und Carlos gerade Hochbetrieb, sie sahen Peter gar nicht, als er an ihnen vorbeischob.

Um diese Zeit kamen die ersten Fernzüge an.

Auch drüben vor der Gepäckaufbewahrung standen mehrere Gruppen von Reisenden. Allerdings hauptsächlich vor dem Annahmeschalter.

Bei der Ausgabe ging es noch.

»Was ist es?« fragte der Beamte und nahm den Gepäckschein.

»Ein Koffer«, antwortete Peter.

»Wir haben hier zweiunddreißig Regale und von oben bis unten nichts als Koffer!« knurrte der Mann hinter der Ausgaberampe. »Weißt du wenigstens, wann er aufgegeben worden ist?«

»Vielleicht vor vier oder fünf Tagen.«

»Vielleicht! Was soll ich damit anfangen?« knurrte der Beamte wieder und verschwand jetzt hinter einem von den zweiunddreißig Regalen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wiederkam.

»Genau neun Tage steht er hier! Pro Tag zwanzig Pfennig, macht eins achtzig. Dazu noch eine Mark Versicherung. Und beim nächsten Mal läßt du dir wenigstens sagen, was du abholen sollst«, meinte der Beamte noch. Dann hob er einen Koffer auf die Rampe. Dieser Koffer war ziemlich groß, aber beileibe kein Schrankkoffer. Im übrigen war er aus grobem Segeltuch und rundherum mit einer regelrechten Wäscheleine verschnürt wie ein Paket. »Was ist es?« fragte der Beamte jetzt bereits wieder den Nächsten.

Peter sah zu, daß er mit seinem Koffer aus dem Gedränge kam und schob seine Karre zum »ATLANTIC« zurück.

Francis war nebenan im Bad, als Peter ins Zimmer 310 zurückkam. Auf dem Tisch lag der Brief an Mister Overseas, verschlossen und mit der Londoner Adresse.

»Soll ich den Brief inzwischen aufgeben?« fragte Peter und stellte den Koffer auf die Gepäckbank.

»Das machen wir nachher, wenn wir losfahren!« rief Francis durch die angelehnte Badezimmertür. »Aber du kannst schon auspacken. Die Kofferschlüssel liegen in der Schreibtischschublade. — Hast du sie?«

»Ja, ich hab’ sie«, rief Peter nach einer Weile zurück. »Zum Frühstück gibt es Kakao! Hoffentlich magst du Kakao?«

»Und ob!« gab Peter zu.

»Dann ist ja alles in bester Ordnung!« rief es noch. Gleich darauf hörte es sich an, als sei Francis in seiner Badewanne überraschend mit einem Haifisch ins Handgemenge geraten.

Peter beschäftigte sich inzwischen mit der Wäscheleine. Sie ging dreimal rund um den ganzen Koffer herum und war genau achtundzwanzigmal geknotet.

»Ich bin gleich soweit!« ließ sich Francis wieder hören. Er hatte den Kampf mit dem Haifisch offenbar gut überstanden, jedenfalls lebte er noch und drehte gerade an der Dusche.

»Eigentlich hatte ich mir Kricketschläger länger vorgestellt!« meinte Peter und machte sich jetzt mit dem Schlüsselbund zu schaffen. »Sie können ja höchstens so lang sein wie der Koffer hier.«

»Das genügt!« rief Francis. »Nachher beim Spiel wäre es dir bestimmt lieber, wenn sie kürzer wären!« Vermutlich hatte Francis seine Dusche jetzt auf kalt gestellt. Er sang nämlich plötzlich in den höchsten Tönen. Nebenan schnappten währenddessen zwei Kofferschlösser, zuerst das eine, dann das andere. Peter hatte eine ganze Weile vergeblich versucht, sie mit den Overseasschen Schlüsseln zu öffnen, aber diese Schlüssel paßten nicht.

Und jetzt zeigte es sich, daß die Schlösser gar nicht verschlossen waren. Ein Druck mit dem Daumen hatte genügt.

»Deshalb also das Wäscheseil mit seinen achtundzwanzig Knoten!« dachte Peter und schlug den Kofferdeckel hoch. Eine knappe halbe Minute später blieb ihm die Luft weg.

»Das — das ist ja —!« stammelte er, und dann sprang er auch schon hoch, stürzte zum Bad und riß die Tür auf.

Francis hatte mit Singen aufgehört und drehte gerade seine Dusche ab. »Was gibt’s?« fragte er und lachte. Aber dann sah er Peters Gesicht. Dieses Gesicht war weiß wie ein Handtuch.

»He, was hast du?«

»Der — der Koffer!« japste Peter.

Das genügte.

Klitschnaß und nackt, wie er war, sprang Francis aus seiner Badewanne. Nach fünf oder sechs ziemlich deutlichen Fußabdrücken auf dem Zimmerteppich stand er vor dem Koffer.

»Ist er das?« fragte Peter.

Francis schüttelte den Kopf. »Noch nie gesehen!«

In dem Koffer lag nichts als alte Wäsche. So sah es wenigstens aus. Aber als Peter einen Teil dieser alten Wäsche zur Seite schob, wurde Zeitungspapier sichtbar. Und als Peter jetzt auch dieses Zeitungspapier auseinanderschlug — lag da eine Menge Banknotenpakete, sauber gebündelt und nebeneinander, wie die Bücher in einer Bibliothek. Ein paar Hundertmarkscheine lagen lose oben auf.

Wenn man von den paar alten Wäschestücken und dem Zeitungspapier absah, nichts als Geld!

Der ganze Koffer war voll Geldscheine.

Francis verschränkte seine Arme vor der Brust und pfiff durch die Zähne.

Peter war noch völlig fassungslos, alles drehte sich plötzlich um ihn.

»Ich hab’ einen Kopf wie ein Karussell. Ich glaube, daß ich mich gleich übergeben muß«, gestand er.

»Wie — wie ist so etwas überhaupt möglich?«

»Ganz einfach!« grinste Francis. Er tippte mit seinem nassen großen Zeh links auf die Querseite des Koffers, da klebte noch eine Nummer, und zwar war es die Nummer 999.

»Der Mann bei der Gepäckaufbewahrung hat entweder den Gepäckschein auf den Kopf gestellt oder dieser Koffer da hat umgekehrt im Regal gestanden. Jedenfalls hat man dir an Stelle des Gepäckstücks 666, das Gepäckstück 999 ausgehändigt!« Francis holte tief Luft.

»Je mehr ich darüber nachdenke, um so toller wird die Geschichte!«

In diesem Augenblick klopfte es.

Die Jungen sahen sich an, und dann schlug auch schon der Kofferdeckel zu. Peter feuerte die Wäscheleine unters Bett, und Francis türmte zum Bad zurück. Dabei rief er »Herein!« Die Tür öffnete sich, und der Etagenkellner kam mit dem Frühstück.

Peter konnte gerade noch einen Sessel über die Stelle schieben, auf der Francis gestanden hatte. Dort war nämlich auf dem Teppich jetzt ein großer nasser Fleck.

»Guten Morgen!« sagte Peter. »Mister Overseas ist nebenan!«

Der Etagenkellner trat also an die Badezimmertür und klopfte:

»Das Frühstück, mein Herr!«

»Danke schön!« sagte Francis und zeigte sich jetzt in einem kornblumenblauen Bademantel, der ihm bis an die Fußknöchel ging.

»Ich hoffe, ich habe nichts vergessen!« meinte der Etagenkellner noch und wollte sich entfernen. Da erregte irgend etwas auf dem Teppich seine Aufmerksamkeit.

»Gestatten Sie!« sagte er, hob einen nagelneuen Hundertmarkschein auf und legte ihn auf den Tisch. Dann entfernte er sich.

»Der — der muß beim Zuschlägen des Kofferdeckels —«

»Ob — ob der Kellner was bemerkt hat?«

Die beiden Jungen hatten knallrote Köpfe und sprachen plötzlich abgehackt wie Morseapparate.

»Am besten, wir geben den Koffer gleich zurück!« schlug Peter vor. »Oder wir rufen wenigstens die Polizei an!«

Francis sagte nichts. Er ging zu dem Koffer und klappte den Deckel hoch. Dann legte er den Hundertmarkschein zurück. Gleichzeitig nahm er eines der Banknotenbündel und las die Aufschrift.

»Also ein Bündel fünftausend Mark«, jetzt zählte er die Anzahl der Geldpakete. »Achtundzwanzig«, stellte er schließlich fest.

»Und dann noch das übrige —«

Jetzt hatte Peter plötzlich eine Idee. Er untersuchte aufgeregt das Zeitungspapier, in dem das Geld eingepackt war. Endlich hatte er es. Nämlich das Datum oben am Kopf einer Zeitungsseite: Es war eine Ausgabe des »8-Uhr-Blattes« vom Montag, dem 4. März. Peter überlegte und rechnete nach.

»Tags darauf war ich im ›ATLANTIC‹. Ja, es stimmt! Genau am Montag dem vierten war der Banküberfall!« Unnötigerweise sagte er noch dazu: »Morgens gegen elf Uhr.«

»Und die Summe stimmt auch«, meinte Francis. »Es sieht so aus, als ob kein Pfennig fehlt«, dabei schlug er den Kofferdeckel wieder zu und ließ die Schlösser einschnappen.

»Wir müssen sofort die Polizei anrufen!« mahnte Peter jetzt schon zum zweiten Mal. »Oder wir verständigen wenigstens Direktor Adler!«

Francis gab keine Antwort. Er nahm nur den Koffer und schob ihn so unter das Sofa, daß nichts mehr von ihm zu sehen war.

»Weißt du, was ein Yogi ist?« fragte er dabei. Das klang so harmlos, als fragte er nach dem Wetter.

Peter schüttelte den Kopf.

»Daddy war lange Zeit in Indien. Dort gibt es die Yogi. Die haben ausprobiert, daß es eine bestimmte Art von Übungen gibt, die beruhigend wirken und die Konzentration fördern. Wenn Daddy aufgeregt ist und irgendeine wichtige Konferenz vor sich hat, legt er sich zum Beispiel einfach auf den Rücken, stellt die Beine an der Wand hoch und holt tief Luft. Das ist so eine Yogi-Übung. Sogar so ziemlich die wichtigste!«

»Na und?« fragte Peter.

»Ich bin dafür, daß wir uns jetzt erst einmal beruhigen und konzentrieren«, schlug Francis vor.

»Du meinst—?«

»Am besten, wir legen uns hier nebeneinander und die Beine gegen die Sessel.« Francis setzte sich bereits. »Die Sessel sind genauso gut wie die Wand; Hauptsache, die Beine stehen senkrecht in der Luft!«

Kurz darauf lagen die beiden Jungen nebeneinander auf dem dicken Hotelteppich, hielten ihre Beine senkrecht in die Höhe wie Fahnenstangen und holten tief Atem.

»Du darfst an nichts denken und mußt nur tief atmen, ganz tief und langsam!« meinte Francis noch.

Das war leichter gesagt als getan.

Schließlich rasten in beiden Gehirnen die Gedanken im Kreis herum wie Elektronen im Atom um den Protonkern. Und dann lag da einerseits, links unter dem Sofa, ein Koffer mit dem kompletten Inhalt einer Bankkasse, andererseits roch es rechts vom Tisch her nach frischem Kakao.

Es war wirklich nicht einfach, jetzt an nichts zu denken und nur Luft zu holen.

Aber es gibt Augenblicke im Leben, da wachsen wir über uns selbst hinaus. (Sie sind selten, aber es gibt sie.) Francis und Peter waren jetzt in so einem Augenblick mitten drin. Und sie benahmen sich dementsprechend. Sie dachten wirklich an rein gar nichts und pumpten nur mit ihren Lungen. So etwas beruhigt das zentrale Nervensystem ungemein.

Mister Overseas wußte schon, was er sich von den Yogis aus Indien mit nach Hause gebracht hatte!

Zwei Detektive »kombinieren«

»Allright!« sagte Francis nach fünf Minuten.

Die beiden Jungen nahmen ihre Beine wieder aus der Luft und standen auf.

Francis ging zum Tisch und goß zwei Tassen Kakao ein.

Peter klopfte seine Pagenuniform sauber und zog den Rock mit den goldenen Knöpfen wieder glatt.

»Prost!« sagte Francis und nahm seine Tasse.

»Prost!« antwortete Peter und bediente sich ebenfalls. Die beiden Jungen tranken, bis die Tassen leer waren. Der Kakao war allererste Klasse.

»Marmelade, Honig, Butter«, Francis machte mit der Hand eine einladende Bewegung über den Frühstückstisch. »Ich bitte zuzugreifen!«

»Sehr freundlich«, meinte Peter, »aber wenn du gestattest«, er nahm die Kakaokanne, goß zuerst die Tasse von Francis wieder voll und dann seine eigene. Der Erfolg der »indischen Atemübungen« war wieder einmal enorm, nur Jungen mit einem völlig beruhigten Nervensystem konnten so höflich sein.

Das Frühstück wurde allerdings im Stehen eingenommen, ganz einfach, weil gewisse Dinge an Größe einbüßen, wenn man sie im Sitzen erledigt.

»Zuerst die nackten Tatsachen«, erklärte Francis und nahm sich von der Erdbeermarmelade. »Was ist überhaupt passiert?«

Das war eine rein rhetorische Frage, und Francis beantwortete sie sich gleich selbst. Dabei spazierte er mit seinem Erdbeermarmeladenbrot zum Fenster. »Am Montag, dem 4. März, werden in einer Bank einhundert-zweiundvierzigtausend Mark geraubt.«

»Und zwar von einer insgesamt neunköpfigen Bande«, bemerkte Peter. Er griff gerade nach dem Honig.

»Die Polizei schnappt sieben«, fuhr Francis fort, »aber die sieben behaupten, nicht zu wissen, wo das geraubte Geld geblieben ist, beziehungsweise die Polizei kriegt es einfach nicht aus ihnen heraus; sie erfährt auch nichts über den Chef der Bande.«

»Dieser Chef soll ein internationaler Verbrecher namens ›Schwarze Rose‹ sein«, ergriff jetzt Peter wieder das Wort und nahm einen Schluck aus seiner Kakaotasse. »Bei ihm ist noch sein Komplice, über den überhaupt nichts bekannt ist.«

Francis wippte auf den Zehen und überlegte, dabei bekam er eine Falte quer über die Stirn und sah vor sich auf den Zimmerteppich. »Allright«, sagte er jetzt wieder einmal und marschierte los, immer zwischen dem Fenster und dem Frühstückstisch hin und her. »Heute, am Freitag, dem 15. März, also rund zehn Tage später, liegt das ganze geraubte Geld hier im Hotel ATLANTIC, Zimmer 310, unterm Sofa.«

»Es ist einfach nicht zu glauben!« bemerkte Peter geradezu feierlich.

Francis unterbrach seinen Spaziergang für einen Augenblick. Aber dann stellte er abschließend fest: »Das sind also die Tatsachen!« Dabei zog er seinen Bademantelgürtel enger zusammen und verknotete den Gürtel. Dann erklärte er: »Von jetzt ab wird die Sache erst interessant! Jetzt geht es nämlich darum, aufgrund der Tatsachen, die man kennt, richtig zu kombinieren. Wenn du auch nur eine oder zwei Detektivgeschichten gelesen hast, mußt du wissen, daß es allein auf die richtigen Schlußfolgerungen ankommt. Ein Detektiv muß richtig kombinieren können, das ist es!«

Francis nahm ein Stück Würfelzucker vom Frühstückstisch, er warf es in die Luft und fing es im Mund wieder auf. »Ich kombiniere also«, sagte er jetzt: »Die ›Schwarze Rose‹ ist nach dem Banküberfall zuerst einmal untergetaucht. Das viele Geld brannte ihm auf den Fingern, und so wollte er es los sein, zumindest, bis sich die Polizei wieder etwas beruhigt hatte. Er packte es also in diesen völlig unauffälligen Koffer und gab es zur Gepäckaufbewahrung —«

»Kein Mensch glaubt natürlich, daß in so einem Koffer, der mit einer Wäscheleine zugeschnürt ist, einhundertzweiundvierzigtausend Mark liegen«, überlegte Peter weiter. »Gar nicht so dumm!«

»Wenn wir jetzt diesen Kriminalkommissar Lukkas anrufen würden«, überlegte Francis, »was würde er tun?« Peter biß sich auf die Unterlippe und legte seinen Zeigefinger an die Nase. Die Sache fing an, schwierig zu werden.

Plötzlich sah er auf: »Wir hätten den Koffer gar nicht berühren dürfen!«

»Wieso?« fragte Francis.

»Wegen der Fingerabdrücke!«

»Wenn diese ›Schwarze Rose‹ wirklich international ist, arbeitet sie mit Handschuhen«, meinte Francis.

»Ganz abgesehen davon, daß der Koffer inzwischen von den Leuten bei der Gepäckaufbewahrung wie auch jetzt von dir und mir angefaßt worden ist.«

»Das stimmt«, gab Peter zu und überlegte weiter.

»Ganz einfach«, sagten plötzlich beide Jungen gleichzeitig.

»Bitte!« ließ Francis dem anderen den Vortritt. Wie man sieht, waren sie immer noch sehr höflich zueinander.

»Wie gesagt: ganz einfach«, fuhr also Peter fort. »Vorerst weiß der Kerl ja nicht, daß sein Koffer weg ist. Er wird also über kurz oder lang zur Gepäckaufbewahrung kommen, um sich sein Geld, also den Koffer abzuholen.«

»Sehr richtig!« stimmte Francis zu. »Oder er schickt wenigstens seinen Genossen oder einen Mittelsmann.«

»Wir müssen Kriminalkommissar Lukkas anrufen, damit er sofort die Gepäckaufbewahrung überwachen läßt!« Peter wurde schon wieder aufgeregt.

»Hm«, überlegte Francis und grub seine Hände tief in die Taschen des kornblumenblauen Bademantels, »eigentlich ist es jetzt ein Kinderspiel, diese ›Schwarze Rose‹ und ihren Helfer zu fassen. Aber so, wie sich dieser Lukkas gestern benommen hat, verdient er es nicht, daß wir ihm die Sache so leicht machen! Nachher bläst er sich bestimmt auf wie ein Luftballon, und uns lacht er wieder aus! Übrigens bezweifle ich seine Fähigkeiten!« Francis nahm sich wieder einmal ein Stück Würfelzucker. »Wer garantiert uns, daß er nicht gleich ein ganzes Überfallkommando in der Bahnhofshalle aufmarschieren läßt? Zuzutrauen ist es ihm!«

»Trotzdem müssen wir ihn anrufen!« beharrte Peter.

»Das wäre eine Möglichkeit«, gab Francis zu und sah zum Fenster hinaus.

»Und die zweite?« wollte Peter wissen.

»Die zweite?« wiederholte Francis und machte eine lange Pause. Dann drehte er sich um, hielt den Kopf schief und sah Peter an. »I think that is a —« Mitten im Satz merkte er, daß er unwillkürlich wieder einmal englisch sprach. Er grinste und meinte kurz: »Entschuldigung! Ich meine nur, daß wir die Sache höchstpersönlich und allein in die Hand nehmen sollten.«

Peter schluckte zuerst dreimal, völlig sinnlos, denn er hatte nichts im Mund. Dann sagte er mit einer Stimme, als ob er plötzlich Mandelentzündung hätte: »Und — und warum, wenn ich fragen darf?«

»Ganz einfach«, Francis machte wieder ein paar Schritte zwischen dem Fenster und dem Sofa, dann sagte er nur: »Wegen der Belohnung!« Nach einer Weile meinte er: »Wir müßten die Zeitung haben, aus der du gestern im Zoo vorgelesen hast. Da stand’s drin.«

»Augenblick!« sagte Peter und rannte los.

Als er von der Treppe her im ersten Stock um die Kurve kam, boxte er beinahe mit Herrn Meyer von 477 zusammen.

»Entschuldigung!« murmelte Peter und flitzte weiter.

»Hallo Page!« rief Herr Meyer. »Ich habe einen Auftrag! «

»Leider belegt, ich schicke gleich einen Kollegen!« rief Peter zurück, und dann war er auch schon in der Halle und im Lesezimmer. Zum Glück hatte man die Zeitungen von gestern noch nicht ausgewechselt. Peter griff sich also das »8-Uhr-Blatt« und sauste zurück. Natürlich, da war doch eine Belohnung ausgesetzt. Daß er daran noch nicht gedacht hatte!

Atemlos stürmte er zu Francis ins Zimmer und warf ihm die Zeitung zu.

»Auf der ersten Seite«, japste er, ließ sich in einen Sessel fallen und schnappte wie ein Fisch in sauerstoffarmem Wasser nach Luft. »Rechts unten!«

Francis las laut vor: »— hat sich die Handels- und Creditbank entschlossen, die für die Ergreifung der Täter und Wiedererlangung des Geldes ausgesetzte Belohnung von bisher 1000,- Mark auf 5000,- Mark zu erhöhen.«

»Fünftausend«, wiederholte Peter. »Davon für jeden von uns die Hälfte.« Er dachte an Mutter Pfannroth und daß sie sich damit eine piekfeine elektrische Nähmaschine kaufen könnte, zwei sogar! Man würde sich dann noch jemanden zur Hilfe nehmen.

Peter sah auf. »Es ist einfach nicht zu glauben«, sagte er wieder.

»Das Geld hätten wir also!« stellte Francis fest und setzte sich auf das Sofa, unter dem der Koffer lag. »Aber hier in der Zeitung steht ganz klipp und klar, daß die Belohnung auch für die ›Ergreifung der Täter‹ ausgesetzt ist.« Er faltete das »8-Uhr-Blatt« wieder zusammen und legte es zur Seite. »Wenn wir jetzt also den Koffer so einfach aus der Hand geben, laufen wir Gefahr, daß man uns nur einen Teil der fünftausend Mark gibt. Da jagt man dann noch weiter hinter den Gangstern her, eine Menge Leute sehen etwas, geben Hinweise und alle verlangen sie nachher ein Stück von der ausgesetzten Belohnung.« Francis stand auf und spazierte wieder zum Fenster zurück. »Wie gesagt, ich bin dafür, daß wir vorerst zu keinem Menschen etwas sagen. Was andere können, können wir auch. Im übrigen habe ich eine ganze Menge Kriminalfilme gesehen und Detektivgeschichten gelesen. Ich weiß Bescheid!«

Peter zog in seinem Sessel die Knie bis unters Kinn und dachte nach.

Da kam Francis vom Fenster her, setzte sich vor Peter auf den Zimmerteppich und kreuzte seine Beine. »Was kann schon passieren? Das Geld haben wir jedenfalls, und das nimmt uns auch niemand mehr weg!«

Francis kam dichter an Peter heran. »Es ist wirklich ein Kinderspiel, jetzt auch noch diese ›Schwarze Rose‹ und ihren Genossen aufzustöbern! Es wäre eine Affenschande, wenn wir es nicht wenigstens probieren würden! Wer weiß, wie lange der Koffer vielleicht noch in seinem Regal bei der Gepäckaufbewahrung gestanden hätte!«

»Das stimmt!«, überlegte Peter. Und dann meinte er nach einer Weile: »Gut, nehmen wir also an, der Koffer würde erst morgen abend von uns geholt worden sein.«

»Ich versteh’ kein Wort!« gab Francis zu.

»Das bedeutet: Wenn wir bis morgen abend keine Spur von den beiden Gangstern entdeckt haben, wird Kriminalkommissar Lukkas angerufen. Einverstanden?«

»Einverstanden!« rief Francis und sprang auf. Er hüpfte in seinem kornblumenblauen Bademantel durchs Zimmer und rieb sich die Hände.

Anschließend nahmen die beiden Jungen den grauen Segeltuchkoffer, mit der Nummer 999 an der Seite, verschnürten ihn wieder und stellten ihn in den Kleiderschrank. Dann schlossen sie zweimal ab. Der Schlüssel kam unter den dicken Zimmerteppich, und zwar etwa in die Mitte an die Stelle, über der der Tisch stand. Das kostete einige Mühe.

Dann gab Francis bekannt, daß er sich in einer neuen Rekordzeit anziehen werde.

»Aber bitte nicht ganz so farbig und ohne den Cowboy auf der Brust«, schlug Peter noch vor. Damit stand er auch schon an der Tür und sauste seinerseits in den Umkleideraum zum Erdgeschoß. Er hielt nämlich auch eine zinnoberrote Pagenuniform als Kleidung eines Detektivs für doch etwas zu auffallend.

Fünf Minuten später kamen die beiden nebeneinander, Peter in seinem Sonntagsanzug, durch die Halle. Darauf hatte Mutter Pfannroth nämlich bestanden. »Damit du dich neben diesem jungen Amerikaner auch zeigen kannst, wenn er mit dir durch die Gegend kutschiert«, hatte sie gesagt.

»Guten Morgen, Mister Overseas«, grüßte Chefportier Krüger.

»Guten Morgen«, antwortete Francis, gab seinen Zimmerschlüssel ab und legte den Luftpostbrief an Mister Overseas auf den Tisch.

»Wird sofort besorgt«, versicherte Herr Krüger.

»Besten Dank! Es ist übrigens ungewiß, wann wir zurück sind«, sagte Francis noch und spazierte zur Drehtür.

»Auf Wiedersehen, Herr Krüger!« verabschiedete sich Peter und spazierte mit.

Die Jungen auf der Pagenbank rissen die Augen auf, vor allem der kleine Rothaarige. Er hätte gerne etwas gesagt, war aber leider völlig sprachlos.

Jimmy saß draußen im Wagen.

»Hay, Jimmy!«

»Hay, Francis!« grüßte der Negerchauffeur und tippte an seine Mütze. Dann sagte er noch: »Gute Tag, Mister Pite!«

»Morning, Jimmy!« lachte Peter. Dann ging’s los, zum Parkplatz vor dem Hauptbahnhof.

»Pay attention, Jimmy!« meinte Francis, als sie ausstiegen. »Mit unserem Gepäck stimmt etwas nicht!«

Jimmy machte große Augen und ging sofort in Boxerstellung: »What can I do?«

»Quiet, Jimmy!« beruhigte Francis den Neger. »Schön, daß du uns helfen willst. Und das kannst du bestimmt auch. Vielleicht müssen wir mit dem Wagen jemand verfolgen.«

»O. k.«, grinste Jimmy, krümmte seinen Rücken und tat so, als säße er hinter dem Steuerrad eines Rennwagens.

»Aber das kann eine ganze Weile dauern. Vorerst mußt du warten, vielleicht sehr lange.«

»O. k.«, meinte Jimmy wieder und holte grinsend gleich zwei von diesen amerikanischen Kriminalromanen im Taschenformat unter seinem Sitz hervor.

»Dann ist ja alles in Ordnung, Jimmy«, stellte Francis fest und tigerte los, Peter neben ihm.

Der Sheriff saß am Bahnhofseingang, wieder über ein Kreuzworträtsel gebeugt. Carlos polierte einem Straßenbahner den linken Schuh.

»Exotische Pflanze mit ›K‹ am Anfang und sechs Buchstaben«, wollte der Sheriff als erstes wissen.

Aber Peter winkte ab und holte ihn etwas zur Seite. »Paß auf, du Knalltüte!«

»‘Wenn hier jemand Knalltüte sagt, dann ich!«, protestierte der Sheriff. Im übrigen spitzte er die Ohren.

»Da ist etwas mit Mister Overseas’ Gepäck«, meinte Peter und erzählte nicht viel mehr, als kurz zuvor auch Francis seinem Jimmy erzählt hatte.

»Gestohlen?« fragte der Sheriff schließlich und trat aufgeregt von einem Bein aufs andere.

»Das müssen wir jetzt erst feststellen«, gab Peter zu.

»Das wäre was für mich! Aber leider —«, bedauerte der Sheriff und zeigte auf seinen Drehstuhl! »Aber wenn es brenzlig wird, stehe ich natürlich zur Verfügung. Vor allem, wenn ihr jemanden braucht, der gut schleichen kann. Ich schleiche wie ein Indianer!« Der Sheriff wurde jetzt wieder einmal ganz förmlich und verbeugte sich Francis gegenüber.

»Vielleicht müssen wir auf dieses Angebot zurückkommen«, meinten die beiden Detektive und verbeugten sich ebenfalls.

In diesem Augenblick rief der Straßenbahner, dem Carlos gerade wieder die zurückgekrempelten Hosenbeine in Ordnung brachte, ganz laut: »Ich hab’s! Kaktus!«

Er meinte Sheriffs exotische Pflanze mit den sechs Buchstaben und dem K am Anfang.

Die Gepäckaufbewahrung wird beschattet

Francis setzte sich eine große Sonnenbrille auf die Nase und zog über sein kurzgeschorenes Haar eine graue Sportmütze. Da er sich diese Sportmütze aus Mister Overseas’ Zimmer geholt hatte, ging sie ihm ziemlich tief in die Stirn. Aber das war nur gut so.

»Jetzt braucht jeder von uns nur noch eine Zeitung«, erklärte Francis, »damit wir uns notfalls dahinter verstecken können, wenn wir unsere Beobachtungen machen. Das ist nicht neu, aber immer noch das beste!«

Die beiden Detektive kauften sich also eine »Morgenpost« und ein »8-Uhr-Blatt«. Dann nahmen sie Kurs in Richtung Gepäckaufbewahrung. »Ausgezeichnet!« sagte Francis plötzlich und blieb stehen. Das war vor dem Schaufenster des Bahnhofsfriseurs.

»Was gibt’s«, fragte Peter. Aber dann sah er es auch. Im Glas der Schaufensterscheibe war der Ausgabeschalter der Gepäckaufbewahrung so deutlich zu sehen wie in einem Spiegel.

»Das ist geradezu ideal«, meinte Francis begeistert.

»Allerdings ist alles seitenverkehrt. Das ist zu beachten!« stellte Peter fest.

Der Schalter drüben lag wie ausgestorben.

Im Augenblick schienen nur zwei Beamte Dienst zu haben. Der eine war älter und ziemlich dick. Er war gerade beim Frühstücken und hatte eine Thermosflasche vor sich stehen. Der andere war noch ziemlich jung und las in einem Heft.

»Eigentlich müßten wir feststellen, ob das Gepäckstück 999 überhaupt noch da ist«, überlegte Francis.

»666«, korrigierte Peter.

»Jedenfalls unser Schrankkoffer«, entschied Francis.

»Es kommt ganz drauf an, ob er auf dem Kopf steht oder nicht.«

»Ich könnte sagen, daß ich vom Städtischen Wasserwerk komme und irgend etwas nachsehen muß«, schlug Peter vor. »Da mache ich mir dann bei den Regalen zu schaffen und gucke mich um.«

»Wir müssen uns vorerst ganz zurückhalten«, meinte Francis. »Wenn du dich jetzt schon zeigst, kennt man dich nachher schon. Im übrigen ist mir die Sache mit dem Wasserwerk zu gefährlich.«

»Hm —« überlegte Peter und schob die Unterlippe vor.

Drüben an der Gepäckaufbewahrung regte sich noch immer nichts.

»Und wenn der Sheriff rübergeht?« fragte Peter plötzlich. »Er müßte einfach möglichst doof durch die Gegend quatschen. Das kann er blendend. Und vielleicht erfährt er dabei, was wir wissen wollen.«

»Einverstanden!« erklärte Francis. »Es muß auf jeden Fall probiert werden!« Dann gab er noch eine genaue Beschreibung des Overseasschen Koffers.

»Ich sage ihm also Bescheid«, meinte Peter schließlich und schlenderte möglichst harmlos durch die Halle.

Francis hielt nach wie vor die Gepäckaufbewahrung scharf unter Beobachtung.

Der Sheriff war sofort Feuer und Flamme. »Kleinigkeit«, behauptete er und zwinkerte vergnügt mit dem linken Auge. »Wir treffen uns dann um die Ecke bei den Fahrkartenschaltern!« meinte Peter abschließend.

»Geritzt!« grinste der Sheriff und spazierte los. Zuerst sah es so aus, als interessierte ihn der Ausgabeschalter der Gepäckaufbewahrung überhaupt nicht. Aber als er an den beiden Beamten vorbeikam, blieb er doch plötzlich stehen, stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte nur: »So schön möcht’ ich’s auch mal haben! Die Herren frühstücken und lesen Romane!«

»Und was machst du, wenn dir gerade keiner die Schuhe unter die Nase hält?« lachte der Dicke und schraubte seine Thermosflasche wieder zu.

»Dann fange ich Fliegen!« grinste der Sheriff und setzte sich auf die Ausgaberampe. »Heute ist noch nicht viel los«, meinte er dann. »Bei euch wohl auch nicht?«

»Das hängt mit den Zügen zusammen«, meinte jetzt der Jüngere. »Immer, wenn Züge kommen oder abfahren, gibt’s hier Betrieb.«

»Ich glaube, das wäre nichts für mich. Da stehen doch mindestens so tausend Koffer in den Regalen.«

»Mindestens fünftausend«, beteuerte der Dicke.

»Mir geht der Hut hoch!« gab der Sheriff bekannt. »Da käme bei mir bestimmt alles durcheinander.«

»Das ist einfacher, als es aussieht«, beschwichtigte der Dicke und nahm seine Thermosflasche. »Jedes Regal hat ganz bestimmte Nummern.«

»Würde mich eigentlich wahnsinnig interessieren!« Der Sheriff machte bereits einen langen Hals und hielt den Kopf schief.

»Kannst es dir ja mal ansehn«, brummte der Dicke und trabte mit seiner Thermosflasche los. »Zeig’s ihm mal«, meinte er dabei zu dem Jüngeren.

»Sehr freundlich!« erwiderte der Sheriff und kletterte auch schon über die Rampe.

Drüben vor dem Schaufenster des Bahnhofsfriseurs hätten die beiden Detektive jetzt am liebsten einen Freudentanz aufgeführt, aber in Anbetracht der besonderen Umstände verschoben sie es auf später.

Am Ausgabeschalter der Gepäckaufbewahrung geschah jetzt eine ganze Weile nichts mehr.

Der Sheriff war mit dem jüngeren Beamten zwischen den Regalen verschwunden, und der Dicke blieb ebenfalls unsichtbar, bis die drei dann gemeinsam zurückkamen.

Der Sheriff schüttelte sich gerade aus vor Lachen, und die beiden anderen lachten mit. Dann kletterte Emil Schlotterbeck wieder über die Rampe. Man unterhielt sich noch zwei Minuten lang, und dann kam eine junge Frau mit einem Kind an der Hand und hielt ihren Gepäckschein hin. Da tippte der Sheriff mit dem Zeigefinger irgendwo in die Luft und trottete wieder los. Zuerst am Zeitungskiosk vorbei und dann in einem eleganten Bogen zu den Fahrkartenschaltern.

Die beiden Detektive warteten schon.

»Alles in bester Butter, meine Herren!« erklärte der Sheriff.

»Vielleicht haben Sie es beobachtet, man war sehr freundlich zu mir.«

»Ist der Koffer noch da?« fragten Francis und Peter beinahe gleichzeitig. Sie waren natürlich heillos gespannt.

»Leiser, meine Herren!« mahnte der Sheriff. »Als ich mit dem jüngeren Beamten zwischen den Regalen stand, fragte ich ihn: ,Wenn jetzt zum Beispiel jemand die Nummer 660 will, was geschieht dann?’ Ich sagte 660, weil die 666 ja in der Nähe sein muß. ›Du bist niedlich‹, meinte der junge Gepäckaufbewahrer und marschierte los. Dann blieb er stehen und zeigte auf ein Regal, ,da sind alle Nummern von 650 bis 700 drin. Links fängt es an. Also hier ganz rechts 660!’ Er war ganz stolz, denn da stand natürlich ein Gepäckstück mit der Nummer 660, ein Rucksack. ›Enorm‹, sage ich und gucke weiter. Und da sah ich ihn auch schon, den Schrankkoffer, auf den ich scharf war, und an dem ganz deutlich der Zettel mit den drei Sechsen klebte. Was sagt ihr nun?«

»Ein grauer Schrankkoffer mit hellbraunen Lederecken?« fragte Francis.

»Jawohl«, versicherte der Sheriff. »Eigentlich wollte ich noch ein zweites Beispiel durchexerzieren, die Nummer 1000 wegen der 999, na ja, ihr wißt schon. Aber das war ja dann nicht mehr nötig.«

»That’s o. k.!« sagte Francis. »Wir sind dir wirklich sehr dankbar. Damit ist uns viel geholfen!«

»Keine Blumen!« grinste der Sheriff. »Und wenn noch einmal was sein sollte, wie gesagt, ich stehe zu Diensten!« Er verbeugte sich wieder und zog ab.

»Bitte notiere«, meinte Francis und sah auf die Uhr. Peter holte ein Oktavheft und einen Bleistift aus der Tasche.

»Drittens«, diktierte Francis, »um neun Uhr vierzehn stellt Sheriff fest, daß der Schrankkoffer von Mister Overseas unter der Nummer 666 noch bei der Gepäckaufbewahrung steht.«

Unter »erstens« stand die Ankunft des Gepäckstückes 999 im Hotel ATLANTIC verzeichnet, unter »zweitens« der Beschluß, morgen spätestens um 19 Uhr Kriminalkommissar Lukkas zu verständigen.

»— bei der Gepäckaufbewahrung steht.« Peter machte einen Punkt. Dann steckte er Bleistift und Oktavheft wieder in seine Tasche.

»Ich meine, wir beobachten weiter«, sagte Francis. Und das taten sie dann auch.

Das Leben fliegt einem richtig weg — stellt Francis fest

Die beiden Detektive entwickelten eine erstaunliche Phantasie, sie taten alles, um ja nicht aufzufallen.

Nachdem sie lange genug vor dem Schaufenster des Bahnhofsfriseurs gestanden hatten, spazierten sie zu den großen Holztafeln mit den aufgeklebten Fahrplänen. Nach einer halben Stunde wußten sie auswendig, wann und woher die letzten Züge ankamen und ob sie Speisewagen hatten oder Schlafwagenabteile.

Dann ging’s hinüber zu den Fahrkartenschaltern. Einer dieser Schalter blieb heute offenbar geschlossen. Vor ihm setzten sie sich auf das Messinggeländer. Sie nahmen ihre Zeitungen aus der Tasche und versteckten ihre Köpfe hinter ihnen, aber nur bis dicht über die Nase, denn selbstverständlich ließen sie die Gepäckaufbewahrung keinen Augenblick aus den Augen.

Die Zeit verging langsam.

»Vielleicht kommen sie erst zu Pfingsten oder Weihnachten«, meinte Peter und blätterte in seiner Zeitung.

»Jedenfalls warten wir bis auf die letzte Minute«, stellte Francis fest.

»Also bis morgen abend?«

»Genau neunzehn Uhr.«

»Prost Mahlzeit!« meinte Peter und pfiff vor sich hin. Dann sagte er plötzlich: »Ich werd’ verrückt!«

Da stand nämlich auf einmal der Admiral vor den beiden Detektiven. Als ob er einfach mal schnell vom Himmel gefallen wäre.

»Morning, Mister Francis!« piepste sie. Und dann:

»Hallo, Peter!«

Die beiden Jungen nahmen ganz schnell ihre Zeitungen hoch und zogen die Köpfe ein.

»Ihr habt wohl ‘n Linksdrall!« piepste der Admiral. »Euer Benehmen einer Dame gegenüber ist gesetzeswidrig!«

»Pssst!« zischte Francis hinter seiner Zeitung hervor.

»Pssst!« zischte auch Peter.

»Was ist los, ihr Türken?« wollte Fanny Kuhlenkamp jetzt wissen. Sie hatte ein himmelblaues Kleid an mit lauter weißen Pünktchen drauf, und ihre rechte Hand spielte mit einer Windschutzbrille, einem Ding, auf das jeder Motorradrennfahrer stolz gewesen wäre.

»Die Sache ist die«, erklärte Peter leise. »Wir dürfen nicht gesehen werden.«

»Wieso? Habt ihr was geklaut?«

»Im Gegenteil«, zischte Francis, »andere haben geklaut, und wir sind hinter ihnen her.«

Die beiden Jungen hatten ihre Zeitungen jetzt wieder soweit heruntergenommen, daß sie einerseits den Admiral sehen konnten, andererseits auch drüben die Gepäckaufbewahrung.

»Ein Jammer, daß ich in die Schule muß!« bedauerte der Admiral. »Ich hab’ nur schnell für Paps einen Eilbrief besorgt. Hier am Bahnhofspostamt geht es immer am schnellsten. Aber jetzt muß ich los. Latein, Geometrie und Turnen!«

»Bestimmt gehst du sehr gerne zur Schule«, bemerkte Francis höflich, »so klug wie du bist —«

»Halt die Luft an!« unterbrach ihn der Admiral. »Wenn ich mir vorstelle, wie die Kreide auf der Tafel quietscht, krieg’ ich Zahnschmerzen! Wann schnappt ihr eure Gangster?«

»So genau wissen wir das nicht«, gab Francis zu.

»Jedenfalls komm’ ich nach der Schule wieder vorbei. Vielleicht kann ich euch helfen!«

»Aber möglichst unauffällig«, bat Peter.

»Ich verkleide mich als Gepäckträger!« lachte der Admiral und segelte wieder ab. Draußen vor der Eingangshalle parkte ihr Motorroller.

Inzwischen war es Mittag geworden, und die beiden Detektive bekamen Magenknurren.

»Ich mutmaße«, meinte Francis, »du hast genauso einen Hunger wie ich.«

»Stimmt!« gab Peter zu.

»Essen wir also Würstchen mit Kartoffelsalat.«

»Einverstanden!«

Die beiden Detektive steckten ihre Zeitungen weg und schlenderten los.

Die Hände in den Hosentaschen.

Am Zeitungskiosk kaufte sich Francis eine Ansichtskarte. Zwischendurch müßte er heute noch an seinen Vater nach London schreiben, daß das Wetter gut sei und im übrigen nichts Besonderes passiert wäre —

Auch vom Würstchenstand aus war die Gepäckaufbewahrung noch zu übersehen. Die beiden Jungen konnten sich also Zeit lassen und bestellten zu ihren Würstchen und dem Kartoffelsalat noch zwei Orangelimonaden.

Anschließend bekam auch Jimmy sein Mittagessen. Francis brachte es ihm.

Keines der Gepäckstücke, die abgegeben oder geholt wurden, hatte auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Overseasschen Schrankkoffer.

Von den Bahnsteigen her war immer wieder der Lautsprecher zu hören, Lokomotiven zischten, und wenn die Hochbahn einfuhr, schien es jedesmal so, als zitterte der ganze Bahnhof.

Allmählich wurde es Nachmittag vier Uhr.

Die ersten Hafenarbeiter kamen aus den Werften, und die Büroangestellten fuhren aus der Stadt in ihre Wohnungen zurück.

Die beiden Detektive standen wieder einmal vor dem Schaufenster des Bahnhofsfriseurs.

»Irrtum«, stellte Peter gerade fest, »wenn man glaubt, daß Kriminalisten ein aufregendes Leben führen.«

»Abwarten«, meinte Francis und ging los, in Richtung zu den Fahrplänen.

Kurz nach sieben erschien der Sheriff. Er hatte gerade Schluß gemacht, kam durch die Halle gebummelt und sah sich um, als ob er hier völlig unbekannt sei.

Die Detektive saßen gerade auf ihrem Messinggeländer vor dem geschlossenen Fahrkartenschalter und lasen heute nun schon zum vierundzwanzigstenmal in ihren Zeitungen.

Der Sheriff stellte sich einen Meter abseits und drehte ihnen den Rücken zu. Er sah in die Luft und flüsterte: »N’Abend die Herren! Wie geht’s, wie steht’s?«

»Danke«, flüsterte Francis zurück. »Leider hat sich noch nichts gezeigt!«

»Ich bewundere eure Ausdauer!« gab der Sheriff zu.

»Könntest du vielleicht Frau Pfannroth Bescheid sagen?« fragte jetzt Peter. »Vielleicht dauert es die ganze Nacht, und dann telefoniert sie nach der Feuerwehr, wenn ich nicht komme.«

»Ehrensache!« stellte der Sheriff fest und wollte schon los. Aber da zischte Francis: »Stopp!«

Der Sheriff blieb also stehen.

»Vielleicht ist es wichtiger, daß ich mich zuerst mal wieder im Hotel zeige«, gab Francis zu bedenken. »Direktor Adler alarmiert bestimmt gleich die Polizei, wenn er merkt, daß ich verschwunden bin! Die Feuerwehr genügt ihm dann nicht.«

»Du kannst ja sagen, daß du heute nacht bei mir bleibst«, schlug Peter vor.

»Ich bin in nullkommanichts wieder da!« meinte Francis und sprang von dem Messinggeländer. »Paßt mir auf wie die Schießhunde!«

»Und wenn du schon dort bist«, überlegte Peter, »für alle Fälle kannst du ja mal in dem Kleiderschrank nachschauen —«

»Ich höre immer Kleiderschrank?« fragte der Sheriff. »Habt ihr da jemanden eingesperrt?«

»Du hast zuviel Phantasie!« sagte Peter nur und ließ die Gepäckaufbewahrung nicht aus den Augen.

Nach zehn Minuten kam Francis zurück, und zwar zusammen mit dem Admiral. Sie waren vor dem Bahnhofseingang regelrecht zusammengeboxt.

»Alles o. k.«, berichtete Francis, »Chefportier Krüger weiß Bescheid.«

»Ich denke, du wolltest dich verkleiden?« fragte Peter den Admiral.

»Hätte dir so gepaßt!« lachte Fanny Kuhlenkamp in hohen Tönen und warf ihre hellblonden Locken zurück. Dann kniff sie den Sheriff in die Seite: »Mach’s kurz! Gib deinen Freunden noch mal Händchen und schau sie dir genau an! Man kann nie wissen!«

Der Sheriff hielt den Kopf schief und wußte nicht, was er sagen sollte. Aber er war hellwach.

»Ich hab’ ihr gesagt, daß du zu Peter nach Hause willst«, erklärte Francis. »Sie ist bereit, dich auf ihrem Motorroller hinzufahren.«

»Sehr freundlich«, meinte der Sheriff und spuckte einen Orangenkern aus. »Aber ich habe leider eine Familie zu ernähren und bin in keiner Lebensversicherung!«

»Feigling!« stellte der Admiral fest und ließ seine Motorradbrille ums Handgelenk kreisen.

»Unseren Wagen würde ich nämlich gerne hier behalten, für alle Fälle«, entschuldigte sich Francis.

»Fährst du nun mit oder nicht?« fragte der Admiral.

»Aber nur, wenn ich an die Handbremse darf!«

»Ja oder nein?«

»Grüße meine Frau und meine Kinder!« sagte der Sheriff ergeben. Dann nahm er den Admiral am Handgelenk: »Komm mit, du Knalltüte!«

»Ist der Koffer noch da?« fragte Peter, als der Sheriff außer Hörweite war.

»Alles in Ordnung. Der Schlüssel zum Kleiderschrank liegt wieder unter dem Teppich.«

Es war jetzt schon dunkel geworden. Drüben am Schalter der Gepäckaufbewahrung kam die Nachtschicht und löste die bisherigen Beamten ab.

Überall flammten Lichtreklamen auf, von irgendwoher war Tanzmusik zu hören, und das Aktualitätenkino am Ende der Bahnhofshalle begann mit der letzten Vorstellung. Von den Bahnsteigen herauf zischte und donnerte es immer noch von anfahrenden Zügen und Hochbahnen. Allerdings jetzt immer seltener.

Der Mann vom Zeitungskiosk nahm seine Illustrierten herein und ließ die Rolläden herunter. Da kam der Sheriff zurück, er hatte ein ziemlich großes Paket unter dem Arm.

»Schönen Gruß von deiner Mutter«, grinste der Sheriff und übergab Peter das Paket. Es waren lauter Stullen drin. Man hätte eine Hungersnot damit bekämpfen können.

»Was hat sie gesagt?« wollte Peter wissen. »Macht sie sich Sorgen?«

»Jedenfalls hat sie es nicht zugegeben. Sie sagte nur, daß du ja alt genug seist und wissen müßtest, was du tust.«

Peter sah auf das Stullenpaket. »Und hast du ihr gesagt, daß es vielleicht die ganze Nacht dauert?«

»Das sei auch so eine Einbildung, hat sie gesagt«, berichtete der Sheriff. »Manche Eltern glauben, daß gut und böse etwas mit Tag und Nacht zu tun hat. Sie sperren ihren Kindern das Taschengeld und den Nachtisch, wenn sie am Abend nur eine halbe Stunde zu spät nach Hause kommen. Wenn sie sich aber den ganzen Tag auf der Straße herumtreiben, das stört sie nicht. Alles Unsinn! Wenn bei einem Kind etwas nicht stimmt, stimmt’s nicht, ob’s nun vor den Fenstern hell oder dunkel ist.«

Der Sheriff steckte jetzt seine Hände in die Hosentaschen und lehnte sich neben Peter und Francis an die Tafel mit den aufgeklebten Fahrplänen.

Die drei Jungen sagten nichts. Sie sahen nur zu der Gepäckaufbewahrung hinüber, und dabei dachten sie alle drei ganz plötzlich an ihre Eltern.

Erst nach einer ganzen Weile sagte der Sheriff: »Übrigens — ich darf auch bleiben. Mein alter Herr hat zwar mit dem Kopf gewackelt, aber dann hat er so was Ähnliches gesagt wie Frau Pfannroth.« Der Sheriff machte eine kleine Pause. Seine Zungenspitze erschien für kurze Zeit im linken Mundwinkel. Dann meinte er noch: »Er kriegt jetzt so links und rechts schon ganz weiße Haare. Mein alter Herr, meine ich. Hm — eigentlich ulkig — aber es ist so. Je älter sie werden, um so netter werden sie. Die Eltern, meine ich jetzt —«

»Und eines Tages sind sie zu alt, um noch netter werden zu können«, meinte Peter und biß sich auf die Unterlippe.

»Das Leben fliegt einem richtig weg«, stellte Francis fest.

Das hatte er wohl irgendwo gelesen.

»Ja, ja«, seufzte der Sheriff. »Nächste Woche werde ich schon vierzehn!«

Die Verfolgung geht los

Wenn man mit den Nächten nie etwas anderes angefangen hat, als sie zu verschlafen, dann nimmt die erste Nacht, die man wach bleibt, überhaupt kein Ende.

Die drei Jungen lösten sich ab.

Einer lag immer für eine Stunde bei Jimmy im Wagen. Trotzdem schlich die Zeit, als habe sie Sirup an den Schuhsohlen.

Die Halle war manchmal völlig leer. Dann kam wieder ein Zug und spuckte eine Menge Menschen aus. Aber das dauerte nie lange. Die Leute hatten es eilig, nach Hause zu kommen.

Wenn die Polizei ihren Rundgang machte, drückten sich die Detektive jedesmal hinter die Fahrpläne.

Morgens gegen drei Uhr kamen Putzfrauen und fingen an, die Halle aufzufegen. Um vier erschienen bereits die ersten Arbeiter, die zur Frühschicht in den Hafen fuhren. Ab fünf wurden die Morgenzeitungen angeliefert, frische Brötchen und Milch für das Bahnhofsrestaurant. Und dann kamen auch schon die Geschäftsleute und schlossen ihre Läden wieder auf. Pünktlich um sieben bog Herr Schimmelpfeng um die Ecke.

»Na, dann ist’s Zeit, daß ich auch meine Bürsten und Schuhwichsen wieder raushole«, meinte der Sheriff.

Die drei Jungen waren jetzt wieder vollzählig beieinander.

»Hoffentlich schlaf’ ich nicht ein, wenn ich heut’ nachmittag im Ring stehe«, gähnte Peter.

»Die Meisterschaft hatte ich total vergessen«, gähnte jetzt auch der Sheriff.

»Ihr seid mir die richtigen Kriminalisten!« stellte Francis fest. Aber dann wurde er angesteckt und gähnte mit.

So gähnten sie also alle drei gleichzeitig.

Und mitten im Gähnen blieb ihnen der Mund offenstehen!

Drüben an der Gepäckaufbewahrung war nämlich plötzlich die Hölle los.

Mit einem Schlag waren die drei Detektive wie elektrisiert. »Umzingeln!« zischte Francis nur. Gleichzeitig wies er Peter und dem Sheriff ihre Plätze zu, und zwar in der Richtung zum Eingang und in der Richtung zum Inneren der Halle. »Vorerst haltet ihr etwa fünfzehn Meter Abstand. Wenn ich mir den Rock aufknöpfe, kommt ihr ganz nahe. Und wenn ich mir mit dem linken Zeigefinger an die Nase tippe, bedeutet das Angriff! Alles klar?« Francis hatte ganz leise gesprochen, aber so schnell wie ein Maschinengewehr.

»Glasklar!« versicherten Peter und der Sheriff.

»Dann hauen wir ab!« meinte Francis und spazierte auf die Gepäckaufbewahrung zu.

Die beiden anderen Jungen schwenkten in eleganten Bögen zu ihren angewiesenen Positionen.

Vor dem Schalter der Gepäckausgabe stand ein dicker Dienstmann. Er hatte eine Messingnummer 32 vorn an der Mütze und schimpfte mit sich überschlagender Stimme. Zwischendurch spuckte er immer wieder aus.

»So etwas ist mir in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht vorgekommen, und ich bin jetzt genau vierundzwanzig Jahre dabei. Nächstes Jahr hab’ ich Jubiläum, ihr Seifensieder! Mir könnt ihr nichts vormachen! Mir nicht! Wo ist das Gepäckstück? frage ich zum letzten Mal! Hier ist der Schein mit der Nummer 999! Und diesen Schein habt ihr nur hergegeben, weil ihr dafür etwas bekommen habt, einen Koffer, wenn ihr’s genau wissen wollt, ihr Banditen! So ein Koffer löst sich doch nicht mir nichts, dir nichts in Luft auf!«

Die beiden Gepäckaufbewahrungsbeamten waren völlig aus dem Häuschen. Trotzdem wagte jetzt einer von ihnen zu protestieren: »Die Banditen verbitten wir uns!«

Der Dienstmann holte tief Luft und spuckte wieder einmal, dem Beamten, der gerade gesprochen hatte, genau auf die linke Schuhspitze.

»So!« rief er, »das verbittet ihr euch! Aber das könnt ihr ja gar nicht! Solange ihr euch nämlich irgendwelche Gepäckstücke einfach unter den Nagel ritzt, seid ihr nichts anderes! Banditen, sag’ ich noch mal, und ich nehm’s erst zurück, wenn ihr mir das Gepäckstück 999 hier auf die Rampe knallt!«

»Der Koffer ist bestimmt nicht weg! Irgendwie wird sich das noch klären!« versuchte der Beamte zu begütigen.

»Und was soll ich meiner Kundschaft sagen?« pustete sich der Dienstmann wieder auf. »Die sitzt schon im Zug und hat keine Ahnung! In zehn — ach was, in genau sieben Minuten ist Abfahrt! Ich muß los! Aber ihr werdet noch was erleben! Die Herren sehen nicht so aus, als ob sie sich das einfach gefallen ließen!«

Der Dicke schnaubte ab und rannte, so gut er konnte — sehr gut konnte er es nicht — zu den Bahnsteigen.

Francis überlegte blitzschnell, ob er hinterher sollte. Peter und der Sheriff sahen mit fragenden Blicken herüber, auch sie schienen zu erwarten, daß etwas geschehen sollte! Aber Francis winkte ab. Er zog sich unmerklich immer weiter zurück und gab den anderen Jungen ein Zeichen.

Dicht vor Herrn Schimmelpfengs Blumengeschäft trafen die drei zusammen.

»Alles bleibt wie verabredet!« zischte Francis. »Bestimmt klettern die beiden Gauner jetzt wieder aus ihrem Zug und kreuzen hier auf. Also, wieder auf die Plätze!«

Peter und der Sheriff zogen sich ohne jeden Widerspruch zurück. Es war ein gewagtes Spiel. Aber alles sprach dafür, daß Francis richtig vermutet hatte.

Und so war es auch.

Kaum zwei Minuten später kam ein jüngerer Mensch mit kurzgeschorenen schwarzen Haaren, in einem hellen Staubmantel von den Bahnsteigen herübergerannt. Als er etwas näher heran war, rissen Peter und der Sheriff die Augen auf. Dann sahen sie sich an.

Der junge Kerl war nämlich kein anderer als Joe Louis, der Schwergewichtler von »Rot-Weiß«!

»Mein Gepäck!« rief Joe Louis schon, als er noch gute vier Meter von der Gepäckaufgabe entfernt war. »Aber dalli! Unser Zug geht in drei Minuten!«

Jetzt nahm einer der Beamten den Schein, er sah seinen Kollegen an, dann den jungen Mann mit den kurzgeschorenen schwarzen Haaren.

»Wir bedauern es außerordentlich, aber der Dienstmann wird es Ihnen schon gesagt haben, das Gepäckstück 999 ist im Augenblick unauffindbar.«

»Das gibt’s doch nicht!« japste Joe Louis. Er zog aufgeregt an einer Zigarette und sah sich immer wieder nach allen Seiten um.

Peter und der Sheriff waren für alle Fälle in volle Deckung gegangen. Vielleicht kannte er sie doch.

Francis hatte die Hände in den Hosentaschen und hörte interessiert zu.

»Das gibt’s doch nicht!« japste Joe Louis noch einmal, etwas anderes fiel ihm offenbar nicht ein.

»Leider doch!« versicherte einer der Beamten. »Leider gibt’s so etwas!«

»Und — und wie erklären Sie sich das?«

»Ich habe mich gerade mit meinem Kollegen darüber unterhalten«, meinte einer der Gepäckaufbewahrer, »bei der eigenartigen Nummer wäre es möglich — sehen Sie selbst!«

Er stellte jetzt dicht vor dem Gesicht des jungen Mannes den Gepäckschein 999 auf den Kopf.

»Was lesen Sie jetzt?«

»Sechshundertsechsundsechzig«, sagte Joe Louis so langsam, als müßte er ein sehr schwieriges Fremdwort buchstabieren.

»Und ein Koffer mit der Nummer 666 ist noch hier!« stellte der Beamte fest. »Es ist also möglich, daß ein Reisender mit dem Gepäckschein 666 aus Versehen Ihren Koffer erhalten hat.«

»Das hätte er doch sofort gesehen«, meinte der junge Mann mit den kurzen schwarzen Haaren.

»Oft holen die Reisenden ihr Gepäck nicht selbst ab!«

»Könnte ich dann vielleicht mal den anderen Koffer sehen?« fragte Joe Louis, »ich meine den mit der Nummer 666.«

»Selbstverständlich«, sagte der Beamte und ging zu den Regalen. Als er wieder zurückkam, hatte er den Overseasschen Schrankkoffer bei sich.

»Sie können wirklich beruhigt sein«, stellte der Beamte fest, »der Besitzer dieses Koffers ist offenbar ein Ausländer und dem Gepäck nach zu schließen ziemlich vermögend. Wenn er wirklich aus Versehen Ihren Koffer bekommen hat, dauert es bestimmt nicht lange, und er läßt ihn wieder zurückbringen.«

»Hatten Sie in Ihrem Gepäck etwas Besonderes?« wollte der andere Beamte jetzt wissen. »Ich meine, Wertgegenstände oder wichtige Papiere?«

»Das letztere«, meinte Joe Louis.

»Ziemlich wichtige Papiere! Gestatten Sie?« Jetzt interessierte er sich eingehend für den Overseasschen Koffer. Vor allem für die Visitenkarte, die in einer Lederhülle am Handgriff hing.

»Ich hab’ leider nichts zum Schreiben bei mir. Wenn Sie so freundlich wären, mir den Namen zu notieren? Vielleicht kann ich den Besitzer ausfindig machen und die Sache klären.«

»O-V-E-R-S-E-A-S.« Der Beamte malte Buchstaben für Buchstaben ab, alles, was auf der Karte stand, einschließlich der New Yorker Telefonnummer.

»Mit meiner Abreise ist es jetzt natürlich Essig!« stellte der junge Mann im Staubmantel fest, als er den Zettel mit der Abschrift in seine Tasche steckte. Trotzdem sagte er: »Schönen Dank!«

In diesem Augenblick tauchte der Dienstmann mit der 32 an seiner Mütze wieder auf. »Ihr Begleiter erwartet Sie am Eingang in einer Taxe. Sie sollen sich beeilen.«

Das war für Francis wie ein Startschuß. Er schob sich Schritt für Schritt zur Seite. Bis er Peter erreicht hatte.

»Zu Jimmy! Warte mit dem Wagen am Eingang! Motor eingeschaltet!«

»— müssen Sie eben einen Suchantrag stellen!« ließ sich gerade einer der Beamten hören.

Der junge Mann, der Joe Louis genannt wurde, grinste so sauersüß, als habe er in eine Essiggurke gebissen und verabschiedete sich. Der dicke Dienstmann ging vor ihm her, beide wandten sich zum Eingang der Bahnhofshalle. Francis und der Sheriff folgten in einem Abstand von etwa zehn Metern.

Von einer Taxe, die davonfährt

Kurz vor dem Eingang zur Bahnhofshalle blieb der junge Mann mit den kurzgeschorenen schwarzen Haaren und dem hellen Staubmantel plötzlich stehen. So, als ob jemand bei ihm die Bremse gezogen hätte.

Er schien zu überlegen. Dann sah er sich um und verschwand kurz darauf in einer Telefonzelle.

Der Dienstmann mit der Nummer 32 an der Mütze wartete.

Francis und der Sheriff warteten ebenfalls, allerdings in einiger Entfernung.

Durch die Glastür der Telefonzelle konnte man sehen, wie Joe Louis im Telefonbuch blätterte. Er suchte offenbar einen ganz bestimmten Anschluß. Nach einer Weile schien er die Nummer gefunden zu haben und nahm den Hörer ab.

Er führte genau vier Gespräche, dicht hintereinander, sehr kurze Gespräche übrigens. Dann legte er plötzlich den Hörer auf und kam wieder ins Freie.

»Bleib ihm auf den Socken!« flüsterte Francis und ging jetzt seinerseits auf die Telefonzelle zu. Er sah sich noch einmal um, dann drückte er sich blitzschnell durch die Tür.

Francis interessierte sich nur für das Telefonbuch, er pfiff durch die Zähne. Die aufgeschlagene Seite zeigte nichts als Hotel-Anschlüsse, von A bis Z, und unter A stand ziemlich am Anfang das ATLANTIC.

Francis war plötzlich ausgesprochen vergnügt. Er klappte das Telefonbuch zu und türmte los.

Draußen stieg Joe Louis gerade in eine wartende Taxe. Der Dienstmann Nummer 32 zog mindestens dreimal die Mütze. Er mußte ein sehr gutes Trinkgeld bekommen haben.

Kaum zehn Meter hinter der Taxe parkte der Overseassche Wagen. Peter hielt die Türe offen und Francis sprang hinein.

»Er hat die Hotels abtelefoniert«, grinste Francis, und dann sagte er plötzlich: »33 46 60!«

Peter und der Sheriff sahen sich an.

»Das ist die Nummer der Taxe, und ich empfehle, sie aufzuschreiben!«

»33 46 60«, wiederholte Peter und angelte nach seinem Notizbuch.

In diesem Augenblick fuhr die Taxe los.

»Go on, Jimmy!« Peter setzte sich ganz tief in den Vordersitz, nur seine Augen und seine Haare mußten jetzt von außen zu sehen sein. »Du mußt Abstand halten, damit er nichts merkt. Aber laß ihn ja nicht ausreißen!«

Jimmy nickte.

Trotzdem wiederholte Francis das Ganze nochmals auf englisch. Jetzt sagte Jimmy: »O. k.«

Es ging vom Bahnhofsplatz in die Mönckebergstraße, über den Rathausplatz und dann dem Hafen zu. Die Taxe fuhr wie das Überfallkommando. Aber Jimmy jagte hinter ihr her, ohne einen Meter zu verlieren.

»Prima!« quietschte der Sheriff vor Begeisterung.

»Wenn wir jetzt die Polizei verständigen, haben wir sie!« wagte Peter zu bemerken.

»Und wie machen wir das?« Francis sah zu Peter.

»Wir brauchen nur zehn Sekunden anzuhalten, dann sind wir sie los.«

»Allerdings«, gab Peter zu.

»Ich versteh’ nur die Hälfte, aber es ist einfach prima!« gab der Sheriff wieder bekannt und schlug die Beine übereinander. »Ich finde, wir müssen ihm jetzt Bescheid sagen«, schlug Peter vor. »Er hat es verdient.«

»Einverstanden«, meinte Francis.

»Paß auf, Sheriff«, fing Peter an.

»— zuerst dein Ehrenwort, daß du keinen Ton weitersagst, zu niemandem!« unterbrach Francis.

»Ehrenwort!« versicherte der Sheriff, saß plötzlich kerzengerade und gab jedem der Jungen die Hand.

»Ganz einfach«, erklärte Peter, »die beiden Burschen da vorne in der Taxe sind die ›Schwarze Rose‹ und sein Genosse, und das geraubte Geld liegt im Hotelzimmer von Francis im Kleiderschrank. Das wär’s!«

»— und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!« grinste der Sheriff. Dann mußte er plötzlich husten. »Stimmt das wirklich, ihr Knalltüten?«

»Ehrenwort!« sagten Francis und Peter gleichzeitig. In diesem Augenblick geschah es, und zwar an einer Kreuzung. Die Verkehrsampel rückte bereits auf Gelb. Trotzdem jagte die Taxe noch weiter. Jimmy wollte hinterher, aber da sprang ein Schupo vor den Wagen und zeigte in die Höhe. Dort stand das Licht bereits auf Rot. Die Taxe verschwand jenseits der Kreuzung und wurde immer kleiner.

»I beg your pardon!« rief Jimmy.

Der Schupo drohte wohl mit dem Zeigefinger, aber er grinste dabei. Auch Jimmy grinste jetzt. Und dabei war es ihm gar nicht danach zumute.

»Fröhliche Weihnachten!« quietschte der Sheriff.

Als die Kreuzung wieder frei war, schoß der Overseassche Cadillac los wie ein Düsenjäger. Aber es nützte nichts, die Taxe blieb verschwunden.

»Was jetzt?« fragte Peter.

»Zurück zum Hotel!« entschied Francis, »und zwar so schnell als möglich!«

»Dann die nächste Straße links«, übernahm Peter jetzt das Kommando.

»Es wäre ausgesprochen freundlich, wenn ihr mich wieder am Bahnhof absetzen würdet«, meinte der Sheriff nach einer Weile, »ab acht Uhr habe ich feste Kunden.«

»Das sowieso«, sagte Peter nur und bedeutete Jimmy, daß er jetzt nach rechts abbiegen müßte.

»Um zwölf versammeln sich übrigens alle Jungen an der Shell-Tankstelle bei Kuhlenkamp. Wir gehen ja doch geschlossen zu den Meisterschaften, und da treffen wir uns schon vorher, um einiges zu besprechen.« Der Sheriff ließ seine Zungenspitze in den linken Mundwinkel wandern. »Vielleicht könnt ihr uns brauchen, jedenfalls wißt ihr, wo wir sind.«

»Das ist vielleicht ganz wichtig«, überlegte Francis.

Dann war man am Hauptbahnhof, und der Sheriff stieg aus.

Im Hotel steuerte Francis zuerst auf die Telefonvermittlung zu.

»Denken Sie bitte scharf nach«, sagte er zu dem Fräulein am Stöpselkasten, »ist heute früh irgendein Gespräch für Mister Overseas angekommen?«

Das Fräulein sah aus wie ein Filmstar. »Da brauch’ ich gar nicht scharf nachzudenken«, lächelte sie. »Für Mister Overseas direkt ist kein Gespräch angekommen, aber vor etwa einer halben Stunde erkundigte sich jemand, ob hier ein Mister Overseas wohnt.«

»Danke!« sagte Francis wie ein Kriminalbeamter, »das genügt!«

»Bitte sehr«, lächelte das Fräulein wieder, und dann sagte es »Hotel Atlantic«. Es hatte nämlich gerade an ihrem Stöpselkasten aufgeleuchtet.

»Guten Morgen, Herr Krüger!« grüßte Peter, als er mit Francis an der Portierloge vorbeikam.

»Guten Morgen, die Herren!« grüßte Chefportier Krüger zurück, hielt den Kopf schief und sah durch seine Brille. Francis ließ sich die Zimmerschlüssel geben und fuhr mit Peter zum dritten Stock.

Der Fahrstuhlführer hatte eine ganze Menge Zeitungen zum Verkauf ausliegen. Aber das wäre weiter nichts Besonderes gewesen, nur zeigten heute so ziemlich alle Zeitungen auf der ersten Seite das gleiche Bild, ein Foto, das Foto eines Mannes von etwa dreißig Jahren.

Erst zwischen dem zweiten und dem dritten Stockwerk sah sich Peter dieses Foto genauer an. Und da wurde es ihm plötzlich ganz weich in den Knien.

»Eine Morgenpost!« stammelte er und kramte zwei Groschen aus seiner Hosentasche.

Natürlich sah Francis, daß Peter in Sekundenschnelle die Gesichtsfarbe gewechselt hatte. Er wollte auch schon etwas sagen, aber da hielt der Fahrstuhl. Die beiden Jungen stiegen aus.

Peter ging wie im Nebel, er hatte regelrecht »Mattscheibe«, und der dicke Korridorteppich schien ihm plötzlich so weich, als versinke er in ihm bis zu den Knöcheln.

»Was hast du denn?« fragte Francis besorgt.

»Schnauze!« zischte Peter.

Da kam nämlich Herr Meyer von 477 auf sie zu. Er hatte unter beiden Armen prall gefüllte Aktentaschen und drückte sich jetzt etwas seitlich an die Wand.

»Guten Morgen, die Herren!« grüßte er auffallend freundlich. »Ein herrliches Wetterchen heute, nicht wahr?«

Die beiden Detektive sagten weiter nichts als ebenfalls »Guten Morgen« und beeilten sich, so schnell als möglich auf ihr Zimmer zu kommen.

Sie hatten kaum die Tür von 310 hinter sich zugemacht, da platzte Peter los, wie ein Gartenschlauch, der Überdruck hat: »Das ist der Kerl im Ledermantel, der sich während des ganzen Banküberfalls bei mir die Schuhe putzen ließ. Schlangenlederschuhe und mit Kreppsohle, aus der ein Stück so groß wie eine Schuhwichseschachtel herausgebrochen ist.«

Francis hatte inzwischen unter dem Fußteppich nach dem Kleiderschrankschlüssel getaucht und nachgesehen. Der Koffer war noch da. Jetzt kam er zum Tisch, strich die Zeitung glatt und sah sich das Foto genauer an. Der Herr auf dem Bild lächelte, obwohl er der Unterschrift nach dazu eigentlich keinen Grund gehabt hätte. Da stand nämlich: »Der Chef der Bankräuber, genannt ›Schwarze Rose‹, ein Meter zweiundachtzig groß —«

Der nachfolgende Steckbrief ging bis in die letzten Einzelheiten: Zahnlücke links oben und Narbe von einer Blinddarmoperation, zum Schluß folgte noch der übliche Hinweis, daß man »sachdienliche Mitteilungen« an die Kriminalpolizei Zimmer soundso, Telefonnummer soundso zu richten habe.

Kriminalkommissar Lukkas hatte also endlich aus Paris die richtigen Fotos bekommen.

»Ich bin dafür, daß wir erst einmal ganz kalt duschen«, schlug Francis vor.

»Aber wir müssen doch etwas unternehmen!« widersprach Peter.

»Und dann frühstücken wir!« Francis nahm den Telefonhörer ab.

»Und dann — was tun wir dann?« wollte Peter wissen.

»Immer nur kommen lassen! Der Name Overseas wirkt jetzt wie ein Fliegenfänger«, antwortete Francis. Und gleich hinterher sagte er ins Telefon: »Zweimal Frühstück für 310. Den Kakao bitte heute besonders heiß.«

Vorübergehend spielt ein Telefon die Hauptrolle

Sozusagen mitten in den heißen Kakao hinein klopfte es an die Tür. Die beiden Jungen sahen sich an. Dann warf Francis für alle Fälle den Kleiderschrankschlüssel in eine Blumenvase und rief: »Herein!«

»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich störe«, sagte es, und dann wurde eine zinnoberrote Pagenuniform sichtbar.

»Das ist Conny«, stellte Peter vor. »Er boxt auch, allerdings bei Rot-Weiß.«

»Guten Morgen, Conny!« Francis hielt dem Jungen die Hand hin.

»Guten Morgen, Mister Overseas«, Conny nahm die Hand und verbeugte sich ein wenig. »Ich wollte Sie von einem Vorfall unterrichten.«

»Setz dich doch.«

»Sehr freundlich, aber ich bin im Dienst.«

»Also, was gibt’s?«

»Seit etwa acht Uhr stehe ich an der Drehtür. Und seit etwa zwanzig Minuten fällt mir eine schwarze Limousine auf, die drüben auf der anderen Straßenseite parkt!« Der hellblonde Junge atmete schnell.

»Und —?« fragte Francis gespannt.

»Vor etwa fünf Minuten bekomme ich den Auftrag, für 278 aus der Apotheke Spalttabletten zu holen. Zur Apotheke sind es höchstens zweihundert Meter, und ich renne los. Plötzlich, als ich an der Limousine vorbei will, winkt mir jemand und grinst mich an. Als ich näher komme, denke ich, mich laust der Affe! Sitzt da in der Limousine, die ich beobachtet hatte, hinter dem Steuerrad ein Bekannter aus meinem Boxverein. Er hat kurze schwarze Locken und wird von uns allen —«

»Joe Louis genannt!« unterbrach Peter und sah zu Francis.

»Sehr interessant!« meinte der junge Overseas und goß eine Tasse Kakao ein. »Willst du?«

»Ich bin so frei!« sagte der hellblonde Hotelboy und bediente sich.

»Sie kennen den Kerl also?« fragte er dabei.

»Flüchtig«, wich Francis aus.

»Er sitzt also hinterm Steuerrad der Limousine und grinst mich an«, fuhr Conny fort, »dann quatscht er durch die Gegend: ›Wußte gar nicht, daß du in so einem piekfeinen Laden bist‹, und so weiter. Bis er die Katze aus dem Sack läßt. ›Prima, daß ausgerechnet du mir über den Weg kommst‹, sagte er. Er wisse, daß ein Mister Overseas bei uns wohne. Welches Zimmer er habe, ob er allein sei und ob er gerade im Hotel wäre? Zuerst denk’ ich mir nichts dabei und sage, was ich weiß: daß Mister Overseas die Zimmer 310 und 312 belegt habe, daß er seit zwei Tagen in London sei und daß Sie, Mister Overseas junior, im Augenblick allein wären. Wie alt Sie seien, wollte er dann noch wissen, wie Sie aussähen, und ganz plötzlich faselte er etwas von einem Koffer, der mit einer Wäscheleine verschnürt sei. Jetzt wird mir die Sache langsam unheimlich, und ich sage, daß ich meine Spalttabletten holen müsse. Da gibt er mir zehn Mark. ›Halt aber ja die Schnauze!‹ sagte er noch. ›Vor allem zu diesem Overseas kein Wort!‹ Und dann rauschte er los.« Der hellblonde Hotelboy trank den Rest aus seiner Kakaotasse und verbeugte sich wieder.

»Mehr weiß ich nicht. Aber ich hab’ das Gefühl, der Kerl spioniert hinter Ihnen her. Und vielleicht ist es gut, wenn Sie das wissen. Übrigens, hier hab’ ich die Autonummer aufgeschrieben, von der schwarzen Limousine, meine ich. — Schönen Dank für den Kakao! Aber jetzt muß ich los, Mister! Auf 404 wartet die Baronin mit ihren Katzen.«

___________

In der nächsten halben Stunde spielte das Telefon die Hauptrolle. Es fing damit an, daß es schon klingelte, als der hellblonde Page noch nicht ganz aus dem Zimmer war.

»Ein Mister Korda möchte Sie sprechen«, sagte die Zentrale, und dann konnte man hören, wie die Leitung gestöpselt wurde.

Francis winkte Peter zu sich und fragte gleichzeitig: »Hallo?«

Die beiden Jungen hatten jetzt ihre Köpfe ganz dicht nebeneinander, nur der Telefonhörer war noch zwischen ihnen.

»Hier spricht Korda«, ließ sich jetzt eine Stimme hören.

»Overseas«, antwortete Francis.

Die zwei Jungen verdrehten ihre Augen und schielten sich an.

»Ich komme soeben aus London und soll Sie von Ihrem Herrn Vater grüßen. Wir machen Geschäfte zusammen. Er hat mir eine Kleinigkeit für Sie mitgegeben. Wenn es Ihnen paßt, bin ich in einer Viertelstunde bei Ihnen im Hotel. Welche Zimmernummer haben Sie, wenn ich bitten darf?«

»310«, antwortete Francis. Er sprach die Zahl so deutlich aus und zog sie in die Länge, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Allerdings —«, Francis hielt seine Hand über die Muschel und flüsterte zu Peter: »Ich freß’ ‘nen Besen, das ist der Kerl! Aber in einer Viertelstunde, das ist zu früh!«

Peter nickte. »Sag ihm, daß du noch in der Badewanne sitzt!«

»Wie meinten Sie?« fragte jetzt die Stimme aus dem Telefonhörer.

»Wie gesagt, ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mister Korda, allerdings erst in einer Stunde, sagen wir um elf Uhr. Ich sitze nämlich noch im Bad, nebenan wartet der Masseur, und der braucht leider immer eine halbe Stunde. Im übrigen bin ich natürlich gern bereit, auch zu Ihnen zu kommen.«

Francis grinste und hielt wieder seine Hand über das untere Ende des Hörers. »Paß mal auf, was er sagt!«

Und da war auch schon wieder die Stimme zu hören. »Keineswegs, lieber Mister Overseas. Sie sollen sich keine Mühe machen. Zudem bin ich unterwegs. Sagen wir also elf Uhr. Ich werde pünktlich sein!«

»Daran zweifle ich nicht!« flüsterte Francis. Dann nahm er seine Hand wieder von der Muschel und sagte: »Ich darf Sie also um elf Uhr erwarten. Sehr freundlich! Bis nachher, Mister Korda!«

»Bis nachher!« echote die Stimme, und dann wurde am anderen Ende der Hörer aufgelegt.

Francis legte nicht auf. Er bestellte bei der Zentrale ein dringendes Gespräch nach London, Hotel Metropol.

»Sicher ist sicher!« sagte er dann und ließ erst jetzt seinerseits den Hörer wieder auf den Apparat zurückfallen.

Peter sah auf seine Armbanduhr. »Jetzt ist es zehn Minuten bis zehn. Wir haben also genau siebzig Minuten Zeit!«

»Das müßte genügen«, überlegte Francis. »Er setzt jetzt bestimmt alles auf eine Karte! Nachdem heute sein Bild in allen Zeitungen steht, darf er keine Zeit mehr verlieren. Das macht ihn unvorsichtig.«

»Daß sein Koffer mit dem Geld plötzlich weg ist, das hat ihn natürlich halb um den Verstand gebracht«, überlegte Peter weiter.

»Zwei Dinge wird er jetzt so schnell als möglich wissen wollen: erstens, ob dieser Overseas tatsächlich seinen Koffer hat, und zweitens, wenn er ihn hat, ob er schon weiß, was in ihm drin ist oder nicht.«

»Wenn ich mir das so vorstelle, kann mir der Bursche direkt leid tun«, grinste Peter.

Um zehn Uhr fünfzehn kam das Gespräch mit London. Es dauerte eine Weile, bis Mister Overseas am Apparat war.

»Hallo Daddy!«

»Hallo Francis! Ich sitze mitten in einer Konferenz. Wo brennt’s denn?«

»Nichts Besonderes. Ich wollte nur fragen, wie’s dir geht?«

»Du langweilst dich wohl? Wie kämest du sonst zu deiner Frage nach meinem Befinden. Übrigens geht’s mir gut —«

»Mir auch —«

»Schönes Wetter hier in London —«

»Hier auch —«

»Dann ist ja alles in Ordnung! —«

»Wann kommst du zurück, Daddy?«

»Morgen. Spätestens übermorgen. Sonst noch was?«

»Eigentlich nicht —«

»Na denn«

»Das heißt — kennst du einen Mister Korda? Er hat hier angerufen.«

»Korda? Keine Ahnung!«

»Du hast nicht jetzt in London mit ihm gesprochen?«

»Unsinn. Ich kenne keinen Korda!«

»Na, dann bis morgen oder übermorgen, Daddy!«

»Hör, Francis, laß dich nicht mit irgend jemanden ein, den du nicht kennst!«

»Keine Sorge, Daddy!«

»Mach mir keine Dummheiten!«

»Keine Sorge, Daddy!«

»Dann, so long!«

»So long, Daddy!« Francis legte den Hörer zurück und verschränkte die Arme.

»Enorm, daß das London war!« wunderte sich Peter, »so klar und deutlich wie Stadtgespräch!«

»Allerdings«, gab Francis zu, aber er war mit seinen Gedanken ganz woanders.

»Im übrigen, noch fünfunddreißig Minuten!« Peter sah wieder einmal auf seine Armbanduhr. »Was machen wir jetzt?«

»Das ist die Frage!«

»Ich finde —«, Peter drückte seine Hände mit den Knien zusammen und sah auf den Zimmerteppich, »jetzt wäre es vielleicht an der Zeit —«

Francis turnte mit seinen Schuhspitzen. »Ich weiß, was du denkst.«

»Und — was sagst du dazu?«

»Daß es wohl das beste ist. Wir dürfen jetzt nichts mehr riskieren!« Francis stand auf. »Hast du die Nummer?«

Peter nahm die Zeitung, und Francis griff wieder einmal nach dem Telefonhörer.

»Amt bitte —«

»24 —«, las Peter vor.

Francis wählte: »48 — 76 —«

»Ja, hier Overseas —«

»Apparat 311«, flüsterte Peter.

»Bitte Apparat 311«, verlangte Francis.

Peter war mit seinem Kopf jetzt wieder ganz dicht neben ihm.

»Zimmer 247«, meldete sich eine Stimme.

»Hier spricht Francis Overseas, Hotel ATLANTIC. Ich möchte mit Kriminalkommissar Lukkas verbunden werden.«

»Einen Augenblick.«

Und dann: »Lukkas«, weiter nichts.

Die beiden Detektive schluckten, ohne jeden Grund.

»Es handelt sich um den Bankraub«, quetschte Francis schließlich heraus.

»Na und?«

Dieses »Na und?« brachte Francis wieder »auf die Palme«. Plötzlich hatte er überhaupt keine Hemmungen mehr.

»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß das geraubte Geld hier bei mir im Kleiderschrank liegt und daß diese sogenannte ›Schwarze Rose‹ Punkt elf hier aufkreuzt, um es sich zu holen. Vielleicht kommen Sie gleich mal mit einigen Ihrer Herren hier vorbei, um —«

»Wie war Ihr Name?«

»Overseas«, Francis mußte natürlich wieder einmal jeden Buchstaben einzeln aufsagen.

»Hotel ATLANTIC sagten Sie?«

»Sehr richtig.«

»Zimmer?«

»310.«

»Danke. Wir sind in zehn Minuten da!«

»Aber spätestens und durch den Lieferanteneingang an der Rückseite, wenn ich bitten darf. Ich nehme an, daß der Haupteingang beobachtet wird.«

»Lieferanteneingang«, war noch zu hören, und dann klickte es in der Leitung.

»Jetzt wird’s ernst«, stellte Peter fest und rieb sich am Kinn. Da klingelte das Telefon schon wieder.

»Overseas«, meldete sich Francis.

»Danke. Hier spricht Lukkas. Ich wollte mich nur vergewissem, daß Sie tatsächlich dort wohnen. In zehn Minuten sind wir da.«

»Klick«, machte es, und die Leitung war wieder frei.

»Immerhin«, meinte Francis und nahm jetzt den Kleiderschrankschlüssel wieder aus der Blumenvase.

»Eigentlich müßte ich dem Direktor Bescheid sagen«, überlegte Peter.

»Und dann ist die Frage, ob der Koffer mit dem Geld hierbleibt oder nicht?«

»Wieso?«

»Nehmen wir an, der Kerl kommt früher als die Kriminalbeamten, oder er kommt nicht allein und hat vielleicht eine Pistole bei sich, vielleicht sogar eine Maschinenpistole. Vergiß nicht, er soll ein internationaler Halunke sein!«

»Wohin also?«

»Nebenan, das geht nicht, weil er ja weiß, daß Zimmer 310 und 312 zusammengehören.«

Die beiden Detektive nahmen ihre Hände auf den Rücken, zogen Achterlinien auf dem dicken Teppich und überlegten.

»Wir müssen uns trennen!« meinte Francis plötzlich.

»Wenn hier irgend etwas schiefgeht, muß wenigstens das Geld in Sicherheit sein.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Zum Beispiel so, daß ich bleibe, während du mit dem Koffer lostürmst. Am besten einfach zu dir nach Hause. Das einfachste ist immer das beste!«

»Am Güterbahnhof, Arnoldstr. 27, vierter Stock. Das stimmt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß da jemand einhundertzweiundvierzigtausend Mark sucht —«

»Der dickste Geldschrank ist nicht so sicher.« Francis hatte jetzt seine Fäuste tief in den Hosentaschen und wippte mit den Fußspitzen. »Und wenn hier alles geklappt hat, komme ich mit der ganzen Kriminalpolizei gleich zu dir, und wir übergeben dann auch das Geld.«

»Nachdem du hier schon die ›Schwarze Rose‹ übergeben hast«, grinste Peter. »Nicht schlecht! Am besten gefällt mir daran, daß auf jeden Fall nichts mit dem Geld passieren kann.«

Peter blieb stehen und sah auf seine Uhr.

»Dann müßte ich allerdings los! Lukkas kann jeden Augenblick eintrudeln.«

»O.k.«, sagte Francis. Er warf den Schlüssel vom Kleiderschrank in die Luft und fing ihn wieder auf.

Der Koffer mit der Nummer 999 an der Seite war ja mit der Wäscheleine verschnürt. Allerdings nicht mehr mit achtundzwanzig Knoten.

Francis schloß die Tür zu den Zimmern seines Vaters auf. Hier waren die Vorhänge zugezogen, und es war ziemlich dunkel.

Der letzte Raum war das Schlafzimmer, von hier führte wieder eine Tür zum Korridor, sie war nur von der Innenseite mit der Türklinke zu öffnen.

»Jimmy wartet gegenüber auf dem Parkplatz«, flüsterte Francis.

»Und vergiß es nicht«, flüsterte Peter zurück, »am Güterbahnhof, Arnoldstraße 27, vierter Stock!«

Francis spähte jetzt durch das Schlüsselloch auf den Korridor hinaus.

»Alles bestens zu übersehen!« stellte er fest. »Du wartest jetzt einfach, bis dieser Bursche kommt und in meinem Zimmer verschwindet. Nicht, daß du ihm in die Hände läufst!«

»Mach dir keine Sorgen!« meinte Peter. »Ich weiß ja, wie er aussieht.«

»Dann Hals- und Beinbruch!«

»Ebenfalls! Und sag dem Direktor Bescheid.«

Eine Minute später war Francis wieder in seinem Zimmer und schloß hinter sich ab. Den Schlüssel steckte er in seine linke Hosentasche.

Dann nahm er den Telefonhörer vom Apparat.

»Bitte Direktor Adler«, sagte er, als sich die Zentrale meldete.

Ein älterer Herr mit weißem Spitzbart

Direktor Adler war von dem Anruf nicht gerade begeistert, aber er fiel auch nicht gleich vom Stuhl. Schließlich war er Überraschungen gewohnt. In einem Hotelbetrieb gibt es eine ganze Menge davon. Sie kommen wie die Maikäfer. Und gerade in diesem Jahr hatten sich die Maikäfer zu einer Landplage ausgewachsen.

»Was für ein Datum haben wir heute?« fragte Direktor Adler, als er den Telefonhörer auflegte.

»Den Dreizehnten!« rief Fräulein Wiesengrund aus dem Vorzimmer. »Warum, ist irgendwas passiert?«

»Es sieht so aus«, gab Direktor Adler zur Antwort und verließ sein Büro.

In der Halle stieß er beinahe mit einem älteren Herrn zusammen, der einen weißen Spitzbart am Kinn hatte. »Ich bitte vielmals um Verzeihung!« entschuldigte sich der Hoteldirektor. »Aber ich bitte Sie, junger Freund«, lächelte der ältere Herr mit dem Spitzbart und sah sich um. Er schien sehr viel Zeit zu haben.

Am Lieferanteneingang kam Direktor Adler gerade noch zurecht.

Personalportier Pfefferkorn hatte einen knallroten Kopf und sagte nur: »Nein so was! Nein so was!«

»Vielleicht fällt Ihnen auch mal was anderes ein?« fragte gerade einer der vier Herren, die vor ihm standen. »Zum Beispiel, wie wir möglichst unauffällig in den dritten Stock kommen?«

»Wenn die Herren gestatten, mein Name ist Adler. Ich bin der Hoteldirektor.«

»Die Herren sind von der Kriminalpolizei«, warnte Personalportier Pfefferkorn.

»Ich weiß Bescheid«, sagte Direktor Adler. »Wenn ich mich nicht täusche, sind Sie Kriminalkommissar Lukkas?«

Der eine von den vier Männern, der vorher gesprochen hatte, zog seinen Hut. »Stimmt, Lukkas heiße ich. Die anderen Herren darf ich Ihnen später vorstellen, wenn’s recht ist. Im Augenblick haben wir dazu keine Zeit.«

»Ich weiß Bescheid«, sagte Direktor Adler wieder und marschierte los. »Bitte folgen Sie mir! Am besten, wir verzichten auf den Fahrstuhl und gehen über die Feuertreppe.«

»Meinetwegen«, knurrte Kriminalkommissar Lukkas. Immerhin war er ein Mann von beinahe zwei Zentnern.

»Was ist das für ein Mann, dieser Overseas?«

»Mister Overseas ist Deutsch-Amerikaner und einer unserer ältesten Gäste. Zur Zeit befindet er sich in London —«

»Das stimmt wohl nicht ganz!« Kriminalkommissar Lukkas blieb stehen und holte eine Zigarre aus der inneren Rocktasche. »Ich habe noch gerade mit ihm telefoniert.«

»Mit Mister Overseas junior, wenn ich berichtigen darf«, Direktor Adler war ebenfalls stehengeblieben. Aber jetzt ging er weiter.

»Aha!« sagte der Kriminalkommissar nur und stapfte hinterdrein.

»Im übrigen wäre ich Ihnen sehr dankbar«, wagte Herr Direktor Adler zwischen dem ersten und dem zweiten Stockwerk zu bemerken, »wenn Sie jedes Aufsehen vermeiden würden.«

»Wir sind gewohnt, in unserem Beruf so diskret als möglich zu arbeiten!« stellte Kriminalkommissar Lukkas fest.

»Noch eins!« bemerkte Direktor Adler. »Unsere Gäste legen besonderen Wert auf Ruhe. Ich muß Sie also auch bitten, nach Möglichkeit Schießereien zu vermeiden.«

»Das hängt von dem Herrn ab, mit dem wir es hier zu tun kriegen!« schnaubte der Kriminalkommissar.

Man kam bereits zum dritten Stock.

»Besten Dank für den Hinweis«, meinte Direktor Adler und fügte allen Ernstes hinzu: »Ich werde den Herrn darauf hin weisen, wenn er durch die Halle kommt.«

»Unterstehen Sie sich!« knurrte Kriminalkommissar Lukkas.

Dann blieb er stehen und sah sich um.

»Zimmer 310, die zweite Tür rechts, wenn ich bitten darf«, sagte der Hoteldirektor und streckte seine Hände aus wie ein Verkehrsschutzmann. »Im übrigen gestatten Sie jetzt wohl, daß ich mich zurückziehe?«

»Bitte!« erwiderte Kriminalkommissar Lukkas und lüftete seinen Hut.

»Sollten Sie mich brauchen, ich bin in meinem Büro«, gab Direktor Adler noch bekannt. Dann verbeugte er sich kurz zu jedem der vier Herren und ging zum Fahrstuhl. Jetzt, da er wieder allein war, fand er nichts Auffälliges daran, den Fahrstuhl zu benutzen.

Der Kriminalkommissar ging auf die Tür von Zimmer 310 zu und klopfte an. Als sich nichts rührte, trat er einfach ein. Aber da stand er vor einer zweiten Tür.

»Ach so«, knurrte er und klopfte noch einmal.

»Herein«, rief es von drinnen, und der Kriminalkomissar öffnete die Tür. Seine drei Begleiter blieben ihm dicht auf den Fersen. Das haben Kriminalbeamte nun einmal so an sich.

»Soweit wär’s also schon!« dachte Peter in diesem Augenblick. Er saß auf dem Koffer mit den geklauten einhundertzweiundvierzigtausend Mark dicht hinter der Overseasschen Schlafzimmertür und nahm sein Auge nicht vom Schlüsselloch.

Bis auf den Koffergriff und die Knoten in der Wäscheleine saß er ziemlich bequem.

Währenddessen ging Francis auf dem dicken Teppich von Zimmer 310 hin und her, blieb auch einmal stehen, ging wieder weiter, sah zum Fenster hinaus und gelegentlich auch seinen Besuchern mitten in die Gesichter. Dabei erzählte er die Geschichte, die mit einem Gepäckschein 666 anfing und beim Telefonanruf eines gewissen Mister Korda aufhörte.

Kriminalkommissar Lukkas saß in einem der tiefen Klubsessel und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Seine Begleiter standen hinter ihm, dicht nebeneinander und mit hängenden Armen. Es machte ganz den Eindruck, als warteten sie nur darauf, daß ihr Chef mit dem linken Auge zwinkerte; dann hätten sie augenblicklich zugepackt, wo es eben gerade etwas zuzupacken gab.

Aber Kriminalkommissar Lukkas dachte nicht daran, mit dem linken Auge zu zwinkern. Er zog vielmehr an seiner Zigarre und sah in die Luft. Dorthin, wo sein Zigarrenrauch kleine weiße Wölkchen bildete.

»Das wäre im Telegrammstil das Wichtigste und das, was Sie im Augenblick wissen müssen«, sagte Francis gerade. Er sah jetzt auf seine Armbanduhr. »Genau sieben Minuten vor elf! Ich würde vorschlagen, daß sich die Herren nebenan ins Bad begeben oder hier in den Kleiderschrank. Sicher wird dieser Mister Korda sehr pünktlich sein. Aber genauso sicher haut er sofort wieder ab, wenn er die Tür aufmacht und hier die Kriminalpolizei versammelt sieht.«

Kriminalkommissar Lukkas sah immer noch den kleinen weißen Rauchwölkchen seiner Zigarre nach. »Sie werden zugeben«, sagte er jetzt, »daß Ihre Geschichte höchst unglaubwürdig ist, Mister Overseas?«

»Trotzdem stimmt sie!« stellte Francis fest und sah wieder auf seine Armbanduhr.

»Sie brauchen mir nur das Geld zu zeigen, und ich glaube Ihnen!«

»Es ist in Sicherheit, wie ich Ihnen sagte. Sie werden es bekommen, sobald wir diesen Menschen hier gefaßt haben!«

Jetzt holte endlich auch Kriminalkommissar Lukkas seine Taschenuhr aus der Weste.

»Ehrlich gesagt, ich glaube kein Wort. Andererseits sage ich mir, so viel Phantasie, um eine solche Geschichte einfach aus der Luft zu greifen, kann ein einzelner Mensch auch in Ihrem Alter gar nicht allein haben! Und dann bin ich jetzt schon einmal da.« Der Kriminalkommissar stand auf. »Was ist das für eine Tür?«

»Zu den Zimmern von Daddy. Sie ist abgeschlossen.«

»Hm — und hier geht’s zum Bad?« Der Kriminalkommissar machte die Badezimmertür auf und sah sich um. »Na schön.«

Die drei Kriminalbeamten verfolgten jede Bewegung ihres Chefs, dabei gingen ihre Köpfe so gleichmäßig hin und her wie bei den Zuschauern auf einem Tennisplatz.

»Weber, Sie kommen mit mir ins Badezimmer«, bestimmte Kriminalkommissar Lukkas, »Inspektor Becker und Blumensaat auf den Korridor.«

»Aber«, widersprach Francis, »wenn die beiden Inspektoren, ich meine, wenn sie gleich wie zwei Polizisten vor der Tür stehen —«

Mitten im Satz brach Francis ab.

Die beiden Inspektoren hatten nämlich inzwischen ihre Mäntel ausgezogen, und es zeigte sich jetzt, daß sie darunter regelrechte Frackanzüge anhatten.

»Ganz so dumm sind wir ja auch nicht«, bemerkte Kriminalkommissar Lukkas. Dann meinte er zu den beiden Inspektoren: »Vorsicht, wenn ihr rausgeht. Vielleicht ist der Kerl schon in der Nähe. Am besten, ihr nehmt gleich etwas von dem Zeug hier mit.« Der Kriminalkommissar zeigte auf den Frühstückstisch und fragte noch: »Sie gestatten doch, Mr. Overseas?«

Francis nickte.

Die zwei Inspektoren bedienten sich. Einer nahm den Servierwagen, der andere schnappte sich die Kakaokanne und den Korb mit den Brötchen. Dazu legte er sich noch eine Serviette über den Arm.

Dann gingen die beiden zur Tür und schoben sich im Rückwärtsgang aus dem Zimmer. Dabei sagten sie: »Jawohl, mein Herr! Besten Dank, mein Herr! Das Mittagessen um dreizehn Uhr. Sehr wohl« bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.

»Seitdem Sie mit diesem ulkigen Cowboy auf der Brust bei mir waren, halten Sie wohl nicht mehr allzu viel von der Kriminalpolizei, wie?« fragte Kriminalkommissar Lukkas und kniff das linke Auge zu.

»Ich möchte Sie nicht beleidigen«, sagte Francis höflich.

»Und jetzt — sind Sie jetzt einigermaßen zufrieden?«

»Nicht schlecht«, gab Francis zu. »Nur die Krawatten stimmen nicht. Die Etagenkellner haben hier im ATLANTIC weiße Schlipse —«

Peter rutschte aufgeregt auf seinem Koffer mit den einhundertzweiundvierzigtausend Mark hin und her.

Wie waren die zwei Etagenkellner, die jetzt mit dem Rücken voraus auf den Korridor traten, ins Zimmer 310 gekommen?

Irgend etwas stimmte da nicht!

Peter drückte sein rechtes Auge noch dichter ans Schlüsselloch und dachte nach.

Außer Kriminalkommissar Lukkas und seinen drei Begleitern hatte sich bisher niemand blicken lassen. Wenigstens nicht in dem Teil des Korridors, den Peter einsehen konnte. Und das waren mindestens zwanzig bis fünfundzwanzig Meter. Der Korridor machte an dieser Stelle eine Kurve.

Verflixt, diese zwei Etagenkellner!

Zimmer 310 hatte doch nur eine einzige Tür. Und diese Tür war ganz einwandfrei zu übersehen. Das heißt, wenn Peter so schräg durchs Schlüsselloch peilte. Aber das tat er die ganze Zeit.

Oder sollten diese beiden Burschen —?

Peter biß sich auf die Unterlippe und fuhr mit der Hand durchs Haar. Donnerwetter! Das wäre die einzige Möglichkeit!

Die zwei Etagenkellner waren zehn Meter weitergegangen, dann blieben sie plötzlich stehen. Sie machten sich an ihrem Servierwagen und mit dem Kakaogeschirr zu schaffen, aber gleichzeitig sahen sie sich um, der eine nach links, der andere nach rechts. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten.

Also doch!

Jetzt war Peter seiner Sache ganz sicher. Plötzlich fiel ihm auch auf, daß diese zwei Kellner genauso breit und groß waren, wie die Männer, die Kriminalkommissar Lukkas begleitet hatten.

Nicht schlecht, Herr Specht!

»Ich nehme meinen Hut ab, Herr Lukkas, sofern ich je mal einen aufsetzen sollte.«

In diesem Augenblick wurde es vor Peters Schlüsselloch kohlrabenschwarz. So als ob jemand auf der anderen Seite seinen Zylinder über die Türklinke gehängt hätte. Aber das dauerte nur eine oder höchstens zwei Sekunden, dann wurde es wieder heller und heller, bis Peter jetzt ganz deutlich ein schwarzes Stück Stoff erkennen konnte. Dieses Stück Stoff bewegte sich vom Schlüsselloch weg, und mit jedem Schritt, den es sich weiter entfernte, war deutlicher zu erkennen, daß es zur Rückenfront eines schwarzen Anzuges gehörte. Dieser schwarze Anzug, beziehungsweise der Mann, der ihn trug, ging jetzt schnurgerade auf die Tür von 310 zu.

Peter blieb ganz einfach die Luft weg.

Die Etagenkellner schoben ihren Servierwagen weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Der Mann im schwarzen Anzug hatte inzwischen das Zimmer von Francis erreicht. Er öffnete die innere Tür, ohne anzuklopfen, und trat einfach ein.

Kaum war er verschwunden, da ließen die zwei Etagenkellner ihren Servierwagen und das Kakaogeschirr im Stich, kamen im Eiltempo zurück und postierten sich vor Zimmer 310 wie die Wache vor der Toreinfahrt des Bundespräsidenten. Jetzt hatten sie es ja nicht mehr nötig, Versteck zu spielen.

Peter wartete noch einen Augenblick, dann stand er auf. Er nahm den Koffer, öffnete die Tür und trat auf den Korridor. Nach den beiden Kriminalbeamten sah er sich überhaupt nicht um. Er bog sofort nach rechts und spazierte zum Fahrstuhl.

Dort hatte er ausgesprochenes Glück. Als er nämlich gerade auf den Messingknopf drücken wollte, leuchtete die Skala im Erdgeschoß auf. Das Signallicht kletterte vom ersten in den zweiten und dann zum dritten Stockwerk. Es zischte kurz, und dann öffnete sich die Tür.

»Links das sechste Zimmer«, sagte der Fahrstuhlführer zu einem älteren Herrn, der einen weißen Spitzbart am Kinn hatte.

»Schönen Dank!« sagte der Herr und wollte losspazieren. Da fiel sein Blick auf den Jungen, der eben einstieg, vor allem auf den Koffer, den dieser Junge bei sich hatte.

Der Herr mit dem weißen Spitzbart drehte sich um, als habe ihn jemand mit einer Stecknadel gepiekt. Er wollte etwas sagen — aber die Tür hatte sich bereits geschlossen, es zischte wieder, und der Fahrstuhl fiel zum Erdgeschoß zurück.

»Na, Herr Gast?« grinste der Fahrstuhlführer und sah Peter an. »Du hast ein Leben zur Zeit, wie der junge Rockefeller, wie? Aber mich freut’s!«

Vor der Tür huschte gerade das zweite Stockwerk vorbei.

»Wenn mein Junge nächstes Jahr aus der Schule kommt, soll er auch hier als Page anfangen. Das ist nie verkehrt.«

Im Erdgeschoß riß der Fahrstuhlführer die Tür auf, als sei Peter wirklich der junge Rockefeller.

»Mit dem Trinkgeld müssen Sie noch warten«, bedauerte Peter, »im Augenblick habe ich nur Hundertmarkscheine bei mir.«

»Du bist richtig!« lachte der Fahrstuhlführer. Er konnte ja nicht wissen, daß das gar kein Witz war.

Genauso wenig konnte Peter wissen, daß in diesem Augenblick ein älterer Herr mit einem weißen Spitzbart vom dritten Stock herunter über die Treppe rannte, als sei er eben erst konfirmiert worden, zumindest so lange, als er sich unbeobachtet wußte. Als er die Halle erreichte, konnte er gerade noch sehen, wie der Junge mit dem Koffer in der Drehtür verschwand.

Der Spitzbart ging so schnell wie möglich hinter ihm her. Leider führte ihn dabei sein Weg quer durch die Halle. Er mußte sich jetzt also zu einer Gangart zwingen, die seinem weißen Spitzbart angepaßt war, das heißt, wenn er nicht auffallen wollte, und das wollte er keineswegs.

Als er endlich vor dem Hoteleingang auf der Straße stand, bog der Overseassche Cadillac gerade vom gegenüberliegenden Parkplatz zur Straße. Am Steuer saß ein Negerchauffeur und neben ihm dieser Junge. Er hatte seinen Koffer vor sich auf den Knien und umarmte ihn geradezu. Daß er dadurch kaum geradeaus sehen konnte, störte den Jungen offenbar nicht.

Dicht neben dem Hoteleingang parkte eine Limousine mit laufendem Motor. Ihre Vordertür klappte jetzt auf, als der Spitzbart auf sie zukam. Er sprang in den Wagen, riß die Tür zu, und dann ging es auch schon los.

»Hinterher!«

Der junge Mann, der mit dem kurzgeschorenen schwarzen Haar am Steuer saß, wußte offenbar sofort Bescheid. Jedenfalls ließ er den Overseasschen Wagen für die nächsten zehn Minuten nicht mehr aus den Augen.

Herr Meyer von 477

Etwa um diese Zeit explodierte auf Zimmer 310 ein Kriminalkommissar.

Dabei hatte sich anfänglich alles so schön programmgemäß entwickelt.

Kriminalkommissar Lukkas war auf dem Rand der Badewanne gesessen und neben ihm sein Inspektor, der Weber hieß. Die Mäntel und Hüte der beiden anderen Beamten lagen über dem Waschbecken. Nebenan wartete der junge Overseas, in einem Klubsessel und die Beine übereinandergeschlagen.

Vier Minuten lang geschah nichts. Lediglich eine Fliege kam durchs Fenster, drehte drei Loopings und brauste dann wieder ins Freie. Weiter nichts.

Dann klopfte es.

Francis sprang im ersten Augenblick wie elektrisiert hoch. Aber er setzte sich gleich wieder und rief: »Herein!«

Im Badezimmer griff Inspektor Weber unwillkürlich nach seiner linken inneren Rocktasche, dort trug er seine Dienstpistole. Aber Kriminalkommissar Lukkas winkte ab und zischte: »Nonsens!«

Inzwischen war nebenan eine Tür gegangen, und jetzt sagte eine Stimme: »Pardon, wenn ich störe.«

Danach blieb es bemerkenswert still.

»Aha! Typischer Fall von Kurzschluß!« dachte Kriminalkommissar Lukkas. »Zuerst spuckt der junge Mann große Töne, und wenn es ernst wird, bleibt ihm die Luft weg!« Er stand vorsichtig auf und arbeitete sich auf den Zehenspitzen bis dicht an die Tür.

»Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen? Ich — ich glaube, wir kennen uns —«, ließ sich der junge Overseas endlich wieder hören.

»Danke sehr. Entschuldigen Sie, wenn ich so unangemeldet bei Ihnen eindringe. Mein Name ist Meyer. Meyer mit y nach dem e. Im Gegensatz zu den üblichen Meiers mit einem i.«

Das war für Kriminalkommissar Lukkas zuviel. Er holte tief Luft, und dann machte er ganz einfach die Badezimmertür auf. »Kriminalpolizei«, sagte er. »Darf ich um Ihre Ausweise bitten?«

»Oh, das bedaure ich«, meinte Herr Meyer.

»Kann ich mir denken«, knurrte der Kriminalkommissar.

»Sie verstehen mich falsch«, lächelte Herr Meyer und fingerte an der weißen Nelke herum, die er links im Knopfloch seines Rockaufschlags stecken hatte. »Ich bedaure, daß Sie mir offenbar zuvorgekommen sind.«

Kriminalkommissar Lukkas zog die Augenbrauen hoch. »Wie soll ich das verstehen?«

Herr Meyer holte seine Papiere aus der Tasche. »Sie werden es verstehen, wenn Sie sich überzeugen, daß ich Privatdetektiv und hier vom Hotel angestellt bin.«

In diesem Augenblick geschah es. Kriminalkommissar Lukkas explodierte, wie gesagt.

»Es sieht so aus, als ob hier das ganze Haus Detektiv spielt!«

»Ich muß doch energisch bitten!« protestierte Herr Meyer.

»Bitten Sie nicht, antworten Sie!«

»Da müßten Sie allerdings zuerst fragen!«

»Haben Sic heute vormittag gegen zehn Uhr hier mit diesem jungen Mann telefoniert?« Kriminalkommissar Lukkas zeigte mit seiner Zigarre auf Francis. Die Zigarre war übrigens ausgegangen.

»Nein«, antwortete Privatdetektiv Meyer.

»Kennen Sie einen Mann namens Korda, Mister Korda oder dergleichen?«

»Leider ebenfalls: nein.«

»Welcher Teufel treibt Sie dann ausgerechnet punkt elf Uhr in dieses Zimmer?«

»Das ist eine längere Geschichte.«

»So, dann will ich Ihnen auch eine Geschichte erzählen!« Kriminalkommissar Lukkas hatte jetzt einen Kopf so rot wie eine Tomate. »Punkt elf Uhr sollte hier ein Mann aufkreuzen, an dem ich ganz außerordentlich interessiert bin. Dank Ihres kriminalistischen Fingerspitzengefühls kommen Sie diesem Mann aber eine oder vielleicht nur eine halbe Minute zuvor! Meine Beamten auf dem Korridor beziehen ihren Posten, und der Mann ist gewarnt!«

Kriminalkommissar Lukkas riß in diesem Augenblick zuerst eine und dann die zweite Zimmertür auf. In ihrem Rahmen standen die zwei Inspektoren nebeneinander, wie zwei Möbelpacker, allerdings wie Möbelpacker im Kellnerfrack.

»Das bedaure ich«, bemerkte der Hoteldetektiv.

Aber Kriminalkommissar Lukkas überhörte diese Bemerkung. Er beschäftigte sich jetzt mit den beiden »Etagenkellnern«. »Was ist los?«

Die zwei Herren waren ganz offensichtlich nicht im Bilde.

»Ich denke —«, stammelte der eine.

»Sie sollen nicht denken, sondern reden! Haben Sie etwas Besonderes bemerkt?«

»Wir haben uns bereitgehalten!« sagten die beiden gleichzeitig.

»Schön«, Kriminalkommissar Lukkas schnappte nach Luft, »aber ich meine, ob hier jemand vorbeigekommen ist. Vielleicht auch nur in die Nähe und hat dann wieder kehrt gemacht?«

Die beiden Beamten überlegten.

Dann sagte der eine wieder: »Allerdings, da war ein Herr mit einem weißen Spitzbart. Ein älterer Herr. Er kam aus dem Fahrstuhl —«

»Und?« fragte Kriminalkommissar Lukkas.

»Er ging dann gleich wieder über die Treppe zurück.«

»Und zwar ziemlich schnell, wie?«

»Stimmt«, bestätigte der Beamte.

»Da haben wir den Salat!« lachte Kriminalkommissar Lukkas. Aber dieses Lachen klang wie aus einer Gießkanne.

»Und dann war da noch ein Junge mit einem Koffer«, erinnerte sich jetzt der andere Inspektor, »beinahe gleichzeitig mit dem Spitzbart.«

»Das Geld!« rief Francis und sprang auf. »Wir müssen sofort zum Güterbahnhof!«

»Ich denke, das Geld ist in Sicherheit?« fragte Kriminalkommissar Lukkas. »Das heißt, wenn überhaupt ein wahres Wort an deiner ganzen Geschichte dran ist!«

»Ich würde ihm glauben, Kommissar!« ließ sich jetzt wieder Herr Meyer hören. »Ich habe Beweise dafür, daß diese Jungen —«

»Es ist ja zum Wahnsinnigwerden!« tobte Francis. »Der Junge mit dem Koffer war Peter Pfannroth. Und in dem Koffer ist das ganze Geld. Wenn dieser Spitzbart tatsächlich —«

»Den Rest erzählst du mir im Wagen!« befahl Kriminalkommissar Lukkas. Er hatte plötzlich begriffen und rannte los.

»Was diesen Koffer betrifft«, rief Hoteldetektiv Meyer hinterher, »so kann —«

Kriminalkommissar Lukkas blieb ruckartig stehen und drehte sich um: »Inspektor Weber, Sie haften mir dafür, daß dieser Herr Meyer mit einem y nach dem e auf meinem Dienstzimmer ist, wenn ich zurückkomme!«

»Ist das eine Verhaftung?« wollte Herr Meyer wissen.

»Nehmen Sie’s, wie Sie es wollen!« rief Kriminalkommissar Lukkas noch, und dann sauste er über die Treppen hinunter. Im ersten Stock hatte er seine beiden Beamten und Francis eingeholt, im Erdgeschoß überholte er sie.

Personalportier Pfefferkorn glaubte, das Hotel brenne, als die vier an seinem Glaskasten vorbeirannten. Er rannte hinterher. Aber er sah nur noch, wie der Polizeiwagen, der bisher vor dem Lieferanteneingang geparkt hatte, einen Sprung machte und dann mitten in den Verkehr hineinschoß.

Dieser Verkehr stand ruckartig still, sobald der Polizeiwagen auftauchte. Er hatte nämlich blaue Warnlichter und eine Sirene wie die Feuerwehr.

Straßenbahnen, Autos und Radfahrer stoppten, als ob jemand plötzlich »Stillgestanden!« kommandiert hätte.

Mutter Pfannroth stammelt: »Du kriegst die Motten!«

Am Güterbahnhof kurvte zur gleichen Zeit der Overseassche Cadillac in die Arnoldstraße hinein.

»Also, Jimmy, alles o. k.?«

»O. k., Mister Peter!« Der Neger nickte mit dem Kopf. »Ich jetzt warten und sagen, wo du sein, wenn Francis mit Police kommen!«

»Prima!« lobte Peter. »Du bist ein very kluger boy!«

»Thank you«, meinte Jimmy und grinste, dann nahm er seinen Fuß vom Gashebel und fuhr dicht an den Bürgersteig. Peter hatte nämlich auf den Hauseingang von Nummer 27 gezeigt. Direkt davor brachte Jimmy jetzt den Wagen zum Stehen, »Also, bis nachher!« rief Peter noch und zog ab, mit dem Koffer natürlich. Auch Jimmy stieg aus. Er schob die Mütze aus der Stirn und blinzelte in die Sonne.

»Die Burschen haben keinen blassen Schimmer« stellte in diesem Augenblick ein älterer Herr mit einem weißen Spitzbart fest. Er saß in einer schwarzen Limousine, und diese Limousine parkte etwa dreißig Meter hinter dem Overseasschen Wagen.

»Das macht die Sache leicht!« meinte der Spitzbart noch und kletterte ins Freie.

»Soll ich nicht lieber mitkommen?« fragte der junge Kerl, der mit seinen schwarzen, kurzgeschorenen Haaren am Steuer saß.

»Es ist wichtiger, daß wir sofort abhauen können. Stell ja den Motor nicht ab, und wenn ich mit dem Koffer aus dem Haus komme, fährst du mir sofort entgegen. Und dann ab mit allen Sachen!« Der Spitzbart zog an seiner Krawatte, wischte sich Staub vom linken Rockärmel und spazierte los, in Richtung zum Hauseingang Nummer 27.

Inzwischen schloß Peter im vierten Stock die Wohnungstür auf.

»Endlich!« sagte Mutter Pfannroth. »Das ist er!« Sie hatte auf dieses Geräusch des Türaufschließens die ganze Nacht gewartet und jetzt schon wieder den ganzen Vormittag. Im übrigen hatte sie Besuch. Und zwar gleich von verschiedener Seite: Frau Sauerbier vom Geschäft um die Ecke probierte ihr neues Sommerkleid an. Fleischermeister Winkelmann war vom Weg aus dem Schlachtviehhof für einen Sprung heraufgekommen, und in der Küche machte sich der Gasmann gerade am Zähler zu schaffen.

»Ein Momentchen, Frau Sauerbier!« sagte Mutter Pfannroth, nahm die Stecknadeln aus dem Mund und ging zur Tür. Dort traf sie ihren Jungen.

»Du lebst also noch!« japste sie nur, und dann bekam Peter links und rechts einen Kuß auf die Nase. Anschließend packte sie eine ganze Handvoll seiner Haare.

»Au!« sagte Peter.

»Rumtreiber!« sagte Frau Pfannroth, sonst sagte sie nichts mehr. Sie ließ Peters Haare wieder los und machte sich wie vorher an Frau Sauerbier zu schaffen:

»Die Falte hier an der Seite gefällt mir nicht!« meinte sie nach einer Weile, und dann griff sie nach ihrem Nadelkissen.

»Guten Tag, Frau Sauerbier!« grüßte Peter.

»Guten Tag, Herr Winkelmann!«

»Deine Mutter hat bestimmt die ganze Nacht kein Auge zugemacht!« meinte Frau Sauerbier.

»Am liebsten wäre sie zur Polizei gelaufen!«

»Aber er sieht auch nicht so aus, als ob er viel geschlafen hätte«, stellte Herr Winkelmann fest. »Und dabei geht’s heute um die Meisterschaft!«

»Papperlapapp!« rief Mutter Pfannroth. »Nachher gibt’s ein richtiges Mittagessen, und dann ist alles vergessen. Was ist das übrigens für ein Koffer?«

»Es gibt eine Menge zu erzählen«, wich Peter aus. Dann legte er seinen mit der Wäscheleine verschnürten Koffer platt auf den Boden und schob ihn unter das Pfannrothsche Familiensofa, so, daß nichts mehr von ihm zu sehen war. »Du wirst dich wundern!«

»Seitdem du ganze Nächte weg bleibst, wundert mich nichts mehr!« antwortete Mutter Pfannroth.

»Abwarten!« meinte Peter geheimnisvoll und ging ans Fenster, »vielleicht dauert’s nur noch zehn Minuten.« Aber so lange dauerte es gar nicht mehr. Peter sah gerade noch, wie Jimmy drunten am Overseasschen Wagen von einer ganzen Menge Kinder umlagert wurde, da ging die Tür.

»Sie entschuldigen!« sagte ein älterer Herr mit einem Spitzbart am Kinn. »Kriminalpolizei!«

»Du kriegst die Motten!« stammelte Mutter Pfannroth und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

Das war der Augenblick für Meister Winkelmann. Er hatte bisher nichts getan als zugehört und seine Zigarre geraucht. Jetzt stand er auf, legte Mutter Pfannroth seine Hand auf die Schulter und sagte: »Kein Grund zur Aufregung!« dann baute er sich vor dem Herrn von der Kriminalpolizei auf: »Mein Name ist Winkelmann. Bitte, nehmen Sie Platz!« dabei zeigte er mit der ausgestreckten Hand auf das Pfannrothsche Familiensofa.

Der Herr mit dem weißen Spitzbart zögerte eine Sekunde, aber als in diesem Augenblick auch noch der Gasmann aus der Küche kam, setzte er sich doch. Das war ja hier ein regelrechter Menschenauflauf. Damit hatte er nicht gerechnet.

»Macht zwölf Mark zwanzig«, sagte der Gasmann.

Mutter Pfannroth stand auf und angelte zwölf Mark fünfzig aus der Blumenvase. »Für den Rest kaufen Sie sich eine Zigarre«, meinte sie, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Sie sah jetzt zu ihrem Jungen hinüber und fragte: »Sag ehrlich, ist irgend etwas?«

»Sie können ganz beruhigt sein!« versicherte der Spitzbart sofort. »Die Sache ist durchaus ehrenhaft, höchst ehrenhaft sogar! Sie werden allen Grund haben, auf Ihren Jungen stolz zu sein!«

»Aber warum denn dann die Polizei? Auch noch die Kriminal-Polizei?« wollte Frau Pfannroth wissen.

»Schönen Dank!« sagte in diesem Augenblick der Gasmann und verließ die Wohnung.

»Wenigstens einer weniger«, dachte der Spitzbart. »Der Junge zählt nicht. Die zwei Frauen zählen auch nicht. Aber dieser Herr Winkelmann scheint nicht von schlechten Eltern zu sein!«

Er sagte also: »Meine Ausweise stehen Ihnen selbstverständlich gerne zur Verfügung —« Der Spitzbart griff lächelnd in seine Rocktasche, aber er deutete diese Bewegung nur an. Gleichzeitig fuhr er übertrieben höflich fort: »Wirklich, ich kann Sie zu diesem Jungen nur beglückwünschen!«

Dabei überlegte er sich, wie er jetzt wohl am schnellsten zu dem Koffer kommen könnte. Er wußte ja nicht, wie alles zusammenhing. Aber das war sicher, daß es auf jede Minute ankam.

»Was können wir also für Sie tun?« fragte Herr Winkelmann.

»Es handelt sich um — einen Koffer, um einen ganz bestimmten Koffer«, sagte der Spitzbart.

»Also der Koffer!« rief Mutter Pfannroth. »Der hat mir von der ersten Sekunde an nicht gefallen!«

»Ist er gestohlen?« fragte Frau Sauerbier neugierig.

»Er war es«, gab der Herr von der Kriminalpolizei zu und fingerte an seinem silberweißen Spitzbart herum. Dabei faßte er jetzt Peter ins Auge.

»Es wäre sehr freundlich, wenn Sie deutlicher würden«, schlug Fleischermeister Winkelmann vor.

»Im Augenblick kann ich das leider noch nicht«, bedauerte der Spitzbart. »Aber schon bald —«

»Wieso, ist im ATLANTIC irgendwas schiefgegangen?« fragte jetzt Peter.

»Im Gegenteil«, antwortete der Herr mit dem Spitzbart auf gut Glück.

»Aber dann wollte doch Francis, ich meine Mister Overseas junior, gleich hierher kommen — mit Kriminalkommissar Lukkas und —«

»Schon recht, das stimmt —«

Der Spitzbart hatte jetzt blitzartig begriffen, wie die ganze Sache eingefädelt war. Vor allem hatte er begriffen, daß Kriminalkommissar Lukkas jeden Augenblick hier sein konnte. Er hatte also wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. Wenn er nur wüßte, wo dieser verdammte Koffer versteckt war. Von Anfang an hatte er schon die ganze Zimmereinrichtung mit seinen Augen abgesucht. »Hat sich irgend etwas geändert?« fragte Peter gerade.

»Allerdings«, sagte der Spitzbart jetzt ganz einfach. Dabei wurde sein Ton um eine Etage energischer. »Die Herren erwarten uns im Präsidium. Und zwar sofort. Ich soll dich mit dem Koffer zusammen abholen. Deswegen bin ich hier.«

»Das hört sich an wie Chinesisch«, klagte Mutter Pfannroth. »Ich verstehe kein Wort!«

»Wo ist der Koffer?« wollte der Spitzbart wissen. »Sie sitzen drauf«, grinste Peter unwillkürlich. »Er liegt unter dem Sofa!«

»Sehr originell!« gab der Spitzbart zu und stand auf. »Gehen wir also!« Am liebsten hätte er sich selber gebückt. Aber das ging wohl nicht.

»Irgend etwas ist faul an der Sache«, brummte Mutter Pfannroth und schüttelte den Kopf, »irgend etwas ist faul an der Sache!«

»Du mußt wirklich keine Angst haben«, meinte Peter. Er kniete sich gerade auf den Fußboden und fischte unter dem Sofa nach dem Koffergriff. Und da — fiel er beinahe in Ohnmacht! Zum Glück merkte niemand etwas, nicht einmal der Herr von der Kriminalpolizei.

Nur Mutter Pfannroth sagte: »Er ist käseweiß um die Nase!« Das war aber schon eine Minute später, als Peter bereits wieder auf den Beinen stand und den Koffer neben sich hatte.

»Wissen Sie bestimmt, daß Francis — ich meine, Mister Overseas junior — nicht mehr hierher kommt?« fragte Peter und zog dabei das harmloseste Gesicht, über das er verfügte.

»Soweit ich orientiert bin!« Der Spitzbart wußte nicht recht, was er sagen sollte.

»Jedenfalls möchte ich ihm dann hinterlassen, wo wir sind«, bemerkte Peter und holte auch schon sein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche. »Polizeipräsidium —«, sagte er vor sich hin, »ein bestimmtes Zimmer oder Stockwerk?«

»Zimmer 312«, sagte der Spitzbart aufs Geratewohl.

»Das genügt! Aber jetzt müssen wir los!«

»312«, wiederholte Peter noch. Dann legte er das Notizbuch auf den Tisch.

»Also wenn der junge Overseas kommt, da steht drin, wo er uns findet!«

»Also auf jetzt!« mahnte der Spitzbart und wollte sich jetzt doch nach dem Koffer bücken. Aber Peter kam ihm zuvor. »Ich bitte Sie!« sagte er höflich. »Bemühen Sie sich nicht!«

»Auf Wiedersehen, meine Herrschaften!« grüßte der Herr mit dem weißen Spitzbart rundum und zog seinen Hut. »Und machen Sie sich bitte keine unnötigen Gedanken!«

»Tschüß!« meinte Peter und spazierte mit seinem Koffer hinterher.

»Vergiß die Meisterschaft nicht!« rief Herr Winkelmann noch, und dann waren die beiden weg.

»Irgend etwas ist faul an der Sache!« jammerte Mutter Pfannroth, als sie wieder mit Frau Sauerbier und Herrn Winkelmann allein war. »Irgend etwas ist faul an der Sache! Ich weiß nur nicht was!«

»Wer wird denn gleich schwarzsehen«, beruhigte sie Herr Winkelmann, zog an seiner Zigarre und stellte sich ans Fenster.

»Aha, dieser Kriminalrat oder was er ist, wird in dieser schwarzen Limousine gekommen sein. Solche Wagen kann nur die Polizei haben.«

Währenddessen ging der Spitzbart hinter Peter die Treppe hinunter. »Soll ich ihm jetzt gleich meine Faust in die Magengegend schlagen oder feure ich ihn nachher ganz einfach aus dem Wagen?« überlegte er gerade. »Bleibt die Frage, was besser ist!« Er entschied sich für letzteres. Vor allem im Hinblick darauf, daß es jetzt zuerst einmal wichtig war, wegzukommen.

»Ich freu’ mich wie ein Schneekönig, daß der Kerl geschnappt ist«, meinte Peter. »War es schwierig?«

»Er hat ein paar Mal um sich geschossen, aber das sind wir ja gewohnt.«

»Und die Belohnung — krieg’ ich die jetzt gleich auf dem Präsidium?«

»Ja, mein Junge«, lächelte der ältere Herr, und dann sagte er: »Beeilen wir uns also!«

Als sie auf die Straße traten, war rund um den Overseasschen Wagen ein kleines Volksfest im Gange. Jimmy hatte eine ganze Tüte Bonbons gekauft und fütterte damit die Kinder der gesamten Nachbarschaft. »Hallo, Jimmy!« rief Peter und ging auf den Overseasschen Wagen zu, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Jimmy warf den Rest seiner Bonbons in die Luft, lachte und machte die Wagentür auf.

In diesem Augenblick packte der Spitzbart Peter an der Schulter. Gleichzeitig schoß die schwarze Limousine vor. »Entschuldigung«, meinte Peter und tat völlig ahnungslos. »Sie haben Ihren eigenen Wagen?« Dabei machte er bereitwillig kehrt.

»Allerdings«, knurrte der Spitzbart und machte ebenfalls kehrt. In diesem Augenblick geschah es: Peter drehte sich plötzlich und blitzschnell wie ein Kreisel. Der Chauffeur in der schwarzen Limousine sah es zuerst. Er drückte auf die Hupe, um seinen Komplicen zu warnen. Aber um den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Der mit der Wäscheleine verschnürte Koffer, mit der Nummer 999 an der Seite, sauste dem Spitzbart bereits mit vollem Schwung und wie ein Schleuderball in die Kniekehlen. Das Durcheinander war vollkommen!

Der ältere Herr mit dem weißen Spitzbart am Kinn lag seiner ganzen Länge nach auf dem Bürgersteig. Der junge Mann, der »Joe Louis« genannt wurde, sprang wie von einer Tarantel gestochen aus seiner Limousine, die Kinder schrieen auf, rannten in einen Hausflur, und oben am Pfannrothschen Fenster streckte Herr Winkelmann vor Schreck seine Arme in die Luft.

Gleichzeitig war Peter mit zwei Sprüngen am Overseasschen Cadillac, warf zuerst den Koffer hinein und dann sich selbst. »Los, Jimmy!« brüllte er, und der Neger klemmte sich hinter sein Steuerrad. Als er Gas gab, erschien zuerst das Gesicht von Joe Louis und dann auch noch das des Spitzbarts am Fenster. Zum Glück waren die Fenster geschlossen, und im übrigen hielt Peter von innen die Türklinken zu. Dann machte der Cadillac einen Sprung wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten hat. Die beiden Banditen wurden zur Seite geschleudert, und Jimmy raste davon, vorläufig einfach die Arnoldstraße hinunter.

Im Rückspiegel sah Peter noch, wie der Spitzbärtige und Joe Louis in ihre schwarze Limousine stürzten. Aber dann wurde diese Limousine immer kleiner.

Bis vorn am Güterbahnhof plötzlich der Lastzug einer Brauerei quer über der Straße stand. Jimmy ließ den Motor aufheulen und drückte pausenlos auf die Hupe. Aber deswegen brauchte der Lastzug trotzdem seine Zeit.

Er stieß zurück, fuhr wieder vor, stieß nochmals zurück, und dann erst kam er soweit zur Seite, daß die Fahrbahn wieder frei wurde.

Jimmy gab augenblicklich Gas und jagte davon, im letzten Augenblick sozusagen. Die schwarze Limousine hatte inzwischen wieder aufgeholt. Sie war so nah, daß sie beinahe den ganzen Rückspiegel ausfüllte.

»Tempo, Jimmy!« rief Peter.

Die beiden Wagen jagten jetzt mit einem Abstand von etwa dreißig Metern dem Zentrum der Stadt zu.

Bestimmt war für Jimmy noch eine ganze Menge unklar, aber im großen und ganzen hatte er begriffen, worum es ging. Peter hatte ihn zum mindesten darüber aufklären können, daß der Koffer im Rücksitz des Overseasschen Cadillac voll »money« war und daß die zwei Burschen in der schwarzen Limousine auf dieses »money« so scharf waren wie zwei Rasiermesser.

Und viel mehr wußte Peter ja selber auch nicht. Nur das eine war sicher: Die Geschichte im ATLANTIC mußte schiefgegangen sein! Der Overseassche Wagen schoß unter eine Hochbahnbrücke und bog dann zur Isestraße ein. Die schwarze Limousine dicht hinterher. »Jetzt geht es erstmal darum, allen Verkehrsampeln auszuweichen«, dachte Peter. »Wenn die Halunken neben uns halten können, garantiere ich für nichts mehr! Es sei denn, irgendwo steht gleich ein Überfallkommando bereit. Ein einzelner Verkehrsschupo hilft überhaupt nichts! Bis der begriffen hat, was los ist, kann es schon zu spät sein. Die Burschen sind jetzt zu allem fähig, und wer weiß, vielleicht haben sie wirklich Pistolen bei sich. Es wäre ihnen zuzutrauen. Und wenn sie uns im Augenblick noch nicht in die Autoreifen knallen, dann nur, weil sie vorerst noch keinen Menschenauflauf veranstalten wollen.«

Bei den Hochhäusern hatte Jimmy beinahe einen Radfahrer auf dem rechten vorderen Kotflügel, und kurz vor dem Dammtorbahnhof bog er so dicht vor einer Straßenbahn ein, daß zwischen ihm und dieser Straßenbahn höchstens noch für eine Streichholzstärke Platz blieb.

Einen Augenblick lang sah es so aus, als sei die Limousine abgehängt, aber dann war sie plötzlich wieder da. Ein Omnibus der Linie 22 hatte lediglich für zwei, drei Sekunden die Sicht versperrt.

Peter ließ den Overseasschen Wagen jetzt nach links abbiegen. Er wollte versuchen, zum Polizeipräsidium am Sternplatz zu kommen. Vielleicht stand dort ein Tor offen, und man brauchte nur in den Hof hineinzufahren. Wenn man Glück hatte, exerzierte auf diesem Hof gerade eine Kompanie der Bereitschaftspolizei — Leider blieben diese Hoffnungen unerfüllt. Dreimal kurvte der Overseassche Wagen rund um den riesigen Block des Polizeipräsidiums. Aber es änderte sich nichts, sämtliche Tore waren und blieben verschlossen, von einer exerzierenden Kompanie ganz zu schweigen. Weit und breit keine Uniform, nicht einmal ein einzelner Posten!

Daß man, wie im Karussell, rund um das Polizeipräsidium herumfuhr, störte die schwarze Limousine nicht, sie fuhr nach wie vor hinterdrein.

Sollte er einfach am Haupteingang halten lassen und dann so schnell wie möglich ins Haus rennen?

Aber es brauchte ja nur die Tür zu klemmen, oder drinnen war nicht sofort jemand da oder nur ein Tippfräulein oder ein alter Portier, der die Gicht hatte und nicht von seinem Stuhl hochkam —.

Peter war völlig ratlos.

Wenn wenigstens irgendwo gerade ein Fußballspiel vorbei gewesen wäre, und er könnte einfach mitten in die Menschenmasse hineinfahren, die dann aus so einem Stadion kommt.

»Haltet den Dieb!« würde er nur einfach rufen, und alles wäre in Ordnung.

»Wo?« fragte Jimmy in diesem Augenblick. Er kreiste jetzt schon zum fünften Mal im 80-km-Tempo um das Polizeipräsidium. Vermutlich wurde es ihm so langsam schwindelig.

»Rechts!« sagte Peter und betätigte den Blinker. Er hätte genausogut »links« sagen können.

In diesem Augenblick fiel Peters Blick auf ein Plakat, das so gelb war wie eine Zitrone. Überall in der Stadt hingen diese Plakate, und überall stand mit roter Schrift auf dem zitronengelben Grund: »Jetzt SHELL-Sommeröle!«

Peter hatte dieses Plakat bestimmt schon ein paar hundert Mal gesehen und sich nie etwas dabei gedacht. So wie er sich nie etwas dabei gedacht hatte, wenn irgendeine Reklame für Damenstrümpfe oder Rasierseife an den Plakatsäulen klebte.

Er hatte für keines dieser Dinge Verwendung, weder für Rasierseife noch für Damenstrümpfe oder Autoöle.

Aber darum ging es auch gar nicht. Sommeröle hin — Sommeröle her!

Das zitronengelbe Plakat bedeutete für Peter etwas ganz anderes, es sprang von seiner Hauswand weg und wie der Funke einer Wunderkerze mitten in den Overseasschen Wagen hinein. Peter saß plötzlich ganz aufrecht. Dabei nahm er automatisch seinen Zeigefinger an die Nase. Er dachte nach. Aber nur zwei oder drei Sekunden. Darm sah er auf seine Armbanduhr.

»Wo?« fragte Jimmy grade wieder einmal.

Sie hatten gerade zwei Lastwagen überholt, die lauter Bananen geladen hatten, und schossen auf eine Kreuzung zu.

»Links!« sagte Peter wie aus der Pistole geschossen. Plötzlich wußte er, wohin er wollte.

Francis überlegt — und sieht plötzlich auf seine Armbanduhr

»— und dann?« fragte Kriminalkommissar Lukkas. Er stapfte im Pfannrothschen Wohnzimmer hin und her, hatte die Hände auf dem Rücken und zog grimmig an seiner Zigarre.

Die beiden Inspektoren standen nebeneinander an der Tür.

»— dann fuhren sie ab!« antworteten Mutter Pfannroth und Frau Sauerbier gleichzeitig.

»Also der Spitzbart, Peter und der Koffer?« fragte jetzt Francis. Er wollte es ganz genau wissen.

»Wobei Peter den Koffer trug«, stellte Herr Winkelmann fest. »Es wird sich gleich zeigen, daß es enorm wichtig ist!«

»Und vorher schrieb er dann noch hier in das Notizbuch, wo er zu finden sei.«

Mutter Pfannroth kramte nach ihrem Taschentuch. Sie hatte nämlich ganz nasse Augen. »Angeblich ging’s doch zum Polizeipräsidium, und der Kerl mit dem weißen Spitzbart diktierte sogar die Zimmernummer und das Stockwerk.«

»Daß ich nicht lache!« meinte Kriminalkommissar Lukkas und paffte eine Rauchwolke in die Luft. Dann sagte er nur: »Weiter!«

»Von dem, was im Treppenhaus passierte, haben wir natürlich keine Ahnung«, fuhr Fleischermeister Winkelmann fort, »aber als sie dann beide aus dem Haus kamen, stand ich hier am Fenster. So —«, Herr Winkelmann spazierte quer durchs Zimmer und zeigte genau, wie und wo er am Fenster gestanden hatte. »Also die beiden kommen aus dem Haus — was dann?« Kriminalkommissar Lukkas wurde schon ungeduldig.

»Peter mit dem Koffer vorneweg«, berichtete Herr Winkelmann weiter, »er marschiert direkt auf den amerikanischen Wagen zu. Der Neger verteilt gerade Bonbons und hat einen halben Kindergarten um sich herum. Als er Peter sieht, läßt er die Kinder Kinder sein und reißt die Wagentür auf. Aber im gleichen Augenblick nimmt der Spitzbart Peter an der Schulter und dirigiert ihn zu seiner schwarzen Limousine. Und Peter geht auch ohne weiteres mit. Von hier oben sah es wenigstens so aus.«

»— und dann?« fragte Kriminalkommissar Lukkas wieder einmal.

»Dann ging alles ziemlich schnell. Kurz hinter dem cremefarbenen Auto dreht sich Peter plötzlich im Kreis, holt Schwung, und bevor der Spitzbart merkt, was eigentlich los ist, hat er den Koffer zwischen den Beinen und fällt auf die Nase. Peter rennt zu dem amerikanischen Wagen zurück, wirft den Koffer hinein, und dann brausen Peter und der Neger ab. Gleich darauf jagt der Spitzbart mit seiner schwarzen Limousine hinterher.« Herr Winkelmann spielte mit seiner goldenen Uhrkette und sagte jetzt abschließend nur noch: »Mehr wissen wir nicht!«

»Tun Sie’s ruhig in den Blumentopf!« meinte Frau Pfannroth gleich darauf. Sie sah schon eine ganze Weile, wie der Kriminalkommissar nach einem Aschenbecher suchte.

»Ich bin so frei!« bedankte sich Kriminalkommissar Lukkas, dann drehte er sich um und fragte Francis nach der Nummer des Overseasschen Wagens. »NY2 — 273 58«, antwortete Francis.

»Inspektor Blumensaat!« rief Kriminalkommissar Lukkas. »Notieren Sie!«

»NY2 — 27358«, wiederholte Francis, und der Inspektor schrieb auf. »Marke Cadillac, cremefarben.«

»Sofort Fahndung an alle Funkstreifen«, ordnete Kriminalkommissar Lukkas an. »Sicherstellung des gesuchten Fahrzeugs. Ebenfalls der schwarzen Limousine, die dieses Fahrzeug wahrscheinlich verfolgt.« Kriminalkommissar Lukkas zog an seiner Zigarre und sah Herrn Winkelmann an. »Sie haben nicht zufällig auf die Nummer der Limousine geachtet?«

»Leider nein«, mußte Herr Winkelmann zugeben.

»Also los!«

»Jawohl, Herr Kommissar!« sagte der Inspektor und wollte durch die Tür. Aber da rief Francis plötzlich: »Halt!« und griff nach dem Notizbuch, das Peter zurückgelassen hatte.

»Ein Page vom Hotel ATLANTIC hat die Nummer festgestellt, und Peter hat sie aufgeschrieben! Hier — da ist sie: 77 12 58 —«

Inspektor Blumensaat machte sich eine entsprechende Notiz, und Francis wollte das Notizbuch schon wieder aus der Hand legen. Plötzlich pfiff er durch die Zähne. »Was Neues?« fragte Kriminalkommissar Lukkas.

»Allerdings«, antwortete Francis. »Peter hat ja etwas ganz anderes aufgeschrieben. Nichts von Polizeipräsidium und Zimmernummer! Da, sehen Sie selbst!« Der Kriminalkommissar nahm das Notizbuch. Er las und war für eine ganze Weile sprachlos. Da stand nämlich: »Der Spitzbart ist gar nicht von der Kriminalpolizei. Er ist die ›Schwarze Rose‹, ganz bestimmt!!!« Das »ganz bestimmt!!!« hatte tatsächlich drei Ausrufungszeichen und war zweimal unterstrichen.

»Höchst merkwürdig!« überlegte Kriminalkommissar Lukkas. »Woher wußte er das auf einmal?«

»Das überlege ich mir schon die ganze Zeit«, bemerkte Francis. »Zuerst muß er doch davon überzeugt gewesen sein, daß dieser Kerl von der Kriminalpolizei ist. Sonst hätte er nicht so ohne weiteres den Koffer rausgerückt. Und fünf Minuten später rennt er dem Kerl davon!«

»Höchst merkwürdig!« wiederholte Kriminalkommissar Lukkas.

»Um Himmels willen, was steht denn in dem Notizbuch?« fragte Mutter Pfannroth. Sie schneuzte sich in ihr Taschentuch, und dann sah sie Francis mit ihren nassen Augen groß an: »Ich hab’ auf einmal entsetzliche Angst, Mister Soundso!«

Francis sah zum Fenster hinaus, biß sich auf die Unterlippe und wußte nicht, was er sagen sollte.

»Ich gebe die Fahndung durch!« meinte jetzt der Inspektor, der Blumensaat hieß, und rannte los, um von seinem Polizeiwagen aus zu funken.

»Wenn das noch alles gutgeht«, meinte Francis plötzlich, »dann will ich von der ausgesetzten Belohnung nicht einen Pfennig. Dann soll alles für Sie und für Peter sein.« Francis drehte sich um und sagte noch: »Vor Zeugen ist das, als wenn ich’s schriftlich gäbe!«

»Du bist ein guter Junge«, lächelte Mutter Pfannroth jetzt. »Aber wenn Peter hier wieder im Zimmer steht, geb’ ich noch was zu.«

»Entschuldigung«, sagte Francis.

»Schon gut«, erwiderte Mutter Pfannroth.

Und dann sagte Kriminalkommissar Lukkas: »Ich gebe Bescheid, sobald ich etwas weiß!«

»Kann ich etwas helfen? Soll ich mitkommen?« fragte Herr Winkelmann.

»Sie bleiben wohl besser bei Ihrer Frau, Herr Pfannroth. Die braucht Sie jetzt.«

»Mein Name ist Winkelmann —«

»Ich dachte, Sie wären —«, entschuldigte sich Kriminalkommissar Lukkas.

»Sehr freundlich, aber es stimmt nicht«, verbeugte sich Herr Winkelmann, »leider!« fügte er dann noch hinzu. Aber das hörte niemand. Er glaubte zumindest, daß es niemand hörte.

Der Inspektor, der noch an der Tür stand, machte jetzt Platz und ließ den Kriminalkommissar zum Korridor.

»Sie sehen mich mit Peter wieder — oder überhaupt nicht mehr!« verabschiedete sich Francis von Mutter Pfannroth. Das stammte eigentlich aus einem Theaterstück. Aber daran dachte Francis jetzt nicht. Im Augenblick war das wirklich seine ehrliche Überzeugung. Er folgte dem Kriminalkommissar. Dabei ging er etwas aufrechter als sonst.

Der Inspektor schloß die Tür.

»Daß er sich mit Peter versteht, kann ich mir gut vorstellen«, meinte Mutter Pfannroth.

Draußen schlug jetzt die Wohnungstür.

»Das war heute eine heillos interessante Anprobe!« stellte Frau Sauerbier fest und stand auf. »Wie im Film!« gluckste sie noch und verabschiedete sich.

»Aber ich hab’s gleich gesagt«, murmelte Mutter Pfannroth vor sich hin, »daß irgendwas faul ist an der Sache!«

»Sie fahren ab!« meinte in diesem Augenblick Herr Winkelmann. Er stand wieder am Fenster. »Wenn’s Ihnen recht ist, bleibe ich noch, Frau Pfannroth?«

»Das müssen Sie sogar«, antwortete Mutter Pfannroth und schneuzte sich wieder einmal in ihr Taschentuch.

Das Polizeiauto bog inzwischen aus der Arnoldstraße zur Innenstadt.

Inspektor Blumensaat saß am Funkgerät, und Kriminalkommissar Lukkas drehte sich nach ihm um.

»Geben Sie noch durch: ›Warnung an alle! Insassen schwarze Limousine 77 12 58 sind möglicherweise bewaffnet‹.«

Der Kriminalkommissar setzte sich wieder geradeaus, sah durch die Windschutzscheibe und dann neben sich zu Francis.

»Na, Mister Overseas junior?«

Francis gab keine Antwort.

»Wenn man in eurem Alter etwas anfängt, glaubt man natürlich immer, daß es gutgeht. Daß es auch mal schiefgehen könnte, an so etwas denkt ihr wohl gar nicht, wie?«

Kriminalkommissar Lukkas paffte dem jungen Amerikaner jetzt eine Zigarrenrauchwolke mitten ins Gesicht: »Ich spreche mit Ihnen, junger Mann!«

Francis sah auf: »Ja, bitte?«

»Sie ›kombinieren‹ wohl schon wieder, wie?« fragte Kriminalkommissar Lukkas und kniff sein linkes Auge zu.

»Kombinieren oder nicht, ich stelle mir vor, ich wäre an Peters Stelle, und überlege mir, was ich dann tun würde. Das ist eine verdammte Kiste! Er rast durch die Stadt, und der andere ist hinter ihm her. Wo soll er hin? Wo kann er halten? Sobald Jimmy auf die Bremse drückt, ist die schwarze Limousine neben ihm, und die Burschen reißen die Türen auf —«

»Genauso ist es«, gab Kriminalkommissar Lukkas zu.

»Was würdest du also tun?«

»Wie gesagt, das überleg’ ich mir die ganze Zeit.«

»Immerhin sind jetzt sechzig Funkstreifen hinter ihnen her«, stellte Kriminalkommissar Lukkas fest.

»Die Stadt ist aber ziemlich groß.«

»Sechzig Wagen sind auch ziemlich viel«, gab Kriminalkommissar Lukkas zu bedenken.

»Aber schön, wo kann dieser Peter hinfahren? Überlegen wir mal.«

»Nicht mehr nötig!« rief Francis in diesem Augenblick und sah auf seine Armbanduhr.

Herr Theobald und die »Schwarze Rose«

»Hiermit eröffne ich die heutige Generalversammlung!« rief der Sheriff. Er stand auf einem umgekippten Benzinfaß, und die Schuhputzerjungen saßen rund um ihn herum.

»Zuerst erteile ich Herrn Theobald das Wort!«

»Sehr freundlich!« sagte ein kleiner, rundlicher Herr, zog seinen Hut und verbeugte sich nach allen Seiten, als stünde er in einer Zirkusmanege. »Mein Name ist Theobald, von der Firma ›BLITZ-BLANK und Co.‹«

»Sehr angenehm«, bemerkte der kleine Horst Buschke. Er lehnte in einem alten Autositz und hatte die Beine übereinandergeschlagen.

»Meine lieben jungen Freunde! Durch die liebenswürdige Vermittlung Ihres werten Herrn Schlotterbeck«, der Vertreter der Firma BLITZ-BLANK und Co. verneigte sich an dieser Stelle zum Sheriff hinüber, »habe ich heute die Möglichkeit, Sie mit den Spitzenprodukten unseres Hauses bekannt zu machen!« Herr Theobald machte eine längere Pause, in dieser Pause beguckte er seine Fingernägel.

Im übrigen war es jetzt genau zehn Minuten nach zwölf, und drüben an der Tankstelle ließ sich gerade eine Taxe mit Benzin vollaufen.

»Sehr geschätztes Auditorium!« fuhr Herr Theobald fort, »Schuhwichse ist, wenn ich es so sagen darf, das Nonplusultra in Ihrem Geschäft. Stimmt das Nonplusultra nicht, stimmt das ganze Geschäft nicht! Die beste Schuhwichse ist für Sie also gerade noch gut genug. Und die beste Schuhwichse ist BLITZ-BLANK! Das ist so wahr, wie ein Viereck vier Ecken hat!«

Der rundliche Herr Theobald bückte sich und kramte in seiner Aktentasche. Als er wieder hoch kam, hatte er eine Dose Schuhwichse in der Hand.

»Das ist sie!« rief Herr Theobald. »Und Sie werden sich wundern! Vielleicht ist einer der Herren so freundlich und stellt sich zur Verfügung?«

»Ist gemacht!« meinte der kleine Horst Buschke und kam mit seinem Autositz in die Mitte. Dort setzte er sich wieder und streckte seine Beine aus. »Bitte, bedienen Sie sich!«

Herr Theobald war von Horst Buschkes Schuhen nicht gerade begeistert. Er hielt den Kopf schief, schob die Unterlippe vor und überlegte. »Das ist allerdings —«, aber dann pumpte er sich plötzlich den Brustkorb voll Luft und krempelte seine Manschetten um: »Gerade an diesem schwierigen Objekt werde ich Ihnen beweisen —«

Leider kam es dann nicht mehr so weit.

Im gleichen Augenblick bog ein amerikanischer Wagen im Höllentempo von der Straße ab zur SHELL-Tankstelle ein, pausenlos hupend.

»Der hat wohl ‘n Knall!« rief der kleine Horst Buschke und sprang auf. »Er hat tatsächlich ‘n Knall!« brüllte jetzt auch ein rothaariger Junge, der Fritz Euler hieß, und sprang ebenfalls auf.

Der amerikanische Wagen jagte, ohne sein Tempo abzustoppen, durch die Tankstelle. Dann drehte er ganz plötzlich nach rechts.

Und da sprangen jetzt auch alle übrigen Jungen auf und rannten auseinander. Das amerikanische Monstrum kam genau auf sie zu und fuhr zwischen sie hinein! Und da waren hinter der Windschutzscheibe jetzt auch Peter und der Chauffeur zu erkennen, aber nur ganz kurz. Dann gab es eine Staubwolke, als der Cadillac zwischen den Jungen ruckartig stehenblieb. Dabei radierten seine Reifen über den Boden und quietschten seine Bremsen wie bei einer Schnellzuglokomotive.

»Unerhört!« entrüstete sich Schuhwichsevertreter Theobald und schlug mit seinem Flut durch den Staub, als wolle er Schmetterlinge fangen. »Das ist unerhört!«

Gleichzeitig rief eine Stimme: »Alle herkommen, sofort hinter den Wagen!«

Als erster stand der Sheriff neben Peter. »Was ist los?«

»Wir haben den Koffer hier drin und —«

In diesem Augenblick quietschten die Bremsen eines zweiten Wagens. Und da sich die Staubwolke inzwischen gelegt hatte, war dieser zweite Wagen deutlich zu erkennen. Es handelte sich um eine rabenschwarze Limousine, die jetzt etwa zehn Meter entfernt hielt. Ihre Türen wurden aufgerissen, und zwei Männer kamen ins Freie gestürzt. Ein älterer mit einem weißen Spitzbart und ein jüngerer mit einer Lederjacke und kurzgeschorenen, schwarzen Haaren.

»Das sind sie!« brüllte Peter.

»Nicht durchlassen!« rief der Sheriff. Er hatte begriffen und ließ seine Schuhputzerjungen ganz dicht zusammenrücken. Schließlich standen sie im Halbkreis um den amerikanischen Wagen. Wie eine Mauer. Vorn in der Mitte der Sheriff. Neben ihm Peter und Jimmy.

Der Spitzbart und sein Komplice kamen nur langsam näher.

Die Jungen standen aufrecht und rührten sich nicht.

»Einer müßte zum nächsten Telefon und das Überfallkommando alarmieren!« stellte Peter fest. Dabei ließ er die beiden Burschen aus der schwarzen Limousine nicht aus den Augen.

»Das mache ich! Und was soll ich sagen?« fragte der kleine Horst Buschke.

»Quatsch jetzt keine Fransen«, knurrte der Sheriff, »Hauptsache, sie sind so schnell wie möglich da!«

Horst Buschke türmte los, und zwar im Rücken der Jungen über das Gelände.

Im Rücken der Jungen befand sich auch Herr Theobald. Er kroch unter dem Wagen herum. Seine Aktentasche mit den Schuhwichsdosen der Firma BLITZBLANK war überfahren worden. »Es ist unerhört!« jammerte er immer noch.

Der Spitzbart und sein Genosse waren jetzt bis auf drei Meter heran.

Peter hatte seine linke Hand in der Hosentasche. In dieser Hand hatte er den Wagenschlüssel. Der Overseassche Wagen, in dem der Koffer lag, war abgeschlossen.

Der ältere Herr mit dem weißen Spitzbart am Kinn blieb jetzt stehen, sein Komplice ebenfalls. Beide sahen die Jungen an, das dauerte etwa drei Sekunden.

Dann marschierte der Spitzbart auf Peter zu.

»Mach keinen Quatsch!« sagte er und wollte zwischen Peter und dem Sheriff hindurch. Aber die beiden Jungen standen wie Laternenpfähle, ihre Schultern dicht nebeneinander. »Sie wünschen?« fragte der Sheriff.

»Werdet bloß nicht drollig!« knurrte der Spitzbart und ging jetzt wieder einen Schritt zurück.

»Soll ich —?« fragte der Kerl mit den kurzgeschorenen schwarzen Haaren und brachte seine Fäuste in Boxerstellung.

»Nicht nötig«, meinte der Herr mit dem weißen Spitzbart und sah jetzt abwechselnd Peter und dem Sheriff in die Augen. »Ich hab’ wenig Zeit, eigentlich gar keine. Macht also keinen Unsinn und rückt den Koffer raus. Sonst werd’ ich ungemütlich. Ich zähle bis drei. Eins — zwei —«

»— drei — vier — fünf«, zählte der Sheriff weiter.

»Dann tut’s mir leid«, sagte der Spitzbart und hatte plötzlich eine Pistole in der Hand. »Macht Platz, ihr Idioten! Aber dalli!«

Jetzt wichen die Jungen auseinander. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

»Fünf Meter zurück!« Die Mauer hatte plötzlich ein Loch.

»Du bleibst hier!«

Der Lauf der Pistole war auf Peter gerichtet. »Wo ist der Koffer?« Peter preßte die Lippen aufeinander und gab keinen Ton von sich.

Aber da rief der Kerl mit den kurzgeschorenen schwarzen Haaren: »Im Wagen! Man sieht ihn durch die Scheibe, er liegt auf den hinteren Sitzen!«

»Aufmachen!« kommandierte der Spitzbart.

»Mach auf«, schlug der Sheriff vor, »es hat doch keinen Zweck!«

»Sehr vernünftig, junger Freund!« meinte der Spitzbart. »Auf, los jetzt!«

Da heulte plötzlich die Sirene eines Polizeiwagens auf. Das wirkte auf den Herrn mit dem Spitzbart und auf seinen Genossen wie eine kalte Dusche. Beide standen wie erstarrt und sahen sich an.

In diesem Augenblick sagte eine Stimme: »Das ist ja unerhört!« Gleichzeitig flog dem Spitzbart die Pistole aus der Hand.

Weder die Jungen noch die beiden Strolche hatten auf den rundlichen Herrn Theobald geachtet, der unter dem Wagen nach seiner Aktentasche und den Schuhwichseschachteln der Firma BLITZ-BLANK gesucht hatte. Bei diesem Suchen mußte er bemerkt haben, wie der Spitzbart die Jungen mit seiner Pistole bedrohte.

Ehrlich empört, mit völlig eingeschmutzter Hose hatte er in dem Augenblick, als die Polizeisirene zu hören gewesen war, dem erstarrten Spitzbart mit den Worten: »Das ist ja unerhört!« die Pistole aus der Hand geschlagen.

Jetzt fügte Herr Theobald noch hinzu: »Sie haben wohl keine Kinder!« Dies spielte sich alles in Sekunden ab. Die Lage erkennend, fiel der Sheriff über den Spitzbart her und mit ihm die zehn anderen Jungen.

»Abhauen!« rief der Schwarzhaarige und wollte losrennen. Blitzschnell handelnd trat ihn Peter ans Schienbein, und dann erging es ihm genauso wie seinem spitzbärtigen Genossen: Ein ganzes Knäuel von Jungen hängte sich an ihn und warf ihn zu Boden.

Als Kriminalkommissar Lukkas aus seinem Polizeiauto stieg, sah er sich das allgemeine Durcheinander eine Weile an: Da drüben stand die schwarze Limousine mit der Nummer 77 12 58 und dort der Overseassche Cadillac. Der Fall war klar.

Kriminalkommissar Lukkas schickte seine zwei Inspektoren vor, in jedes Durcheinander von Beinen und Armen einen. »Verhaften!« befahl er.

»Verhaften!« wiederholten die zwei Inspektoren und stürzten sich in den Kampf.

Nach wenigen Minuten stand alles mit zerzausten Haaren, roten Köpfen und verschmutzten Kleidern wieder auf den Beinen.

»Guten Tag!« grüßte Kriminalkommissar Lukkas und sah sich um. Die Jungen wußten nicht, was sie sagen sollten. Nur der Sheriff und Peter antworteten: »Guten Tag, Herr Kriminalkommissar!« Hinterher sagte Peter noch: »Gott sei Dank!«

»Du bist also Peter Pfannroth?« fragte der Kommissar. »Jawohl«, gab Peter zu.

»Und du?«

»Emil Schlotterbeck, Herr Kommissar.«

»Genannt der Sheriff«, lächelte Kriminalkommissar Lukkas und kniff sein linkes Auge zu. »Du siehst, ich weiß Bescheid.« Dann ging er ein paar Schritte weiter. Dort standen seine zwei Inspektoren, und jeder von ihnen hatte einen der beiden Strolche vor sich, die Hände in Handschellen. »Kriminalkommissar Lukkas, wenn ich mich vorstellen darf.«

»Ich protestiere, Herr Kommissar!« legte der Spitzbart gleich los. »Ich weiß nicht, wen Sie suchen. Aber ich bin es jedenfalls nicht!«

»Das wird sich herausstellen. Wie heißen Sie?«

»Spiegelberg — Paul Spiegelberg —«

»Haben Sie Papiere?«

»Leider nicht. Aber ich —«

»Ihr Bart geht ab!« stellte Kriminalkommissar Lukkas plötzlich fest. »Sie gestatten, Herr Spiegelberg?«

»Au!« rief der Spitzbart. Aber da war er schon kein Spitzbart mehr. Der Kriminalkommissar hatte ihm nämlich den Bart mit einem kurzen Zuck wie ein Heftpflaster vom Kinn gerissen.

»Bleiben Sie dabei, daß Sie Spiegelberg heißen?« fragte der Kommissar. Er war immer noch sehr höflich.

»Das mit dem Bart war nur ein Scherz.«

»Fasching ist seit drei Monaten vorbei«, meinte Kriminalkommissar Lukkas. Gleichzeitig fing er an, dem Herrn, der sich Spiegelberg nannte, den linken Rockärmel und dann das Hemd hochzukrempeln.

»Dazu haben Sie kein Recht!« protestierte Herr Spiegelberg und wehrte sich, so gut es ging. Der Inspektor mußte ihn festhalten.

»Aha, das hat das Vögelchen nicht gerne!« meinte der Kriminalkommissar. Und dann schnalzte er plötzlich mit der Zunge, als ob er ein ganz besonders gutes Glas Wein getrunken hätte. »Eine schwarze Rose, sieh mal einer an!«

Sämtliche Jungen hingen mit ihren Augen jetzt wie hypnotisiert am Unterarm des Herrn, der sich Spiegelberg nannte. Auf diesem Unterarm war nämlich eine Rose eintätowiert, in schwarzer Farbe und so deutlich wie in einem Lesebuch.

»Die ›Schwarze Rose‹«, stammelte in diesem Augenblick Schuhwichsevertreter Theobald. »Womöglich war die Pistole echt! Dabei hab’ ich geglaubt —« Es sah so aus, als wolle der kleine, rundliche Herr noch nachträglich in Ohnmacht fallen.

»Richtig, die Pistole!« rief Peter jetzt und rannte los. Aber dann rief ihn der Kriminalkommissar zurück, und einer der beiden Inspektoren mußte unter den Overseasschen Wagen kriechen. Als er sich wieder aufrichtete, hatte er die Pistole auf seinem Taschentuch liegen.

»Wegen der Fingerabdrücke!« flüsterte der Sheriff.

»Ist sie wirklich echt?« wollte der Schuhwichsevertreter wissen.

»Allerdings«, stellte Kriminalkommissar Lukkas fest.

»Und geladen?«

»Auch das.«

»Dann gestatten Sie!« sagte Herr Theobald und spazierte los. Und dann schlug er plötzlich zu. Bevor es irgend jemand verhindern konnte, hatte der internationale Verbrecher, genannt »Schwarze Rose«, eine Ohrfeige weg. Er machte ein ziemlich dummes Gesicht, und der Schuhwichsevertreter sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Kommissar, aber das mußte sein!«

»Ein aufgelegter Fall von Mißhandlung!« meinte die »Schwarze Rose«.

»Ich kann es nicht mehr ändern«, bedauerte der Kriminalkommissar, und dann sagte er: »Gehen wir!«

Die beiden Inspektoren marschierten mit den zwei Gefangenen zum Polizeiauto.

Im gleichen Augenblick kam ein Funkstreifenwagen angebraust. Vorne neben dem Schupo saß der kleine Horst Buschke.

»Da sind wir!« rief er und sprang ab. »Wo sind die Kanaillen?« fetzt sprangen auch die Schupos ins Freie.

»Bereits erledigt!« stellte Kriminalkommissar Lukkas fest.

»Jawohl, Herr Kriminalkommissar.« Die Schupos brausten mit ihrem Funkstreifenwagen wieder ab.

Im übrigen wurden immer mehr Leute aufmerksam, blieben stehen und sahen zu ihnen herüber.

»Euch zwei brauche ich jetzt auf dem Präsidium«, sagte Kriminalkommissar Lukkas zu Francis und Peter. »Wir müssen ein Protokoll aufnehmen. Und du kommst am besten auch gleich mit.« Damit war der Sheriff gemeint.

»Verfügen Sie über mich«, meinte Emil Schlotterbeck höflich und machte eine kleine Verbeugung.

»In einer Stunde müssen wir aber im Stadtpark sein!« stellte Peter fest und sah auf seine Armbanduhr.

»Wieso? Wollt ihr Kastanien sammeln? So weit ist’s noch nicht!« meinte Kriminalkommissar Lukkas.

»Es ist wegen der Jugendmeisterschaft im Boxen«, erklärte der Sheriff. »Peter und ich sind in der Mannschaft, und um drei müssen wir da sein.«

»Dann nichts wie los!« rief der Kriminalkommissar und wollte zu seinem Polizeiauto.

Im gleichen Augenblick tutete eine helle Hupe, und dann stand plötzlich der Admiral mit seinem Motorroller vor dem Kommissar und den drei Jungen.

»Hallo, was ist los?«

»Benimm dich«, zischte der Sheriff. »Das ist Kriminalkommissar Lukkas.«

»Fanny Kuhlenkamp heiße ich«, flötete der Admiral.

»Freut mich«, behauptete der Kriminalkommissar.

»Ist ja toll aufregend! Überall redet man schon davon, daß Polizei da wäre und daß man Gangster geschnappt hätte. Der Milchmann vorne an der Ecke behauptet, es seien Heiratsschwindler!«

»Halt endlich die Luft an, wir haben kaum Zeit!« meinte der Sheriff.

»Sie müssen uns leider entschuldigen, Fräulein Kuhlenkamp«, lächelte Kriminalkommissar Lukkas, »aber es hat mich wirklich gefreut, Sie kennenzulernen.«

»Gibt’s wirklich nichts mehr zu helfen?« fragte der Admiral enttäuscht. »Dann könnte ich nachher in der Schule sagen, daß ich dabei war.«

»Wenn ich ‘ne Frau wäre, ich würde mich glatt umbringen!« stöhnte der Sheriff.

»Du könntest zu mir nach Hause fahren«, bat Peter.

»Schon wieder?« murrte der Admiral.

»Und wenn ich Ihnen den Auftrag gebe, mein junges Fräulein, sozusagen offiziell?« fragte Kriminalkommissar Lukkas.

»Das wäre was anderes«, gab der Admiral schnell zu.

»Also«, sagte Kriminalkommissar Lukkas, »grüßen Sie Frau Pfannroth und Herrn Winkelmann von mir und sagen Sie, alles wäre in Ordnung. Und die Jungen würden jetzt mit mir ins Polizeipräsidium fahren.«

»Ins Polizeipräsidium«, wiederholte der Admiral. »Ich werd’s ausrichten.«

»Wir seien pünktlich im Stadtpark, sagst du Herrn Winkelmann«, meinte der Sheriff noch.

»Einen schönen Gruß auch von mir«, fügte Peter hinzu. »Und bring meine Boxsachen mit!«

»Wenn ich bloß nichts vergesse!« flötete der Admiral noch. Dann setzte sie sich wieder auf ihre Vespa, hupte vergnügt und ratterte los.

Francis, Peter und der Sheriff ließen sich’s natürlich nicht nehmen, im Polizeiauto zum Präsidium zu fahren. Jimmy mußte also den Overseasschen Cadillac hinterdrein kutschieren. Ans Steuer der schwarzen Limousine setzte sich einer der Kriminalinspektoren.

»Also bis um drei im Stadtpark!« rief der Sheriff seinen Jungen noch zu. Dann sollte es losgehen. Aber da sagte Peter plötzlich: »Halt! Der Koffer mit dem Geld!« Er turnte noch einmal ins Freie und rannte zu Jimmy hinüber.

»Donnerlittchen«, knurrte Kriminalkommissar Lukkas, »hätte ich glatt verschwitzt!«

Kriminalkommissar Lukkas sagt: »Alle Achtung!«

Hoteldetektiv Meyer von Zimmer 477 fing Fliegen. Ganz oben an der Kante des Aktenschrankes saß gerade eine. Herr Meyer kletterte also auf einen Stuhl. Kriminalassistent Kühnast und Inspektor Weber sahen ihm interessiert zu.

Da ging die Tür auf, und Kriminalkommissar Lukkas kam ins Zimmer. Mit ihm die drei Jungen, die Inspektoren und die zwei verhafteten Bankräuber.

»Was machen Sie da?«

»Ich vertreibe mir die Zeit, Herr Kommissar. Ich fange Fliegen für Ihre Laubfrösche.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein«, knurrte Kriminalkommissar Lukkas. Doch das Knurren klang nicht böse.

»Stellen Sie den Koffer auf den Tisch, Inspektor Blumensaat!«

»Jawohl, Herr Kriminalkommissar!«

Inspektor Blumensaat tat, was ihm befohlen worden war, und Hoteldetektiv Meyer kletterte von seinem Stuhl herunter. Dann holte er eine Morgenzeitung aus der Tasche. Er beguckte sich das Bild auf der ersten Seite und verglich es mit dem Original, das jetzt mit Handschellen an den Handgelenken im Zimmer stand. Dann faltete er die Zeitung wieder zusammen und sagte: »Meine Hochachtung! Ich gratuliere!«

Kriminalkommissar Lukkas blätterte in einer Akte: »geboren am 17. Februar 1915 — Unterschlagungen in Berlin — wegen vierundzwanzig Einbrüchen verurteilt am 3. November 1946. Dann Paris-Brüssel-Rom. Januar dieses Jahres Frankfurt und jetzt hier.« Kriminalkommissar Lukkas sah auf. »Nun, Herr Spiegelberg oder wie Sie sonst noch heißen, geben Sie den Bankraub zu — ja oder nein?«

»Ich schwöre Ihnen —«

»Ja oder nein, habe ich gesagt«, beharrte Kriminalkommissar Lukkas und durchblätterte jetzt eine ganze Reihe von Fotos auf seinem Schreibtisch wie Spielkarten. »Wir könnten ein ganzes Familienalbum damit vollkleben. Fingerabdrücke eingeschlossen. Was ist also? Ja oder nein?«

»Ich gebe zu, Herr Kommissar« meinte Herr Spiegelberg, alias »Schwarze Rose«.

»Sie geben es also zu?« fragte Kriminalkommissar Lukkas und zog die Augenbrauen hoch.

»Das mit dem Gepäckschein war ein blöder Zufall«, erklärte die »Schwarze Rose«, »aber sonst war das ganze gut gemacht. Finden Sie nicht auch?«

»Zumindest originell!« gab Kriminalkommissar Lukkas zu. Und dann diktierte er seinem Kriminalassistenten Kühnast etwas in die Maschine. Der Spitzbart, der jetzt gar keinen Spitzbart mehr hatte, bequemte sich, das ganze zu unterschreiben, und schließlich sagte Kriminalkommissar Lukkas: »Das hätten wir also! Und jetzt kommt der Koffer an die Reihe!«

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Inspektoren Blumensaat und Weber die Wäscheleine aufgeknüpft hatten. Sie klappten den Kofferdeckel hoch und sagten: »Bitte, Herr Kommissar!«

»Ich geb’ auch zu«, meinte in diesem Augenblick der Kerl in der Lederjacke und mit den kurzgeschorenen schwarzen Haaren. »Ich meine, daß ich auch dabei war. Und bitte notieren Sie, daß ich mein Geständnis freiwillig abgebe.«

»Kühnast, zählen Sie nach, wieviel in dem Koffer drin ist«, ordnete Kriminalkommissar Lukkas an. Dann sah er sich den jungen Mann, der Joe Louis genannt wurde, von oben bis unten an, als sähe er ihn zum erstenmal. »Von freiwillig kann jetzt wohl nicht mehr die Rede sein, mein Engel.«

»Eine tolle Rübe!« flüsterte der Sheriff und schielte zu Francis und dann zu Peter.

»Zwei Adreßbücher und ein Telefonbuch. Und dann noch dieser Zettel«, stellte jetzt Kriminalassistent Kühnast fest. »Soll ich das ins Protokoll mit aufnehmen?«

»Was ist das nun wieder für ein Unsinn?« wollte Kriminalkommissar Lukkas wissen.

»Der Inhalt des Koffers, Herr Kommissar.«

»Wollen Sie damit sagen —?« knurrte Kriminalkommissar Lukkas und kam blitzartig hinter seinem Schreibtisch hervor. Mit einem Satz, den ihm auch seine besten Freunde nicht zugetraut hätten, war er bei dem Koffer, an dessen Seite immer noch die Nummer »999« klebte. Beinahe gleichzeitig waren auch Francis, Peter und der Sheriff neben ihm.

Aber leider stimmte das, was Kriminalassistent Kühnast gesagt hatte.

In dem Koffer lagen tatsächlich nur die zwei letzten Bände des amtlichen Adreßbuches, zwischendrin noch ein Telefonbuch, weiter nichts.

Das Geld war weg!

»Ich krieg’ die Motten!« stöhnte Peter.

»Wie ist denn das möglich?« fragte der Sheriff und hatte eine ganz weiße Nasenspitze.

»Ich ›kombiniere‹«, meinte Francis, und zog bereits wieder einmal seine Stirn in dicke Denkerfalten.

»Quatscht jetzt keinen Unsinn!« meinte Kriminalkommissar Lukkas. »Sie sagten noch etwas von einem Zettel, Kühnast!«

»Hier, Herr Kommissar«, sagte Kriminalassistent Kühnast.

»Steht was drauf?« fragte Francis gespannt.

»Ich heiße Gottfried mit Vornamen«, bemerkte in diesem Augenblick der Hoteldetektiv.

»Darf ich Sie um eine Erklärung bitten«, sagte Kriminalkommissar Lukkas. Dabei gab er den Zettel an die drei Jungen weiter. Auf diesem Zettel stand: »Inhalt entnommen, Gottfried Meyer, Zimmer 477.«

»Ich verstehe kein Wort!« gab Peter zu.

»Dabei ist es so einfach!« lächelte Hoteldetektiv Meyer und fingerte an der weißen Nelke herum, die er im Knopfloch hatte. Er war jetzt plötzlich der Mittelpunkt, und alle sahen ihn an.

»Ich bin im ATLANTIC Hoteldetektiv.«

»Wissen wir allmählich«, knurrte Kriminalkommissar Lukkas.

»Schön«, fuhr Herr Meyer von 477 höflich fort. »Sie können sich also vorstellen, daß ich mich für alles interessiere, was im Hotel vorgeht. Nun, die beiden jungen Herren fielen mir auf. Ich meine Herrn Overseas junior und den Pagen Peter Pfannroth.«

»Wieso?« fragten Francis und Peter gleichzeitig.

»Es kam so einiges zusammen«, wich Herr Meyer von 477 aus, »und dann hat man so etwas in der Nase. Ohne Nase ist unser Beruf überhaupt nicht denkbar. Stimmt’s oder habe ich recht?« Der Hoteldetektiv lächelte jetzt zum Schreibtisch hinüber.

»Nennen Sie’s, wie Sie’s wollen«, meinte Kriminalkommissar Lukkas.

»Dazu kommt noch, daß mich die Hoteldirektion ausdrücklich darum gebeten hatte, während der Abwesenheit von Mister Overseas seinen Jungen besonders im Auge zu behalten. Herr Direktor Adler war sehr besorgt um den jungen Herrn und trug schwer an der Verantwortung. Das ist verständlich, Mister Overseas, nicht wahr?«

»Mich interessiert jetzt nur, wo das Geld ist«, gab Francis zu.

»Einen Moment müssen Sie sich noch gedulden«, meinte der Hoteldetektiv. »Zuerst wurde ich hier durch diesen Koffer aufmerksam. Ich sah, wie ihn der Page Peter Pfannroth ins Overseassche Zimmer trug. Ein derartiger Koffer, mit einer Wäscheleine verschnürt, konnte keinesfalls zum Gepäck von Mister Overseas gehören. Das war gestern früh, und von diesem Augenblick an nahm ich mir vor, die beiden jungen Herren sehr eingehend zu beobachten. Leider wurde nichts daraus. Ich muß zugeben, daß ich sie aus den Augen verlor. Sie fuhren mit dem Wagen weg und kamen nicht zurück, bis auf den jungen Mister Overseas. Aber als er um die Mittagszeit für einen kurzen Augenblick wieder im Hotel auftauchte, wurde ich vom Portier zu spät informiert. Ich erfuhr lediglich, daß die beiden jungen Herren auch während der ganzen Nacht nicht zurückkommen würden. Angeblich sollte Mister Overseas junior bei dem Pagen Peter Pfannroth zu Hause übernachten. Ich hatte meine Bedenken und handelte.«

»Vermutlich hatten Sie es vor allem auf diesen Koffer abgesehen«, stellte Francis fest.

»Sehr richtig, Mister Overseas«, gab der Hoteldetektiv zu, »ich war also so frei, Ihr Zimmer zu betreten. Da ich immer noch hoffte, Sie würden während der Nacht zurückkommen, tat ich es allerdings erst in den frühen Morgenstunden des heutigen Tages. Ich konnte den Koffer jedoch zuerst nicht entdecken. Aber da war dann noch der verschlossene Kleiderschrank. Daß der Schlüssel abgezogen war, machte die Sache verdächtig. Ich öffnete also —«

»Haben Sie den Schlüssel gefunden?« wollte Peter wissen.

»Das war nicht nötig«, lächelte Herr Meyer von 477, »ich bin im Öffnen von verschlossenen Türen ziemlich erfahren.«

»—dann haben Sie den Koffer entdeckt, aufgemacht und das Geld einfach heraus genommen«, entrüstete sich Peter, so als ob ihm Herr Meyer von 477 seine Armbanduhr gestohlen hätte.

»Entschuldigen Sie, aber ein Kleiderschrank erschien mir als Aufbewahrungsort für so viel Geld etwas gefährlich«, bemerkte der Hoteldetektiv. »Im übrigen besorgte ich den Geldtransport per Aktentasche. Ich mußte mehrmals gehen. Beim letztenmal trafen Sie mich, als Sie heute früh aus dem Aufzug stiegen. Vielleicht erinnern Sie sich?«

»Sie kamen uns auf dem Korridor entgegen.«

»Und zum Glück hatte ich gerade alles wieder in Ordnung gebracht. Wegen der Adreßbücher wurde ich übrigens eine Stunde später zur Zentrale gerufen. Man glaubte, sie seien gestohlen, und ich sollte mich darum kümmern. Sie müssen so bald wie möglich ins Hotel zurück, Herr Kommissar!«

Kriminalkommissar Lukkas saß hinter seinem Schreibtisch und sagte kein Wort. Er knurrte nur wie eine Katze, bevor sie losspringt.

»Der Rest ist schnell aufgeklärt«, fuhr Herr Meyer von 477 unbeirrt fort. »Ich nahm mir vor, den jungen Herren heute im Laufe des Vormittags auf den Zahn zu fühlen. Die Sache mußte mit dem Bankraub zusammenhängen, das war mir klar. Die Summe des geraubten Geldes deckte sich genau mit dem, was ich im Koffer vorgefunden hatte. Ich ging also gegen elf Uhr zum Zimmer 310 und klopfte. Was sich dann ereignete, ist Ihnen ja bekannt.« Herr Meyer lehnte sich in seinen Stuhl zurück, ließ seine Daumen Ringelreihen spielen und sah an die Decke.

»Ich bin eine Seele von Mensch«, behauptete Kriminalkommissar Lukkas, er war gerade dabei, sich wieder einmal eine dicke Zigarre anzuzünden, »und ich habe, wenn es sein muß, eine Geduld wie fünfzig indische Elefanten. Aber wenn Sie nicht endlich mit der Sprache herausrücken und sagen, wo das Geld jetzt ist, jetzt in diesem Augenblick — dann garantiere ich für nichts mehr!«

Da klopfte es, und so ziemlich im gleichen Augenblick kam ein Herr zur Tür herein, wedelte mit den Armen in der Luft herum und rief: »Wir haben sie wieder!« Es stellte sich heraus, daß er die einhundertzweiundvierzigtausend Mark meinte und daß es sich bei dem Herrn um Direktor Degenhart von der »Internationalen Handels- und Creditbank« handelte.

»Stellen Sie sich vor, wir bekommen einen Anruf, und eine Stimme sagt am Telefon, wir möchten doch so freundlich sein und an der Kasse des Hotels ATLANTIC das geraubte Geld abholen. Und dann war die Stimme wieder weg! Wir glaubten natürlich kein Wort. Aber wir läuteten im ATLANTIC an und fragten nach. Und was denken Sie, was man uns sagt?«

»Es stimmt, das Geld liegt im Hotel-Tresor, und wir erwarten Sie!« sagte Kriminalkommissar Lukkas und zog an seiner Zigarre.

»In der Tat!« rief Direktor Degenhart. »So war es! Und das Geld war noch so, als ob es überhaupt nicht angerührt worden wäre!«

»Lediglich dreihundert Mark fehlten«, beschloß Direktor Degenhart seinen Bericht. Dann sah er sich plötzlich um und in all die fremden Gesichter. »Entschuldigen Sie, meine Herren, wenn ich mich nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Degenhart.« Er ging von einem zum anderen und gab jedem die Hand: »Degenhart« — »Degenhart« — »Degenhart«.

»Ich schlage vor, Sie nehmen erst mal Platz«, sagte Kriminalkommissar Lukkas. »Wenn Sie jetzt zuhören, ist die Sache gar nicht mehr geheimnisvoll, und Sie wissen dann auch, wer Ihre Belohnung zu bekommen hat. Kühnast, Sie schreiben mit!«

Nun mußten der Sheriff, Peter und Francis die ganze Geschichte vom Anfang an und bis in alle Einzelheiten erzählen.

Als Peter an die Stelle kam, an der Spitzbart als Kriminalkommissar bei den Pfannroths auftauchte, lehnte sich Kriminalkommissar Lukkas auf seinen Schreibtisch. »Ich weiß ja schon so ziemlich Bescheid, aber jetzt bin ich doch gespannt, woran du gemerkt hast, daß dieser Spitzbart ein Halunke ist und mit der Kriminalpolizei nichts zu tun hat. Hättest du das nämlich nicht gemerkt, wäre der Kerl über alle Berge und das Geld ebenfalls.«

»Irrtum!« berichtigte Hoteldetektiv Meyer, »nicht das Geld, die Adreßbücher!«

»So gesehen, war das von Ihnen eigentlich gar nicht dumm«, überlegte Francis.

»Schönen Dank für die Anerkennung!« lachte Herr Meyer von 477, und die Herren Degenhart und Lukkas lachten mit.

»Also wie hast du’s gemerkt?« fragte der Kriminalkommissar.

»Ich sagte doch, daß der Koffer unter dem Sofa lag, auf dem der Spitzbart die ganze Zeit saß. Gut! Als ich den Koffer hervorholen wollte und mich bückte, und wie ich nach dem Koffergriff unter das Sofa faßte, sah ich die Schuhe des vermeintlichen Kommissars; sie standen dicht vor meiner Nase.«

»Na und?« fragte Bankdirektor Degenhart.

»Da sagte ich mir, die Schuhe kennst du doch! Sie müssen wissen, wenn man zwei Jahre lang Schuhe geputzt hat, guckt man den Leuten beinahe mehr auf die Füße als ins Gesicht. Also kurz und gut, die Schuhe, die der Spitzbart anhatte, waren aus Schlangenleder, und an der Gummisohle fehlte ein Stück.«

»Das ist wie im Kino!« platzte der Sheriff dazwischen.

»Das sind die Schuhe, die du geputzt hast, als der Bankraub geschah, fuhr es mir auf einmal in den Kopf! Damals hatte der Kerl allerdings keinen Spitzbart. Als ich wieder aufstand, peilte ich den Burschen also haarscharf an. Und da sah ich, daß der Spitzbart gar nicht echt war. Wenn man genau hinsah, konnte man es erkennen.«

»Alle Achtung!« meinte Kriminalkommissar Lukkas und paffte eine Rauchwolke in die Luft.

»Ich schließe mich an!« lächelte Herr Meyer von 477, »alle Achtung!«

»Ebenfalls«, sagte Bankdirektor Degenhart schließlich, »alle Achtung!«

Und dann sagte Kriminalkommissar Lukkas: »Weiter!« Als die drei Jungen mit ihrer Geschichte fertig waren, sah Peter auf seine Armbanduhr. »Menschenkinder, es ist fünf Minuten nach drei!«

»Entschuldigung, aber dann müssen wir abhauen!« gab der Sheriff bekannt und wollte schon zur Tür.

»Ich brauche noch Ihre Anschrift, Herr Pfannroth«, meinte Bankdirektor Degenhart. »Und es bleibt dabei, Mister Overseas, daß Sie auf Ihren Anteil bei der Belohnung zugunsten Ihres Freundes Pfannroth verzichten?«

»Dabei bleibt es«, sagte Francis.

»Die Adresse habe ich«, stellte Kriminalkommissar Lukkas fest. »Aber was anderes muß ich euch noch schnell fragen«, er stand auf und spazierte auf die drei Jungen zu, »daß das ganze, trotz allem, ein bodenloser Leichtsinn von euch war, ist euch doch wohl klar?«

Die drei Jungen sagten nichts, aber sie nickten mit den Köpfen.

»Und beim nächstenmal?« wollte Kriminalkommissar Lukkas wissen.

»Die Polizei, dein Freund, dein Helfer!« rief der Sheriff und grinste über sein ganzes Gesicht. »Im übrigen müssen wir jetzt wirklich los!«

»Laßt euch nur nicht k. o. schlagen!« rief Kriminalkommissar Lukkas noch. Aber das hörten die drei schon nicht mehr.

Sie rannten bereits über den Korridor und an einer Unmenge von Türen vorbei zum Haupteingang.

Als sie dann auf der Straße waren und zu Jimmy in den Wagen sprangen, notierte sich Bankdirektor Degenhart auf Zimmer 247 gerade Peters Adresse, und Kriminalkommissar Lukkas rief: »Informieren Sie die Presse, Kühnast!«

Als Herr Degenhart die Pfannrothsche Adresse in sein Notizbuch geschrieben hatte, verabschiedete er sich.

Kurz vor der Tür blieb er noch einmal stehen, schüttelte den Kopf und sagte: »Famose Bengel, diese drei. Schade, daß man so was nicht irgendwo kaufen kann!« Dann setzte er sich seinen Hut auf und ging davon.

Mister Overseas fällt vom Himmel — und zwar mitten in die Meisterschaft

Mitten im Stadtpark gab es einen großen runden Platz mit einem Gartenrestaurant und einem Pavillon. Sonntags spielten hier die Musikkapellen der Polizei oder der Feuerwehr, je nachdem, wer an der Reihe war.

Für heute hatte man den Musikpavillon zu einem Boxring umgebaut, und rund um ihn herum waren eine Menge Stühle und Bänke aufgestellt worden. Diese Stühle und Bänke waren jetzt gerammelt voll. Und wer keinen Sitzplatz gefunden hatte, stand auf den Kieswegen oder drüben im Gartenrestaurant auf den Treppen. Frauen mit Limonadeflaschen in der Hand spazierten durch die Gegend, und vier oder fünf Männer verkauften Eis am Stiel und heiße Würstchen. Über dem Ganzen blühten die Kastanienbäume.

Da es um die Meisterschaft ging, hatten einige Zeitungen ihre Sportredakteure geschickt. Die saßen am Ring und machten sich Notizen. Zwei Fotografen schossen immer wieder mal mit ihren Blitzlichtkameras um sich. Dem Lärm nach zu urteilen, herrschte eine ausgezeichnete Stimmung.

Solange geboxt wurde, schrie und brüllte das Publikum wie auf einem Fußballplatz. In der Pause zwischen den Runden erholte es sich.

Währenddessen ertönte dann aus dem Lautsprecher Schallplattenmusik.

Fleischermeister Winkelmann stand vor dem Eingang, holte immer wieder seine goldene Taschenuhr aus der Weste und trat von einem Bein aufs andere.

In ziemlich gleichen Abständen tauchte immer wieder ein Mann mit einer Brille bei ihm auf und drohte: »Wenn Ihre Mannschaft spätestens in fünf Minuten nicht vollständig ist, wird sie disqualifiziert!« Der Mann war vom Boxerverband für Amateure, und wenn die fünf Minuten um waren, kam er jedesmal zurück und sagte immer wieder genau das gleiche.

Dicht am Ring saß Mutter Pfannroth zwischen den Schuhputzer jungen auf einer der Astoria-Bänke.

»Es gibt eine Katastrophe!« piepste der Admiral gerade und rutschte auf seinem Platz hin und her.

»Mal was anderes«, meinte Mutter Pfannroth. Sie hatte den Kopf im Nacken, als ob sie dicht vor einer Kinoleinwand säße oder als ob sie sich rasieren lassen wollte. Aber in Wirklichkeit guckte sie über sich in die Kastanienbäume. Ihre Blüten sahen aus wie kleine Christbäume aus Schlagsahne.

Am Eingang kreuzte der Mann vom Boxerverband zum sechsten Mal bei Herrn Winkelmann auf, da hupte es, und das Overseassche Flugzeugmutterschiff kam um die Kurve.

»Gott sei’s getrommelt!« rief Meister Winkelmann und steckte seine goldene Taschenuhr wieder weg.

»Fix, Kinderchen! Wir sind schon beim Leichtgewicht!«

»Und was für eine Entschuldigung haben die Herren?« wollte der Mann vom Boxerverband wissen.

»Wir mußten noch schnell die Bankräuber hopp nehmen!« rief der Sheriff.

»Aber sonst geht’s euch gut?« fragte der Mann mit der Brille.

»Danke, ausgezeichnet!« rief Peter noch hinter sich.

Die drei Jungen waren mit Herrn Winkelmann nämlich schon auf dem Weg zum Umkleideraum. Und zwar im Laufschritt.

Eine knappe Viertelstunde später setzte sich der Fleischermeister neben Frau Pfannroth an den Ring.

Die Leichtgewichtler gingen eben in ihre dritte Runde. »Sind sie da?« flötete der Admiral neugierig.

»Sonst säße ich nicht hier!« meinte Herr Winkelmann und rückte zur Seite, damit zwischen ihm und Mutter Pfannroth ein Platz frei würde. In diesem Augenblick kam nämlich auch Francis vom Umkleideraum zurück. »Schönen Dank!« sagte der und setzte sich.

»Wenigstens seid ihr erst mal wieder da!« stellte Mutter Pfannroth fest und sah Francis an.

»Ich denke«, schlug Fleischermeister Winkelmann vor, »Mister Overseas erzählt uns erst einmal schnell die ganze Geschichte von A bis Z.«

»Worum ich ebenfalls gebeten haben möchte!« sagte Mutter Pfannroth und spitzte ihre Ohren, denn Francis begann zu berichten.

Nach der nächsten Schallplattenmusik kletterte der Sheriff in den Ring, und eine Viertelstunde später war dann auch Peter an der Reihe.

Beide hatten wenig Glück. Sie bekamen die Nasen voll und verloren nach Punkten.

Aber dafür waren ja alle anderen Astorianer siegreich geblieben, und als das »Kindergesicht« auch den letzten Kampf wieder für die Astorianer entscheiden konnte, war die Meisterschaft gesichert.

Fleischermeister Winkelmann mußte mit seiner ganzen Mannschaft in den Ring und bekam einen goldenen Siegerkranz über die Schultern gelegt.

»Astoria!« rief es von allen Seiten.

»Hepp! Hepp! Hepp!«

Die zwei Reporter blitzten mit ihren Kameras, der Mann vom Boxerverband schüttelte jedem Kämpfer die Hand, und dabei gab es pro Mann eine Urkunde und einen Gutschein auf ein Paar Turnschuhe.

Die Leute riefen noch einmal »Hepp! Hepp! Hepp!« und klatschten noch einmal Beifall. Dann fing alles an, auseinanderzulaufen.

»Hallo!« sagte in diesem Augenblick eine Stimme dicht hinter Francis, und gleichzeitig legte sich eine Hand auf seine Schulter.

Francis fuhr wie elektrisiert herum.

»Da staunst du, was?«

»Daddy!« rief Francis und starrte seinen Vater an, als sei der gerade vom Himmel gefallen. Aber so ähnlich verhielt es sich ja auch.

»Wann bist du gekommen?«

»Vor einer Stunde gelandet!« lachte Mister Overseas.

»Aber wie hast du rausgekriegt, wo ich stecke?«

Mister Overseas zeigte mit seiner Zigarre zur Seite.

Und da stand in einer Entfernung von zwei oder drei Metern Herr Meyer von 477. Als er jetzt bemerkte, daß Francis zu ihm herübersah, zog er seinen Hut. Aber dann tat er gleich wieder so, als interessiere ihn auf der ganzen Welt nichts als seine weiße Nelke, die er im Knopfloch hatte.

»Ein gescheiter Junge«, stellte Mister Overseas fest und zwinkerte mit dem linken Auge.

»Hat er —«, fragte Francis vorsichtig, »ich meine, hat er irgend etwas gesagt?«

»Alles!« gab Mister Overseas zu. »Und ich bin beinahe vom Stuhl gefallen vor Schreck!«

»Aber Daddy, so schlimm war’s doch nicht!«

»Ich danke für Obst und Südfrüchte!« meinte Mister Overseas. »Mir hat’s genügt!«

»Mir auch!« stimmte Mutter Pfannroth bei und drehte sich um. »Entschuldigung, aber so dicht wie man hier aufeinander steht, hab’ ich jedes Wort mitgehört. Ob ich’s wollte oder nicht.«

»Das ist Frau Pfannroth«, stellte Francis jetzt vor, »und das ist Herr Winkelmann.«

»Angenehm«, versicherte Mister Overseas und machte sich ans Händeschütteln. Das dauerte eine ganze Weile, denn nach Mutter Pfannroth und Herrn Winkelmann kam auch noch der Admiral an die Reihe und schließlich einer nach dem anderen von den Schuhputzerjungen.

»Das seid ihr also?« fragte Mister Overseas, zog an seiner Zigarre und sah sich beim Händeschütteln jeden Jungen genau an.

»Allerdings, das sind wir!« grinste der kleine Horst Buschke zu Mister Overseas hinauf, als er ihm die Hand gab. Schließlich gingen alle zusammen zum Umkleideraum hinüber.

»Steht Ihnen gut!« flötete der Admiral und tanzte um Herrn Winkelmann herum. Der Fleischermeister hatte nämlich immer noch den goldenen Siegerkranz umhängen und stolzierte durch die Gegend wie ein prämierter Mastochse.

»Ich kann das Ding doch nicht in die Tasche stecken!« entschuldigte er sich.

»Natürlich nicht!« lachte Mutter Pfannroth.

Mister Overseas ging mit seinem Sohn Arm in Arm, doch plötzlich nahm er seine Zigarre aus dem Mund und blieb stehen. Gleichzeitig blieben auch alle anderen stehen.

Da kam nämlich ein Mann in einem schwarzen Anzug quer über den Rasen gerannt. Und dabei waren überall Schilder aufgestellt, daß das Betreten des Rasens verboten sei.

Der Mann ruderte mit den Armen durch die Luft und kam schnell näher. Als er ganz heran war, stellte es sich heraus, daß er eine randlose Brille trug.

»Entschuldigung«, japste er, »ich suche diese Boxveranstaltung! «

»Die ist gerade vorbei!« stellte Fleischermeister Winkelmann fest.

»Ich glaube, wir kennen uns«, sagte jetzt Francis und schob sich nach vorne.

»Allerdings, Mister Overseas«, strahlte der Mann im schwarzen Anzug. »Gott sei Dank, daß ich Sie gefunden habe! Mein Name ist übrigens Kühnast, Kriminalassistent beim Polizeipräsidium.« Er verneigte sich nach allen Seiten. »Sie müssen sofort mitkommen und die Herren Pfannroth und Schlotterbeck ebenfalls.«

»Wieso, wo brennt’s denn?« wollte Francis wissen.

»Seitdem ich die Presse angerufen habe, ist der Teufel los«, berichtete Kriminalassistent Kühnast. »Alle Zeitungen sind rein verrückt nach euch. Entschuldigung, ich meine natürlich, nach Ihnen. Die Reporter rennen uns die Bude ein, und um sie los zu werden, wollten wir sie eigentlich einfach hierher schicken. Aber dann stellten wir telefonisch fest, daß die Boxkämpfe schon vorbei waren.« Kriminalassistent Kühnast fuhr sich mit seinem Taschentuch über die Stirn. »Und jetzt ist es so, daß Kriminalkommissar Lukkas den Zeitungsleuten versprochen hat, er würde euch, ich meine Sie, auftreiben, und zwar bis fünf Uhr. Da sind sie dann alle wieder da. Sogar die Wochenschau will kommen, und ich fliege unter Garantie, wenn ich ohne Sie und die Herren Pfannroth und Schlotterbeck zurückkomme.«

»So — und an mir ist die Presse nicht interessiert?« fragte der kleine Horst Buschke. »Immerhin hab’ ich das Überfallkommando geholt.«

»— das dann zu spät gekommen ist«, grinste der Junge mit den roten Haaren, der Euler hieß.

»Mein Gott, das soll jetzt auch noch alles in die Zeitung?« stöhnte Mutter Pfannroth. »Womöglich mit den richtigen Namen!«

Währenddessen war so ziemlich die ganze Meister-Mannschaft vom Umkleideraum herübergekommen. Die Jungen hatten ihre Boxhandschuhe unter die Arme geklemmt. Im übrigen waren ihre Haare noch naß.

Als Mutter Pfannroth ihren Jungen entdeckte, holte sie nur tief Atem. »In die Arme nehme ich ihn heute abend, wenn wir allein sind«, dachte sie, und dann sagte auch schon Mister Overseas: »Hallo, da ist ja unser junger Freund!«

»Guten Tag, Mister Overseas«, grüßte Peter und bekam wieder einmal einen knallroten Kopf.

»Daddy weiß alles«, erklärte Francis, und dann erzählte er gleich, weshalb Kriminalassistent Kühnast gekommen war.

»Natürlich geht ihr hin«, meinte Fleischermeister Winkelmann.

»Einen Moment!« rief der Sheriff, und dann zogen sich die drei zu einer kurzen Beratung zurück.

Anschließend fuhr sich Francis durchs Haar und sagte: »Es tut mir leid, Herr Kühnast.«

»Sie wollen doch nicht sagen?« fragte der Kriminalassistent ängstlich und fingerte an seiner Brille herum.

»Es tut mir leid, wie gesagt, aber wenn die Sache so liegt, werden Sie wohl fliegen!«

»An der Geschichte waren nämlich alle Jungen beteiligt«, fuhr Peter fort. »Und wir drei kommen nur, wenn auch alle anderen eingeladen werden.«

»Genauso ist es!« sagte der Sheriff noch zum Schluß. »Vielleicht sind Sie so freundlich, das Herrn Lukkas auszurichten?«

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllten die Schuhputzerjungen und drängten sich begeistert um Francis, Peter und den Sheriff.

»Bravo!« klatschte Mutter Pfannroth in die Hände, und Herr Winkelmann klatschte mit.

»Ich werde Kriminalkommissar Lukkas unterrichten«, sagte Herr Kühnast, zog seinen Hut und wollte gehen. Aber da rief Mister Overseas: »Noch einen Augenblick, wenn ich bitten darf!«

»Mein Herr?« sagte Kriminalassistent Kühnast und blieb stehen.

»Um fünf Uhr sind die Zeitungsleute bei euch?«

»Sehr richtig.«

»Gut« überlegte Mister Overseas und zog an seiner Zigarre. »Dann sagen Sie den Herren, daß sie die Jungen und alles, was zu ihnen gehört, im Hotel ATLANTIC antreffen können.« Mister Overseas sah sich lächelnd um. »Das heißt, wenn Sie meine Gäste sein wollen?«

»Im ATLANTIC?« fragte der kleine Horst Buschke.

»Wo denn sonst?« meinte der Sheriff und guckte in die Kastanienbäume. Aber dann grinste er plötzlich, warf seine Arme in die Luft und rief: »Drei Hepp für Mister Overseas!«

»Hepp! Hepp! Hepp!« brüllten die Jungen, und Mutter Pfannroth und Herr Winkelmann brüllten mit.

Eine Pressekonferenz im »Roten Salon«

Die Zeitungsleute waren wirklich reinweg verrückt.

Schon eine gute Viertelstunde vor fünf Uhr standen sie sich im Dienstzimmer von Kriminalkommissar Lukkas gegenseitig auf den Füßen wie in einem überfüllten Eisenbahnabteil, auch noch draußen auf dem Korridor.

Die Lokalredakteure der Tageszeitungen hatten gleich ihre Pressefotografen mitgebracht und die Wochenschauen ihre Filmkameras. Drunten im Hof der Kriminalpolizei parkte der Übertragungswagen des Rundfunks, und im letzten Augenblick kamen auch noch die Berichterstatter der Illustrierten.

»Es tut mir also außerordentlich leid, daß Sie sich vergeblich hierher bemüht haben«, stellte Kriminalkommissar Lukkas gerade fest, »aber ich kann es nicht ändern.«

»Wie bitte?« rief eine ältere Dame vom Korridor her. Sie kam von der »Stimme der Hausfrau« und hörte schlecht.

»— nicht ändern!« wiederholte Kriminalkommissar Lukkas laut.

»Also, auf ins ATLANTIC!« schlug der Lokalredakteur vom »8-Uhr-Blatt« vor.

»Let’s go!« pflichtete ihm ein Herr bei, der einen Wolkenkratzer auf seiner Krawatte hatte. Er vertrat ein amerikanisches Magazin.

»Für die Herrschaften, die kein Fahrzeug haben, übernimmt die Kriminalpolizei den Transport!« gab Kriminalkommissar Lukkas noch bekannt, und dann setzte man sich in Bewegung. Fünf Minuten später rollte eine regelrechte Autokarawane aus dem Hof der Kriminalpolizei, voraus der Wagen des Überfallkommandos mit blauen Warnlichtern und Sirene. Alle übrigen Polizeiautos waren nämlich zu klein gewesen. »Das ist nicht ganz vorschriftsmäßig«, lachte Kriminalkommissar Lukkas, »aber ich hoffe, Sie verraten mich nicht, meine Herrschaften!«

»Wir werden’s uns überlegen«, meinte die hellblonde Dame von der »Morgenpost«, die wieder einmal ihr Pepita-Kostüm trug. Als Wagenmeister Krause die Sirene hörte, sperrte er sofort die Straße ab und hielt einen englischen Wagen zurück, der gerade losfahren wollte.

»Pardon Mister, aber da kommt die Feuerwehr oder so etwas Ähnliches, und da muß alles halten!«

»O.k.«, meinte der Engländer und sah sich gelangweilt um.

»Ist gar nicht die Feuerwehr!« rief jetzt Wagenmeister Krause, »das ist das Überfallkommando, und es sieht so aus, als —«

Das Polizeiauto kam jetzt direkt auf den Wagenmeister zu und zog vor dem Hoteleingang die Bremsen.

»Brennt’s irgendwo, oder was ist los?« rief Herr Krause.

»Kein Grund zur Aufregung«, antwortete Kriminalkommissar Lukkas und war den Zeitungsleuten beim Aussteigen behilflich. Dann marschierte er mit ihnen zur Drehtür.

»Sind das alles Kriminalbeamte?« fragte Wagenmeister Krause neugierig.

»Aber nicht weitersagen!« bat die Dame von der »Morgenpost« und tippelte schnell hinter den anderen her.

Die Wagen der Wochenschauen und der Übertragungswagen vom Rundfunk kamen gleich hinterher. Sie blieben einfach stehen.

»Entschuldigung, das geht aber nicht!« protestierte Wagenmeister Krause.

Aber die Film- und Rundfunkleute waren ganz offenbar schwerhörig. Sie rührten sich nicht vom Fleck und fingen jetzt auch noch an, eine Unmenge Kabel abzurollen und auszulegen, quer über den Bürgersteig, über die Treppe und direkt durch die gläserne Drehtür, deren Flügel aufgeklappt worden waren.

Direktor Adler erwartete die Zeitungsleute in der Halle. »Bitte links zum Roten Salon«, sagte er immer höflich, wenn wieder jemand durch die Drehtür kam und sich fragend umschaute. Zwischendurch sagte er allerdings zum Chefportier Krüger: »Als ob die Königin von England heute bei uns Kaffee trinken würde!« Im »Roten Salon« hatte man die weiß gedeckten Tische zu einem Hufeisen zusammengestellt. An diesen Tischen saßen die Schuhputzerjungen, tranken Kakao und futterten Erdbeerkuchen oder Sahnetorte.

An der Querseite des Hufeisens präsidierte Mister Overseas. Rechts neben sich hatte er Mutter Pfannroth und links den Fleischermeister Winkelmann.

Und weil ja alle, die zu den Jungen gehörten oder irgend etwas mit der Bankgeschichte zu tun hatten, dabei sein sollten, saß Vater Kuhlenkamp Mister Overseas gegenüber. Der Admiral saß unter den Jungen, und zwar zwischen Peter und Francis.

Der Sheriff hatte noch Herrn Theobald von der Firma »BLITZ-BLANK« aufgetrieben, und Peter hatte mit dem Overseasschen Wagen noch Frau Sauerbier aus ihrem Laden geholt.

Immerhin war der Schuhwichsevertreter ja der »Schwarzen Rose« in den Arm gefallen, als sie mit ihrer Pistole gedroht hatte, und Frau Sauerbier war in der Pfannrothschen Wohnung dabeigewesen, als es dort um die Wurst gegangen war, beziehungsweise um den Koffer mit den einhundertzweiundvierzigtausend Mark.

Und schließlich hatte Francis auch noch den hellblonden Conny Kampendonk von der Pagenbank geholt, weil er vor der schwarzen Limousine gewarnt und ihre Nummer aufgeschrieben hatte.

»Prost, Gemeinde!« grinste gerade der kleine Horst Buschke und trank seine Kakaotasse leer. Als er sie zurückstellte, war schon ein Kellner hinter ihm und goß sie wieder voll.

»Das ist ja unheimlich«, flüsterte Horst Buschke und schielte hinter sich.

Da standen die Kellner wie Soldaten nebeneinander in einer Reihe, angetan mit weißen Schlipsen und Kakaokannen oder Kuchentellern in der Hand.

Als die ersten Zeitungsleute kamen, ging ihnen Mister Overseas entgegen, begrüßte sie und bat sie, Platz zu nehmen. »Vorerst sind Sie einmal unsere Gäste«, lachte er.

»Sehr freundlich!« bedankten sich die Zeitungsleute und packten ihre Notizbücher, ihre Fotoapparate oder ihre Mikrophone wieder in die Taschen. Dann setzten sie sich, wo sie gerade Platz fanden.

»Bitte zu uns!« rief der Sheriff und sprang auf, als Kriminalkommissar Lukkas nach einem Platz an der Festtafel suchte.

»Mit Vergnügen«, schmunzelte der Kriminalkommissar und setzte sich zu den zwei Detektiven und dem Sheriff.

Als es niemand bemerkte, winkte Francis einem Kellner und flüsterte ihm etwas zu. Der Kellner verschwand und kam dann mit einer besonders dicken, schwarzen Zigarre zurück.

»Bitte, Herr Kommissar«, grinste Francis, »bedienen Sie sich!«

»Sehr aufmerksam, Mister Overseas!« bedankte sich Kriminalkommissar Lukkas und ließ sich Feuer geben. Inzwischen kam der Rundfunk mit seinen Kabeln und die Wochenschau mit ihren Filmkameras und ihren Scheinwerfern.

Und jetzt wurden die Jungen auf ihren Stühlen allmählich unruhig. Die Presseleute übrigens auch. Schließlich waren sie ja nicht gekommen, um Kaffee zu trinken und Erdbeertorte zu essen. Zu Hause warteten ihre Redaktionen.

»Wenn ich mir den Vorschlag gestatten darf«, wagte gerade die Dame von der »Morgenpost« zu sagen, da ging die Tür auf, und zwei Herren traten ein: Direktor Degenhart von der »Handels- und Creditbanlc« und Herr Meyer von Zimmer 477.

»Es hat leider etwas länger gedauert«, entschuldigte sich der Hoteldetektiv bei Mister Overseas.

»Ich saß gerade in der Badewanne«, lachte Direktor Degenhart. »Dazu komme ich immer nur am Samstagnachmittag.«

»Jedenfalls sind wir jetzt vollzählig!« stellte Mister Overseas fest. »Es kann also losgehen.«

»Entschuldigung!« rief Peter. »Direktor Adler und Chefportier Krüger fehlen noch!« Er rannte los und kam gleich darauf mit den beiden Herren zurück.

»Sehr freundlich«, bemerkte Direktor Adler und setzte sich. Herr Krüger blieb neben ihm stehen. Schließlich war er im Dienst.

Mister Overseas klopfte jetzt mit einem Kaffeelöffel an seinen Kuchenteller und stand auf. »Sehr geehrte Herrschaften —« Weiter kam er nicht.

Im gleichen Augenblick riefen nämlich andere Stimmen: »Einschalten!« Der Ruf wurde draußen in der Halle bis zu den Wagen der Wochenschauen vor dem Haupteingang weitergegeben. Dann flammten plötzlich im »Roten Salon« die aufgestellten Scheinwerfer auf. Gleichzeitig setzte der Rundfunk sein Mikrophon unter Strom.

Mister Overseas klopfte jetzt ein zweites Mal an seinen Kuchenteller und wiederholte noch einmal: »Meine sehr geehrten Herrschaften!« Er machte eine Pause und sah sich um. Aber jetzt störte ihn niemand mehr. Da fuhr er fort: »Ich begrüße Sie im Namen der Jungen, derentwegen Sie hier sind. Bitte, sie stehen Ihnen jetzt zur Verfügung.«

Mister Overseas breitete lächelnd seine Arme aus, wie kurz zuvor noch Wagenmeister Krause, als er vor dem Hotel die Straße absperrte. Dann setzte er sich. Zuerst mußte jetzt Kriminalkommissar Lukkas die ganze Geschichte erzählen. Anschließend kamen Peter, Francis und der Sheriff an die Reihe.

Während die drei sprachen, machten sich die Zeitungsleute Notizen, blitzten die Bildreporter mit ihren Fotoapparaten und surrten die Kameras der Wochenschauen. Der Mann vom Rundfunk schlich wie ein Indianer über den Teppich und hielt jedem, der gerade den Mund aufmachte, sein Mikrophon unter die Nase. Zum Schluß sagte Peter: »So war es«, und Francis nickte nur.

»Das ist die tollste Geschichte, die mir je in die Finger gekommen ist!« rief die Dame im Pepita-Kostüm und hatte vor Aufregung einen ganz roten Kopf.

Bankräuber stolpert über seine Schuhe, notierte sich der Herr vom »8-Uhr-Blatt« schon als Schlagzeile, und die ältere Dame von der Hausfrauenzeitung japste aufgeregt: »Das ist genau das, was die Leute lesen wollen!« Sie sprang auf und rannte zu den zwei Detektiven hinüber, um sie noch mehr auszufragen. Aber sie kam zu spät. Inzwischen hatten sich nämlich schon sämtliche Fotografen auf die Jungen gestürzt.

Was diesen Burschen einfiel, war zum auf die Bäume klettern!

Es fing damit an, daß ein langer Kerl mit einer schwarzen Hornbrille die Idee hatte, Peter solle seine Pagenuniform anziehen.

Peter sah zu Direktor Adler hinüber, und dann rannte er los. Direktor Adler hatte nämlich genickt. Vielleicht weil er an die Reklame für sein Hotel dachte.

Als Peter zurück war, mußte er sich neben Francis auf den Boden legen und an der Kante eines Klubsessels vorbei zur Tür spähen.

»Stellt euch vor, die Türklinke ist die ,Schwarze Rose’, und sie zielt gerade mit der Pistole auf euch — Achtung!«

Es machte verschiedene Male hintereinander »Klick«, und gleichzeitig flammten mehr als ein Dutzend Blitzlichter auf. »Ausgezeichnet!« stellten die Fotografen fest und transportierten in ihren Apparaten die Filme weiter.

»Jetzt sämtliche Schuhputzerjungen und die zwei mit diesem Sheriff in die Mitte!« schlug ein Bursche in einem bunten Cowboyhemd vor.

Alle Jungen mußten jetzt von ihren Tischen aufstehen und sich wie eine Schulklasse zusammenstellen.

Dann ging das Theater von neuem los.

»Achtung!« rief wieder der Lange mit der Hornbrille, und dann blitzte es wieder, als sei ein Dutzend Streichholzschachteln explodiert.

»Und jetzt vielleicht die Sache mit meinem Scheck?« schlug Direktor Degenhart vor. »Ich meine, wie ich die Belohnung überreiche.«

Die Pressefotografen waren hell begeistert. Sie strahlten, als ob sie im Toto gewonnen hätten.

»Enorm!« rief der Bursche im bunten Cowboyhemd und kramte sein Taschentuch aus der Hose. Er schwitzte nämlich schon.

Direktor Degenhart und Peter mußten sich nebeneinander stellen, und dahinter wurden dann noch Mutter Pfannroth, Francis, der Sheriff und die übrigen Jungen aufgebaut.

»Bitte!« kommandierten die Presseleute.

Direktor Degenhart holte seinen Scheck aus der Tasche und übergab ihn Peter.

Es blitzte wieder einmal von allen Seiten.

Mutter Pfannroth war noch ganz fassungslos. Peter hatte ihr den Scheck gegeben, und sie packte ihn gerade in ihre Handtasche. »Fünftausend Mark! Das ist wie im Märchen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich kann’s noch gar nicht glauben.«

»Aber es ist so!« lächelte Bankdirektor Degenhart. »Und ich gratuliere!«

In diesem Augenblick tauchten auch Mister Overseas, Kriminalkommissar Lukkas und Fleischermeister Winkelmann auf.

»Ebenfalls meinen Glückwunsch«, sagte einer der Herren nach dem anderen.

Das wirkte ansteckend wie ein Frühjahrsschnupfen, und eine ganze Weile wurden den beiden Pfannroths jetzt nur noch die Hände geschüttelt.

»Wie ist das, wenn man mit einem Schlag reich wird?« wollte der kleine Horst Buschke wissen, als er an der Reihe war. Gleich hinterher fragte er dann noch: »Kaufst du dir jetzt ‘n Auto?«

»Ich weiß noch nicht recht«, überlegte Peter und zog ein todernstes Gesicht, »vielleicht ‘n Düsenflugzeug.«

»Fein!« rief Mutter Pfannroth. »Sonntagnachmittags gondeln wir dann mal schnell nach Afrika rüber und schnappen frische Luft!«

Mister Overseas wollte sich ausschütten vor Lachen, und Fleischermeister Winkelmann sagte zweimal hintereinander: »Zuzutrauen wäre es ihr! Zuzutrauen wäre es ihr!«

Bankdirektor Degenhart lachte ebenfalls mit. Aber dann fragte er ziemlich neugierig: »Im Ernst, was werden Sie mit dem Geld anfangen?«

Die beiden Pfannroths sahen sich an und wußten nicht recht, was sie sagen sollten.

»Zuerst«, meinte Peter schließlich, »bekommen alle Jungen wieder zurück, was sie mir zu meiner Pagenuniform beigesteuert haben —«

»Und noch was dazu!« fuhr Mutter Pfannroth fort. »Von wegen der Zinsen!«

»— und weil sie doch auch mitgeholfen haben, die ›Schwarze Rose‹ hopps zu nehmen«, überlegte Peter weiter. »Dann muß der Sheriff noch was abkriegen und Conny Kampendonk«

»Und dann?« fragte Direktor Degenhart neugierig weiter.

»dann bekommt Mutter eine elektrische Nähmaschine und ein Paar Schuhe«, antwortete Peter. »Die Schuhe braucht sie nämlich schon ‘ne halbe Ewigkeit. Aber es hat nie gereicht.«

»Papperlapapp!« lachte Mutter Pfannroth. »Du kaufst dir ein neues Fahrrad. Und der Rest kommt auf die Bank, damit du später auf die Hotelschule gehen kannst.«

»Sehr interessant«, sagte in diesem Augenblick der Lokalredakteur vom »8-Uhr-Blatt«. Er hatte schon eine ganze Weile zugehört und schrieb ständig in sein Notizbuch.

»Rührend!« stellte die Dame von der »Morgenpost« fest. »Eine elektrische Nähmaschine für die Mutter.«

»So was schreiben Sie aber ja nicht in die Zeitung!« bat Peter.

»Natürlich nicht«, versprach die Dame im Pepita-Kostüm. Dabei zwinkerte sie allerdings mit dem rechten Auge zu ihren Kollegen.

Als die Zeitungsleute endlich genug gefragt und fotografiert hatten und sich einer nach dem anderen verabschiedete, war es draußen bereits dunkel. Die Neon-Reklame vor dem Hotel brannte schon, und auch die Hochbahnzüge, die drüben über die Lombardbrücke donnerten, hatten Licht.

»Wir sind wieder unter uns!« stellte Mutter Pfannroth fest und sah sich vergnügt um. »Was geschieht jetzt?« Aber die Jungen auf den Stühlen und in den Klubsesseln hatten plötzlich ganz schmale Augen und ließen die Köpfe hängen.

»Vermute, daß die Knaben müde sind!« rief der Admiral und machte einen Handstand, um zu zeigen, wie quicklebendig er noch war.

»Tja«, meinte Mister Overseas, »das Berühmtwerden ist eine anstrengende Sache!«

»Ein Affentheater!« stellte der Sheriff fest und mußte gähnen. Aber als er gegähnt hatte, sagte er gleich: »Von wegen müde, das sieht nur so aus.«

»Trotzdem geht es jetzt in die Klappe!« gab Mutter Pfannroth bekannt und stand auf.

Es dauerte eine ganze Weile, bis man sich verabschiedet hatte. Mister Overseas begleitete seine Gäste vor die Drehtür. Fleischermeister Winkelmann hatte seinen Lastwagen gegenüber auf dem Parkplatz und bestand darauf, jeden Jungen bis vor dessen Haustür zu kutschieren. »Das muß heute so sein!«

»Hepp! Hepp! Hepp!« riefen die Jungen, waren auf einmal wieder hellwach und wollten schon zum Parkplatz hinüber.

In diesem Augenblick hupte es, und eine Taxe bremste direkt vor dem Hoteleingang, daß es nur so quietschte. »Ein Glück, daß Sie noch da sind!« rief der Lokalredakteur vom »8-Uhr-Blatt«. Er war ganz aufgeregt und verlor beim Aussteigen seinen Hut. »Macht nichts!« sagte er, und dann gab er bekannt: »Der Chefredakteur meiner Zeitung hat mich gebeten, Ihnen folgendes mitzuteilen: Das ›8-Uhr-Blatt‹ stellt für sämtliche Jungen einen Sonderomnibus an die Nordsee zur Verfügung und bezahlt ihnen dort den vierzehntägigen Aufenthalt in einem Badeort! Was sagen Sie nun?«

Die Jungen sagten nichts. Aber sie riefen wieder einmal wie aus der Pistole geschossen »Hepp! Hepp! Hepp!« Und die Erwachsenen riefen mit, sogar Mister Overseas.

Darf ich die jungen Herren bitten!

Die nächste Woche wurde greulich.

Dabei war der Sonntag noch ganz erträglich.

Aber das hing damit zusammen, daß sonntags in der ganzen Stadt nur eine einzige Zeitung erschien.

Mit dieser Zeitung fiel Frau Sauerbier den zwei Pfannroths mitten in den Morgenkaffee, sozusagen. Fünf Minuten später kam auch der Sheriff, dann Francis und wieder fünf Minuten später Fleischermeister Winkelmann. Und alle hatten sie die heutige Morgenzeitung in der Hand.

»FÜNFZEHNJÄHRIGE DETEKTIVE FASSEN SCHWARZE ROSE!!!« stand quer über der ersten Seite in großen roten Buchstaben.

Der Sheriff saß auf dem Pfannrothschen Familiensofa und las Zeile für Zeile vor. Als er umblättern mußte, gab es eine kurze Pause.

»Weiter!« japste Frau Sauerbier. Sie hatte vor Aufregung lauter rote Flecken im Gesicht.

Aber auch die anderen hielten den Atem an und waren gespannt wie ein halbes Dutzend Regenschirme.

Als zum Schluß dann doch noch alles gutging, holten sie tief Luft und sagten: »Gott sei Dank!«

Und dann lachten sie plötzlich schallend los, alle miteinander und wie auf Kommando.

Sie hatten nämlich jetzt erst bemerkt, daß sie vor lauter Aufregung alle knallrote Gesichter hatten.

»Dabei ist es unsere eigene Geschichte!« rief Peter.

»Und wir wußten genau, wie sie ausgeht!« lachte Fleischermeister Winkelmann.

»Zu dämlich!« meinte der Sheriff schließlich, und dann wurden die Fotos beguckt.

»Du hättest dich besser kämmen sollen«, meinte Mutter Pfannroth zu Peter. »Im übrigen weiß ich, daß ich nicht gerade schlank bin. Aber so dick, wie es hier auf den Bildern aussieht, bin ich auch wieder nicht!«

»Das kommt vom schlechten Druck«, beeilte sich Fleischermeister Winkelmann zu bemerken.

Die Jungen fanden den Druck ausgezeichnet, aber sie sagten nichts.

Frau Sauerbier allerdings hüstelte etwas anzüglich.

»Komisch, wenn man sich so abgedruckt sieht.« Der Sheriff hielt die Zeitung weit von sich, als ob er weitsichtig wäre.

»— und wenn man sich vorstellt, daß jetzt ein paar tausend Menschen diesen Artikel lesen und sich die Fotos begucken«, überlegte Peter.

»Vielleicht auch mein früherer Klassenlehrer«, überlegte der Sheriff weiter.

»— und meine ganze Kundschaft«, meinte Mutter Pfannroth. »Und meine auch!« sagte Frau Sauerbier.

»Tja, die Presse ist eine Großmacht!« stellte Fleischermeister Winkelmann fest und spielte mit seiner goldenen Uhrkette.

Dann kamen der Nachmittag, die Nacht und schließlich dieser Montagmorgen!

Die Schuhputzerjungen kamen aus ihren Wohnungen, tigerten los, ohne sich was Schlimmes zu denken, und pfiffen sich eins. Bis sie an der ersten Plakatsäule oder am ersten Zeitungskiosk vorbeikamen. Da blieb ihnen dann zuerst einmal die Luft weg, und anschließend zogen sie die Köpfe ein.

Sie tauchten in den Hochbahnen mitten ins dickste Gewühl und machten sich so klein, als ob sie nur Kinderbilletts gelöst hätten.

Sämtliche Zeitungen hatten die Bankraubgeschichte auf ihren ersten Seiten, und zwar mit riesigen Schlagzeilen und ganzen Fotoserien.

Wildfremde Menschen riefen bereits »Guten Morgen, Sheriff!« oder »Wie geht’s, Herr Schlotterbeck?« wenn sie bei ihm vorbeispazierten.

Gegen zehn Uhr kamen drei Schulmädchen, machten einen Knicks und sagten: »Bitte ein Autogramm, Herr Detektiv!«

»Ihr habt wohl ‘n Knall!« sagte der Sheriff. »Verduftet oder ihr könnt was erleben!«

Den übrigen Schuhputzerjungen ging es nicht viel besser. Überall, wo sie saßen, blieben die Leute stehen und stellten die unmöglichsten Fragen. Aber niemand dachte daran, sich die Schuhe putzen zu lassen.

Wenn Peter und Francis im »ATLANTIC« in der Halle auftauchten, schlugen ihnen die Gäste lachend auf die Schultern, und die Damen steckten ihnen Schokolade in die Taschen.

»Es ist nicht zum Aushalten!« stöhnten die beiden Jungen dann und flüchteten auf dem schnellsten Wege wieder in die Overseasschen Hotelzimmer.

Am Donnerstag lief überall die neue Wochenschau an. Fleischermeister Winkelmann ging sonst nur alle Jubeljahre ins Kino. Aber heute knallte er seine Kalbsschnitzelhände zusammen und sagte: »Das muß ich gesehen haben!« Dann kaufte er eine ganze Reihe Parkettplätze im Lichtspieltheater an der Hafenchaussee, telefonierte mit Mister Overseas und sagte auch Mutter Pfannroth Bescheid. Am Abend nach dem Boxtraining lud er alle Schuhputzerjungen wieder einmal auf seinen Lastwagen, und eine Viertelstunde später saßen sie alle nebeneinander vor einer Kinoleinwand und warteten darauf, daß es endlich dunkel würde.

Das Fräulein, das ihnen die Plätze anwies, hatte sie sofort erkannt und flüsterte jetzt schon mit dem übrigen Kinopersonal. Da ging das Licht aus.

»Aha, es geht los!« meinte Mutter Pfannroth aufgeregt und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.

Aber da lief zuerst noch der Reklamefilm einer neuen Zigarettenmarke.

»Daß man sich als Nichtraucher so was ansehen muß!« schimpfte der kleine Horst Buschke, und dann war es endlich soweit.

Zuerst brachte die neue Wochenschau irgendeinen Außenminister, der aus einem Flugzeug stieg, dann eine Überschwemmung in Kanada, eine Atombombenexplosion und schließlich ein Fußballspiel. »Na ja«, meinte der Sheriff ziemlich gelangweilt und kaute an seiner Kinokarte. Bis plötzlich die »Schwarze Rose« über die Leinwand spazierte. Sie wurde gerade aus dem Gebäude der Kriminalpolizei zu einem Gefangenenauto geführt.

»— auf dem Weg zum Untersuchungsrichter«, erklärte die Stimme des Wochenschausprechers.

Im gleichen Augenblick drehte die »Schwarze Rose« ihren Kopf zur Seite. Als ob sie plötzlich die Filmleute entdeckt hätte.

»Und das sind die jungen Detektive«, erklärte die Lautsprecherstimme jetzt.

Gleichzeitig erschien auf der Leinwand der »Rote Salon« vom Hotel »ATLANTIC«. Man sah deutlich, wie alle Jungen mit den Erwachsenen an den Tischen saßen, Kuchen futterten und Kakao tranken. Dann kamen hintereinander die Köpfe von Francis, Peter und dem Sheriff. Sie füllten die ganze Leinwand aus und erzählten, wie alles gekommen war. Anschließend sah man, wie Direktor Degenhart den Scheck über die fünftausend Mark Belohnung aus seiner Tasche holte, und zum Schluß kam wieder ein Bild, das alle Jungen und Erwachsenen zusammen zeigte. Dieses Bild stand ziemlich lange, und man konnte sich wie in einem Familienalbum jedes einzelne Gesicht in Ruhe angucken: Mutter Pfannroth, Mister Overseas, Herrn Winkelmann, Peter, Francis, den Sheriff, Kriminalkommissar Lukkas, den Admiral und so weiter.

Als das Licht wieder anging, stand plötzlich ein Mann auf der Bühne und sagte: »Sehr geehrte Herrschaften, ich habe erfahren, daß die jungen Detektive, die Sie gerade gesehen haben, persönlich anwesend sind.«

Das Publikum wurde unruhig und guckte sich um. Gleichzeitig rutschten in einer ganz bestimmten Parkettreihe fünfundzwanzig Jungen so tief wie möglich in die Stühle.

Der Mann vor der Leinwand lächelte und bat um Ruhe. Dann sagte er: »Darf ich die jungen Herren bitten, sich hier auf der Bühne zu zeigen?«

»Quatschkopf!« knurrte der Sheriff, und der kleine Horst Buschke meinte: »Wir sind doch keine Affen!«

Aber jetzt wußten alle Kinobesucher, wo die Detektive saßen. Man applaudierte, und schließlich half alles Sträuben nichts mehr. Die Jungen mußten im Gänsemarsch durchs ganze Kino und dann hintereinander auf die Bühne klettern.

»Es freut mich, Sie hier begrüßen zu dürfen«, sagte der lächelnde Mann und gab jedem Jungen die Hand. Währenddessen klatschte das ganze Kino in die Hände und rief »Bravo!«

»Schönen Dank!« sagte der Kinotheaterbesitzer nach einer Weile, und dann durften die Jungen wieder auf ihre Plätze zurück.

»Jetzt platzt mir der Papierkragen!« rief der Sheriff und sah sich finster um. »So geht das nicht weiter. Ich bin für eine Generalversammlung, und zwar sofort!«

»Und der Hauptfilm, der jetzt drankommt?« fragte der kleine Horst Buschke.

»Interessiert im Augenblick nicht!« meinte der Sheriff und zog los.

Die Generalversammlung tagte gleich um die Ecke in einer Toreinfahrt.

»Ich eröffne die Sitzung«, sagte der Sheriff und legte gleich los.

»Wenn das so weitergeht, sind unsere Nerven übermorgen im Eimer! Vom Geschäftsgang gar nicht zu reden. Alles steht um uns rum, aber keiner denkt daran, sich die Schuhe putzen zu lassen. Irgend etwas muß passieren, meine Herren! So geht das nicht weiter, wie gesagt.«

»Ich hab’s! Wir setzen ganz große Sonnenbrillen auf und lassen uns Bärte wachsen, dann erkennt uns keiner mehr!« schlug der kleine Horst Buschke vor.

»Sonnenbrille und Bart!« knurrte der Sheriff. »Wenn du willst, daß dir erst recht die ganze Stadt hinterherrennt, dann bitte«, und dann rief er plötzlich: »Moment mal! Das ›8-Uhr-Blatt‹ hat uns doch eine Reise an die Nordsee versprochen!« Er biß sich auf die Unterlippe und dachte nach. »Entschuldigt, ich muß mal schnell telefonieren!«

So kam es, daß ab Samstagnachmittag an fünfundzwanzig Ecken der Stadt weiße Zettel klebten. Auf ihnen stand:

»An unsere werte Kundschaft! Wir bedauern es, Ihre geschätzten Schuhe erst wieder in zwei Wochen putzen zu können. Wir fahren nämlich mit dem ›8-Uhr-Blatt‹ in Ferien!«